URTEIL DES GERICHTS (Erste erweiterte Kammer)
24. Oktober 1997
(1)
„EGKS Nichtigkeitsklage Staatliche Beihilfen Einzelfallentscheidungen
über die Genehmigung der Gewährung staatlicher Beihilfen an
Stahlunternehmen Unzuständigkeit Berechtigtes Vertrauen
Unvereinbarkeit mit den Bestimmungen des Vertrages Diskriminierung
Unzureichende Begründung Verletzung der Verteidigungsrechte Artikel 4
Buchstaben b und c, 15 und 95 Absätze 1 und 2 des Vertrages“
In der Rechtssache T-243/94
British Steel plc, Gesellschaft englischen Rechts, London, Prozeßbevollmächtigte:
Richard Plender, QC, Bar of England and Wales, und William Sibree, Solicitor,
Zustellungsanschrift: Kanzlei der Rechtsanwälte Elvinger, Hoss und Prussen,
15, Côte d'Eich, Luxemburg,
unterstützt durch
SSAB Svenskt Stål AB, Gesellschaft schwedischen Rechts, Stockholm,
Prozeßbevollmächtigte: John Boyce und Philip Raven, Solicitors,
Zustellungsanschrift: Kanzlei der Rechtsanwälte Elvinger, Hoss und Prussen,
15, Côte d'Eich, Luxemburg,
Det Danske Stålvalseværk A/S, Gesellschaft dänischen Rechts, Frederiksværk
(Dänemark), Prozeßbevollmächtigter: Jonathan Alex Lawrence, Solicitor,
Zustellungsanschrift: Kanzlei des Rechtsanwalts Ernest Arendt, 8-10, rue Mathias
Hardt, Luxemburg,
gegen
Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch Nicholas Khan
und Ben Smulders, Juristischer Dienst, als Bevollmächtigte,
Zustellungsbevollmächtigter: Carlos Gómez de la Cruz, Centre Wagner,
Luxemburg-Kirchberg,
unterstützt durch
Rat der Europäischen Union, vertreten durch Rüdiger Bandilla, Direktor im
Juristischen Dienst, und Rechtsberater John Carbery als Bevollmächtigte,
Zustellungsbevollmächtigter: Alessandro Morbilli, Generaldirektor der Direktion
für Rechtsfragen der Europäischen Investitionsbank, 100, boulevard Konrad
Adenauer, Luxemburg,
Italienische Republik, vertreten durch Umberto Leanza, Leiter des Servizio del
contenzioso diplomatico des Außenministeriums, als Bevollmächtigten, Beistand:
Avvocato dello Stato Pier Giorgio Ferri, Zustellungsanschrift: Italienische Botschaft,
5, rue Marie-Adélaïde, Luxemburg,
Königreich Spanien, vertreten durch Alberto Navarro González, Generaldirektor
für die rechtliche und institutionelle Koordinierung in
Gemeinschaftsangelegenheiten, im Beistand zunächst von Gloria Calvo Díaz,
sodann von Luis Perez De Ayala Beccerril, beide Abogados del Estado,
Zustellungsanschrift: Spanische Botschaft, 4-6, boulevard Emmanuel Servais,
Luxemburg,
und
Ilva Laminati Piani SpA, Gesellschaft italienischen Rechts, Rom,
Prozeßbevollmächtigte: Rechtsanwälte Aurelio Pappalardo, Trapani, und Massimo
Merola, Rom, Zustellungsanschrift: Kanzlei des Rechtsanwalts Alain Lorang,
51, rue Albert 1er, Luxemburg,
wegen Nichtigerklärung der Entscheidungen 94/258/EGKS der Kommission vom
12. April 1994 über ein Beihilfevorhaben von Spanien zugunsten des öffentlichen
spanischen Stahlunternehmens Corporación de la Siderurgia Integral (CSI) und
94/259/EGKS der Kommission vom 12. April 1994 über die Gewährung von
Beihilfen an die staatseigenen Stahlunternehmen Italiens (Stahlkonzern ILVA)
(ABl. L 112, S. 58 und 64)
erläßt
DAS GERICHT ERSTER INSTANZ
DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFTEN (Erste erweiterte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten A. Saggio, des Richters A. Kalogeropoulos, der
Richterin V. Tiili sowie der Richter A. Potocki und R. M. Moura Ramos,
Kanzler: H. Jung
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 25.
Februar 1997,
folgendes
Urteil
Rechtlicher Rahmen
- 1.
- Der Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und
Stahl (nachstehend: Vertrag) verbietet grundsätzlich staatliche Beihilfen an
Stahlunternehmen, indem er in seinem Artikel 4 Buchstabe c bestimmt, daß „von
den Staaten bewilligte Subventionen oder Beihilfen oder von ihnen auferlegte
Sonderlasten, in welcher Form dies auch immer geschieht“, als unvereinbar mit
dem gemeinsamen Markt für Kohle und Stahl gemäß den Bestimmungen dieses
Vertrages untersagt werden.
- 2.
- Artikel 95 Absätze 1 und 2 des Vertrages lautet wie folgt:
„In allen in diesem Vertrag nicht vorgesehenen Fällen, in denen eine Entscheidung
oder Empfehlung der Kommission erforderlich erscheint, um eines der in Artikel
2, 3 und 4 näher bezeichneten Ziele der Gemeinschaft auf dem gemeinsamen
Markt für Kohle und Stahl gemäß Artikel 5 zu erreichen, kann diese Entscheidung
oder Empfehlung mit einstimmiger Zustimmung des Rates und nach Anhörung des
Beratenden Ausschusses ergehen.
Die gleiche, in derselben Form erlassene Entscheidung oder Empfehlung bestimmt
gegebenenfalls die anzuwendenden Sanktionen.“
- 3.
- Um den Erfordernissen einer Umstrukturierung der Eisen- und Stahlindustrie
gerecht zu werden, erließ die Kommission auf der Grundlage der zitierten
Bestimmungen des Artikels 95 des Vertrages zu Beginn der achtziger Jahre eine
gemeinschaftliche Beihilferegelung, mit der in bestimmten, abschließend
aufgezählten Fällen staatliche Beihilfen an die Eisen- und Stahlindustrie genehmigt
wurden. Diese Regelung wurde später mehrfach geändert, um den konjunkturellen
Schwierigkeiten der Eisen- und Stahlindustrie zu begegnen. Daher ist der im
entscheidungserheblichen Zeitraum geltende gemeinschaftliche Kodex über
Beihilfen an die Eisen- und Stahlindustrie, der durch die Entscheidung Nr.
3855/91/EGKS der Kommission vom 27. November 1991 zur Einführung
gemeinschaftlicher Vorschriften über Beihilfen an die Eisen- und Stahlindustrie
(ABl. L 362, S. 57; nachstehend: Beihilfenkodex) erlassen wurde, bereits der fünfte
seiner Art. Aus seinen Begründungserwägungen ergibt sich, daß mit ihm ebenso wie
mit seinen Vorgängern ein Gemeinschaftssystem eingeführt wurde, das für
allgemeine oder besondere Beihilfen gelten sollte, die die Mitgliedstaaten, in
welcher Form auch immer, gewähren. Nach diesem Kodex waren Betriebs- oder
Investitionshilfen mit Ausnahme der Schließungsbeihilfen untersagt.
Sachverhalt
- 4.
- Angesichts der Verschlechterung der wirtschaftlichen und finanziellen Situation im
Stahlsektor legte die Kommission in ihrer an den Rat und das Europäische
Parlament gerichteten Mitteilung SEK(92) 2160 endg. vom 23. November 1992 mit
dem Titel „Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der Stahlindustrie: Die
Notwendigkeit einer erneuten Umstrukturierung“ einen Umstrukturierungsplan vor.
Dieser Plan ging von der Feststellung einer fortbestehenden strukturellen
Überkapazität aus und sollte auf der Grundlage einer freiwilligen Beteiligung der
Stahlunternehmen in erster Linie zu einem erheblichen endgültigen Abbau der
Produktionskapazitäten in der Größenordnung von mindestens 19 Millionen
Tonnen führen. Zu diesem Zweck waren ein Bündel von Begleitmaßnahmen im
sozialen Bereich sowie finanzielle Anreize einschließlich Gemeinschaftsbeihilfen
vorgesehen. Parallel dazu beauftragte die Kommission einen unabhängigen
Sachverständigen, nämlich den ehemaligen Generaldirektor in der Generaldirektion
Industrie der Kommission, Herrn Braun, mit einer Untersuchung, die im
wesentlichen in einer Aufstellung der beabsichtigten Schließungen von
Unternehmen des Stahlsektors in dem in der vorgenannten Mitteilung erwähnten
Zeitraum der Jahre 1993 bis 1995 bestand. Herr Braun legte seinen Bericht „Die
laufenden oder beabsichtigten Umstrukturierungen in der Stahlindustrie“ am 29.
Januar 1993 vor, nachdem er mit den Leitern von ungefähr 70 Unternehmen
Kontakt aufgenommen hatte.
- 5.
- In seinen Schlußfolgerungen vom 25. Februar 1993 stimmte der Rat den
Grundlinien des von der Kommission im Anschluß an den Braun-Bericht
vorgelegten Programms für einen drastischen Abbau der Produktionskapazitäten
zu. Die dauerhafte Umstrukturierung des Stahlsektors sollte „unter strikter
Befolgung der Regeln für die Kontrolle der staatlichen Beihilfen“ durch „ein Paket
von befristeten Begleitmaßnahmen“ erleichtert werden, wobei die Kommission
hinsichtlich der staatlichen Beihilfen ihre Haltung bekräftigt habe, „daß der
Beihilfenkodex strikt und objektiv angewandt werden muß, und [sie] ... dafür Sorge
tragen [werde], daß etwaige Ausnahmen, die dem Rat nach Artikel 95
vorgeschlagen werden könnten, die notwendige Gesamtanstrengung zur
Verringerung der Kapazitäten in vollem Umfang unterstützen. Der Rat wird rasch
nach objektiven Kriterien über die Vorschläge befinden.“
- 6.
- In diesem Zusammenhang äußerten sich der Rat und die Kommission in ihrer
gemeinsamen Erklärung im Ratsprotokoll vom 17. Dezember 1993 unter Hinweis
auf das globale Einvernehmen innerhalb des Rates hinsichtlich der Zustimmung
nach Artikel 95 Absätze 1 und 2 des Vertrages zu den staatlichen Beihilfen für die
öffentlichen Unternehmen Sidenor (Spanien), Sächsische Edelstahlwerke GmbH
(Deutschland), Corporación de la Siderurgia Integral (CSI, Spanien), ILVA
(Italien), EKO Stahl AG (Deutschland) und Siderurgia Nacional (Portugal) dahin,
daß sie „der Auffassung [sind], daß der einzige Weg zu einer gesunden
Stahlindustrie in der EG, die auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähig ist, darin
besteht, die staatliche Unterstützung für die Stahlindustrie endgültig einzustellen
und unwirtschaftliche Kapazitäten zu schließen. Gleichzeitig mit seiner
einstimmigen Zustimmung zu den vorliegenden Vorschlägen gemäß Artikel 95
bekräftigt der Rat, daß er den ... Beihilfe-Kodex ... streng einhalten und, wenn
keine Genehmigung gemäß dem Kodex vorliegt, Artikel 4 c des EGKS-Vertrags
anwenden wird. Unbeschadet des Rechts aller Mitgliedstaaten, eine Entscheidung
nach Artikel 95/EGKS zu beantragen, verpflichtet sich der Rat entsprechend seinen
Schlußfolgerungen vom 25. Februar 1993 ausdrücklich, alle weiteren
Ausnahmeregelungen gemäß Artikel 95 zugunsten einzelner Unternehmen zu
vermeiden.“
- 7.
- Der Rat stimmte am 22. Dezember 1993 nach Artikel 95 Absätze 1 und 2 des
Vertrages der Gewährung der genannten Beihilfen zu, die die Umstrukturierung
oder Privatisierung der betroffenen öffentlichen Unternehmen begleiten sollten.
- 8.
- In diesem rechtlichen und tatsächlichen Zusammenhang erließ die Kommission zur
Erleichterung einer erneuten Umstrukturierung der Stahlindustrie am 12. April
1994 im Anschluß an die vorerwähnte Zustimmung des Rates sechs auf Artikel 95
Absätze 1 und 2 des Vertrages gestützte Einzelfallentscheidungen, mit denen sie
die Gewährung staatlicher Beihilfen genehmigte, die nicht die Kriterien erfüllten,
die nach dem Beihilfenkodex eine Ausnahme von Artikel 4 Buchstabe c des
Vertrages ermöglichten. Die Kommission genehmigte in diesen sechs
Entscheidungen das Beihilfevorhaben von Deutschland zugunsten des
Stahlunternehmens EKO Stahl AG, Eisenhüttenstadt (Entscheidung 94/256/EGKS,
ABl. L 112, S. 45), die geplanten Beihilfen Portugals an das Stahlunternehmen
Siderurgia Nacional (Entscheidung 94/257/EGKS, ABl. L 112, S. 52), das
Beihilfevorhaben von Spanien zugunsten des öffentlichen spanischen
Stahlunternehmens Corporación de la Siderurgia Integral (CSI) (Entscheidung
94/258/EGKS, ABl. L 112, S. 58), die Gewährung von Beihilfen an die
staatseigenen Stahlunternehmen Italiens (Stahlkonzern ILVA) (Entscheidung
94/259/EGKS, ABl. L 112, S. 64), das Beihilfevorhaben von Deutschland zugunsten
des Stahlunternehmens Sächsische Edelstahlwerke GmbH, Freital/Sachsen
(Entscheidung 94/260/EGKS, ABl. L 112, S. 71), und das Beihilfevorhaben von
Spanien zugunsten des Edelstahlherstellers Sidenor (Entscheidung 94/261/EGKS,
ABl. L 112, S. 77).
- 9.
- Diese Genehmigungen wurden gemäß der Zustimmung des Rates „mit
Verpflichtungen versehen ..., die einem Nettokapazitätsabbau von mindestens 2
Mio. t Rohstahl und höchstens 5,4 Mio. t Warmwalzkapazität entsprechen“, wie aus
der Mitteilung der Kommission vom 13. April 1994 an den Rat und das
Europäische Parlament (KOM[94] 125 endg.) hervorgeht, in der eine
Zwischenbilanz der Umstrukturierung in der Stahlindustrie gezogen werden sollte
und Vorschläge für eine Konsolidierung dieses Prozesses im Sinne der
Schlußfolgerungen des Rates vom 25. Februar 1993 gemacht werden sollten.
Verfahren
- 10.
- Unter diesen Umständen hat das Stahlunternehmen British Steel plc mit
Klageschrift, die am 27. Juni 1994 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist,
nach Artikel 33 des Vertrages die Nichtigerklärung der Entscheidungen 94/258
betreffend das Unternehmen CSI und 94/259 betreffend den Konzern ILVA vom
12. April 1994 beantragt.
- 11.
- Parallel dazu sind zwei weitere Klagen erhoben worden, und zwar von der
Association des aciéries européennes indépendantes (EISA) gegen die sechs
Entscheidungen 94/256 bis 94/261 vom 12. April 1994 (Rechtssache T-239/94) und
von der Wirtschaftsvereinigung Stahl sowie den Unternehmen Thyssen Stahl AG,
Preussag Stahl AG und Hoogovens Groep BV gegen die Entscheidung 94/259, mit
der die Gewährung staatlicher Beihilfen an den Konzern ILVA genehmigt wurde
(Rechtssache T-244/94).
- 12.
- In der vorliegenden Rechtssache haben der Rat, die Italienische Republik, das
Königreich Spanien und die ILVA Laminati Piani SpA (nachstehend: ILVA) mit
Schriftsätzen, die am 25. Oktober, am 11. und 13. November sowie am 19.
Dezember 1994 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen sind, ihre Zulassung als
Streithelfer zur Unterstützung der Anträge der Beklagten beantragt. Die
Gesellschaften SSAB Svenskt Stål AB und Det Danske Stålvalseværk A/S habenmit Schriftsätzen, die am 8. und 15. Dezember 1994 bei der Kanzlei des Gerichts
eingegangen sind, ihre Zulassung als Streithelferinnen zur Unterstützung der
Anträge der Klägerin beantragt. Mit Beschlüssen vom 13. Februar und 6. März
1995 hat der Präsident der Zweiten erweiterten Kammer des Gerichts den
Streithilfeanträgen stattgegeben.
- 13.
- British Steel hat am 28. Oktober 1994 bei der Kanzlei des Gerichts einen Antrag
auf prozeßleitende Maßnahmen gemäß Artikel 64 § 4 der Verfahrensordnung
eingereicht, wonach das Gericht der Kommission aufgeben solle, die in ihrem
Auftrag von Herrn Atkins erstellten Sachverständigengutachten über die
Durchführbarkeit der Umstrukturierungspläne für die Unternehmen ILVA und CSI
sowie die Berichte über diese Unternehmen vorzulegen, die Italien und Spanien
gemäß Artikel 4 der angefochtenen Entscheidungen zweimal jährlich der
Kommission zu übermitteln haben, damit diese die Einhaltung der in diesen
Entscheidungen festgelegten Bedingungen kontrollieren kann. Nach Eingang der
Stellungnahme der Kommission am 9. Dezember 1994 hat das Gericht der
Klägerin, der Kommission und ILVA mehrere Fragen gestellt, die sich zum einen
darauf beziehen, ob es für die Beurteilung der Ordnungsmäßigkeit der
angefochtenen Entscheidungen und die Gewährleistung der Verteidigungsrechte der
Vorlage dieser Berichte bedarf, und zum anderen auf den vertraulichen Charakter
der in diesen Berichten enthaltenen Angaben, und hat die Streithelfer ersucht, zum
Antrag der Klägerin Stellung zu nehmen. Fristgerecht haben die Klägerin, die
Kommission und ILVA auf die Fragen geantwortet und die Streithelfer ihre
Stellungnahmen eingereicht. Soweit es die Frage der Vertraulichkeit betrifft, hat
die Kommission dem Gericht außerdem am 30. Juni 1995 das
Sachverständigengutachten Atkins über das Unternehmen CSI übermittelt, in dem
die von diesem als vertraulich angesehenen Angaben getilgt waren. Die
Kommission hat erläutert, daß dieses Gutachten auf der Grundlage eines
Sachverständigengutachtens von SRI erstellt worden sei und daher nicht die gleiche
Art von Detailuntersuchungen wie das Gutachten Atkins für ILVA enthalte, in dem
die Möglichkeiten der Umstrukturierung für dieses Unternehmen auf der
Grundlage vertraulicher Geschäftsangaben untersucht würden, was erkläre, weshalb
hiervon eine nichtvertrauliche Fassung nicht vorgelegt werden könne. Das Gericht
hat den Standpunkt vertreten, daß das Verfahren vor Entscheidung über den
Antrag auf prozeßleitende Maßnahmen fortzusetzen sei, und hat dies der Klägerin
mit Schreiben des Kanzlers vom 20. Juli 1995 mitgeteilt.
- 14.
- British Steel hat am 8. August 1995 einen zweiten Antrag auf prozeßleitende
Maßnahmen gestellt, wonach das Gericht der Kommission aufgeben solle, das
Sachverständigengutachten Atkins für ILVA und das Sachverständigengutachten
von SRI für CSI vorzulegen, gegebenenfalls in einer durch diese beiden
Gesellschaften um alle vertraulichen Angaben bereinigten Fassung. Die Streithelfer
haben Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten. Das Gericht hat es nicht für
erforderlich gehalten, bei diesem Verfahrensstand über diesen zweiten Antrag zu
entscheiden, und hat dies der Klägerin mit Schreiben des Kanzlers vom 26.
Oktober 1995 mitgeteilt.
- 15.
- Mit Schreiben des Kanzlers vom 3. Dezember 1996 hat das Gericht der
Kommission mehrere Fragen gestellt, die sich im wesentlichen auf die Angaben
beziehen, deren Übermittlung die Klägerin mit ihrem ersten Antrag auf
prozeßleitende Maßnahmen hilfsweise für den Fall gefordert hatte, daß das Gericht
es für angemessen halten sollte, ihrem Antrag auf Vorlage der genannten
Sachverständigengutachten nicht zu entsprechen und andere prozeßleitende
Maßnahmen zu erlassen. Die Kommission hat diese Fragen fristgerecht
beantwortet. Das Gericht ist im Hinblick auf diese Antworten davon ausgegangen,
daß es über alle erforderlichen Gesichtspunkte für eine Würdigung der von der
Klägerin geltend gemachten Klagegründe verfügt und daß die Vorlage der
Sachverständigengutachten Atkins für ILVA und SRI für CSI sowie der genannten
Berichte der betroffenen Mitgliedstaaten nicht erforderlich ist, um die Wahrung der
Verteidigungsrechte zu gewährleisten. Das Gericht hat auf Bericht des
Berichterstatters beschlossen, die mündliche Verhandlung ohne vorherige
Beweisaufnahme zu eröffnen. Die Verfahrensbeteiligten haben in der Sitzung vom
25. Februar 1997 mündlich verhandelt und die mündlichen Fragen des Gerichts
beantwortet.
Anträge der Verfahrensbeteiligten
- 16.
- Die Klägerin, unterstützt durch SSAB Svenskt Stål, beantragt,
die Entscheidungen 94/258 und 94/259 für nichtig zu erklären;
der Kommission die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.
- 17.
- Die Streithelferin Det Danske Stålvalseværk beantragt,
die Entscheidungen 94/258 und 94/259 für nichtig zu erklären;
der Kommission die Kosten des Verfahrens einschließlich der Kosten der
Streithelferin aufzuerlegen.
- 18.
- Die Beklagte, unterstützt durch den Rat, die Italienische Republik und das
Königreich Spanien, beantragt,
die Klage abzuweisen;
der Klägerin die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.
- 19.
- ILVA beantragt,
die Klage als unzulässig und/oder unbegründet abzuweisen;
der Klägerin die Kosten des Verfahrens einschließlich der Kosten von ILVA
aufzuerlegen.
Zulässigkeit der Klage
Vorbringen der Verfahrensbeteiligten
- 20.
- British Steel weist darauf hin, daß sie im Sinne des Artikels 33 Absatz 2 des
Vertrages durch die angefochtenen Entscheidungen betroffen werde, mit denen die
Gewährung von Vorteilen an Unternehmen, die mit ihr in Wettbewerb stünden,
genehmigt würden. Unter diesem Blickwinkel sei die Auffassung von ILVA
abzulehnen, daß die vorgenannten sechs Entscheidungen der Kommission vom 12.
April 1994 ein unteilbares Ganzes bildeten, das auf einen politischen Kompromiß
innerhalb des Rates zurückgehe, so daß die vorliegende Klage, die auf die
Nichtigerklärung von nur zwei dieser Entscheidungen gerichtet sei, nicht zulässig
sein könne, weil die mögliche Aufhebung der beiden streitigen Entscheidungen zu
einer unannehmbaren Abänderung einer auf höchster Ebene getroffenen
politischen Vereinbarung führe. Dieses Vorbringen sei insbesondere bezüglich der
Zulässigkeit der Klage unerheblich, denn ihr Recht als Klägerin, die beiden
Entscheidungen, die sie unmittelbar und individuell beträfen, anzufechten, könne
nicht allein deshalb in Frage gestellt werden, weil ein politischer Zusammenhang
zwischen den angefochtenen und anderen Entscheidungen der Kommission in
diesem Kontext bestehe.
- 21.
- ILVA räumt zunächst ein, daß sie als Streithelferin nicht berechtigt sei, die Frage
der Zulässigkeit der vorliegenden Klage aufzuwerfen, weil die Kommission dies im
schriftlichen Verfahren nicht getan habe. Sie weist indessen darauf hin, daß das
Gericht nach Artikel 113 der Verfahrensordnung jederzeit von Amts wegen
unverzichtbare Prozeßvoraussetzungen prüfen dürfe, was zu einer Berücksichtigung
ihres Vorbringens führen müßte.
- 22.
- Im vorliegenden Fall stellten die beiden von British Steel angefochtenen
Entscheidungen wichtige Aspekte einer umfassenden politischen Einigung innerhalb
des Rates über die Umstrukturierung der Eisen- und Stahlindustrie der
Gemeinschaft dar. Die vorliegende Klage müsse daher für unzulässig erklärt
werden, weil sie sich nicht darauf beschränke, die Kriterien in Frage zu stellen, die
von der Kommission bei der Würdigung der Voraussetzungen für die Gewährung
der spezifischen, mit den beiden streitigen Entscheidungen genehmigten Beihilfen
herangezogen worden seien, sondern die eigentliche Grundlage der auf
Gemeinschaftsebene erzielten und in den sechs Entscheidungen der Kommission
vom 12. April 1994 besiegelten politischen Einigung in Zweifel ziehe. Die etwaige
Nichtigerklärung einer oder mehrerer dieser Entscheidungen führe nämlich zur
Abänderung des im Rat erzielten politischen Kompromisses. Mithin könne die
Klägerin zulässigerweise nur alle sechs Entscheidungen zusammen anfechten.
Würdigung durch das Gericht
- 23.
- Vor der Untersuchung der Begründetheit des von der Streithelferin ILVA geltend
gemachten Unzulässigkeitsgrundes ist die Zulässigkeit dieses Vorbringens nach den
Verfahrensbestimmungen zu prüfen.
- 24.
- Gemäß den Artikeln 34 Absatz 2 und 46 Absatz 1 der EGKS-Satzung des
Gerichtshofes können mit den Anträgen einer Beitrittserklärung nur die Anträge
einer Partei unterstützt werden. Ferner bestimmt Artikel 116 § 3 der
Verfahrensordnung, daß der Streithelfer den Rechtsstreit in der Lage annehmen
muß, in der dieser sich zur Zeit des Beitritts befindet.
- 25.
- Daraus folgt, daß die Streithelferin ILVA, da die Beklagte im schriftlichen
Verfahren den Einwand der Unzulässigkeit nicht erhoben hat, die Zulässigkeit der
Klage nicht bestreiten kann und daß das Gericht somit nicht verpflichtet ist, auf die
von ihr vorgebrachten Gründe einzugehen (vgl. Urteil des Gerichtshofes vom 24.
März 1993 in der Rechtssache C-313/90, CIRFS u. a./Kommission, Slg. 1993,
I-1125).
- 26.
- Das Gericht kann jedoch nach Artikel 113 der Verfahrensordnung jederzeit von
Amts wegen prüfen, ob unverzichtbare Prozeßvoraussetzungen einschließlich der
von den Streithelfern geltend gemachten fehlen (vgl. Urteile des Gerichtshofes vom
11. Juli 1990 in den Rechtssachen C-305/86 und C-160/87, Neotype
Techmashexport/Kommission und Rat, Slg. 1990, I-2945, und vom 15. Juni 1993 in
der Rechtssache C-225/91, Matra/Kommission, Slg. 1993, I-3203).
- 27.
- Eine Prozeßvoraussetzung ist nur dann unverzichtbar, wenn sie sich auf eine
wesentliche Zulässigkeitsvoraussetzung einer nach Artikel 33 Absatz 2 des
Vertrages erhobenen Klage bezieht.
- 28.
- Da sich der von der Streithelferin erhobene Einwand der Unzulässigkeit im
vorliegenden Fall nicht auf eine dieser wesentlichen Voraussetzungen bezieht, ist
er nicht von Amts wegen zu prüfen. ILVA macht nämlich im wesentlichen nur
geltend, daß ein Unternehmen, das durch eine zu einem „Paket“ gehörende
Entscheidung nachteilig betroffen sei, diese Entscheidung nicht isoliert anfechten
könne, sondern insoweit verpflichtet sei, Nichtigkeitsklage gegen alle
Entscheidungen des „Pakets“ zu erheben. Eine solche Prozeßvoraussetzung ist aber
nicht nur in den maßgebenden Bestimmungen des Vertrages nicht vorgesehen,
sondern stünde auch völlig im Widerspruch zu Wortlaut und Geist des Artikels 33
Absatz 2 des Vertrages, in dem ausdrücklich das Klagerecht von Unternehmen und
Unternehmensverbänden gegen sie individuell betreffende Entscheidungen
verankert ist.
- 29.
- Der von ILVA erhobene Einwand der Unzulässigkeit ist daher auf jeden Fall
zurückzuweisen, weil die angebliche Zulässigkeitsvoraussetzung, auf der er beruht,
unvereinbar mit dem Klagerecht ist, das einem Unternehmen nach Artikel 33 des
Vertrages gegen jede es individuell betreffende Entscheidung zusteht.
Begründetheit der Klage
- 30.
- Die Klägerin stützt ihre Nichtigkeitsklage auf folgende vier Gründe: erstens
Unzuständigkeit der Kommission zum Erlaß der streitigen Entscheidungen,
zweitens Verstoß gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes, drittens Verstoß
gegen den EGKS-Vertrag oder jeden Rechtssatz über seine Anwendung und
viertens Verletzung wesentlicher Formvorschriften.
1. Erster Klagegrund: Unzuständigkeit der Kommission
Vorbringen der Verfahrensbeteiligten
- 31.
- British Steel macht geltend, die Kommission sei zum Erlaß der angefochtenen
Entscheidungen nicht zuständig gewesen. Der Beihilfenkodex stelle einen
erschöpfenden und zwingenden rechtlichen Rahmen dar, da er der Genehmigung
von Beihilfen, die mit seinen Bestimmungen unvereinbar seien, entgegenstehe.
Artikel 1 des Beihilfenkodex verbiete insbesondere ausdrücklich alle Betriebs- und
Investitionsbeihilfen. Die Kommission sei daher nicht befugt gewesen, mit den
beiden angefochtenen Entscheidungen die Gewährung solcher Beihilfen zu
genehmigen. Sie könne sich eine solche Befugnis nicht nach Artikel 95 Absatz 1 des
Vertrages anmaßen, da der Beihilfenkodex selbst von der Kommission nach Artikel
95 erlassen worden sei und abschließend die maßgebenden Kriterien für die
Verwirklichung der Ziele des Vertrages festlege, falls er seinerseits nicht durch eine
allgemeine Entscheidung abgeändert werde.
- 32.
- Wenn die Kommission plane, Beihilfen zu genehmigen, die die Voraussetzungen
des Kodex nicht erfüllten, müsse sie den Wortlaut des Kodex durch eine allgemeine
und für alle betroffenen Unternehmen geltende Entscheidung ändern. Der
Beihilfenkodex würde nämlich völlig überflüssig, wenn er durch
Einzelfallentscheidungen der Kommission umgangen werden könnte, die diese ins
Auge fasse, um Sonderfällen gerecht zu werden. Im vorliegenden Fall habe aber
die Kommission keine Änderung des Beihilfenkodex vorgenommen, sondern sich
auf den Erlaß von Entscheidungen beschränkt, mit denen unter Verstoß gegen die
Bestimmungen des Kodex bestimmten öffentlichen Unternehmen zum Nachteil von
Wettbewerbern, denen keine Genehmigung staatlicher Beihilfen zuteil geworden
sei, rechtswidrig Vorteile zugewandt worden seien.
- 33.
- Die Streithelferin Det Danske Stålvalseværk pflichtet der Auffassung der Klägerin
bei, daß der Beihilfenkodex ein erschöpfender und zwingender rechtlicher Rahmen
sei. Die Kommission sei daher verpflichtet, den Verhaltensmaßstab, den sie sich
selbst nach Artikel 95 des Vertrages gesetzt habe, peinlich genau einzuhalten, und
dürfe keine Einzelfallentscheidung erlassen, die gegen die Kriterien des
Beihilfenkodex verstoße. Dieser wolle einen für das ordnungsgemäße Funktionieren
des gemeinsamen Stahlmarkts überaus wichtigen Bereich regeln, weil staatliche
Beihilfen, die gegen die grundlegenden Ziele des Vertrages verstießen, die
Unternehmen in Schwierigkeiten bringen könnten, die es verstanden hätten, die
Umstrukturierungs- und Privatisierungsbemühungen mit eigenen Mitteln zu
bewältigen. Der Beihilfenkodex sei die geeignete Rechtsgrundlage für den Erlaß
von Einzelfallentscheidungen, die mit seinen Bestimmungen in Einklang stünden.
Im vorliegenden Fall aber habe die Kommission die streitigen Entscheidungen auf
der Grundlage von Artikel 95 des Vertrages ausschließlich erlassen, um das
Verfahren und die Bestimmungen des Beihilfenkodex zu umgehen.
- 34.
- Die Kommission weist darauf hin, daß die einzelnen Beihilfenkodizes nach Artikel
95 des Vertrages erlassen worden seien und damit auf derselben Rechtsgrundlage
beruhten wie die streitigen Entscheidungen. Mithin sei der rechtliche Rang dieser
Maßnahmen identisch und könne der geltende Beihilfenkodex nicht als endgültig
und zwingend angesehen werden. Er lege im Gegenteil nur den Standpunkt der
Kommission zum Zeitpunkt seines Erlasses bezüglich der Beihilfen fest, die sie als
mit dem Vertrag vereinbar betrachte. Sie dürfe die Vereinbarkeit anderer, im
Beihilfenkodex selbst nicht vorgesehener Beihilfeformen mit dem Vertrag vor allem
deshalb überprüfen, weil sich der Stahlmarkt häufig in tiefgreifenden Krisen
befinde. Im vorliegenden Fall sei die von der Klägerin vorgeschlagene Lösung einer
Änderung des Beihilfenkodex nicht praktikabel gewesen, weil sie zu einer
allgemeinen Genehmigung von Umstrukturierungsbeihilfen geführt hätte, während
der Erlaß der streitigen Einzelfallentscheidungen ihrer Meinung nach ein wesentlich
restriktiverer Weg zur Genehmigung einer Beihilfe sei. Die Wahl zwischen der
Änderung des Beihilfenkodex und dem Erlaß der streitigen Entscheidungen sei
daher für sie nicht gleichgültig gewesen; jede Vorgehensweise entspreche sehr
unterschiedlichen Situationen.
- 35.
- Der Rat ist der Auffassung, daß die Kommission mit dem Erlaß des Beihilfenkodex
die ihr nach Artikel 95 Absätze 1 und 2 des Vertrages zustehenden Befugnisse
nicht erschöpft habe und mithin befugt gewesen sei, die Gewährung von Beihilfen
der in den streitigen Entscheidungen genannten Art zu genehmigen. Es könne
nämlich trotz des Beihilfenkodex, der die Bestimmungen für die staatlichen
Beihilfen im Stahlsektor allgemein festlege, vorkommen, daß eine neue
Entscheidung der Kommission getroffen werden müsse, um eines der in den
Artikeln 2, 3 und 4 des Vertrages bezeichneten Ziele der Gemeinschaft zu
verwirklichen. Insbesondere der Fünfte Beihilfenkodex habe sich darauf beschränkt,
die Maßnahmen aufzuführen, die die Kommission damals als mit dem Vertrag
vereinbar angesehen habe; diese Aufzählung sei indessen nicht erschöpfend, so daß
die Kommission gegebenenfalls für den Erlaß neuer Entscheidungen erneut auf
Artikel 95 zurückgreifen dürfe, falls diese nur den in diesem Artikel festgelegten
Voraussetzungen entsprächen. Im vorliegenden Fall sei es erforderlich, eine
Globalstrategie zu entwickeln, um der immer schwerer werdenden Krise des
Stahlsektors zu begegnen und den Abbau der Kapazitäten der europäischen
Stahlunternehmen sicherzustellen; eine solche Strategie schließe aber die
Gewährung von Beihilfen an Unternehmen als eine der begleitenden Maßnahmen
im Rahmen eines allgemeinen Programms zum Kapazitätsabbau nicht aus.
- 36.
- Nach Auffassung der Italienischen Republik läuft die Ansicht der Klägerin darauf
hinaus, dem Beihilfenkodex die Befugnis zu einer wesentlichen Änderung des
Artikels 95 Absätze 1 und 2 des Vertrages zu verleihen. Er hätte mit anderen
Worten die Wirkung, die Quelle zu erschöpfen, der er selbst entstamme. Artikel
95 sei aber eine allgemeine Rechtsnorm, deren Geltung nicht durch eine
rangniedrigere Rechtsnorm aufgehoben oder beschränkt werden könne. Damit aber
stünden letztlich Beihilfenkodex und die streitigen Entscheidungen in der
Normenhierarchie auf einer Stufe und hätten rechtlich den gleichen Rang. Ferner
betreffe der Beihilfenkodex nur bestimmte Beihilfekategorien, die in seinen
Artikeln 2 bis 5 umschrieben seien. Jeder andere Typ öffentlicher Finanzhilfe
zugunsten der Stahlunternehmen sei nicht im Beihilfenkodex geregelt und falle
demnach nicht in dessen Anwendungsbereich. Folglich könne die Rechtmäßigkeit
der betreffenden Einzelfallentscheidungen nicht nach dem Beihilfenkodex, sondern
nur auf der Grundlage des Artikels 95 des Vertrages geprüft werden.
- 37.
- Nach Auffassung des Königreichs Spanien hat die Kommission die ihr mit dem
Vertrag übertragenen Befugnisse ausgeübt, ohne je die festgelegten Grenzen zu
überschreiten. Artikel 95 stelle nämlich die geeignete Grundlage für den Erlaß von
Entscheidungen dar, mit denen Situationen bereinigt werden sollten, die ein
wirksames gemeinschaftliches Vorgehen zur Verwirklichung der Vertragsziele
verlangten, falls die Gemeinschaftsorgane nicht über die hierfür erforderlichen
Befugnisse verfügten. Insoweit bestehe eine Parallele zwischen diesem Artikel und
Artikel 235 EG-Vertrag. Der Beihilfenkodex zum einen, die streitigen
Entscheidungen zum anderen beruhten auf der gleichen Rechtsgrundlage und
hätten einen unterschiedlichen Anwendungsbereich, der jeweils der Marktlage im
Stahlsektor zur Zeit ihres Erlasses entspreche. Vor diesem Hintergrund sei die
Kommission befugt [und verpflichtet] gewesen, die notwendigen Maßnahmen zu
treffen, um Krisensituationen zu meistern, und habe sich hierbei auf die
Rechtsgrundlage des Artikels 95 gestützt; aus dem Vorhandensein eines
Beihilfenkodex lasse sich nicht ableiten, daß die Kommission auf ihr Ermessen habe
verzichten wollen.
- 38.
- Auch nach Ansicht von ILVA war die Kommission gemäß Artikel 95 des Vertrages
befugt, die streitigen Entscheidungen zu erlassen. Diese Bestimmung ermächtige
sie nämlich, im Wege von Ausnahmeentscheidungen allgemeiner oder besonderer
Art jede denkbare unvorhersehbare und außerordentliche Situation zu regeln.
Insoweit stelle zwar Artikel 95 eine ausreichende Rechtsgrundlage für den
Beihilfenkodex dar, doch gebe es keinen Grund, warum dies nicht auch für den
Erlaß von Einzelfallentscheidungen gelten sollte. Die Kommission habe selbst
darüber zu entscheiden, ob es angemessen sei, je nach den Umständen eine
allgemeine oder eine Einzelfallentscheidung zu erlassen. Der Beihilfenkodex habe
nur begrenzte Tragweite, da er nur bestimmte Beihilfekategorien, mit denen Ziele
des Vertrages verfolgt würden, für mit dem Vertrag vereinbar erkläre und keine
Beihilfen verbieten wolle, die nicht in seinen Anwendungsbereich fielen. Mithin
könne eine den Bestimmungen des Beihilfenkodex nicht entsprechende Beihilfe
nach dem Verfahren des Artikels 95 des Vertrages genehmigt werden.
Würdigung durch das Gericht
- 39.
- Zunächst ist klarzustellen, daß die Klägerin, auch wenn sie die „Unzuständigkeit“
der Kommission zum Erlaß der streitigen Entscheidungen geltend macht, in
Wahrheit im Rahmen dieses ersten Klagegrundes im Kern doch vorbringt, daß die
beiden streitigen Entscheidungen dem Beihilfenkodex widersprächen und damit
gegen den Grundsatz verstießen, wonach ein allgemeiner Rechtsakt nicht durch
eine individuelle Entscheidung abgeändert werden könne.
- 40.
- Insoweit ist vorab auf den rechtlichen Kontext der angefochtenen Entscheidungen
hinzuweisen. Nach Artikel 4 Buchstabe c des Vertrages sind staatliche Beihilfen
innerhalb der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl grundsätzlich
untersagt, da sie die Verwirklichung der im Vertrag festgelegten wesentlichen Ziele
der Gemeinschaft, insbesondere die Einführung eines Systems des freien
Wettbewerbs, beeinträchtigen können. Nach dieser Vorschrift „[werden als]
unvereinbar mit dem gemeinsamen Markt für Kohle und Stahl ... innerhalb der
Gemeinschaft gemäß den Bestimmungen dieses Vertrags aufgehoben und
untersagt: ... c) von den Staaten bewilligte Subventionen oder Beihilfen ..., in
welcher Form dies auch immer geschieht ...“
- 41.
- Das Vorhandensein eines solchen Verbotes bedeutet jedoch nicht, daß jede
staatliche Beihilfe im EGKS-Bereich als mit den Zielen des Vertrages unvereinbar
anzusehen wäre. Artikel 4 Buchstabe c ausgelegt im Licht sämtlicher Ziele des
Vertrages, wie sie in dessen Artikeln 2 bis 4 festgelegt sind soll nicht die
Gewährung staatlicher Beihilfen verhindern, die zur Erreichung der Ziele des
Vertrages beitragen können. Er behält den Gemeinschaftsorganen im Bereich des
Vertrages die Befugnis vor, die Vereinbarkeit mit dem Vertrag zu beurteilen und
gegebenenfalls die Gewährung solcher Beihilfen zu genehmigen. Diese Feststellung
wird durch das Urteil vom 23. Februar 1961 in der Rechtssache 30/59 (De
Gezamenlijke Steenkolenmijnen in Limburg/Hohe Behörde, Slg. 1961, 3, 47)
bestätigt, in dem der Gerichtshof entschieden hat, daß, ebenso wie bestimmte
nichtstaatliche finanzielle Zuwendungen an Montanunternehmen, die nach den
Artikeln 55 § 2 und 58 § 2 des Vertrages zulässig sind, nur durch die Kommission
oder mit deren ausdrücklicher Genehmigung gewährt werden können, auch Artikel
4 Buchstabe c dahin auszulegen ist, daß er den Gemeinschaftsorganen innerhalb
der Gemeinschaft auf dem Gebiet der Beihilfen eine ausschließliche Zuständigkeit
einräumt.
- 42.
- Nach der Systematik des Vertrages steht es somit nicht im Widerspruch zu Artikel
4 Buchstabe c, wenn die Kommission auf der Grundlage des Artikels 95 Absätze
1 und 2 von den Mitgliedstaaten geplante Beihilfen, die mit den Zielen des
Vertrages vereinbar sind, ausnahmsweise genehmigt, um unvorhergesehenen
Situationen zu begegnen (vgl. Urteil des Gerichtshofes vom 12. Juli 1962 in der
Rechtssache 9/61, Niederlande/Hohe Behörde, Slg. 1962, 435).
- 43.
- Die vorgenannten Bestimmungen des Artikels 95 ermächtigen die Kommission, in
allen im Vertrag nicht vorgesehenen Fällen, in denen eine Entscheidung oder
Empfehlung erforderlich erscheint, um eines der in den Artikeln 2, 3 und 4 näher
bezeichneten Ziele der Gemeinschaft auf dem gemeinsamen Markt für Kohle und
Stahl gemäß Artikel 5 zu erreichen, mit einstimmiger Zustimmung des Rates und
nach Anhörung des Beratenden Ausschusses der EGKS diese Entscheidung oder
Empfehlung zu erlassen. Die gleiche, in derselben Form erlassene Entscheidung
oder Empfehlung bestimmt gegebenenfalls die anzuwendenden Sanktionen. Da also
der EGKS-Vertrag anders als der EG-Vertrag der Kommission oder dem Rat keine
spezifische Befugnis zur Genehmigung staatlicher Beihilfen verleiht, ist die
Kommission nach Artikel 95 Absätze 1 und 2 ermächtigt, alle erforderlichen
Maßnahmen zu treffen, um die Ziele des Vertrages zu erreichen, und somit nach
dem in dieser Vorschrift vorgesehenen Verfahren die Beihilfen zu genehmigen, die
ihr zur Erreichung dieser Ziele erforderlich erscheinen.
- 44.
- Die Kommission ist demnach bei Fehlen besonderer Vertragsbestimmungen befugt,
jede allgemeine oder individuelle Entscheidung zu erlassen, die zur Erreichung der
Ziele des Vertrages erforderlich ist. Artikel 95 Absätze 1 und 2, der ihr diese
Befugnis verleiht, enthält keine näheren Angaben zur Tragweite der
Entscheidungen, zu deren Erlaß sie ermächtigt ist. Sie hat in jedem Einzelfall zu
prüfen, welche der beiden Arten von Entscheidungen allgemeine oder individuelle
am geeignetsten ist, das oder die verfolgten Ziele zu erreichen.
- 45.
- Im Bereich der staatlichen Beihilfen hat die Kommission vom rechtlichen
Instrument des Artikels 95 Absätze 1 und 2 des Vertrages in zweierlei Weise
Gebrauch gemacht. Sie hat zum einen allgemeine Entscheidungen die
Beihilfenkodizes erlassen, die für bestimmte Kategorien von Beihilfen eine
allgemeine Ausnahme vom Verbot staatlicher Beihilfen vorsehen. Zum anderen hat
sie Einzelfallentscheidungen erlassen, mit denen ausnahmsweise ganz bestimmte
Beihilfen genehmigt wurden.
- 46.
- Im vorliegenden Fall besteht das Problem folglich darin, den Gegenstand und die
Tragweite des Beihilfenkodex und der streitigen Einzelfallentscheidung zu
bestimmen.
- 47.
- Der zur Zeit des Erlasses der angefochtenen Entscheidung anwendbare
Beihilfenkodex wurde durch die Entscheidung Nr. 3855/91 vom 27. November 1991
eingeführt. Es handelte sich um den fünften Beihilfenkodex, der gemäß seinem
Artikel 9 am 1. Januar 1992 in Kraft trat und bis zum 31. Dezember 1996 galt.
Gestützt auf Artikel 95 Absätze 1 und 2 des Vertrages, stand dieser Kodex
ausdrücklich auf einer Stufe mit den vorangegangenen Kodizes (vgl. insbesondere
Entscheidungen der Kommission Nr. 3484/85/EGKS vom 27. November 1985 und
Nr. 322/89/EGKS vom 1. Februar 1989 zur Einführung gemeinschaftlicher
Vorschriften über Beihilfen an die Eisen- und Stahlindustrie, ABl. 1985, L 340, S. 1,
und ABl. 1989, L 38, S. 8), weshalb er im Zusammenhang mit diesen Kodizes
ausgelegt werden kann. Aus seiner Begründung (vgl. Abschnitt I der Begründung
der Entscheidung Nr. 3855/91) geht hervor, daß „der Eisen- und Stahlindustrie ...
vor allem nicht die Forschungs- und Entwicklungsbeihilfen und diejenigen Beihilfen
entzogen werden [sollten], mit deren Hilfe sie ihre Anlagen an die neuen
Umweltschutznormen anpassen kann“. Zur Verringerung der Überkapazitäten bei
der Produktion und zur Wiederherstellung des Marktgleichgewichts waren
außerdem unter bestimmten Voraussetzungen „soziale Beihilfen [genehmigt], um
die teilweise Schließung von Stahlwerksanlagen zu fördern, und Beihilfen, um die
endgültige Einstellung der EGKS-Tätigkeit der am wenigsten konkurrenzfähigen
Unternehmen zu finanzieren“. Ausdrücklich untersagt waren schließlich Betriebs-
oder Investitionsbeihilfen mit Ausnahme der „regionalen Investitionsbeihilfen ... fürbestimmte Mitgliedstaaten“. Solche regionalen Beihilfen konnten Unternehmen
erhalten, die im Hoheitsgebiet Griechenlands, Portugals oder der ehemaligen DDR
niedergelassen waren.
- 48.
- Die beiden streitigen Entscheidungen wurden von der Kommission auf der
Grundlage von Artikel 95 Absätze 1 und 2 des Vertrages erlassen, um wie es in
der Begründung heißt die Umstrukturierung sich in erheblichen Schwierigkeiten
befindender öffentlichen Stahlunternehmen in zwei Mitgliedstaaten Spanien und
Italien zu ermöglichen, in denen der Stahlsektor aufgrund der sich ständig
verschlechternden Lage der Stahlindustrie in der Gemeinschaft gefährdet war. Was
insbesondere ILVA betrifft, so war es wesentliches Ziel der fraglichen Beihilfen,
den Stahlkonzern zu privatisieren, dem bis dahin hauptsächlich dank der
unbeschränkten Haftung des einzigen Aktionärs aufgrund von Artikel 2362 des
Italienischen Bürgerlichen Gesetzbuchs fortgesetzt Mittel zugeführt worden waren
(Abschnitte II und IV der Begründung). Die Kommission stellte klar, daß sich die
sehr schwierige Konjunktur, mit der die Stahlindustrie der Gemeinschaft
konfrontiert war, mit weitgehend unvorhersehbaren wirtschaftlichen Faktoren
erklären lasse. Sie glaubte daher, es mit einer Ausnahmesituation zu tun zu haben,
die im Vertrag nicht speziell vorgesehen sei (Abschnitt IV der Begründung).
- 49.
- Ein Vergleich zwischen dem Fünften Beihilfenkodex und den streitigen
Entscheidungen ergibt somit, daß diese verschiedenen Handlungen auf dieselbe
Rechtsgrundlage, nämlich Artikel 95 Absätze 1 und 2 des Vertrages, gestützt sind
und daß sie Ausnahmen von dem in Artikel 4 Buchstabe c des Vertrages
aufgestellten Grundsatz des allgemeinen Verbotes der Beihilfen einführen. Ihr
Anwendungsbereich ist verschieden, da sich der Kodex allgemein auf bestimmte
Kategorien von Beihilfen bezieht, die als mit dem Vertrag vereinbar angesehen
werden, während die streitigen Entscheidungen aus außergewöhnlichen Gründen
für ein Mal Beihilfen genehmigen, die grundsätzlich nicht als mit dem Vertrag
vereinbar angesehen werden könnten.
- 50.
- Unter diesem Gesichtspunkt kann der Auffassung der Klägerin, der Kodex habe
verbindlichen, abschließenden und endgültigen Charakter, nicht gefolgt werden. Der
Kodex stellt nämlich nur für die mit dem Vertrag zu vereinbarenden Beihilfen, die
darin aufgezählt werden, einen verbindlichen rechtlichen Rahmen dar. In diesem
Bereich führt er eine umfassende Regelung ein, die eine einheitliche Behandlung
aller in die festgelegten Kategorien fallenden Beihilfen im Rahmen eines einzigen
Verfahrens gewährleisten soll. Die Kommission ist durch diese Regelung nur
gebunden, wenn sie die Vereinbarkeit von Beihilfen, für die der Kodex gilt, mit
dem Vertrag beurteilt. Sie darf daher solche Beihilfen nicht unter Verstoß gegen
die allgemeinen Vorschriften des Kodex durch eine Einzelfallentscheidung
genehmigen (vgl. „Kugellager“-Urteile des Gerichtshofes vom 29. März 1979 in der
Rechtssache 113/77, NTN Toyo Bearing u. a./Rat, Slg. 1979, 1185, in der
Rechtssache 118/77, ISO/Rat, Slg. 1979, 1277, in der Rechtssache 119/77, Nippon
Seiko u. a./Rat und Kommission, Slg. 1979, 1303, in der Rechtssache 120/77, Koyo
Seiko u. a./Rat und Kommission, Slg. 1979, 1337, und in der Rechtssache 121/77,
Nachi Fujikoshi u. a./Rat, Slg. 1979, 1363, sowie Urteile des Gerichtshofes vom 21.
Februar 1984 in den Rechtssachen 140/82, 146/82, 221/82 und 226/82, Walzstahl-Vereinigung und Thyssen/Kommission, Slg. 1984, 951, und vom 14. Juli 1988 in den
Rechtssachen 33/86, 44/86, 110/86, 226/86 und 285/86, Stahlwerke Peine-Salzgitter
und Hoogovens/Kommission, Slg. 1988, 4309, sowie Urteil CIRFS u. a./Kommission,
a. a. O.).
- 51.
- Dagegen kann bei Beihilfen, die nicht zu den durch den Kodex vom Verbot
befreiten Kategorien gehören, eine individuelle Ausnahme von diesem Verbot
gewährt werden, wenn die Kommission im Rahmen der Ausübung ihres Ermessens
nach Artikel 95 des Vertrages der Ansicht ist, daß solche Beihilfen zur Erreichung
der Ziele des Vertrages erforderlich sind. Der Beihilfenkodex bezweckt nämlich
nur, zugunsten bestimmter, abschließend aufgezählter Kategorien von Beihilfen
allgemein unter bestimmten Voraussetzungen Ausnahmen vom Verbot der
Beihilfen zu genehmigen. Die Kommission ist nach Artikel 95 Absätze 1 und 2 des
Vertrages, der nur auf die im Vertrag nicht vorgesehenen Fälle abstellt (vgl. Urteil
Niederlande/Hohe Behörde, a. a. O.), nicht befugt, bestimmte Kategorien von
Beihilfen zu verbieten, da ein solches Verbot bereits im Vertrag selbst, nämlich in
Artikel 4 Buchstabe c, vorgesehen ist. Die Beihilfen, die nicht zu den Kategorien
gehören, die der Kodex von diesem Verbot ausnimmt, fallen somit weiterhin
ausschließlich unter Artikel 4 Buchstabe c. Erweisen sich also derartige Beihilfen
zur Erreichung der Ziele des Vertrages gleichwohl als erforderlich, so kann die
Kommission von Artikel 95 des Vertrages Gebrauch machen, um dieser
unvorhergesehenen Situation gegebenenfalls durch eine Einzelfallentscheidung zu
begegnen (siehe oben, Randnrn. 40 bis 44).
- 52.
- Vorliegend fallen die streitigen Entscheidungen mit denen staatliche Beihilfen
genehmigt werden, um die Umstrukturierung großer staatseigener Stahlkonzerne
in bestimmten Mitgliedstaaten zu ermöglichen nicht in den Anwendungsbereich
des Beihilfenkodex. Dieser führt unter bestimmten Voraussetzungen allgemein
geltende Ausnahmen vom Verbot staatlicher Beihilfen ein, jedoch ausschließlich in
bezug auf Forschungs- und Entwicklungsbeihilfen, Umweltschutzbeihilfen,
Schließungsbeihilfen und regionale Beihilfen für Stahlunternehmen, die im
Hoheitsgebiet oder in einem Teil des Hoheitsgebiets bestimmter Mitgliedstaaten
niedergelassen sind. Die fraglichen Betriebs- und Umstrukturierungsbeihilfen fallen
offensichtlich in keine der vorgenannten Beihilfenkategorien. Folglich unterliegen
die mit den angefochtenen Entscheidungen genehmigten Ausnahmen nicht den
Bedingungen des Beihilfenkodex und haben daher gegenüber dem Kodex
ergänzenden Charakter im Hinblick auf die Verfolgung der im Vertrag festgelegten
Ziele (siehe unten, Randnrn. 103 bis 109).
- 53.
- Unter diesen Umständen können die streitigen Entscheidungen nicht als
ungerechtfertigte Ausnahmen vom Fünften Beihilfenkodex angesehen werden,
sondern stellen Handlungen dar, die ebenso wie dieser ihre Quelle in Artikel 95
Absätze 1 und 2 des Vertrages haben.
- 54.
- Somit entbehrt die Rüge der Unzuständigkeit jeder Grundlage, weil die
Kommission nämlich keinesfalls durch den Erlaß des Beihilfenkodex auf ihre
Befugnis aus Artikel 95 des Vertrages verzichten konnte, zur Bewältigung
unvorhergesehener Situationen Einzelfallentscheidungen zu erlassen. Da im
vorliegenden Fall die wirtschaftliche Situation, die die Kommission zum Erlaß der
streitigen Entscheidungen veranlaßt hat, nicht in den Anwendungsbereich des
Kodex fiel, konnte sich die Kommission auf Artikel 95 des Vertrages stützen, um
die fraglichen Beihilfen zu genehmigen, sofern sie die Anwendungsvoraussetzungen
dieser Vorschrift beachtete.
- 55.
- Demgemäß weisen die streitigen Entscheidungen nicht wegen Unzuständigkeit der
Kommission zu ihrem Erlaß einen Rechtsmangel auf.
2. Zweiter Klagegrund: Verstoß gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes
Vorbringen der Verfahrensbeteiligten
- 56.
- British Steel ist der Auffassung, daß die streitigen Entscheidungen gegen den
Grundsatz des Vertrauensschutzes verstießen. Nach gefestigter Rechtsprechung
könne nämlich aufgrund normativer Maßnahmen der Kommission auch im
spezifischen Bereich der Gewährung staatlicher Beihilfen ein berechtigtes
Vertrauen entstehen (vgl. Urteil des Gerichtshofes vom 21. September 1983 in den
Rechtssachen 205/82 bis 215/82, Deutsche Milchkontor u. a., Slg. 1983, 2633). Im
vorliegenden Fall sei dieser Grundsatz verletzt worden, weil die Klägerin erwartet
habe, daß sich die Kommission an den Beihilfenkodex halte und ihn gegebenenfalls
abändere bzw. ersetze, falls sie von ihm abweichen wolle.
- 57.
- Der Beihilfenkodex stelle nämlich eine normative Maßnahme dar, mit der
ausdrücklich jede Form der Subvention mit Ausnahme derjenigen untersagt werden
solle, die er als mit dem Vertrag vereinbar betrachte. Ein Stahlunternehmen habe
daher zu Recht erwarten dürfen, daß die Kommission während des Zeitraums
seiner Geltung nicht von ihm abweiche. Vor diesem Hintergrund müsse jede gegen
den Kodex verstoßende Maßnahme für nichtig erklärt werden, weil sie bei Fehlen
eines unbestreitbaren öffentlichen Interesses zu einer unvorhersehbaren Änderung
einer durch den Kodex geschaffenen Situation zu Lasten eines
Wirtschaftsteilnehmers führe, der sich vernünftigerweise auf das Fortbestehen der
aus diesem normativen Akt resultierenden Situation verlassen habe. Im
vorliegenden Fall habe aber kein unbestreitbares öffentliches Interesse bestanden,
das die Gewährung der streitigen Beihilfen gerechtfertigt hätte.
- 58.
- Die Genehmigung staatlicher Beihilfen durch eine Einzelfallentscheidung der
Kommission die von dieser angeführte Entscheidung 89/218/EGKS vom 23.
Dezember 1988 betreffend Beihilfen der italienischen Regierung an staatseigene
Stahlunternehmen (ABl. 1989, L 86, S. 76) sei nicht geeignet gewesen, das
berechtigte Vertrauen der Klägerin zu erschüttern, weil diese Entscheidung
ausdrücklich erkläre, daß sie Ausnahmecharakter habe und außerdem nur einen
Teil der von der italienischen Regierung geplanten Beihilfen genehmige. Außerdem
sei diese Entscheidung vor dem Vierten und dem Fünften Stahlbeihilfenkodex
erlassen worden, die bekräftigt hätten, daß sie abschließend seien.
- 59.
- Praktisch sei die Klägerin zum Zeitpunkt ihrer 1988 erfolgten Privatisierung
vernünftigerweise davon ausgegangen, sich auf ihre starke Wettbewerbsposition bei
den Preisen stützen zu können. Sie habe ihre Investitionen in der vernünftigen
Erwartung getätigt, daß ein leistungsstarker und kostengünstig arbeitender Erzeuger
in der Lage sei, sich in rentabler Weise zu entwickeln, und daß seine Bemühungen
nicht durch weniger leistungsstarke Erzeuger zunichte gemacht würden, denen
staatliche Beihilfen zugute kämen. Auch habe sie 1991 auf die Markttendenzen in
der berechtigten Erwartung reagiert, daß sie in der übrigen Gemeinschaft wirksam
würden und die leistungsschwächsten Erzeuger zwängen, sich vom Markt
zurückzuziehen und ihre Betriebe zu schließen, und damit sie und andere
leistungsstarke Erzeuger in die Lage versetzten, ausreichende Gewinne zu erzielen
und den Hoffnungen der Aktionäre auf einen angemessenen Ertrag ihrer
Investitionen gerecht zu werden.
- 60.
- British Steel tritt dem Vorbringen der Kommission entgegen, wonach ihr
berechtigtes Vertrauen jedenfalls durch das Verhalten der Kommission nach dem
1. Januar 1992 beseitigt worden sei, weil in mehreren Schriftstücken von
Dienststellen der Kommission sowie in den Schlußfolgerungen des Rates vom 25.
Februar 1993 die Auffassung vertreten worden sei, daß die Gewährung staatlicher
Beihilfen für bestimmte öffentliche Unternehmen wegen der Schwere der Krise des
europäischen Stahlsektors künftig unvermeidlich sei. Selbst wenn das Risiko
bestanden habe, daß durch eine politische Entscheidung rechtswidrige Beihilfen
genehmigt würden, habe man doch logischerweise erwarten dürfen, daß der
Kommission bewußt bleibe, daß der Beihilfenkodex ausnahmslos befolgt werden
müsse, um Diskriminierungen zwischen den betroffenen Unternehmen zu
vermeiden.
- 61.
- Die Streithelferin SSAB Svenskt Stål verweist auf den durch das Abkommen über
den Europäischen Wirtschaftsraum (nachstehend: EWR-Abkommen) geschaffenen
rechtlichen Rahmen und unterstreicht, daß der Fünfte Beihilfenkodex gemäß
Artikel 5 des Protokolls 14 des EWR-Abkommens durch den Beschluß Nr. 7/94 des
Gemeinsamen EWR-Ausschusses vom 31. März 1994 (ABl. L 160) in den Anhang
XV des EWR-Abkommens aufgenommen worden sei. Dieser Kodex habe damit
bereits ein Jahr vor dem Beitritt des Königreichs Schweden zur Europäischen
Union für die schwedischen Unternehmen gegolten und habe daher ihr eigenes
berechtigtes Vertrauen darauf, daß die Kommission keine Betriebs- oder
Investitionsbeihilfen der mit den angefochtenen Entscheidungen gewährten Art
genehmigen werde, noch verstärkt. Aufgrund dieser Erwartungen habe sie sich auf
eine Umstrukturierung eingelassen. Mit der Genehmigung der Beihilfen außerhalb
des Rahmens des Kodex habe die Kommission daher ihr berechtigtes Vertrauen
enttäuscht.
- 62.
- Nach Auffassung der Kommission kann eine allgemeine Maßnahme wie der Fünfte
Beihilfenkodex kein berechtigtes Vertrauen begründen. Die in jedem Kodex
festgelegten Bedingungen seien von der wirtschaftlichen Situation der
gemeinschaftlichen Stahlindustrie zum betreffenden Zeitpunkt abhängig; diese
Situation habe sich verändert und sei um das Jahr 1992 besonders dramatisch
geworden. Es sei vollauf berechtigt gewesen, Maßnahmen zu ergreifen, um der
Gefährdung der Zukunft der Stahlindustrie in bestimmten Ländern
entgegenzuwirken. Ein berechtigtes Vertrauen habe daher aufgrund der bloßen
Geltung eines Beihilfenkodex nicht entstehen können. Außerdem gebe es keinen
Beweis dafür, daß die Klägerin wirklich bei der Schließung bestimmter Betriebe
aufgrund berechtigten Vertrauens gehandelt habe. Aber selbst wenn der
Beihilfenkodex tatsächlich ein berechtigtes Vertrauen geschaffen hätte, sei dieses
durch das spätere Verhalten der Gemeinschaftsorgane in Frage gestellt worden. In
ihrem Schriftwechsel mit British Steel habe die Kommission nämlich mehrfach
darauf hingewiesen, daß der Rückgriff auf Artikel 95 auch während der
Geltungsdauer des Beihilfenkodex nicht ausgeschlossen werden könne.
- 63.
- Der Rat bestreitet ebenfalls, daß die Klägerin auf der Grundlage des
Beihilfenkodex zu Recht habe erwarten dürfen, daß die betreffenden Beihilfen
nicht genehmigt würden. Der Gedanke des Vertrauensschutzes könne nicht mit
einer Maßnahme in Verbindung gebracht werden, die aufgrund der Entwicklungder wirtschaftlichen Situation geändert werden könne. Außerdem widerspreche sich
die Klägerin selbst, wenn sie einräume, daß der Beihilfenkodex so hätte abgeändert
werden können, daß die Kommission auf der Grundlage des Kodex die streitigen
Entscheidungen hätte erlassen können. Da der Beihilfenkodex auf der gleichen
Rechtsgrundlage erlassen worden sei wie die betreffenden Entscheidungen, sei kein
Grund ersichtlich, weshalb die Kommission diese Entscheidungen nicht hätte
rechtmäßig erlassen können, da die Entscheidungsverfahren doch die gleichen
seien.
- 64.
- Für die Italienische Republik kann der Grundsatz des Vertrauensschutzes dem
Erlaß einer Maßnahme nicht entgegenstehen, die auf ein Ermessen gestützt sei und
im Vergleich zur bisherigen Regelung eine Neuerung bringe. Die gegenteilige
Auffassung würde der Anpassung der Gemeinschaftsrechtsordnung an
Veränderungen nach Maßgabe ihrer Zielsetzungen entgegenstehen. Außerdem sei
der Erlaß des Beihilfenkodex nicht geeignet, bei der Klägerin ein berechtigtes
Vertrauen entstehen zu lassen, das die streitigen Entscheidungen hätten
enttäuschen können, weil diese keineswegs in Frage stellten, was im Kodex
vorgesehen und geregelt sei.
- 65.
- Das Königreich Spanien weist darauf hin, daß der Grundsatz des
Vertrauensschutzes nicht so weit gehen könne, daß er der Anwendung einer neuen
Regelung auf die künftigen Folgen von Sachverhalten allgemein entgegenstünde,
die aufgrund der früheren Regelung entstanden seien, deren Gegenstand notwendig
eine ständige Anpassung an die Veränderungen der Wirtschaftslage mit sich bringe.
Im vorliegenden Fall habe die Klägerin nicht nachgewiesen, daß sie sich in einer
Lage befunden habe, die geeignet gewesen sei, bei ihr ein berechtigtes Vertrauen
darauf entstehen zu lassen, daß die streitigen Entscheidungen wegen der Geltung
eines Beihilfenkodex niemals erlassen werden könnten.
- 66.
- ILVA schließt sich insgesamt dem Vorbringen der Kommission und der übrigen
Verfahrensbeteiligten an, die dem Rechtsstreit zur Unterstützung der Anträge der
Kommission beigetreten sind. Die Geltung eines Beihilfenkodex könne nicht die
Erwartung rechtfertigen, daß die Kommission keine Beihilfe genehmigen werde, die
nicht unter diesen Kodex falle. Der Kodex sei Ausdruck des Ermessens, das der
Kommission zur Verfolgung der Ziele des Vertrages eingeräumt worden sei, und
spiegele die wirtschaftlichen Bedingungen wider, die zum Zeitpunkt seines Erlasses
geherrscht hätten. Außerdem habe die Klägerin nicht nachgewiesen, daß sie die
strengen Voraussetzungen für die Entstehung eines berechtigten Vertrauens erfülle.
Sie habe nicht den Nachweis erbracht, daß sie in der Erwartung, daß der
Beihilfenkodex nicht abgeändert werde, eine nicht mehr abzuändernde Lage
geschaffen habe. Außerdem habe die Klägerin, selbst wenn man annehme, daß der
Beihilfenkodex ein berechtigtes Vertrauen begründen könne, nicht bewiesen, daß
die streitigen Entscheidungen zu einer plötzlichen oder unvorhergesehenen
Entwicklung ihrer Lage geführt hätten und ihr berechtigtes Vertrauen daher
enttäuscht worden sei. Die Klägerin habe nämlich alle Initiativen, die die
Kommission vor Erlaß der Entscheidungen ergriffen habe, sowie die Ereignisse
gekannt, die ihnen vorangegangen seien.
Würdigung durch das Gericht
Zur Zulässigkeit des neuen Vorbringens von SSAB Svenskt Stål zum
EWR-Abkommen
- 67.
- Die schwedische Gesellschaft SSAB Svenskt Stål, Streithelferin von British Steel,
bezieht sich in ihrem Vorbringen auf das EWR-Abkommen. Sie verweist nämlich
bezüglich der Beeinträchtigung des berechtigten Vertrauens auf den EGKS-Beihilfenkodex, allerdings wie er gemäß Artikel 5 des Protokolls 14 des EWR-Abkommens in Anhang XV des Abkommens aufgenommen wurde. Dieses
Vorbringen ist im Vorbringen der Klägerin nicht enthalten. Außerdem beruft sich
die Streithelferin nur auf einen Verstoß gegen den Grundsatz des
Vertrauensschutzes ihr gegenüber und nicht gegenüber der Klägerin.
- 68.
- Die Frage, ob sich ein Streithelfer zur Unterstützung der Anträge eines Klägers,
der sich bei seiner Nichtigkeitsklage im Rahmen des Klagegrundes des Verstoßes
gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes nicht auf das EWR-Abkommen
berufen hat, zum einen auf Vorschriften dieses Abkommens und zum anderen auf
einen Verstoß gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes in bezug auf sein
eigenes berechtigtes Vertrauen berufen kann, berührt zwingendes
Gemeinschaftsrecht. Das Gericht hält es daher für erforderlich, die Zulässigkeit
dieses neuen Vorbringens von SSAB Svenskt Stål nach Maßgabe des Artikels 113
der Verfahrensordnung zu prüfen.
- 69.
- Gemäß Artikel 34 Absatz 2 der Satzung des Gerichtshofes können mit den
Anträgen der Beitrittserklärung nur die Anträge einer Partei unterstützt werden.
Außerdem muß der Streithelfer gemäß Artikel 116 § 3 der Verfahrensordnung den
Rechtsstreit in der Lage annehmen, in der dieser sich zur Zeit des Beitritts
befindet.
- 70.
- Diese Bestimmungen sind in der Rechtsprechung dahin ausgelegt worden, daß
neues Vorbringen eines Streithelfers zulässig ist, wenn es den Rahmen des
Rechtsstreits nicht verändert (vgl. Urteil De Gezamenlijke Steenkolenmijnen in
Limburg/Hohe Behörde, a. a. O., Beschluß des Gerichtshofes vom 24. Oktober
1962 in der Rechtssache 16/62, Confédération nationale des producteurs de fruits
et légumes u. a./Rat, Slg. 1962, S. 997, sowie Urteile des Gerichts vom 8. Juni 1995
in der Rechtssache T-459/93, Siemens/Kommission, Slg. 1995, II-1675, Randnr. 21,
und vom 6. Juli 1995 in den Rechtssachen T-447/93, T-448/93 und T-449/93, AITEC
u. a./Kommission, Slg. 1995, II-1971, Randnr. 122).
- 71.
- Im vorliegenden Fall stellt sich damit die Frage, ob das Vorbringen von SSAB
Svenskt Stål im Lichte der Verfahrensvorschriften und der angeführten
Rechtsprechung als zulässig anzusehen ist. Es ist mit anderen Worten die Frage zu
stellen, ob dieses Vorbringen, auch wenn es sich innerhalb der Anträge der
Klägerin hält, den „Rahmen des Rechtsstreits“ verändern will oder dessen
Streitgegenstand respektiert.
- 72.
- Die Streithelferin betrachtet den Beihilfenkodex unter dem Blickwinkel des EWR-Abkommens, um damit ihr Vorbringen zu belegen, daß ihr eigenes berechtigtes
Vertrauen beeinträchtigt worden sei. Dieses Vorbringen ist nicht zulässig, weil es
zum einen ausschließlich eine Verletzung des Grundsatzes des Vertrauensschutzes
gegenüber der Streithelferin und nicht gegenüber der Klägerin belegen soll und
zum anderen in den Rahmen des EWR-Abkommens gehört und damit den von der
Klägerin festgelegten Rahmen des vorliegenden Rechtsstreits verändert.
- 73.
- Das Vorbringen von SSAB Svenskt Stål im Rahmen des zweiten Klagegrundes ist
daher nicht zulässig.
Zur Begründetheit des Klagegrundes
- 74.
- Die Klägerin ist der Ansicht, die streitigen Entscheidungen verletzten den
Grundsatz des Vertrauensschutzes, da sie eine Störung des gemeinsamen
Stahlmarktes bewirkten, indem sie trotz des ausdrücklichen Verbotes staatlicher
Beihilfen und der Geltung eines sehr strengen Beihilfenkodex verwirrende
Elemente einführe, die die Produktionsstrategien der Unternehmen, die keine
Beihilfen erhielten, unwirksam machen könnten.
- 75.
- Dieses Vorbringen beruht wie die Kommission und die sie unterstützenden
Streithelfer zutreffend bemerkt haben auf der irrigen Ansicht, die Geltung des
Beihilfenkodex habe den betreffenden Unternehmen die Gewißheit verschafft, daß
unter besonderen Umständen keine Einzelfallentscheidung erlassen werde, mit der
staatliche Beihilfen außerhalb der Kategorien des Kodex genehmigt würden. Wie
das Gericht bereits festgestellt hat (siehe oben, Randnrn. 46 bis 52), hat der
Beihilfenkodex aber nicht den gleichen Zweck wie die streitigen Entscheidungen,
die erlassen wurden, um einer Ausnahmesituation zu begegnen. Dieser Kodex
konnte daher keinesfalls berechtigte Erwartungen in bezug auf die Frage entstehen
lassen, ob in einer unvorhergesehenen Situation, wie sie zum Erlaß der streitigen
Entscheidungen geführt hat (siehe oben, Randnr. 48), die Gewährung individueller
Ausnahmen vom Verbot staatlicher Beihilfen auf der Grundlage von Artikel 95
Absätze 1 und 2 des Vertrages möglich sein würde.
- 76.
- Außerdem ergibt sich aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofes, daß,
„wenn der Grundsatz des Vertrauensschutzes auch zu den Grundprinzipien der
Gemeinschaft gehört, ... die Marktbürger doch ... nicht auf die Beibehaltung einer
bestehenden Situation vertrauen [dürfen], die die Gemeinschaftsorgane im Rahmen
ihres Ermessens ändern können“ (vgl. Urteil vom 14. Februar 1990 in der
Rechtssache C-350/88, Delacre u. a./Kommission, Slg. 1990, I-395, Randnr. 33).
- 77.
- Für das einwandfreie Funktionieren des gemeinsamen Stahlmarktes ist nämlich
zweifellos eine ständige Anpassung nach Maßgabe der Veränderungen der
Wirtschaftslage erforderlich, und die Wirtschaftsteilnehmer können sich nicht auf
ein wohlerworbenes Recht auf Beibehaltung der zu einem bestimmten Zeitpunkt
bestehenden Rechtslage berufen (vgl. Urteil des Gerichtshofes vom 27. September
1979 in der Rechtssache 230/78, Eridania, Slg. 1979, 2749, Randnr. 22, und Urteil
des Gerichts vom 21. Februar 1995 in der Rechtssache T-472/93, Campo Ebro
u. a./Rat, Slg. 1995, II-421, Randnr. 52). Außerdem hat der Gerichtshof auch den
Begriff des „umsichtigen und besonnenen Wirtschaftsteilnehmers“ verwendet, um
darauf hinzuweisen, daß es in bestimmten Fällen möglich ist, den Erlaß spezifischer
Maßnahmen, die offensichtlichen Krisensituationen entgegenwirken sollen,
vorherzusehen, so daß eine Berufung auf den Grundsatz des Vertrauensschutzes
nicht möglich ist (vgl. Urteil vom 1. Februar 1978 in der Rechtssache 78/77, Lührs,
Slg. 1978, 169).
- 78.
- Unter diesen Umständen ist klar, daß die Klägerin in Anbetracht ihrer
bedeutenden wirtschaftlichen Position und ihrer Mitwirkung im Beratenden
Ausschuß der EGKS jedenfalls hätten bemerken müssen, daß sich die zwingende
Notwendigkeit, wirksame Maßnahmen zum Schutz der Interessen der europäischen
Stahlindustrie zu ergreifen, ergeben würde und daß der Rückgriff auf Artikel 95 des
Vertrages den Erlaß von Ad-hoc-Entscheidungen durch die Kommission
rechtfertigen könnte, wie dies bereits wiederholt bei Geltung eines Beihilfenkodex
geschehen war. Die Kommission zitiert dazu mit Recht ihre vorerwähnte
Entscheidung 89/218 vom 23. Dezember 1988 und ihre Entscheidung 92/411/EGKS
vom 31. Juli 1992 betreffend die Gewährung von Beihilfen an Eisen- und
Stahlunternehmen durch die dänische und die niederländische Regierung (ABl.
L 223, S. 28), mit denen außerhalb des zur Zeit ihres Erlasses geltenden
Beihilfenkodex bestimmte staatliche Beihilfen genehmigt wurden.
- 79.
- Daraus folgt, daß die streitigen Entscheidungen nicht gegen den Grundsatz des
Vertrauensschutzes verstoßen.
3. Dritter Klagegrund: Verstoß gegen Artikel 95 des Vertrages sowie gegen das
Diskriminierungsverbot und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
- 80.
- Zu prüfen ist hier der Reihe nach das Vorbringen der Klägerin zur Verletzung des
Vertrages und zum Verstoß gegen die genannten grundlegenden Prinzipien.
Zum behaupteten Verstoß gegen Artikel 95 Absätze 1 und 2
Vorbringen der Verfahrensbeteiligten
- 81.
- Nach Auffassung von British Steel kann eine Maßnahme auf der Grundlage der
ersten beiden Absätze des Artikels 95 nur insoweit getroffen werden, als sie
notwendig ist, um die im Vertrag festgelegten Ziele zu verwirklichen. Im
vorliegenden Fall sei das einzige in der Begründung der streitigen Entscheidungen
genannte Ziel, der italienischen und spanischen Stahlindustrie eine solide und
wirtschaftlich tragbare Struktur zu geben. Die Zahlung von staatlichen Beihilfen an
diese Industrien trage indessen nicht dazu bei, ihnen langfristig eine solche Struktur
zu vermitteln. Die den betreffenden Unternehmen in der Vergangenheit gewährten
Beihilfen hätten dieses Ziel nicht erreicht, und es sei sehr unwahrscheinlich, daß
dies in der Zukunft gelinge. Diese Beihilfen verlängerten vielmehr das Leben nicht
leistungsfähiger Produktionseinheiten und erlaubten die Beibehaltung von
Überkapazitäten, was zu einem Sinken der Preise und einer Abnahme der
Rentabilität in der gesamten europäischen Stahlindustrie führe. British Steel
verweist in diesem Zusammenhang auf die früheren Beihilfen für die italienischen
Unternehmen ILVA und deren Vorgänger Finsider sowie für das spanische
Unternehmen CIS: Trotz der von der Kommission genehmigten Beihilfen an ILVA
(1989) und CIS (1987) sei die Lebensfähigkeit dieser Unternehmen nicht
wiederhergestellt worden, was die Kommission in der Begründung der streitigen
Entscheidungen stillschweigend einräume.
- 82.
- Genauer gesagt erlaubten es die mit den streitigen Entscheidungen genehmigten
Beihilfen nicht, die Lebensfähigkeit von ILVA und CSI sicherzustellen, und dies
zum einen wegen der spezifischen Konjunkturlage dieser beiden Unternehmen, die
nach Presseberichten 1992 und 1993 schwerere Verluste als erwartet erlitten hätten
und daher gezwungen seien, die notwendige Rationalisierung langsamer anzugehen
oder neue Kredite aufzunehmen, die ihre zukünftige Lebensfähigkeit belasteten.
Die Unwirksamkeit solcher Beihilfen ergebe sich zum anderen aus den allgemeinen
Perspektiven der europäischen Stahlindustrie, die durch Überkapazitäten in der
Erzeugung gekennzeichnet sei. Vor diesem Hintergrund bewirkten diese Beihilfen
einzig und allein, ihre Empfänger in die Lage zu versetzen, ihre Marktanteile zu
Lasten leistungsfähigerer Wettbewerber durch Verkauf ihrer Erzeugnisse zu unterden Gestehungskosten liegenden Preisen zu vergrößern.
- 83.
- Unter diesen Umständen stellt die Klägerin die Würdigung der
Umstrukturierungspläne von ILVA und CSI in Frage, die die Kommission auf der
Grundlage der Sachverständigengutachten Atkins und CSI (vgl. oben, Randnr. 13)
vorgenommen habe, auf die in Abschnitt III der Begründung der angefochtenen
Entscheidungen stillschweigend Bezug genommen werde, wenn dort von der
Mitwirkung außenstehender Sachverständiger die Rede sei. Ihrer Auffassung nach
gibt es mehrere Alternativen zur staatlichen Beihilfe, wie ein in ihrem Auftrag
erstelltes Gutachten von Professor T. A. J. Cockerill (Anlage 9 zur Klageschrift)
zeige, in dem verschiedene andere Maßnahmen angeführt würden, die es
ermöglichten, im Fall von ILVA und CSI die gesteckten Ziele zu erreichen. Dieses
Gutachten befürworte insbesondere einen Gesamt- oder Teilverkauf der Aktiva der
betreffenden Unternehmen, den Abschluß von Joint-venture-Vereinbarungen und
den Verkauf einzelner Produktionseinheiten an Stahlhersteller außerhalb der
Europäischen Union.
- 84.
- SSAB Svenskt Stål macht geltend, die streitigen Entscheidungen beeinträchtigten
den Handel zwischen der Gemeinschaft und den EFTA-Ländern, für den das
EWR-Abkommen gelte. Die Kommission habe somit gegen das
Entscheidungsverfahren nach Artikel 97 des EWR-Abkommens verstoßen, das
insbesondere voraussetze, daß die betreffende Vertragspartei die anderen
Vertragsparteien über Änderungen ihrer internen Rechtsvorschriften informiere
und daß der Gemeinsame EWR-Ausschuß feststelle, daß die geänderten
Rechtsvorschriften das gute Funktionieren des Abkommens nicht beeinträchtigten.
- 85.
- Die Kommission weist vorab darauf hin, daß das Vorbringen der Klägerin in
Wahrheit einen verschleierten Versuch darstelle, eine inhaltliche Kontrolle der
wirtschaftlichen Analyse zu erreichen, die zu den streitigen Entscheidungen geführt
habe, was durch die in Artikel 33 des Vertrages vorgesehenen Nichtigkeitsgründe
nicht mehr gedeckt sei. Die Prüfung der Rechtmäßigkeit der Entscheidungen
gemäß Artikel 95 müsse sich auf die Frage beschränken, ob der Kommission bei
der Beurteilung der Notwendigkeit der genehmigten Beihilfen für die
Verwirklichung der Ziele des Vertrages ein offensichtlicher Fehler unterlaufen sei.
- 86.
- Die streitigen Entscheidungen hätten den betreffenden Unternehmen durch
Umstrukturierungsmaßnahmen auf der Grundlage des Kapazitätsabbaus gesunde
und rentable Strukturen vermitteln sollen. Es handele sich mithin um
Gemeinschaftsbeihilfen in dem Sinne, daß sie den im Vertrag festgelegten Zielen
dienten und mit dem ordnungsgemäßen Funktionieren des gemeinsamen
Stahlmarkts vereinbar seien. Die Gemeinschaftspolitik im Hinblick auf
Umstrukturierungsbeihilfen für die Stahlindustrie müsse auch bestimmte soziale
Ziele berücksichtigen, wie sie in Artikel 3 Buchstaben c, d, e und g des Vertrages
festgelegt seien. Bei der Bekämpfung der Krise habe die Kommission mit der
Aufrechterhaltung der Beschäftigung daher die in Zusammenhang stehenden
Erfordernisse mit der Notwendigkeit in Einklang gebracht, die Eingriffe zu
begrenzen und normale Wettbewerbsbedingungen aufrechtzuerhalten.
- 87.
- Insoweit beruhe die im Gutachten Cockerill geäußerte Kritik an den streitigen
Entscheidungen auf einer rein theoretischen Analyse des Stahlwirtschaftssektors
sowie auf einer ungenügenden Kenntnis des Sachverhalts. Außerdem verkenne das
Gutachten die Komplexität und die Mannigfaltigkeit der Ziele, die die Kommission
zu berücksichtigen habe.
- 88.
- Der Rat schließt sich dem Vorbringen der Kommission an, wonach die Klägerin zu
beweisen habe, daß bei der Beurteilung der Notwendigkeit, die betreffenden
Beihilfen zu gewähren, um die Ziele des Vertrages zu verwirklichen, ein Fehler
unterlaufen sei. Diesen Beweis habe die Klägerin nicht erbracht.
- 89.
- Die Italienische Republik schließt sich insgesamt dem Vorbringen der Kommission
an. Die streitigen Entscheidungen seien angesichts der Schwierigkeiten der
gesamten Stahlindustrie in der Gemeinschaft erlassen worden. Weder der Kontext
ihres Erlasses noch ihr Inhalt ließen die Behauptung zu, sie seien dadurch
beeinflußt worden, daß die betreffenden Unternehmen öffentliche Unternehmen
gewesen seien. Außerdem überschritten die Beanstandungen der Klägerin in bezug
auf die mit den angefochtenen Entscheidungen verfolgten Ziele und die gegen
deren Rechtmäßigkeit gerichteten Rügen die in Artikel 33 des Vertrages
festgelegten Grenzen der gerichterlichen Kontrolle.
- 90.
- Nach Auffassung des Königreichs Spanien hat die Kommission versucht, mehrere
der wesentlichen Ziele des Vertrages miteinander in Einklang zu bringen, indem
sie auf die Sanierung der betreffenden Wirtschaftszweige abgezielt habe, die einen
wesentlichen Teil der gemeinsamen Stahlindustrie darstellten. Es sei allein Sache
der Kommission, die Notwendigkeit des Erlasses von Maßnahmen zu beurteilen
und den Inhalt dieser Maßnahmen festzulegen. Die Klägerin müsse den Nachweis
führen, daß ein offensichtlicher Beurteilungsfehler oder ein Ermessensmißbrauch
vorliege, um die Rechtmäßigkeitsvermutung zu entkräften, die für Handlungen der
Gemeinschaftsorgane gelte.
- 91.
- ILVA tritt der Art und Weise entgegen, wie British Steel die im Gutachten
Cockerill verwendeten wirtschaftlichen Kriterien verwende. Ein großer Teil der
Beanstandungen der Klägerin, die sich auf den Inhalt der streitigen Entscheidung
bezögen, gälten den Tatsachen, auf die die Kommission sich bei ihrer Beurteilung
gestützt habe. Der Gemeinschaftsrichter dürfe aber seine Beurteilung nicht an die
Stelle der Beurteilung der zuständigen Behörde setzen, sondern habe seine
Kontrolle auf das Fehlen eines offensichtlichen Fehlers oder eines
Ermessensmißbrauchs anhand der zum Zeitpunkt des Erlasses der streitigen
Entscheidungen verfügbaren Angaben zu beschränken. Außerdem seien aber auf
jeden Fall die Behauptungen der Klägerin unzutreffend, wonach die ILVA
gewährte Beihilfe nicht die verfolgten Ziele erreichen könne. Diese Beihilfe habe
es ganz im Gegenteil möglich gemacht, das Verhältnis von Bruttogewinnmarge zum
Umsatz des begünstigten Unternehmens über den europäischen Durchschnitt
anzuheben. Die ordnungsgemäße Verwendung dieser Beihilfe an ILVA sei offiziell
in einem Bericht eines unabhängigen Beraters bestätigt worden, den die
Kommission bestimmt habe. Die Lebensfähigkeit von ILVA sei daher dank eines
Eingreifens wiederhergestellt worden, das den gemeinsamen Stahlmarkt gegen die
verheerenden Folgen der Weltkrise in diesem Sektor verteidigen solle. Es müsse
auch darauf hingewiesen werden, daß ILVA nach Erfüllung der Bedingungen, die
die Kommission für die Genehmigung der Beihilfe gestellt habe, den
Umstrukturierungsplan vollständig erfüllt habe, in dessen Rahmen 100 % des
Kapitals von ILVA und Acciai Speciali Terni an private Unternehmen verkauft
worden seien. Zu dem Vorbringen, daß ILVA weiterhin zu einem beliebigen Preis
verkaufen könne, um die Weiterverfolgung ihrer Tätigkeiten sicherzustellen, weist
die Streithelferin darauf hin, daß die von der Kommission genehmigte Beihilfe nicht
Zwecken unlauteren Wettbewerbs dienen könne und Artikel 5 Absatz 2 der sie
betreffenden streitigen Entscheidung die Eröffnung eines Untersuchungsverfahrens
nach Artikel 60 des Vertrages vorsehe.
Würdigung durch das Gericht
Zur Zulässigkeit des neuen Vorbringens der SSAB Svenskt Stål zum EWR-Abkommen
- 92.
- Das schwedische Unternehmen SSAB Svenskt Stål, Streithelferin zur Unterstützung
von British Steel, bezieht sich in ihrem Streithilfeschriftsatz auf das EWR-Abkommen. Sie führt nämlich bezüglich des Klagegrundes der Verletzung des
Artikels 95 des Vertrages sowie des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und des
Diskriminierungsverbots eine neue Rüge der Verletzung des in den Artikeln 97 ff.
des EWR-Abkommens geregelten Verfahrens ein, die die Klägerin nicht erhoben
hat.
- 93.
- Die Frage, ob sich ein Streithelfer zur Unterstützung der Anträge eines Klägers,
der sich bei einer Nichtigkeitsklage selbst nicht auf das EWR-Abkommen berufen
hat, auf Vorschriften dieses Abkommens berufen kann, berührt zwingendes
Gemeinschaftsrecht. Das Gericht hält es daher für erforderlich, die Zulässigkeit des
neuen Vorbringens der SSAB Svenskt Stål nach Maßgabe des Artikels 113 der
Verfahrensordnung zu prüfen.
- 94.
- Gemäß Artikel 34 Absatz 2 der Satzung des Gerichtshofes können mit den
Anträgen der Beitrittserklärung nur die Anträge einer Partei unterstützt werden.
Außerdem hat der Streithelfer gemäß Artikel 116 § 3 der Verfahrensordnung den
Rechtsstreit in der Lage anzunehmen, in der dieser sich zur Zeit des Beitritts
befindet.
- 95.
- Nach diesen Verfahrensvorschriften, wie sie in der in Randnummer 70 zitierten
Rechtsprechung ausgelegt werden, stellt sich die Frage, ob das Vorbringen von
SSAB Svenskt Stål, auch wenn es sich innerhalb der Anträge der Klägerin hält, in
Wahrheit nicht den Rahmen des Rechtsstreits verändern will, oder ob es dessen
Streitgegenstand respektiert und damit als zulässig angesehen werden kann.
- 96.
- Im vorliegenden Fall macht die Streithelferin einen angeblichen Verstoß gegen die
Artikel 97 ff. des EWR-Abkommens geltend. Nach Auffassung des Gerichts würde,
wenn man die Zulässigkeit dieses Vorbringens bejahte, der Rahmen des
Rechtsstreits in dem Sinne erweitert, daß ein neuer und selbständiger Klagegrund
eingeführt würde: neu, weil er sich ausschließlich auf das Entscheidungsverfahren
nach Artikel 97 des EWR-Abkommens bezieht und zu keinem Zeitpunkt des
schriftlichen Verfahrens von der Klägerin vorgebracht worden ist, und selbständig,
weil er keinen Zusammenhang mit dem Verstoß gegen Artikel 95 des Vertrages
und die von der Klägerin angeführten grundlegenden Prinzipien aufweist. In
Wahrheit möchte SSAB Svenskt Stål einen neuen Klagegrund einführen, der auf
die Verletzung von im Rahmen des EWR-Abkommens anwendbaren
Verfahrensvorschriften gestützt ist, während das vorliegende Verfahren sich
ausschließlich auf den rechtlichen Kontext des EGKS-Vertrags bezieht.
- 97.
- Das Vorbringen von SSAB Svenskt Stål überschreitet somit den Rahmen des
vorliegenden Rechtsstreits und kann daher nicht als zulässig angesehen werden.
Zur Begründetheit des Klagegrundes
- 98.
- Wie bereits entschieden worden ist (siehe oben, Randnrn. 39 bis 55), ist die
Kommission nach Artikel 95 Absätze 1 und 2 des Vertrages befugt, immer dann
staatliche Beihilfen innerhalb der Gemeinschaft zu genehmigen, wenn die
Wirtschaftslage im Stahlsektor den Erlaß derartiger Maßnahmen zur Erreichung
eines der Ziele der Gemeinschaft erforderlich macht.
- 99.
- Diese Voraussetzung ist vor allem dann erfüllt, wenn der betreffende Sektor mit
außergewöhnlichen Krisensituationen konfrontiert ist. Unter diesem Gesichtspunkt
hat der Gerichtshof im Urteil vom 3. Oktober 1985 in der Rechtssache 214/83
(Deutschland/Kommission, Slg. 1985, 3053, Randnr. 30) auf „den engen
Zusammenhang hingewiesen ..., der im Rahmen der Anwendung des
EGKS-Vertrags in Krisenzeiten zwischen der Gewährung von Beihilfen für die
Stahlindustrie und den dieser Industrie auferlegten Umstrukturierungsbemühungen
besteht“. Die Kommission beurteilt im Rahmen dieser Anwendung nach ihrem
Ermessen, ob die Beihilfen, die die Umstrukturierungsmaßnahmen begleiten sollen,
mit den Grundprinzipien des Vertrages vereinbar sind.
- 100.
- Im vorliegenden Fall ist unstreitig, daß die europäische Stahlindustrie zu Beginn der
neunziger Jahre unvermittelt in eine schwere Krise geriet, wozu mehrere Faktoren
beitrugen, wie die internationale Wirtschaftsrezession, die Schließung traditioneller
Exportwege, der steile Anstieg der Konkurrenz durch Stahlunternehmen der
Entwicklungsländer und die rasche Zunahme der Gemeinschaftseinfuhren von
Stahlerzeugnissen aus Mitgliedsländern der Organisation der Erdöl exportierenden
Länder (OPEC). Vor diesem Krisenhintergrund ist zu beurteilen, ob die fraglichen
Beihilfen, wie Artikel 95 Absätze 1 und 2 des Vertrages es verlangt, erforderlich
waren, um bestimmte grundlegende Ziele des Vertrages zu erreichen.
- 101.
- Die streitigen Entscheidungen sagen in Abschnitt IV ihrer Begründung eindeutig,
daß sie auf die Sanierung des Stahlsektors in dem betreffenden Mitgliedstaat
abzielen. In der Entscheidung über die für CSI bestimmten Beihilfen heißt es: „Das
Vorhaben, CSI mit einer wirtschaftlich gesunden und tragfähigen Struktur
auszustatten, trägt zur Verwirklichung der Ziele des EGKS-Vertrags, insbesondere
der Artikel 2 und 3, bei“. In der Entscheidung 94/259 über die Beihilfen für ILVA
bringt die Kommission den gleichen Gedanken zum Ausdruck, wobei sie eine leicht
abweichende Formulierung verwendet. Es heißt dort, daß „[die] Wiederherstellung
tragfähiger und wirtschaftlich gesunder Strukturen der italienischen Stahlindustrie
... ein Beitrag zur Verwirklichung der Ziele des EGKS-Vertrages [ist]“.
- 102.
- Somit ist erstens zu prüfen, ob diese Zielsetzung an den Zielen des Vertrages
ausgerichtet ist, und zweitens, ob die Genehmigung der fraglichen Beihilfen zur
Erreichung dieser Ziele erforderlich war.
- 103.
- Was erstens die Frage angeht, ob die Sanierung der begünstigten Unternehmen auf
die Erreichung der Ziele des Vertrages abzielt, so ergibt sich aus der Begründung
der angefochtenen Entscheidungen ausdrücklich, daß diese Zielsetzung komplex
war und mehrere Aspekte aufwies. Die fraglichen Beihilfen sollten die
Privatisierung der begünstigten öffentlichen Unternehmen, die Stillegungbestimmter Anlagen, den Abbau der Überkapazitäten und die Aufgabe von
Arbeitsplätzen in einem annehmbaren Maß erleichtern (vgl. Abschnitt II der
Begründung der streitigen Entscheidungen). Wenn all dies verwirklicht wäre, sollte
es den betreffenden Unternehmen eine gesunde und rentable Struktur ermöglichen.
- 104.
- Die streitigen Entscheidungen verfolgen somit unter einer zusammenfassenden
Formel eine breite Vielfalt von Zielen, bei denen zu prüfen ist, ob sie im Kontext
der Krise, von der die Stahlindustrie betroffen war (siehe oben, Randnrn. 98 bis
100), an den in den Artikeln 2 und 3 des Vertrages bezeichneten Zielen
ausgerichtet sind, auf die in der Begründung dieser Entscheidungen ausdrücklich
Bezug genommen wird.
- 105.
- Vorab ist darauf hinzuweisen, daß nach ständiger Rechtsprechung die Rolle der
Kommission in Anbetracht der Verschiedenartigkeit der im Vertrag festgelegten
Ziele darin besteht, diese verschiedenen Ziele ständig miteinander in Einklang zu
bringen, wobei sie von ihrem Ermessen Gebrauch macht, um zu einer Wahrung des
gemeinsamen Interesses zu gelangen (vgl. Urteile des Gerichtshofes vom 13. Juni
1958 in der Rechtssache 9/56, Meroni/Hohe Behörde, Slg. 1958, 11, 43, vom 21.
Juni 1958 in der Rechtssache 8/57, Groupement des hauts fourneaux et aciéries
belges/Hohe Behörde, Slg. 1958, 233, 252, sowie vom 29. September 1987 in den
Rechtssachen 351/85 und 360/85, Fabrique de fer de Charleroi und Dillinger
Hüttenwerke/Kommission, Slg. 1987, 3639, Randnr. 15). Insbesondere im Urteil
vom 18. März 1980 in den Rechtssachen 154/78, 205/78, 206/78, 226/78, 227/78,
228/78, 263/78, 264/78, 31/79, 39/79, 83/79 und 85/79 (Valsabbia u. a./Kommission,
Slg. 1980, 907, Randnr. 55) hat der Gerichtshof ausgeführt: „Wenn sich ein
Kompromiß zwischen den verschiedenen Zielen schon bei einer gewöhnlichen
Marktlage als notwendig erweist, so erst recht in einer Krisensituation, die zu
außerordentlichen Maßnahmen berechtigt, durch die von den normalen
Funktionsgesetzen des gemeinsamen Stahlmarktes abgewichen wird und die es
offensichtlich mit sich bringen, daß bestimmte Ziele des Artikels 3, und sei es nur
dasjenige des Buchstabens c, wonach auf die Bildung niedrigster Preise zu achten
ist, außer acht gelassen werden.“
- 106.
- Im vorliegenden Fall stellt das Gericht fest, daß die streitigen Entscheidungen
verschiedene Ziele des Vertrages miteinander in Einklang bringen, um wichtige
Interessen zu wahren.
- 107.
- Die in diesen Entscheidungen genannten Maßnahmen der Rationalisierung der
europäischen Stahlindustrie durch Sanierung bestimmter Konzerne, der Stillegung
der veralteten oder wenig wettbewerbsfähigen Anlagen, der Reduzierung der
Überkapazitäten, der Privatisierung des ILVA-Konzerns, um dessen
Lebensfähigkeit zu sichern, und des Abbaus von Arbeitsplätzen in einem
vertretbaren Maß tragen nämlich zur Erreichung der Ziele des Vertrages bei,
berücksichtigt man die Sensibilität des Stahlsektors und den Umstand, daß bei
Fortbestand, wenn nicht Verschärfung der Krise die Gefahr bestanden hätte, daß
im Wirtschaftsleben der betreffenden Mitgliedstaaten außergewöhnlich schwere und
anhaltende Störungen hervorgerufen worden wären. Es ist unstreitig, daß diesem
Sektor in mehreren Mitgliedstaaten wegen des Standorts der Stahlanlagen in
Regionen, die durch Unterbeschäftigung gekennzeichnet sind, und des Umfangs der
in Frage stehenden wirtschaftlichen Interessen wesentliche Bedeutung zukommt.
Unter diesen Umständen hätten Entscheidungen über Stillegungen und den Abbau
von Arbeitsplätzen sowie die Übernahme der Kontrolle über die betreffenden
Unternehmen durch ausschließlich nach marktwirtschaftlichen Gesetzen handelnde
private Gesellschaften ohne unterstützende behördliche Maßnahmen sehr ernste
Schwierigkeiten für die öffentliche Ordnung hervorrufen können, insbesondere
durch eine Verschärfung des Problems der Arbeitslosigkeit und die Gefahr der
Schaffung einer größeren wirtschaftlichen und sozialen Krisensituation.
- 108.
- Somit zielen die streitigen Entscheidungen, die derartige Schwierigkeiten durch die
Sanierung der durch die betreffenden Beihilfen begünstigten Stahlunternehmen
lösen wollen, unbestreitbar darauf ab, dafür zu sorgen, daß „keine Unterbrechung
in der Beschäftigung eintritt“, und zu vermeiden, „daß im Wirtschaftsleben der
Mitgliedstaaten tiefgreifende und anhaltende Störungen hervorgerufen werden“, wie
es Artikel 2 Absatz 2 des Vertrages verlangt. Außerdem verfolgen die
Entscheidungen die in Artikel 3 verankerten Ziele u. a. in bezug auf die
„[Erhaltung von] Voraussetzungen ..., die einen Anreiz für die Unternehmen
bieten, ihr Produktionspotential auszubauen und zu verbessern“ (Buchstabe d), und
die Förderung der „geordnete[n] Ausweitung und Modernisierung der Erzeugung
sowie [der] Verbesserung der Qualität in einer Weise ..., die jede Schutzmaßnahme
gegen Konkurrenzindustrien ausschließt“ (Buchstabe g). Sie zielen nämlich darauf
ab, die europäische Stahlindustrie insbesondere durch die endgültige Stillegung
veralteter oder wenig wettbewerbsfähiger Anlagen (z. B. Bagnoli in Italien sowie
Avilés, Gijón, Biscaya und Ansiao in Spanien) und durch die unwiederbringliche
Kürzung der Kapazitäten zur Produktion bestimmter Erzeugnisse (z. B. in Tarent
in Italien) zu rationalisieren, um die durch Überkapazität gekennzeichnete Lage zu
meistern (vgl. Artikel 2 der streitigen Entscheidungen). Sie sind demnach mit den
oben erwähnten vier weiteren Einzelfallentscheidungen, mit denen staatliche
Beihilfen genehmigt wurden und die am selben Tag ergangen sind, Teil eines
Gesamtprogramms zur dauerhaften Umstrukturierung des Stahlsektors und zur
Reduzierung der Produktionskapazitäten in der Gemeinschaft (siehe oben,
Randnrn. 4 bis 6). Dementsprechend besteht die Zielsetzung der fraglichen
Beihilfen nicht darin, das bloße Überleben der begünstigten Unternehmen zu
sichern was mit dem gemeinsamen Interesse unvereinbar wäre , sondern mit
ihnen soll deren Lebensfähigkeit wiederhergestellt werden, wobei die Auswirkung
der Beihilfen auf den Wettbewerb auf ein Mindestmaß beschränkt wird und auf die
Einhaltung der Grundsätze eines lauteren Wettbewerbs, insbesondere hinsichtlich
der Bedingungen der Privatisierung des ILVA-Konzerns, geachtet wird.
- 109.
- Daraus folgt, daß sich die streitigen Entscheidungen darauf beziehen, im Einklang
mit den Zielen des Vertrages das gemeinsame Interesse zu schützen. Die Ansicht
der Klägerinnen, die Entscheidungen zielten nicht auf die Erreichung dieser Ziele
ab, ist daher zurückzuweisen.
- 110.
- Nach der Feststellung, daß die streitigen Entscheidungen die Ziele des Vertrages
verfolgen, ist zweitens zu prüfen, ob sie zu diesem Zweck erforderlich waren. Wie
der Gerichtshof in seinem Urteil Deutschland/Kommission (a. a. O.) ausgeführt hat,
könnte die Kommission „keinesfalls die Gewährung staatlicher Beihilfen gestatten,
die nicht zur Erreichung der im EGKS-Vertrag aufgestellten Ziele unerläßlich sind
und die zu Wettbewerbsverzerrungen auf dem gemeinsamen Stahlmarkt führen
würden“ (Randnr. 30).
- 111.
- Insoweit ist zu bemerken, daß nach Artikel 33 Absatz 1 des Vertrages sich „die
Nachprüfung durch den Gerichtshof ... nicht auf die Würdigung der aus den
wirtschaftlichen Tatsachen oder Umständen sich ergebenden Gesamtlage erstrecken
[darf], die zu den angefochtenen Entscheidungen oder Empfehlungen geführt hat,
es sei denn, daß der Kommission der Vorwurf gemacht wird, sie habe ihr Ermessen
mißbraucht oder die Bestimmungen des Vertrags oder irgendeiner bei seiner
Durchführung anzuwendenden Rechtsnorm offensichtlich verkannt“.
- 112.
- Im Bereich staatlicher Beihilfen hat der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung
ausgeführt, daß „die Kommission ... über ein Ermessen [verfügt], das sie nach
Maßgabe wirtschaftlicher und sozialer Wertungen ausübt, die auf die Gemeinschaft
als Ganzes zu beziehen sind“ (Urteile des Gerichtshofes vom 17. September 1980
in der Rechtssache 730/79, Philip Morris/Kommission, Slg. 1980, 2671, Randnr. 24,
und Matra/Kommission, a. a. O.; vgl. Urteil des Gerichts vom 13. September 1995
in den Rechtssachen T-244/93 und T-486/93, TWD/Kommission, Slg. 1995, II-2265).
- 113.
- Im Rahmen des vorliegenden Klagegrundes, bei dem es um eine komplexe
wirtschaftliche und fachliche Beurteilung geht, muß sich die Nachprüfung durch das
Gericht daher nach ständiger Rechtsprechung auf die sachliche Richtigkeit der
Tatsachen sowie darauf beschränken, ob kein offensichtlicher Beurteilungsfehler
vorliegt (vgl. Urteile des Gerichts vom 15. Juli 1994 in der Rechtssache T-17/93,
Matra Hachette/Kommission, Slg. 1994, II-595, Randnr. 104, vom 8. Juni 1995 in
der Rechtssache T-9/93, Schöller/Kommission, Slg. 1995, II-1611, Randnr. 140, und
vom 22. Oktober 1996 in der Rechtssache T-266/94, Skibsværftsforeningen
u. a./Kommission, Slg. 1996, II-1399, Randnr. 170).
- 114.
- Im vorliegenden Fall weist die Klägerin für ihre Ansicht, daß die CSI und ILVA
gewährten Beihilfen „nicht erforderlich“ gewesen seien, darauf hin, daß nach der
Erfahrung in der Vergangenheit und in Anbetracht der überschüssigen
Produktionskapazitäten im Stahlsektor jeder Versuch, die Lebensfähigkeit der in
Rede stehenden Unternehmen durch staatliche Beihilfen wiederherzustellen,
zwangsläufig zum Scheitern verurteilt sei und schwerwiegende Auswirkungen auf
den Wettbewerb habe.
- 115.
- Das Gericht stellt hierzu zunächst fest, daß entgegen dem Vorbringen der Klägerin
die Entstehungsgeschichte und die Begründung der streitigen Entscheidungen
belegen, daß die gegenwärtige Krisensituation der europäischen Stahlindustrie und
die geeignetsten Mittel zu ihrer Bewältigung eingehend analysiert worden sind. Die
Kommission hatte einen unabhängigen Sachverständigen, Herrn Braun, mit einer
Untersuchung beauftragt, die in der Aufstellung der beabsichtigten Schließungen
von Unternehmen des Stahlsektors bestand; sein Bericht wurde am 29. Januar 1993
vorgelegt. Dieser von der Kommission eingereichte Bericht bestätigte die Angaben
in der Mitteilung der Kommission vom 23. November 1992 an den Rat und das
Europäische Parlament (siehe oben, Randnr. 4). Ferner ergibt sich aus den Akten
und den Antworten der Kommission auf die Fragen des Gerichts (vgl. oben,
Randnr. 15), daß die Kommission die Umstrukturierungspläne, die die
Beihilfevorhaben der betreffenden Mitgliedstaaten begleiteten, mit Unterstützung
externer Sachverständiger ganz genau daraufhin untersucht hat, ob sie die
Lebensfähigkeit der begünstigten Unternehmen herzustellen vermochten (Abschnitt
III der Begründung der streitigen Entscheidungen).
- 116.
- Außerdem macht die Klägerin keine konkreten Angaben, die vermuten ließen, daß
die Kommission bei ihrer Beurteilung der Erforderlichkeit der fraglichen Beihilfen
und insbesondere der Frage, ob sie geeignet waren, die Sanierung der begünstigten
Unternehmen zu erleichtern, einen offensichtlichen Fehler begangen hat.
- 117.
- Die nur auf die Ineffektivität der früheren Beihilfen gestützte Behauptung, daß die
fraglichen Beihilfen es wahrscheinlich nicht ermöglichten, die erwarteten Ergebnisse
zu erreichen, stellt nichts anderes als eine rein spekulative und hypothetische
Prognose dar. Der Versuch, die in der Vergangenheit erzielten Ergebnisse in die
Zukunft zu projizieren, ohne die konkreten Bedingungen eingehend zu prüfen, die
in den streitigen Entscheidungen im Hinblick auf eine Umstrukturierung der
begünstigten Unternehmen, die deren Lebensfähigkeit gewährleisten kann,
aufgestellt worden sind, kann kein Beweis für einen Verstoß der Kommission gegen
den Vertrag sein.
- 118.
- Das Vorbringen der Klägerin zu den angeblich unvorhergesehenen Verlusten von
ILVA und CSI in den Jahren 1992 und 1993 sowie zu der durch Überkapazitäten
gekennzeichneten Situation der Stahlindustrie entbehrt ebenfalls jeder Grundlage.
Die Klägerin berücksichtigt nämlich nicht die Vorkehrungen, die die Kommission
in den angefochtenen Entscheidungen getroffen hat, um die Lebensfähigkeit von
ILVA und CSI zu gewährleisten, insbesondere durch Anordnung der Übernahme
der Schulden dieser Unternehmen (vgl. Abschnitt II der Begründung der streitigen
Entscheidungen) bei gleichzeitiger Begrenzung der finanziellen
Umstrukturierungsmaßnahmen auf die erforderlichen Mindestbeträge, damit die
Handelsbedingungen in der Gemeinschaft nicht in einem Maß geändert werden,
das insbesondere im Hinblick auf die gegenwärtigen Schwierigkeiten des
Stahlmarktes mit dem gemeinsamen Interesse unvereinbar ist (vgl. Abschnitt VI der
Begründung der angefochtenen Entscheidungen). Unter diesem Gesichtspunkt stellt
das Gericht fest, daß die Kommission, um den begünstigten Unternehmen nicht
ungerechte Vorteile gegenüber anderen Unternehmen des Sektors zu verschaffen,
in den angefochtenen Entscheidungen insbesondere dafür Sorge trägt, daß diese
Unternehmen nicht von vornherein Nettozinslasten unterhalb von 3,5 % des
Jahresumsatzes (3,2 % bei AST, Acciai Speciali Terni) haben, was nach den
insoweit von der Klägerin nicht bestrittenen Angaben der Kommission dem
gegenwärtigen Durchschnitt bei den Stahlunternehmen in der Gemeinschaft
entspricht. Allgemein stellen die streitigen Entscheidungen in Artikel 2 eine Reihe
von Bedingungen auf, die gewährleisten sollen, daß die Finanzierungsbeihilfe auf
das unbedingt Erforderliche begrenzt wird. In Anbetracht dieser Umstände
entbehrt das Vorbringen der Klägerin, mit dem dargetan werden soll, daß die
fraglichen Beihilfen es ihren Empfängern in der gegenwärtigen, durch
Überkapazitäten gekennzeichneten Situation nur ermöglichen würden, ihre
Erzeugnisse zu Preisen unter den Gestehungskosten zu verkaufen, jeder Grundlage.
- 119.
- Überdies ergibt sich aus den Mitteilungen der Kommission an den Rat während des
Verfahrens, das zum Erlaß der streitigen Entscheidungen geführt hat, daß dieKommission die Voraussetzungen für die Lebensfähigkeit der durch die fraglichen
Beihilfen begünstigten Unternehmen eingehend untersucht hat. Für CSI
(Entscheidung 94/258) hat sie bei der Beurteilung der Durchführbarkeit des von
der spanischen Regierung mitgeteilten Umstrukturierungsplans als operationales
Kriterium herangezogen, daß „a steel untertaking cannot hope to attain lasting
financial viability if it cannot achieve, under normal market conditions, an annual
gross operating result of 13,5 % of turnover“ („ein Stahlunternehmen nicht
erwarten kann, auf Dauer finanziell tragfähig zu werden, wenn es ihm nicht gelingt,
unter normalen Marktbedingungen ein jährliches Bruttobetriebsergebnis in Höhe
von 13,5 % des Umsatzes zu erzielen“) [Mitteilung SEK(92) 1916 endg. der
Kommission vom 5. November 1992 an den Rat zur Umstrukturierung von CSI, Nr.
9.1, S. 11, Anlage 9 zur Klagebeantwortung]. Auf der Grundlage dieses Kriteriums
stellt das von der Kommission vorgelegte Sachverständigengutachten Atkins fest,
daß das Beihilfenprogramm der spanischen Regierung geeignet sei, die
Lebensfähigkeit von CSI bei geschätzten Verkäufen von 3,274 Mio. t Flachs und
1,250 Mio. t Profilstahl und Quartoblechen spätestens Ende 1996
wiederherzustellen. Es war zu dem Schluß gekommen, daß „on an estimated
turnover of 303 171 billions pesetas (2.2 BECU) the company should return to
positive operating results in 1996, with a gross operating return of 17 %, financial
charges of 5 % over sales, depreciation of 10 % and a net return of 2 %“ („das
Unternehmen bei einem geschätzten Umsatz von 303 171 Milliarden Peseten [2.2
Milliarden ECU] 1996 wieder positive Betriebsergebnisse erzielen dürfte, mit einem
Bruttobetriebsgewinn von 17 %, Finanzlasten von 5 % bei Verkäufen,
Abschreibungen von 10 % und einem Nettogewinn von 2 %“).
- 120.
- Was die Situation von ILVA betrifft, so enthält Abschnitt 2 der Mitteilung SEK(93)
2089 endg. der Kommission vom 15. Dezember 1993 an den Rat und den
Beratenden Ausschuß der EGKS, mit der sie um Zustimmung des Rates und um
Stellungnahme des Beratenden Ausschusses nach Artikel 95 des Vertrages ersuchte,
eine Analyse der Perspektiven der Lebensfähigkeit der sich aus der Privatisierung
des ILVA-Konzerns ergebenden Unternehmen (ILP und AST) (Nrn. 2.5 und 2.6),
wie sie vom Rat akzeptiert wurden, und einen Hinweis auf die Tätigkeit eines
unabhängigen Sachverständigen, der beauftragt war, „the hot-rolling mills which
could be closed without jeopardizing the viability of either of the new companies,
be it ILP or AST“ („die Warmbandstraßen, die ohne Gefährdung der
Existenzfähigkeit der neuen Gesellschaften ILP und AST stillgelegt werden
könnten“; a. a. O., Nr. 2.9), zu ermitteln. Aus diesem Dokument ergibt sich, daß
der Sachverständige sechs Optionen mit verschiedenen Stillegungen und
Reduzierungen von Kapazitäten in Erwägung gezogen hatte, von denen die
italienische Regierung die zweite gewählt hat. Die Option 2 wird wie folgt
beschrieben: „Eliminating one of the four reheating furnaces belonging to the N°
1 mill and one of the three furnaces belonging to the sheet mill at Taranto and
closing down completely the facilities at Bagnoli“ („Stillegung eines der vier
Nachwärmeöfen im Walzwerk Nr. 1 und eines weiteren der drei Nachwärmeöfen
der Grobblechstraße in Taranto und vollständige Schließung des Werkes Bagnoli“;
a. a. O., Nr. 2.9). Aufgrund dieser Faktoren war die Kommission der Ansicht, daß
ILP und AST lebensfähig seien. Insbesondere unter Zugrundelegung des
Kriteriums, daß ein Stahlunternehmen dann existenzfähig werde, „if it is able to
show a return on its equity capital in the range of 1 1.5 % of turnover“ („wenn
es eine Eigenkapitalrendite von 1 1,5 % des Umsatzes erzielen kann“; a. a. O.,
Nr. 3.3.2), hat sie darauf hingewiesen, daß die Gewinne von ILP trotz einer
Zunahme der Finanzkosten 1,4 bis 1,5 % des Umsatzes erreichen würden. Was das
Produktionsniveau betrifft, bei dem die Lebensfähigkeit von ILP und AST nicht
mehr beeinträchtigt ist, so enthalten die Nummern 2.5 und 2.6 dieses Dokuments
eine wirtschaftliche Analyse der unerläßlichen Voraussetzungen dafür, spätestens
Ende 1996 zu einer zufriedenstellenden Lage zu gelangen; diese Ergebnisse wurden
bei der Festlegung des Inhalts von Artikel 2 der streitigen Entscheidung verwendet.
- 121.
- Was schließlich das Vorbringen der Klägerin betrifft, die Kommission habe, um die
Lebensfähigkeit der betroffenen Unternehmen wiederherzustellen, andere Mittel
wählen können, die zu geringeren Verzerrungen als die betreffenden Beihilfen
geführt hätten, was zeige, daß diese Beihilfen nicht notwendig seien, so ist das
Gericht der Auffassung, daß das Bestehen solcher Möglichkeiten, selbst wenn
anzunehmen wäre, daß Alternativlösungen denkbar und praktisch durchführbar
gewesen wären was nicht feststeht , für sich alleine nicht genügt, um die
streitigen Entscheidungen als fehlerhaft erscheinen zu lassen, da die von der
Kommission gewählte Lösung weder einen offenbaren Beurteilungsfehler noch
einen Ermessensmißbrauch aufweist. Es ist nämlich nicht Sache des Gerichts, die
Zweckmäßigkeit der von der Kommission getroffenen Wahl zu überprüfen, weil das
Gericht sonst die Sachverhaltsbeurteilung der Kommission durch seine eigene
Beurteilung ersetzen würde.
- 122.
- Demgemäß hat die Klägerin kein überzeugendes Argument vorgebracht, das daran
zweifeln lassen könnte, daß die streitigen Entscheidungen unter Beachtung der in
Artikel 95 Absätze 1 und 2 des Vertrages genannten Voraussetzungen erlassen
worden sind, insbesondere was die Notwendigkeit anbelangt, die betreffenden
Beihilfen zu genehmigen, um die Ziele des Vertrages zu erreichen.
- 123.
- Die streitigen Entscheidungen sind daher nicht wegen Verstoßes gegen Artikel 95
Absätze 1 und 2 des Vertrages rechtswidrig.
Zum angeblichen Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und das
Diskriminierungsverbot
Vorbringen der Verfahrensbeteiligten
- 124.
- Zum Diskriminierungsverbot trägt die Klägerin vor, die Kommission habe es mit
der Genehmigung der Gewährung staatlicher Beihilfen an öffentliche Unternehmen
bestimmter Mitgliedstaaten einer begrenzten Zahl von Unternehmen ermöglicht,
die Durchführung einer Umstrukturierung mit Hilfe öffentlicher Mittel zu
versuchen, während andere Unternehmen wie sie selbst zu diesem Zweck eigene
Finanzmittel hätten einsetzen müssen. Die streitigen Entscheidungen seien somit
zugunsten von Unternehmen getroffen worden, die ausschließlich dem betreffenden
Mitgliedstaat gehörten, und zu Lasten der Interessen privater
Konkurrenzunternehmen oder von Unternehmen anderer Mitgliedstaaten. Nach
dem Diskriminierungsverbot dürften indessen vergleichbare Sachverhalte nicht
unterschiedlich und nicht vergleichbare Sachverhalte nicht gleich behandelt werden,
wenn eine solche Behandlung nicht objektiv gerechtfertigt sei. Insbesondere dürften
der öffentliche und der private Sektor nicht unterschiedlich behandelt werden.
Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes dürfe die Kommission keine Beihilfen
genehmigen, deren Gewährung eine offensichtlich diskriminierende Unterscheidung
zwischen dem öffentlichen und dem privaten Sektor bewirken könnte, weil in einem
solchen Fall die Beihilfegewährung in einer dem gemeinsamen Interesse
zuwiderlaufenden Weise zu Wettbewerbsverzerrungen führen würde (vgl. Urteil des
Gerichtshofes vom 24. Februar 1987 in der Rechtssache 304/85, Falck/Kommission,
Slg. 1987, 871). Die streitigen Entscheidungen wiesen ein weiteres diskriminierendes
Element auf: Sie seien zugunsten von Unternehmen getroffen worden, die eine
radikale Umstrukturierung zum Nachteil der Unternehmen versäumt hätten, die
diese bereits vorgenommen hätten.
- 125.
- Außerdem verstießen die streitigen Entscheidungen gegen den Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit, wie er vom Gerichtshof festgelegt worden sei. Die von der
Kommission verwendeten Mittel entsprächen nämlich nicht der Bedeutung der
verfolgten Ziele und seien zu ihrer Erreichung nicht notwendig gewesen. Außerdem
sei das diskriminierende Element, das in den angefochtenen Entscheidungen
enthalten sei, nicht nur ein selbständiger Nichtigkeitsgrund, sondern auch ein
wichtiger Gesichtspunkt, der beweise, daß die streitigen Entscheidungen den
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzten, weil sie die Unternehmen, die sich
in der gleichen Situation wie die Klägerin befänden, mit einem
Wettbewerbsnachteil belasteten, der in völligem Mißverhältnis zum erklärten Ziel
der Kommission stehe, wodurch das Marktgleichgewicht gefährdet werde.
- 126.
- Die Kommission macht mit Unterstützung des Rates geltend, daß ihr eine
angebliche Diskriminierung nicht vorgeworfen werden könne, da es Sache der
betreffenden Mitgliedstaaten sei, die Gewährung staatlicher Beihilfen
vorzuschlagen. Auf jeden Fall stelle es nicht notwendig eine Verletzung des
Diskriminierungsverbots dar, wenn Beihilfen in einem besonderen Fall öffentlichen
und nicht privaten Unternehmen gewährt würden. Selbst wenn die streitigen
Entscheidungen Unternehmen begünstigten, die keine Umstrukturierung
vorgesehen hätten, seien sie nicht diskriminierend im Sinne des
Gemeinschaftsrechts, weil sie keine Verfälschung des Wettbewerbs in einer gegen
das gemeinsame Interesse verstoßenden Weise bewirkten. Die Klägerin belege auch
nicht, daß die streitigen Entscheidungen zu Wettbewerbsverzerrungen führen
könnten. Außerdem habe British Steel ihre Rechtsstellung als privates
Unternehmen erst kürzlich erworben, nachdem ihr im Zeitraum 1981 bis 1985
Beihilfen gewährt worden seien, die ihr die Privatisierung und die Einrichtung einer
gesunden und rentablen Struktur ermöglicht hätten. Die Behauptung der Klägerin,
daß sie sich mit eigenen Finanzmitteln habe umstrukturieren müssen, lasse daher
ihre eigene jüngere Vergangenheit außer acht. Der Klagegrund der Verletzung des
Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit füge praktisch dem Vorbringen der Klägerin
zur Erforderlichkeit des Erlasses der streitigen Entscheidungen nach Artikel 95 des
Vertrages nichts hinzu.
- 127.
- Nach Auffassung der Italienischen Republik wären die streitigen Entscheidungen
nur dann rechtswidrig, wenn sie von dem Zweck getragen gewesen wären,
bestimmte Unternehmen gegenüber anderen durch eine unterschiedliche
Behandlung bei gleichen Bedingungen und Umständen zu diskriminieren. Der
Kontext ihres Erlasses und ihr Inhalt ließen indessen nicht die Behauptung zu, daß
sie in entscheidender Weise dadurch geprägt seien, daß die betreffenden
Unternehmen öffentliche Unternehmen seien, und folglich die Entscheidungen im
Fall privater Unternehmen anders ausgefallen wären.
- 128.
- Das Königreich Spanien räumt ebenfalls ein, daß die Kommission keine Beihilfen
genehmigen dürfe, die zu einer offensichtlichen Ungleichbehandlung des
öffentlichen und des privaten Sektors führen würden. Dies sei vorliegend nicht der
Fall. Die betreffenden Unternehmen, d. h. British Steel und CSI, seien nicht in
einer vergleichbaren Lage, da CSI verpflichtet gewesen sei, im Gegenzug für die
genehmigten Beihilfen einen Kapazitätsabbau durchzuführen, während British Steel
nicht an einem neuen Umstrukturierungsvorhaben teilnehme. Was den angeblichen
Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit betreffe, beweise die
Klägerin in keiner Weise ein Ungleichgewicht zwischen den von der Kommission
eingesetzten Mitteln und den verfolgten Zielen. Die Genehmigung der betreffenden
Beihilfen sei Teil der Gemeinschaftsstrategie, mit der der Krisensituation des
Stahlsektors begegnet werden solle.
- 129.
- ILVA weist darauf hin, daß die Kommission die Unternehmen in der Gemeinschaft
darüber unterrichtet habe, daß sie einen Umstrukturierungsplan ins Werk setzen
wolle, und jedes Unternehmen aufgefordert habe, an der gemeinsamen Bemühung
um Abbau der Kapazitäten teilzunehmen, um zu einer wirklichen Neuorganisation
der europäischen Stahlindustrie zu gelangen. Die Kommission habe daher ILVA
nicht zu Lasten ihrer Wettbewerber bevorzugt, sondern die Beihilfen im Gegenzug
zur Einhaltung genau festgelegter Pflichten genehmigt. Von einer Verletzung des
Diskriminierungsverbots könne folglich nicht gesprochen werden, weil
unterschiedliche Situationen unterschiedlich bewertet worden seien.
Würdigung durch das Gericht
- 130.
- Das Gericht hält es für zweckdienlich, die Rüge des Verstoßes gegen den
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vor der Rüge des Verstoßes gegen das
Diskriminierungsverbot zu prüfen.
- 131.
- Bezüglich des angeblichen Verstoßes gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
trägt die Klägerin vor, die betreffenden Beihilfen stünden außer Verhältnis zu ihrer
Zielsetzung. Außerdem macht sie im wesentlichen geltend, die streitigen
Entscheidungen schrieben den begünstigten Unternehmen keinen ausreichenden
Kapazitätsabbau als Gegenleistung für die ihnen mit den Beihilfen gewährten
wirtschaftlichen Vorteile und die daraus resultierenden Wettbewerbsverzerrungen
vor.
- 132.
- Gemäß Artikel 95 Absatz 1 des Vertrages müssen die Entscheidungen, die die
Kommission erläßt, um im Vertrag nicht vorgesehene Fälle zu meistern, die
Bestimmungen des Artikels 5 des Vertrages beachten, wonach die Kommission ihre
Aufgabe nur „durch begrenzte Eingriffe“ zu erfüllen hat. Die letztgenannte
Vorschrift ist als Ausprägung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auszulegen
(vgl. Schlußanträge des Generalanwalts Roemer zum Urteil des Gerichtshofes vom
4. April 1960 in der Rechtssache 31/59, Acciaieria e Tubificio di Brescia/Hohe
Behörde, Slg. 1960, 161, 197 f.).
- 133.
- Im Bereich der staatlichen Beihilfen hat der Gerichtshof im Urteil
Deutschland/Kommission (a. a. O.) entschieden, daß die Kommission nicht die
Gewährung von Beihilfen genehmigen kann, „die zu Wettbewerbsverzerrungen aufdem gemeinsamen Stahlmarkt führen würden“ (Randnr. 30). Im gleichen Sinne hat
er im Urteil vom 13. Juni 1958 in der Rechtssache 15/57 (Compagnie des hauts
fourneaux de Chasse/Hohe Behörde, Slg. 1958, 161, 187) ausgeführt, daß die
Kommission „verpflichtet [ist], mit Umsicht zu handeln, erst nach sorgfältiger
Abwägung aller betroffenen Interessen einzugreifen und eine vorhersehbare
Benachteiligung Dritter soweit möglich in Grenzen zu halten“.
- 134.
- Im übrigen verfügt die Kommission nach gefestigter Rechtsprechung in diesem
Bereich über einen „weiten Ermessensspielraum ..., der ... [ihrer] politischen
Verantwortung ... entspricht“ (vgl. Urteil des Gerichtshofes vom 26. Juni 1990 in
der Rechtssache C-8/89, Zardi, Slg. 1990, I-2515, Randnr. 11). Folglich kann die
Rechtmäßigkeit einer Entscheidung der Kommission nur dann beeinträchtigt sein,
wenn diese Entscheidung zur Erreichung des mit ihr verfolgten Zieles offensichtlich
unangemessen ist oder außer Verhältnis steht (vgl. Urteile des Gerichtshofes vom
9. Juli 1985 in der Rechtssache 179/84, Bozzetti, Slg. 1985, 2301, und vom 11. Juli
1989 in der Rechtssache 265/87, Schräder, Slg. 1989, 2237, Randnr. 22).
- 135.
- Im vorliegenden Fall ist vorab darauf hinzuweisen, daß die betreffenden Beihilfen
durch Wiederherstellung der Lebensfähigkeit der begünstigten Unternehmen zur
Erreichung bestimmter Ziele des Vertrages beitragen und zu diesem Zweck, wie
bereits festgestellt wurde (vgl. oben, Randnrn. 98 bis 123), erforderlich waren.
Angesichts der zitierten Rechtsprechung und entgegen der Behauptung der
Klägerin sind diese Beihilfen daher nicht als im Hinblick auf die mit der
Wiederherstellung dieser Lebensfähigkeit verfolgten wirtschaftlichen und sozialen
Ziele ungeeignet anzusehen. Damit aber die angefochtenen Entscheidungen als mit
dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar angesehen werden können, muß
bei einem Markt, der durch Überkapazität gekennzeichnet ist, weiter geprüft
werden, ob sie den begünstigten Unternehmen im Gegenzug für die genehmigten
Beihilfen angemessene Stillegungen und Reduzierungen der Kapazität vorschreiben.
- 136.
- Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes muß keine „genaue mengenmäßige
Relation zwischen den Beihilfebeträgen und den abzubauenden
Produktionskapazitäten“ festgelegt werden (vgl. Urteil Deutschland/Kommission,
a. a. O., Randnr. 33). Im Gegenteil sind als Faktoren, die die genauen Beträge der
zu genehmigenden Beihilfen beeinflussen können, „nicht nur die Anzahl der
Tonnen abzubauender Produktionskapazität zu berücksichtigen; es kommen
vielmehr noch andere Elemente hinzu, die von einer Region der Gemeinschaft zur
anderen unterschiedlich sind, wie z. B. die ... [zuvor] unternommenen
Umstrukturierungsbemühungen, die durch die Krise der Stahlindustrie
hervorgerufenen regionalen und sozialen Probleme, die technische Entwicklung
sowie die Anpassung der Unternehmen an die Markterfordernisse“ (a. a. O.,
Randnr. 34). Daraus folgt, daß die Beurteilung der Kommission keiner
Nachprüfung unterzogen werden kann, die sich nur auf wirtschaftliche Kriterien
stützt. Die Kommission kann im Rahmen der Ausübung ihres Ermessens nach
Artikel 95 des Vertrages einem weiten Spektrum politischer, wirtschaftlicher oder
sozialer Erwägungen Rechnung tragen.
- 137.
- Im vorliegenden Fall stellt das Gericht fest, daß die Kommission in Abschnitt IV
der Begründung der Entscheidung 94/258 betreffend CSI die Notwendigkeit
unterstreicht, „Gegenleistungen zu fordern, die in angemessenem Verhältnis zu der
Höhe der ausnahmsweise genehmigten Beihilfen stehen, damit ein hoher Beitrag
zu den in diesem Sektor erforderlichen Strukturanpassungen geleistet wird“.
Außerdem heißt es in Abschnitt VI der Begründung dieser Entscheidung: „[Es] ist
nicht nur zu gewährleisten, daß die genehmigte Beihilfe das Unternehmen in die
Lage versetzt, bis Ende 1996 seine Lebensfähigkeit wiederzuerlangen, sondern die
Beihilfe muß auch auf das unbedingt nötige Maß begrenzt werden. In diesem
Zusammenhang ist auch sicherzustellen, daß das Unternehmen durch die
finanziellen Umstrukturierungsmaßnahmen nicht von vornherein ungerechten
Vorteil gegenüber anderen Unternehmen des Sektors erhält ...“ In den Abschnitten
V und VI der Begründung der Entscheidung 94/259 betreffend ILVA führt die
Kommission aus, daß, „um die Auswirkungen auf den Wettbewerb möglichst gering
zu halten, ... die staatseigene italienische Stahlindustrie in erheblichem Maße zu der
in diesem Sektor durchzuführenden Strukturanpassung beitragen [muß], indem sie
im Gegenzug für die ... Beihilfen Kapazitätskürzungen vornimmt“, und daß „die
Gewährung von Betriebsbeihilfen ... auf das erforderliche Mindestmaß begrenzt
werden [muß]“. Die Begründung der beiden angefochtenen Entscheidungen enthält
somit eine Rechtfertigung der Kriterien, die für die Festlegung des
vorzunehmenden Kapazitätsabbaus herangezogen wurden. Bei ILVA handelt es
sich um einen Kapazitätsabbau um insgesamt 1,7 Mio. Jahrestonnen in Tarent
durch den Abbruch von Nachwärmeöfen sowie die vollständige Stillegung des
Werkes Bagnoli. In der Entscheidung betreffend CSI wird ein Kapazitätsabbau um
2,3 Mio. t Roheisen in Avilés und Biscaya, 1,423 Mio. t Flüssigstahl in Gijón und
Biscaya sowie 2,3 Mio. t warmgewalzte Rollen in Ansiao vorgeschrieben. Ferner
bestimmt Artikel 1 Absatz 3 der beiden Entscheidungen, daß „die Beihilfen nicht
für die Zwecke eines unlauteren Wettbewerbs verwendet werden [dürfen]“,
widrigenfalls die Kommission unbeschadet möglicher Sanktionen die Aussetzung
der Auszahlung der Beihilfen oder die Rückzahlung bereits gezahlter Beihilfen
anordnen kann (Artikel 6 Absatz 1 der betreffenden Entscheidungen).
- 138.
- Im übrigen ist darauf hinzuweisen, daß die Klägerin kein konkretes Argument
vorbringt, um darzutun daß die in den streitigen Entscheidungen vorgeschriebenen
Betriebsstillegungen im Hinblick auf den Umfang der genehmigten Beihilfe und die
verfolgten Ziele unzureichend wären.
- 139.
- Unter diesen Umständen stellt das Gericht fest, daß nichts die Annahme zuläßt, die
Kommission hätte den durch die betreffenden Beihilfen begünstigten Unternehmen
nicht im Gegenzug für den gewährten Vorteil angemessene Bedingungen
vorgeschrieben, um damit entsprechend den Zielen des Vertrages einen Beitrag zur
Umstrukturierung des gesamten betroffenen Sektors und zum Kapazitätsabbau zu
leisten.
- 140.
- Demgemäß ist der Klagegrund des Verstoßes gegen den Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit nicht begründet.
- 141.
- Was sodann den angeblichen Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot betrifft,
so ist darauf hinzuweisen, daß gemäß Artikel 4 Buchstabe b des Vertrages
„Maßnahmen oder Praktiken, die eine Diskriminierung zwischen Erzeugern ...
herbeiführen“, als unvereinbar mit dem gemeinsamen Stahlmarkt innerhalb der
Gemeinschaft untersagt werden.
- 142.
- Nach ständiger Rechtsprechung liegt eine Diskriminierung vor, wenn vergleichbare
Sachverhalte in unterschiedlicher Weise behandelt und dadurch bestimmte
Wirtschaftsteilnehmer gegenüber anderen benachteiligt werden, ohne daß diese
Ungleichbehandlung durch das Vorliegen objektiver Unterschiede von einigem
Gewicht gerechtfertigt wäre (vgl. Urteil des Gerichtshofes vom 15. Januar 1985 in
der Rechtssache 250/83, Finsider/Kommission, Slg. 1985, 131, Randnr. 8). Speziell
im Bereich der Beihilfen für die Stahlindustrie hat der Gerichtshof festgestellt, daß
eine Ungleichbehandlung und damit eine Diskriminierung vorliegt, wenn eine
Genehmigungsentscheidung „entweder Stahlunternehmen, die sich in derselben
Situation befinden, unterschiedliche Vorteile oder Stahlunternehmen, die sich in
erheblich unterschiedlichen Situationen befinden, identische Vorteile“ verschafft
(vgl. Urteil Deutschland/Kommission, a. a. O., Randnr. 36).
- 143.
- Die Frage der Diskriminierung zwischen dem öffentlichen und dem privaten Sektor
auf dem Gebiet der Gewährung von Beihilfen im Rahmen des Vertrages ist im
Urteil Falck/Kommission (a. a. O.) geprüft worden. Nach der Feststellung, daß für
die Gewährung der Beihilfe in erster Linie die betreffende Regierung
verantwortlich ist, hat der Gerichtshof die Rolle der Kommission wie folgt
beschrieben: „[Es] darf die Kommission, wenn auch jede Maßnahme auf dem
Gebiet der Beihilfegewährung ein Unternehmen gegenüber einem anderen
begünstigen kann, Beihilfen nicht genehmigen, deren Gewährung eine offensichtlich
diskriminierende Unterscheidung zwischen dem öffentlichen und dem privaten
Sektor bewirken könnte. In einem solchen Fall würde die Beihilfegewährung
nämlich in einer dem gemeinsamen Interesse zuwiderlaufenden Weise zu
Wettbewerbsverzerrungen führen“ (Randnr. 27).
- 144.
- Im vorliegenden Fall ist für die Antwort auf die Frage, ob die streitigen
Entscheidungen diskriminierenden Charakter haben, zu prüfen, ob sie in einem
gegen das gemeinsame Interesse verstoßenden Maße zu Wettbewerbsverzerrungen
führen.
- 145.
- Die Klägerin trägt nichts vor, was dartun könnte, daß die streitigen Entscheidungen
geeignet wären, die Wettbewerbsbedingungen „in einer dem gemeinsamen
Interesse zuwiderlaufenden Weise“ zu beeinflussen, und daher „offensichtliche“
Diskriminierungen insbesondere der privaten Unternehmen mit sich bringen
würden.
- 146.
- Wie die italienische Regierung vorträgt, lassen außerdem der Kontext, in dem die
streitigen Entscheidungen ergangen sind, und die Entscheidungen selbst nichts
erkennen, was die Feststellung erlaubte, daß die Entscheidungen maßgebend
dadurch beeinflußt worden wären, daß die beihilfebegünstigten Unternehmen
öffentliche Unternehmen waren, und daß die Entscheidungen somit bei privaten
Unternehmen anders ausgefallen wären. Im übrigen durfte die Kommission den
öffentlichen Charakter der betreffenden Unternehmen nicht berücksichtigen, um
die Genehmigung der Beihilfen zu versagen, da sie sonst gegen den Grundsatz der
Gleichbehandlung öffentlicher und privater Unternehmen verstoßen hätte.
- 147.
- Darüber hinaus sind, wie bereits ausgeführt (siehe oben, Randnrn. 131 bis 139), die
Vorteile, die den beihilfebegünstigten Unternehmen gewährt wurden, im Verhältnis
zu den verfolgten Zielen insbesondere aufgrund der diesen Unternehmen im
Gegenzug auferlegten Verpflichtungen (Betriebsstillegung und Reduzierung von
Produktionskapazitäten) angemessen. Außerdem sind die sich aus den streitigen
Entscheidungen ergebenden Wettbewerbsverzerrungen auf das unbedingt
Erforderliche beschränkt (siehe oben, Randnr. 118) und schon durch die
Zielsetzung dieser Entscheidungen Wiederherstellung einer gesunden und
rentablen Struktur der begünstigten Unternehmen , die für vereinbar mit dem
Vertrag befunden wurde (siehe oben, Randnrn. 103 bis 108), gerechtfertigt.
Schließlich bestimmt Artikel 1 Absatz 3 dieser Entscheidungen, daß „die Beihilfen
nicht für die Zwecke eines unlauteren Wettbewerbs verwendet werden [dürfen]“.
Gemäß Artikel 6 Absatz 1 der angefochtenen Entscheidungen kann die
Kommission im Fall des Verstoßes gegen eine dieser Verpflichtungen die
Aussetzung der Auszahlung oder die Rückzahlung der betreffenden Beihilfe
anordnen (vgl. oben, Randnr. 137).
- 148.
- Dementsprechend stellt das Gericht fest, daß die Kommission im gemeinsamen
Interesse gehandelt hat, als sie die verschiedenen in Frage kommenden Interessen
beurteilt und auf den Schutz bedeutender Interessen geachtet hat, wobei sie
nachteilige Auswirkungen für die anderen Wirtschaftsteilnehmer insoweit
vermieden hat, als der Gegenstand und die Zielsetzung der streitigen
Entscheidungen dies erlaubten.
- 149.
- Diese Analyse steht im Einklang mit der Rechtsprechung des Gerichtshofes, der
im Urteil Valsabbia u. a./Kommission (a. a. O., Randnr. 49) entschieden hat: „Zwar
ist die Kommission nach Artikel 3 des Vertrages verpflichtet, im gemeinsamen
Interesse zu handeln, dies bedeutet aber nicht, daß sie ausnahmslos im Interesse
aller zu handeln hat; denn sie ist nicht gehalten, in Erfüllung ihrer Aufgabe nur
dann zu handeln, wenn keinerlei Interessen beeinträchtigt werden. Vielmehr muß
sie bei ihrem Vorgehen die verschiedenen Interessen abwägen und nachteilige
Auswirkungen vermeiden, soweit es die zu erlassende Entscheidung
vernünftigerweise ermöglicht. Die Kommission kann von ihrer Befugnis zum Erlaß
von Entscheidungen im gemeinsamen Interesse so Gebrauch machen, wie die
Umstände es erfordern, selbst wenn bestimmte Einzelinteressen hierdurch
beeinträchtigt werden.“
- 150.
- Daraus folgt, daß das Vorbringen der Klägerin, die streitigen Entscheidungen
verstießen gegen das Diskriminierungsverbot, zurückzuweisen ist.
4. Vierter Klagegrund: Verletzung wesentlicher Formvorschriften
- 151.
- British Steel bringt vor, die streitigen Entscheidungen seien unter Verstoß gegen
wesentliche Formvorschriften erlassen worden. Dieser Klagegrund kann in drei
Teile gegliedert werden, die sich erstens auf die unzureichende Begründung,
zweitens auf das angebliche Fehlen eines kontradiktorischen Verfahrens und
drittens auf einen Verstoß gegen die Zustimmungsentscheidung des Rates beziehen.
Zur angeblich unzureichenden Begründung
Vorbringen der Verfahrensbeteiligten
- 152.
- Nach Auffassung von British Steel, die insoweit durch SSAB Svenskt Stål
unterstützt wird, hat die Kommission die Verpflichtung aus Artikel 15 des
Vertrages zur ausreichenden Begründung ihrer Entscheidungen verletzt. Nach
gefestigter Rechtsprechung seien, auch wenn der Umfang der Begründungspflicht
von der Natur des Rechtsakts und den Umständen abhänge, unter denen ererlassen sei, die Voraussetzungen des Artikels 15 nicht erfüllt, wenn sich eine
streitige Entscheidung auf die Feststellung beschränke, daß der Tatbestand der
betreffenden Bestimmungen erfüllt seien (vgl. Urteil des Gerichtshofes vom 1. Juli
1986 in der Rechtssache 185/85, Usinor/Kommission, Slg. 1986, 2079, Randnr. 21).
- 153.
- Die Begründung der angefochtenen Entscheidungen sei praktisch identisch mit der
der am gleichen Tag erlassenen Entscheidungen der Kommission über die
Genehmigung von Beihilfen für Stahlunternehmen. Insbesondere erläutere die
Kommission weder, weshalb die betreffenden Beihilfen CSI und ILVA eine solide
und wirtschaftlich lebensfähige Struktur verschaffen sollten, noch, wie damit die
Ziele des Vertrages erreicht werden sollten. Schließlich gebe sie nicht an, welches
die Ziele nach den Artikeln 2 und 3 des Vertrages seien, die sie verfolgen wolle.
- 154.
- Die Klägerin glaubt davon ausgehen zu dürfen, daß die Kommission vor Erlaß der
streitigen Entscheidungen das Gutachten eines unabhängigen Sachverständigen, der
Firma W. S. Atkins, erhalten habe. Da sich die streitigen Entscheidungen kaum auf
dieses Gutachten und die hieraus zu ziehenden Schlüsse bezögen, seien sie nicht
so ausreichend begründet, daß die betroffenen Parteien den Schutz ihrer Rechte
sicherstellen könnten und dem Gericht eine wirksame gerichtliche Kontrolle
ermöglicht würde.
- 155.
- Auch Det Danske Stålvalseværk hält die Begründung der streitigen Entscheidungen
für unzureichend. Insbesondere bedeute der Umstand, daß die Kommission die
verfolgten Ziele und die Verbindungen zwischen diesen Zielen und den fraglichen
Beihilfen nicht herausgestellt habe, daß die streitigen Entscheidungen Ergebnis
einer politischen Maßnahme seien.
- 156.
- Die Kommission, unterstützt durch die Italienische Republik, tritt dem Vorbringen
der Klägerin entgegen. Diese erkläre erstens nicht, weshalb der Umstand, daß die
Begründung einer Entscheidung mit der anderer Entscheidungen übereinstimme,
schon ausreichen sollte, sie als unzureichend anzusehen. Im vorliegenden Fall seien
die sechs von der Kommission erlassenen Entscheidungen Teil eines umfassenden
Umstrukturierungsplans für die Stahlindustrie und seien zum gleichen Zeitpunkt
und im gleichen Kontext der Krise und der unvermeidlichen Reduzierung der
Kapazitäten ergangen. Zweitens sei die Behauptung, daß die streitigen
Entscheidungen nicht erklärten, wie die Ziele des Vertrages durch die Gewährung
einer staatlichen Beihilfe erreicht werden könnten, ganz und gar tendenziös, da
eine Beihilfe nach dem EGKS-Vertrag nur im Interesse der Gemeinschaft
genehmigt werden könne, was ihr den Charakter einer Gemeinschaftsbeihilfe
verleihe. Das Fehlen eines Hinweises auf das Gutachten der Firma W. S. Atkins
ändere nichts am Gehalt der Begründung, weil in Abschnitt III der Begründung
jeder Entscheidung ausdrücklich die Mitwirkung unabhängiger Sachverständiger
vermerkt sei. Schließlich sei bei der Würdigung der Gründe der streitigen
Entscheidungen zu berücksichtigen, daß die Kommission gegen die Klägerin keine
Strafe verhängt habe und diese darüber hinaus eng in das Verfahren zum Erlaß der
Entscheidungen eingebunden gewesen sei, wie dies die Niederschriften der
Sitzungen des Beratenden Ausschusses der EGKS belegten.
- 157.
- Der Rat vertritt die Auffassung, daß die von der Kommission genehmigte Beihilfe
im Falle von ILVA und CSI eindeutig Gemeinschaftscharakter habe und Teil des
von der Kommission vorgeschlagenen und vom Rat gebilligten
Umstrukturierungsprogramms für die Stahlindustrie sei. Überdies sei British Steel
eng in das Verfahren eingebunden gewesen, das zum Erlaß der streitigen
Entscheidungen geführt habe, so daß sie nicht behaupten könne, sie habe nicht
volle Kenntnis der Gründe, die zum Erlaß dieser Entscheidungen geführt habe.
- 158.
- Nach Auffassung des Königreichs Spanien ist ein Gemeinschaftsorgan nicht
verpflichtet, sämtliche relevanten tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte
anzugeben. Die Begründung einer Entscheidung müsse auch unter Berücksichtigung
von deren Kontext und sämtlicher für den betreffenden Bereich geltenden
Rechtsvorschriften gewürdigt werden (vgl. Urteil des Gerichtshofs vom 7. Februar
1990 in der Rechtssache C-213/87, Gemeente Amsterdam und VIA/Kommission,
Slg. 1990, I-221). Im vorliegenden Fall sei die Begründung der streitigen
Entscheidungen mehr als ausreichend, weil die Kommission Punkt für Punkt jede
der Bedingungen, die den Erlaß der betreffenden Maßnahmen rechtfertigten, sowie
die Rechtsgrundlage und die vorgesehenen Kontrollmaßnahmen anspreche.
Würdigung durch das Gericht
- 159.
- Gemäß Artikel 5 Absatz 2 vierter Gedankenstrich des Vertrages „gibt [die
Gemeinschaft] die Gründe für ihr Handeln bekannt“. In Artikel 15 Absatz 1 heißt
es, daß „die Entscheidungen, Empfehlungen und Stellungnahmen der Kommission
... mit Gründen zu versehen [sind] und ... auf die pflichtgemäß eingeholten
Stellungnahmen Bezug zu nehmen [haben]“. Aus diesen Vorschriften sowie aus den
allgemeinen Grundsätzen des Vertrages ergibt sich, daß für die Kommission immer
dann eine Begründungspflicht besteht, wenn sie allgemeine oder individuelle
Entscheidungen erläßt, unabhängig von der Rechtsgrundlage, die sie dafür wählt.
- 160.
- Nach ständiger Rechtsprechung muß die Begründung der Natur des betreffenden
Rechtsakts angepaßt sein und die Überlegungen des Gemeinschaftsorgans, das den
Rechtsakt erlassen hat, so klar und eindeutig zum Ausdruck bringen, daß die
Betroffenen ihr die Gründe für die erlassene Maßnahme entnehmen können und
der Gemeinschaftsrichter seine Kontrolle ausüben kann. Es wird nicht verlangt, daß
alle tatsächlich und rechtlich einschlägigen Gesichtspunkte in der Begründung
genannt sind. Diese ist nicht nur im Hinblick auf den Wortlaut des Rechtsakts zu
beurteilen, sondern auch auf dessen Kontext und sämtliche Rechtsvorschriften, die
für das betreffende Gebiet gelten (vgl. Urteil des Gerichtshofes vom 29. Februar
1996 in der Rechtssache C-56/93, Belgien/Kommission, Slg. 1996, I-723, und Urteil
Skibsværftsforeningen u. a./Kommission, a. a. O., Randnr. 230). Außerdem ist die
Begründung eines Rechtsakts u. a. anhand „des Interesses zu beurteilen, das die
Adressaten oder andere von der Maßnahme betroffene Personen im Sinne von
Artikel 33 Absatz 2 EGKS-Vertrag an der Begründung haben können“ (Urteil des
Gerichtshofes vom 19. September 1985 in den Rechtssachen 172/83 und 226/83,
Hoogovens Groep/Kommission, Slg. 1985, 2831, Randnr. 24).
- 161.
- Im vorliegenden Fall sind die Rügen der Klägerin in bezug auf eine angeblich
unzureichende Begründung der streitigen Entscheidung zu prüfen, die zum einen
die Eignung der fraglichen Beihilfen zur Wiederherstellung der Lebensfähigkeit der
betreffenden Unternehmen, zum anderen die Übereinstimmung dieser
Zweckrichtung mit den Zielen des Vertrages betreffen.
- 162.
- Was erstens die Frage der Lebensfähigkeit der durch die Beihilfen begünstigten
Unternehmen betrifft, so geben die streitigen Entscheidungen, wenn sie
insbesondere in Abschnitt II die verschiedenen Aspekte des mit den betreffenden
Beihilfen unterstützten Umstrukturierungsplans aufzählen, klar die Mittel an, mit
deren Hilfe diese Lebensfähigkeit nach Auffassung der Kommission
wiederherzustellen ist. Die CSI betreffende Entscheidung gibt ausdrücklich an, daß
dieser Plan eine Reihe industrieller, sozialer und finanzieller
Umstrukturierungsmaßnahmen umfasse, die knapp beschrieben werden. Sie führt
z. B. die wichtigsten Maßnahmen an, mit denen die finanziellen Strukturen des
Unternehmens wieder ins Gleichgewicht gebracht werden sollen, die Schließung der
am wenigsten wettbewerbsfähigen Anlagen und einen Personalabbau um 42 %.
Was ILVA betrifft, ergibt sich ausdrücklich aus der Begründung der Entscheidung
zu den für sie bestimmten Beihilfen, daß die Wiederherstellung der Lebensfähigkeit
dieses Unternehmens durch die Privatisierung des Konzerns, die das Hauptziel der
betreffenden Beihilfen ist, und mit Hilfe eines neuen Umstrukturierungsprogramms,
insbesondere durch Spaltung ihres Kerngeschäfts in zwei neue Gesellschaften nach
einem in der Entscheidung dargestellten Plan, erfolgen soll.
- 163.
- Die Kommission legt ferner in den streitigen Entscheidungen (Abschnitt III der
Begründung) dar, daß sie sich bei der Prüfung der wirtschaftlichen Tragfähigkeit
der jeweiligen Umstrukturierungspläne auf die Kriterien gestützt habe, die sie bei
der vorangehenden Umstrukturierung der Stahlindustrie der Gemeinschaft
zugrunde gelegt habe. Diese Kriterien konnten daher den Wirtschaftsteilnehmern
und damit auch der Klägerin nicht verborgen bleiben, die im übrigen nach dem
insoweit nicht bestrittenen Vorbringen der Streithelferin ILVA selbst staatliche
Beihilfen zur Erleichterung ihrer Privatisierung erhalten hatte. Demgemäß waren
in den streitigen Entscheidungen durch Angabe der Hauptaspekte der genannten
Umstrukturierungspläne in rechtlich nicht zu beanstandender Weise die Gründe
dargelegt, aus denen die betreffenden Beihilfen es nach Auffassung der
Kommission ermöglichen würden, CSI und ILVA mit einer gesunden und
lebensfähigen Struktur zu versehen.
- 164.
- Nicht gefolgt werden kann in diesem Zusammenhang dem Vorbringen der
Klägerin, die Kommission habe es versäumt, in den streitigen Entscheidungen die
Kriterien anzuführen, die von den unabhängigen Sachverständigen herangezogen
worden seien, die bei der Würdigung der Perspektiven der Lebensfähigkeit der
begünstigten Unternehmen mitgewirkt hätten. Insoweit genügt der Hinweis, daß die
Kommission nach gefestigter Rechtsprechung nicht verpflichtet ist, die zahlreichen
und komplexen Tatsachen einzeln aufzuführen, die zu der Entscheidung geführt
haben, wenn sie nur die Gesamtsituation, die zu ihrem Erlaß geführt haben, und
die von ihr verfolgten allgemeinen Ziele angibt. Im vorliegenden Fall sind aber die
streitigen Entscheidungen bezüglich der Wiederherstellung der Lebensfähigkeit der
betreffenden Unternehmen, wie in der vorstehenden Randnummer ausgeführt,
ausreichend begründet worden.
- 165.
- Überdies wird die Begründung der streitigen Entscheidung in bezug auf die
Lebensfähigkeit der begünstigten Unternehmen in sehr weitem Umfang durch den
Akteninhalt ergänzt und weiterentwickelt. Bezüglich der Situation von CSI hat die
Kommission den vollständigen Text ihrer Mitteilung vom 5. November 1992 an den
Rat (SEK[92] 1916 endg.) betreffend die Umstrukturierung von CSI im Anschluß
an die Mitteilung eines Umstrukturierungsplans für dieses Unternehmen durch die
spanische Regierung vorgelegt. Dieses Schriftstück enthält eine eingehende
Untersuchung der Voraussetzungen für die Lebensfähigkeit der neuen, aus der
Übernahme der Unternehmen AHV (Altos Hornos de Vizcaya) und Ensidesa (vgl.
oben, Randnr. 119) durch CSI entstehenden Gesellschaft. Überdies hat die
Kommission in ihrer ergänzenden Antwort vom 30. Juni 1995 auf die Fragen des
Gerichts eine um die vertraulichen Angaben bereinigte Fassung des Gutachtens
Atkins über CSI eingereicht. Diese Fassung veranschaulicht sehr eingehend die
Arbeitsmethode des Sachverständigen und die in Erwägung gezogenen
Möglichkeiten, um eine verläßliche Perspektive der Wiedergewinnung der
Lebensfähigkeit von CSI zu erhalten.
- 166.
- Was die Lage von ILVA betrifft (Entscheidung 94/259), hat die Kommission
ebenfalls den vollständigen Text ihrer Mitteilung vom 15. Dezember 1993 an den
Rat (SEK[93] 2089 endg.) vorgelegt, in der sie um Zustimmung des Rates nach
Artikel 95 Absatz 1 des Vertrages ersucht hatte. Diese Mitteilung, die zum Teil den
Inhalt einer vorangegangenen Mitteilung vom 10. November 1993 (SEK[93] 1745
endg.) aufgreift, enthält eine eingehende Untersuchung der Voraussetzungen für
die Lebensfähigkeit der aus der Privatisierung von ILVA hervorgehenden
Unternehmen (ILP und AST; Nrn. 2.5 und 2.6), wie sie vom Rat gebilligt wurden
(vgl. oben, Randnr. 120).
- 167.
- Was zweitens die Gründe angeht, aus denen die Kommission der Ansicht war, daß
die Zweckrichtung der betreffenden Beihilfen, d. h. die Wiederherstellung der
Lebensfähigkeit der begünstigten Unternehmen, den Zielen des Vertrages
entsprach, so werden diese Gründe nicht nur in Abschnitt IV der Begründung der
Entscheidungen angeführt, sondern in der gesamten Begründung weiterentwickelt.
Im einzelnen ergibt sich aus Abschnitt IV, daß nach Auffassung der Kommission
die Sanierung der betreffenden Unternehmen wegen der seit Mitte des Jahres 1990
im Stahlsektor mehrerer Mitgliedstaaten aufgetretenen erheblichen Schwierigkeiten
als mit den in den Artikeln 2 und 3 des Vertrages bezeichneten Zielen vereinbar
anzusehen war. In den Abschnitten V und VI der Begründung stellt die
Kommission klar, daß die streitigen Entscheidungen insbesondere zu einer
Strukturanpassung des Sektors durch Kapazitätskürzungen beitragen sollen. Sie
weist zudem darauf hin, daß eines der Ziele, die mit den verschiedenen von ihr
gestellten Bedingungen verfolgt würden, darin bestehe, die Auswirkungen der
fraglichen Beihilfen auf den Wettbewerb möglichst gering zu halten. Unter diesen
Umständen ist das Gericht der Ansicht, daß die Begründung der streitigen
Entscheidungen ausreichend war, um es der Klägerin zu ermöglichen, die Ziele des
Vertrages, die diese Entscheidungen verfolgen, zu erkennen, und um zu beurteilen,
ob die Sanierung von CSI und ILVA mit diesen Zielen in Einklang stand.
- 168.
- Die soeben geprüften Rügen sind überdies um so weniger begründet, als die
Klägerin unstreitig am Verfahren zum Erlaß der Entscheidungen eng beteiligt war,
was dazu beiträgt, die Erforderlichkeit einer sehr detaillierten Begründung
bezüglich der für die streitigen Entscheidungen maßgebenden tatsächlichen
Gesichtspunkte zu verringern (vgl. Urteil des Gerichtshofes vom 11. Januar 1973in der Rechtssache 13/72, Niederlande/Kommission, Slg. 1973, 27).
- 169.
- Aus all diesen Erwägungen ergibt sich, daß die streitigen Entscheidungen nicht
wegen unzureichender Begründung rechtswidrig sind.
Zum angeblichen Fehlen eines kontradiktorischen Verfahrens
Vorbringen der Verfahrensbeteiligten
- 170.
- British Steel, unterstützt durch SSAB Svenskt Stål, macht geltend, die Kommission
habe, indem sie das kontradiktorische Verfahren nach Artikel 6 des Beihilfenkodex
nicht eingeleitet habe, eine wesentliche Formvorschrift des Gemeinschaftsrechts
nicht beachtet. Die Verfahrensvorschriften des Artikels 6 des Beihilfenkodex seien
im wesentlichen dieselben wie die des Artikels 93 Absätze 2 und 3 EG-Vertrag, wie
sie in ständiger Rechtsprechung durch den Gerichtshof ausgelegt würden (vgl.
insbesondere Urteil des Gerichtshofes vom 11. Dezember 1973 in der Rechtssache
120/73, Lorenz/Deutschland, Slg. 1973, 1471). Die Struktur dieser beiden
Verfahrensregelungen sei so sehr dieselbe, daß, selbst wenn Artikel 6 nicht
ausdrücklich eine Verpflichtung der Kommission zur Einleitung eines
kontradiktorischen Verfahrens festlege, wenn sie Zweifel hinsichtlich der
Vereinbarkeit eines Beihilfevorhabens hege, eine solche Pflicht eindeutig abgeleitet
werden müsse. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes müsse die Feststellung
der Unvereinbarkeit einer Beihilfe in einem geeigneten Verfahren erfolgen, dessen
Durchführung Sache der Kommission sei (vgl. insoweit Urteil vom 15. März 1994
in der Rechtssache C-387/92, Banco Exterior de España, Slg. 1994, I-877). Es wäre
überraschend, wenn die Verfahrensgarantien des EGKS-Vertrags, der doch eine
wesentlich strengere Regelung staatlicher Beihilfen enthalte, geringer wären als die
des EG-Vertrags.
- 171.
- Zurückzuweisen sei das Vorbringen der Kommission, wonach das Verfahren nach
Artikel 95 des Vertrages mehr Garantien biete als Artikel 6 des Beihilfenkodex.
Artikel 95 sehe nämlich kein formelles Verfahren der Anhörung aller betroffenen
Kreise vor, was der Bedeutung widerspreche, die der Gerichtshof einem formellen
Verfahren dafür beimesse, daß alle Beteiligten die Möglichkeit zur Äußerung ihres
Standpunktes erhielten. Überdies sehe Artikel 95 keine besondere Regelung der
Fristen vor, die natürlich je nach Dringlichkeit und Bedeutung der von der
Kommission zu treffenden Entscheidung unterschiedlich ausfallen könnten.
- 172.
- Die Kommission macht mit Unterstützung des Rates und der Italienischen
Republik geltend, daß die Verpflichtung zur Einleitung eines kontradiktorischen
Verfahrens, wie sie Artikel 6 Absatz 4 des Beihilfenkodex vorsehe, in Artikel 95
Absatz 1 des Vertrages nicht vorgesehen sei. Der Rückgriff auf Artikel 6 des
Beihilfenkodex sei im vorliegenden Fall schlicht unangemessen; die Kommission
könne dieses Verfahren einleiten, um festzustellen, ob die geplanten Zahlungen
tatsächlich eine Beihilfe darstellten. Im vorliegenden Fall sei aber von Anfang an
klar gewesen, daß die vorgeschlagenen Umstrukturierungspläne mit dem Vertrag
unvereinbare Beihilfen seien. Jedenfalls biete Artikel 95 der Klägerin
umfangreichere Verfahrensrechte als die, die aus Artikel 6 abzuleiten seien. Die
Klägerin habe nämlich über eine längere Frist zur Abgabe ihrer Stellungnahme
verfügt und diese sowohl unmittelbar als auch über den Beratenden Ausschuß der
EGKS abgeben können. Artikel 6 verpflichte die Kommission lediglich, die
Stellungnahme der Mitgliedstaaten einzuholen, bevor sie über die Vereinbarkeit der
vorgeschlagenen staatlichen Beihilfen mit dem Vertrag entscheide; demgegenüber
sei der Erlaß der betreffenden Entscheidungen nach Artikel 95 von der
einstimmigen Billigung durch den Rat abhängig, was einen viel weitergehenden
Schutz biete. Im übrigen sei das Nebeneinander eines Verfahrens zur Genehmigung
der Beihilfen, das den betreffenden Parteien eine formelle Rolle zuweise, und eines
anderen Verfahrens, bei dem dies nicht der Fall sei, nicht so fremdartig, wie dies
die Klägerin darstelle. Artikel 93 Absatz 2 Unterabsatz 1 EG-Vertrag sehe nämlich
ein Verfahren mit Beteiligung der betroffenen Parteien vor, während in dem
Verfahren nach Artikel 93 Absatz 2 Unterabsatz 3 die Mitgliedstaaten bei der
Genehmigung einer Beihilfe einstimmig von Artikel 92 abweichen könnten, wenn
außergewöhnliche Umstände dies rechtfertigten. Das letztgenannte Verfahren
schließe eine formelle Beteiligung der Betroffenen ausdrücklich aus.
- 173.
- Nach Meinung des Königreichs Spanien ist das streitige Verfahren nach Artikel 6
des Beihilfenkodex im vorliegenden Fall unanwendbar, weil diese Vorschrift den
Fall von Beihilfen regele, die unter den Beihilfenkodex fielen. Die streitigen
Entscheidungen seien aber nicht auf den Beihilfenkodex, sondern auf Artikel 95 des
Vertrages gestützt, der kein kontradiktorisches Verfahren vorsehe.
Würdigung durch das Gericht
- 174.
- Die streitigen Entscheidungen wurden auf der Grundlage von Artikel 95 Absätze
1 und 2 des Vertrages erlassen. Diese Vorschrift sieht die Zustimmung des Rates
und die obligatorische Anhörung des Beratenden Ausschusses der EGKS vor. Sie
begründet keinen Anspruch der Adressaten der Entscheidungen und der Beteiligten
auf rechtliches Gehör. Artikel 6 Absatz 4 des Fünften Beihilfenkodex führt dagegen
einen solchen Anspruch wie folgt ein: „Stellt die Kommission, nachdem sie die
Beteiligten zur Stellungnahme aufgefordert hat, fest, daß eine Beihilfe nicht mit den
Bestimmungen der vorliegenden Entscheidung vereinbar ist, so unterrichtet sie den
betreffenden Mitgliedstaat von ihrer Entscheidung.“ Diese Vorschrift war in allen
dem geltenden Kodex vorausgegangenen Beihilfenkodizes von dem ersten an (vgl.
Entscheidung Nr. 257/80/EGKS der Kommission vom 1. Februar 1980 zur
Einführung von gemeinschaftlichen Regeln über spezifische Beihilfen zugunsten der
Eisen- und Stahlindustrie, ABl. L 29, S. 5) enthalten.
- 175.
- Die Klägerin ist der Ansicht, die Kommission habe gegen den Grundsatz des
rechtlichen Gehörs verstoßen, da sie auch ohne eine ausdrückliche Bestimmung in
Artikel 95 des Vertrages ihnen gegenüber ein kontradiktorisches Verfahren nach
dem Vorbild von Artikel 6 des Fünften Beihilfenkodex hätte einleiten müssen. Sie
zieht außerdem eine Parallele zwischen Artikel 95 EGKS-Vertrag und Artikel 93
Absatz 2 EG-Vertrag, um daraus einen allgemeinen Grundsatz herzuleiten, der die
Kommission verpflichte, die Betroffenen systematisch immer dann am Verfahren
zu beteiligen, wenn sie die Vereinbarkeit einer staatlichen Beihilfe mit dem Vertrag
zu beurteilen habe.
- 176.
- Es kann dahingestellt bleiben, ob es einen allgemeinen gemeinschaftsrechtlichen
Grundsatz gibt, der den Beteiligten einen Anspruch auf rechtliches Gehör in einem
Beschlußfassungsverfahren im Bereich der staatlichen Beihilfen verleiht, denn die
Klägerin hatte im Rahmen des Verfahrens zum Erlaß der streitigen Entscheidung
gemäß Artikel 95 Absatz 1 des Vertrages, der die Anhörung des Beratenden
Ausschusses der EGKS vorsieht, jedenfalls Gelegenheit, ihren Standpunkt in diesem
Ausschuß zu Gehör zu bringen. Gemäß Artikel 18 des Vertrages besteht der
Beratende Ausschuß der EGKS nämlich aus Mitgliedern, die die Erzeuger, die
Arbeitnehmer, die Verbraucher und die Händler vertreten. Unstreitig war British
Steel als Erzeuger in diesem Ausschuß vertreten, weil das Mitglied des Ausschusses
Evans seinerzeit Direktor für internationale Angelegenheiten von British Steel war,
wie diese in ihrem Schreiben vom 4. März 1997 in Beantwortung einer Frage der
Präsidenten des Gerichts in der mündlichen Verhandlung erklärt hat. In der 310.
Sitzung dieses Ausschusses am 12. November 1993 wurde die Frage der Beihilfen
an ILVA und CSI eingehend erörtert (vgl. die Auszüge aus der
Sitzungsniederschrift in Anhang 3 der Stellungnahme der Kommission); der
Vertreter der Klägerin war anwesend und gab seine Stellungnahme zu den von der
Kommission vorgeschlagenen Maßnahmen ab. Die überarbeitete Mitteilung
betreffend ILVA wurde unter den gleichen Umständen in der Sitzung des
Ausschusses vom 16. und 17. Dezember 1993 erörtert.
- 177.
- Was die Entscheidung 94/259 betreffend ILVA angeht, so wird in Abschnitt VIII
zweiter Absatz der Begründung ausdrücklich erwähnt, daß gemäß Artikel 6 Absatz
4 des Beihilfenkodex ein Verfahren eingeleitet worden war, bevor Italien der
Kommission das neue Programm zur Umstrukturierung und Privatisierung des
ILVA-Konzerns gemeldet hatte (Abschnitt II der Begründung dieser Entscheidung).
Insoweit behauptet die Kommission unwidersprochen, daß die Klägerin angehört
wurde und Gelegenheit hatte, ihre Meinung zu äußern. Was die Entscheidung
94/258 betreffend CSI anbelangt, so zählt Anhang 4 der Klageschrift 15 Sitzungen
oder Briefwechsel zwischen September 1992 und März 1994 zum Programm der
Genehmigung von Beihilfen an bestimmte Unternehmen, darunter CSI, auf;
Anhang 6 der Klagebeantwortung enthält den Schriftverkehr zwischen British Steel
und der Kommission über Beihilfen an CSI.
- 178.
- Überdies ist Eurofer eine Vereinigung ohne Gewinnzweck, in der die europäischen
Stahlunternehmen zusammengeschlossen sind und der British Steel angehört. Wie
die Kommission behauptet, ohne in diesem Punkt Widerspruch seitens der Klägerin
zu erfahren, hat Eurofer ihre Stellungnahme zu den beabsichtigten Maßnahmen im
Namen aller ihrer Mitglieder übermittelt. Als Beispiel kann auf ein Memorandum
vom 9. Oktober 1992 verwiesen werden (Anhang 7 der Klagebeantwortung).
- 179.
- Hieraus ergibt sich, daß die Klägerin praktisch Gelegenheit hatte, ihren Standpunkt
im Rahmen des Verfahrens zum Erlaß der streitigen Entscheidungen zu äußern,
so daß diese keinesfalls wegen Fehlens eines kontradiktorischen Verfahrens
rechtswidrig sein können.
Zur behaupteten Abweichung von der Zustimmung des Rates
Vorbringen der Verfahrensbeteiligten
- 180.
- British Steel weist darauf hin, daß nach Artikel 95 Absatz 1 des Vertrages eine
Entscheidung von der Kommission nur mit einstimmiger Zustimmung des Rates
getroffen werden könne. Wesentlich sei insoweit, daß der Wortlaut der von der
Kommission erlassenen Entscheidung seinem Inhalt nach mit dem identisch sei, der
die Zustimmung des Rates gefunden habe. Die Kommission könne keinesfalls nach
Artikel 95 des Vertrages eine Entscheidung in einer anderen als der vom Rat
gebilligten Fassung erlassen.
- 181.
- In der Entscheidung 94/259 sei gegen diesen Grundsatz verstoßen worden. Die
Kommission habe nämlich den Rat um Zustimmung zu einem Vorschlag ersucht,
mit dem Beihilfen für ILVA unter der ausdrücklichen Bedingung genehmigt werden
sollten, daß die Reduzierung der Kapazität um 1,2 Mio. Jahrestonnen im Werk
Tarent spätestens am 30. Juni 1994 unumkehrbar vollzogen sein müsse, und der
Rat habe den Vorschlägen mit dieser ausdrücklichen Bedingung zugestimmt. Der
verfügende Teil der streitigen Entscheidung enthalte jedoch keine Bedingung, daß
die Reduzierung vor diesem Zeitpunkt vollzogen sein müsse. Der Zeitplan sei nur
in der Begründung der Entscheidung aufgeführt und habe daher keinen zwingenden
Charakter. Die Entscheidung der Kommission weiche somit in einem wichtigen
Punkt von dem Wortlaut ab, den der Rat einstimmig gebilligt habe.
- 182.
- Die Auffassung der Kommission, wonach der Rat lediglich dem wesentlichen Inhalt
des Vorschlags der Kommission zuzustimmen habe, bringe die Gefahr einer
Störung des institutionellen Gleichgewichts mit sich, weil die Kommission die
Beschlüsse des Rates frei auslegen könnte. Artikel 95 verlange die Zustimmung des
Rates zum Wortlaut der Entscheidung und nicht zum wesentlichen Inhalt des
Vorschlags.
- 183.
- Die Kommission, unterstützt durch die Italienische Republik, räumt ein, daß die
Frist bis zum 30. Juni 1994 für die Stillegung der Anlagen in Tarent nicht im
verfügenden Teil, sondern nur in der Begründung der Entscheidung genannt sei.
Die betreffenden Entscheidungen seien in ihrer endgültigen Form von der
Kommission nach Zustimmung durch den Rat auf der Grundlage ihrer Mitteilung
an den Rat erlassen worden, in der ihr Entscheidungsvorschlag im wesentlichen
beschrieben worden sei, ohne sich an die genaue Form zu halten, die diese
Entscheidung später aufweisen sollte. Folglich habe es keine Abänderung eines
Ratsbeschlusses durch die Kommission gegeben. Überdies gingen die
Begründungen der streitigen Entscheidungen über bloße Begründungserwägungen
hinaus, da sie die Mittel bezeichneten, mit denen die Umstrukturierung
bewerkstelligt werde, und bildeten zusammen mit dem verfügenden Teil ein
Ganzes, das auf die durchzuführenden Programme verweise. Der Termin des 30.
Juni 1994, der in der Begründung der streitigen Entscheidung genannt sei, stelle
daher eine Bedingung dar, die in der Entscheidung selbst entsprechend den
Anforderungen des Rates enthalten sei.
- 184.
- Der Rat steht auf dem Standpunkt, daß Artikel 95 Absatz 1 des Vertrages ihn nicht
dazu verpflichte, dem formellen Rechtsakt zuzustimmen, den die Kommission
erlassen wolle. Im vorliegenden Fall habe er einstimmig eine Zustimmung in den
Grenzen und mit den Bedingungen, wie sie in den Mitteilungen der Kommission
zu den verschiedenen Beihilfefällen aufgeführt worden seien, beschlossen und auch
die erforderlichen Abänderungen des verfügenden Teils der Entscheidungen infolge
der Erörterungen innerhalb des Rates berücksichtigt. Die von der Kommission
erlassenen Entscheidungen stimmten mit dem überein, was er selbst beschlossen
habe.
Würdigung durch das Gericht
- 185.
- Die Rüge von British Steel zielt allein auf die formelle Ordnungsmäßigkeit der
Entscheidung 94/259 betreffend ILVA ab. Die Klägerin ist der Ansicht, diese
Entscheidung sei unter Abweichung von der nach Artikel 95 Absatz 1 des
Vertrages zwingend vorgeschriebenen Zustimmung des Rates erlassen worden,
denn der Termin des 30. Juni 1994, bis zu dem ILVA ihre Verpflichtung zum
Abbau der Produktionskapazitäten im Werk Tarent habe erfüllen müssen, stehe
in der Mitteilung der Kommission vom 15. Dezember 1993 (Nr. 24), auf der dieZustimmung des Rates vom 22. Dezember 1993 beruhe, tauche aber nicht im
verfügenden Teil der streitigen Entscheidung, sondern nur in deren Begründung
(Abschnitt II achter Absatz) auf.
- 186.
- Es ist unstreitig, daß das Datum des 30. Juni 1994 im Programm zur
Umstrukturierung und Privatisierung des ILVA-Konzerns stand, das vom Istituto
nazionale per la ricostruzione industriale (IRI) im September 1993 genehmigt und
von der italienischen Regierung mit Schreiben vom 13. Dezember 1993 der
Kommission übermittelt worden war (vgl. Abschnitt II der Begründung der
Entscheidung). Es ist ebenfalls unstreitig, daß dieses Datum unter Nummer 24 der
Mitteilung der Kommission vom 15. Dezember 1993 an den Rat, auf die sich die
Zustimmung des Rates stützte, stand und daß es nicht im verfügenden Teil der
Entscheidung 94/259, sondern nur in deren Begründung (Abschnitt II) auftaucht.
- 187.
- Artikel 95 sieht zwar vor, daß die Entscheidung der Kommission „mit einstimmiger
Zustimmung des Rates“ ergeht, doch bestimmt er nicht die Modalitäten, nach
denen die Kommission um die Zustimmung ersuchen muß. Insbesondere regelt er
nicht eindeutig, ob die Kommission dem Rat einen Entscheidungsentwurf
vorzulegen hat. Die Entscheidungspraxis der Kommission besteht seit den sechziger
Jahren darin, daß sie den Rat mit einer Mitteilung befaßt, in der die grundlegenden
Elemente des nationalen Beihilfenprogramms und die großen Linien der geplanten
Maßnahme wiedergegeben sind. Das Verfahren, das für den Erlaß der
Entscheidung in bezug auf ILVA angewendet wurde, entspricht dieser
Vorgehensweise.
- 188.
- Die Klägerin beanstandet nicht die Praxis, die darin besteht, dem Rat anstatt eines
Entscheidungsentwurfs eine Mitteilung vorzulegen. Sie macht nur geltend, daß ein
wichtiger Punkt der dem Rat vorgelegten Mitteilung nicht in den verfügenden Teil
der streitigen Entscheidung aufgenommen worden sei.
- 189.
- Diese Rüge könnte nur für den Fall zur Nichtigerklärung der streitigen
Entscheidung wegen Verstoßes gegen wesentliche Formvorschriften führen, daß der
Rat seine Zustimmung nicht erteilt hätte, wenn ihm die Tatsache bekannt gewesen
wäre, daß die Kommission das Datum des 30. Juni 1994 in die Begründung und
nicht in den verfügenden Teil der von ihr zu erlassenden Entscheidung aufnehmen
würde (vgl. Urteil des Gerichtshofes vom 21. März 1990 in der Rechtssache
C-142/87, Belgien/Kommission, Slg. 1990, I-959, und Urteil Skibsværftsforeningen
u. a./Kommission, a. a. O., Randnr. 243).
- 190.
- Der Rat trägt aber selbst vor, daß „Artikel 95 Absatz 1 den Rat nicht dazu
verpflichtet, dem formellen Rechtsakt zuzustimmen“, den die Kommission erlassen
wolle, und daß „die von der Kommission erlassenen Entscheidungen mit dem
überein[stimmten], was er selbst beschlossen hatte“.
- 191.
- Das Gericht schließt daraus, daß sich die Zustimmung des Rates auf den
wesentlichen Inhalt des Entwurfs der von der Kommission geplanten Maßnahme
bezog und der Kommission hinsichtlich der genauen Form, die die endgültige
Entscheidung aufweisen sollte, einen bestimmten Gestaltungsspielraum beließ. Im
verfügenden Teil der streitigen Entscheidung (Artikel 1 Absatz 1, 4 Absatz 1 und
6) wird auf die absolute Notwendigkeit hingewiesen, das
Umstrukturierungsprogramm einzuhalten, das in Abschnitt II der Begründung der
Entscheidung, in dem das Datum des 30. Juni 1994 ausdrücklich erwähnt wird,
beschrieben ist. Unter diesen Umständen kann nicht behauptet werden, daß die
streitige Entscheidung in einem wesentlichen Punkt von dem abweicht, dem der
Rat zugestimmt hatte.
- 192.
- Daraus folgt, daß die streitige Entscheidung nicht wegen Abweichung von der
Zustimmung des Rates rechtswidrig ist.
- 193.
- Nach alledem ist die Nichtigkeitsklage abzuweisen.
Kosten
- 194.
- Gemäß Artikel 87 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf
Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Aus dem Vorstehenden folgt, daß
die Klägerin British Steel mit ihrem auf Nichtigerklärung der streitigen
Entscheidungen gerichteten Vorbringen unterlegen ist. Da die Kommission und
ILVA, die sie als Streithelferin unterstützt hat, einen entsprechenden Antrag
gestellt haben, sind British Steel deren Kosten aufzuerlegen.
- 195.
- Nach Artikel 87 § 4 Absatz 1 der Verfahrensordnung tragen die Mitgliedstaaten
und die Organe, die dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten sind, ihre eigenen
Kosten. Folglich haben der Rat, das Königreich Spanien und die Italienische
Republik als Streithelfer ihre eigenen Kosten zu tragen.
- 196.
- Nach Artikel 87 § 4 Absatz 3 der Verfahrensordnung kann das Gericht
entscheiden, daß ein anderer Streithelfer als die Mitgliedstaaten, die
Vertragsstaaten des EWR-Abkommens, die Organe und die EFTA-Überwachungsbehörde seine eigenen Kosten trägt. Im vorliegenden Fall ist es
angebracht, daß SSAB Svenskt Stål und Det Danske Stålvalseværk, die die Klägerin
als Streithelferinnen unterstützt haben, ihre eigenen Kosten tragen.
Aus diesen Gründen
hat
DAS GERICHT (Erste erweiterte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin wird zur Tragung der Kosten der Beklagten und der
Streithelferin ILVA Laminati Piani SpA verurteilt.
3. Der Rat, das Königreich Spanien, die Italienische Republik, SSAB Svenskt
Stål AB und Det Danske Stålvalseværk A/S tragen ihre eigenen Kosten.
SaggioKalogeropoulos
Tiili
Potocki Moura Ramos
|
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 24. Oktober 1997.
Der Kanzler
Der Präsident
H. Jung
A. Saggio