Language of document : ECLI:EU:C:2018:1005

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)

13. Dezember 2018(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Verordnung (EG) Nr. 562/2006 – Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) – Art. 20 und 21 – Abschaffung der Grenzkontrollen an den Binnengrenzen des Schengen-Raums – Kontrollen innerhalb des Hoheitsgebiets eines Mitgliedstaats – Maßnahmen mit gleicher Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen – Regelung eines Mitgliedstaats, wonach ein Betreiber von Buslinien beim Überschreiten der Binnengrenzen des Schengen-Raums die Reisepässe und Aufenthaltstitel der Passagiere kontrollieren muss – Sanktion – Androhung der Verhängung eines Zwangsgelds“

In den verbundenen Rechtssachen C‑412/17 und C‑474/17

betreffend zwei Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesverwaltungsgericht (Deutschland) mit Entscheidungen vom 1. Juni 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 10. Juli 2017 (C‑412/17) und am 8. August 2017 (C‑474/17), in den Verfahren

Bundesrepublik Deutschland

gegen

Touring Tours und Travel GmbH (C‑412/17),

Sociedad de Transportes SA (C‑474/17)


erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten der Ersten Kammer J.‑C. Bonichot in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Zweiten Kammer, der Richterinnen A. Prechal (Berichterstatterin) und C. Toader sowie der Richter A. Rosas und M. Ilešič,

Generalanwalt: Y. Bot,

Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 7. Juni 2018,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch Rechtsanwalt W. Roth,

–        der deutschen Regierung, vertreten durch S. Eisenberg und T. Henze als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Cattabriga und G. Wils als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 6. September 2018

folgendes

Urteil

1        Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung des Art. 67 Abs. 2 AEUV sowie der Art. 20 und 21 der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. 2006, L 105, S. 1) in der durch die Verordnung (EU) Nr. 610/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (ABl. 2013, L 182, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 562/2006).

2        Sie ergehen im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen der Touring Tours und Travel GmbH mit Sitz in Deutschland (Rechtssache C‑412/17) und der Sociedad de Transportes SA mit Sitz in Spanien (Rechtssache C‑474/17), zwei Busreiseunternehmen (im Folgenden zusammen: fragliche Beförderungsunternehmer), auf der einen Seite und der Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch das Bundespolizeipräsidium (Deutschland), auf der anderen Seite wegen der Rechtmäßigkeit von Verfügungen des Bundespolizeipräsidiums, mit denen den fraglichen Beförderungsunternehmern unter Androhung eines Zwangsgelds untersagt wurde, Drittstaatsangehörige, die nicht im Besitz des erforderlichen Passes und Aufenthaltstitels sind, in das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland zu befördern.

 Rechtlicher Rahmen

 Völkerrecht

3        Das Zusatzprotokoll gegen die Schleusung von Migranten auf dem Land-, Luft- und Seeweg zum Übereinkommen der Vereinten Nationen über die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität wurde entsprechend dem Beschluss 2001/87/EG des Rates vom 8. Dezember 2000 (ABl. 2001, L 30, S. 44) am 12. Dezember 2000 von der Europäischen Gemeinschaft unterzeichnet (im Folgenden: Zusatzprotokoll). Es wurde durch den Beschluss 2006/616/EG des Rates vom 24. Juli 2006 (ABl. 2006, L 262, S. 24) in Bezug auf diejenigen Bestimmungen des Zusatzprotokolls, die in den Anwendungsbereich der Art. 179 und 181a EG fallen, und durch den Beschluss 2006/617/EG des Rates vom 24. Juli 2006 (ABl. 2006, L 262, S. 34) in Bezug auf diejenigen Bestimmungen des Zusatzprotokolls, die in den Anwendungsbereich von Titel IV des Dritten Teils des EG-Vertrags fallen, genehmigt.

4        In Art. 3 des Zusatzprotokolls heißt es:

„Im Sinne dieses Protokolls

a)      bezeichnet der Ausdruck ‚Schleusung von Migranten‘ die Herbeiführung der illegalen Einreise einer Person in einen Vertragsstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzt oder in dem sie keine Berechtigung zum ständigen Aufenthalt hat, mit dem Ziel, sich unmittelbar oder mittelbar einen finanziellen oder sonstigen materiellen Vorteil zu verschaffen;

b)      bezeichnet der Ausdruck ‚illegale Einreise‘ das Überschreiten von Grenzen, ohne die notwendigen Anforderungen für die legale Einreise in den Aufnahmestaat zu erfüllen;

…“

5        Art. 6 Abs. 1 Buchst. a des Zusatzprotokolls bestimmt:

„Jeder Vertragsstaat trifft die notwendigen gesetzgeberischen und anderen Maßnahmen, um folgende Handlungen, wenn vorsätzlich und zur unmittelbaren oder mittelbaren Erlangung eines finanziellen oder sonstigen materiellen Vorteils begangen, als Straftaten zu umschreiben:

a)      die Schleusung von Migranten.“

6        Art. 11 („Grenzmaßnahmen“) des Zusatzprotokolls sieht vor:

„…

(2)      Jeder Vertragsstaat trifft gesetzgeberische oder andere geeignete Maßnahmen, um so weit wie möglich zu verhindern, dass die von gewerblichen Beförderungsunternehmern betriebenen Transportmittel zur Begehung der in Übereinstimmung mit Artikel 6 Absatz 1 Buchstabe a umschriebenen Straftaten benutzt werden.

(3)      Gegebenenfalls und unbeschadet der anwendbaren internationalen Übereinkünfte gehört zu diesen Maßnahmen auch die Verpflichtung gewerblicher Beförderungsunternehmer, einschließlich Transportunternehmen, Besitzer oder Betreiber aller Arten von Transportmitteln, sich dessen zu vergewissern, dass alle Passagiere im Besitz der für die Einreise in den Aufnahmestaat erforderlichen Reisedokumente sind.

(4)      Jeder Vertragsstaat trifft in Übereinstimmung mit seinem innerstaatlichen Recht die notwendigen Maßnahmen, um im Falle eines Verstoßes gegen die in Absatz 3 festgelegte Verpflichtung Sanktionen vorzusehen.

…“

 Unionsrecht

 SDÜ

7        Art. 26 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (ABl. 2000, L 239, S. 19), das am 19. Juni 1990 in Schengen unterzeichnet wurde und am 26. März 1995 in Kraft trat (im Folgenden: SDÜ), sieht vor:

„(1)      Vorbehaltlich der Verpflichtungen, die sich aus der Genfer Konvention vom 28. Juli 1951 über den Flüchtlingsstatus in der Fassung des Protokolls von New York vom 31. Januar 1967 ergeben, verpflichten sich die Vertragsparteien, die nachstehenden Regelungen in ihre nationalen Rechtsvorschriften aufzunehmen:

a)      Wird einem Drittausländer die Einreise in das Hoheitsgebiet einer der Vertragsparteien verweigert, so ist der Beförderungsunternehmer, der ihn auf dem Luft-, See- oder Landweg bis an die Außengrenze gebracht hat, verpflichtet, ihn unverzüglich zurückzunehmen. …

b)      Der Beförderungsunternehmer ist verpflichtet, alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um sich zu vergewissern, dass der auf dem Luft- oder Seeweg beförderte Drittausländer über die für die Einreise in das Hoheitsgebiet der Vertragsparteien erforderlichen Reisedokumente verfügt.

(2)      Vorbehaltlich der Verpflichtungen, die sich aus der Genfer Konvention vom 28. Juli 1951 über den Flüchtlingsstatus in der Fassung des Protokolls von New York vom 31. Januar 1967 ergeben, verpflichten sich die Vertragsparteien, unter Berücksichtigung ihres Verfassungsrechts Sanktionen gegen Beförderungsunternehmer einzuführen, die Drittausländer, welche nicht über die erforderlichen Reisedokumente verfügen, auf dem Luft- oder Seeweg aus einem Drittstaat in ihr Hoheitsgebiet verbringen.

(3)      Die Absätze 1 Buchstabe b) und 2 finden auf Beförderungsunternehmer Anwendung, die im internationalen Linienverkehr Gruppen von Personen in Autobussen befördern, mit Ausnahme des Grenzverkehrs.“

8        Art. 27 SDÜ, der durch Art. 5 der Richtlinie 2002/90/EG des Rates vom 28. November 2002 zur Definition der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt (ABl. 2002, L 328, S. 17) aufgehoben wurde, lautete:

„(1)      Die Vertragsparteien verpflichten sich, angemessene Sanktionen gegen jede Person vorzusehen, die zu Erwerbszwecken einem Drittausländer hilft oder zu helfen versucht, in das Hoheitsgebiet einer der Vertragsparteien unter Verletzung ihrer Rechtsvorschriften in Bezug auf die Einreise und den Aufenthalt von Drittausländern einzureisen oder sich dort aufzuhalten.

(2)      Erlangt eine Vertragspartei Kenntnis von Handlungen nach Absatz 1, die das Recht einer anderen Vertragspartei verletzen, unterrichtet sie diese davon.

(3)      Die Vertragspartei, die wegen Verletzung ihres eigenen Rechts eine andere Vertragspartei ersucht, Handlungen nach Absatz 1 zu verfolgen, muss durch eine amtliche Anzeige oder durch eine Bescheinigung der zuständigen Behörden begründen, welche ihrer Rechtsbestimmungen verletzt worden sind.“

 Richtlinie 2001/51/EG

9        Die Erwägungsgründe 2 und 4 der Richtlinie 2001/51/EG des Rates vom 28. Juni 2001 zur Ergänzung der Regelungen nach Artikel 26 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 (ABl. 2001, L 187, S. 45) lauten:


„(2)      Diese Maßnahme gehört zu einem Regelungspaket zur Kontrolle der Zuwanderungsströme und zur Bekämpfung der illegalen Einwanderung.

(4)      Den Mitgliedstaaten sollte unbenommen bleiben, zusätzliche Maßnahmen oder Sanktionen gegen die Beförderungsunternehmen beizubehalten oder einzuführen, unabhängig davon, ob diese unter diese Richtlinie fallen oder nicht.“

 Richtlinie 2002/90

10      Die Erwägungsgründe 1 bis 4 der Richtlinie 2002/90 lauten:

„(1)      Eines der Ziele der Europäischen Union ist der schrittweise Aufbau eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts; dies bedeutet unter anderem, dass die illegale Einwanderung bekämpft werden muss.

(2)      Daher sollten Maßnahmen getroffen werden, um die Beihilfe zur illegalen Einwanderung zu bekämpfen, und zwar sowohl, wenn diese den unerlaubten Grenzübertritt im engeren Sinne betrifft, als auch, wenn dadurch ein Netzwerk zur Ausbeutung von Menschen unterhalten wird.

(3)      Zu diesem Zweck ist es von wesentlicher Bedeutung, die bestehenden Rechtsvorschriften anzunähern; insbesondere umfasst dies zum einen die genaue Definition des betreffenden Tatbestands und der Ausnahmen – dies ist Gegenstand dieser Richtlinie – und zum anderen Mindestvorschriften für Strafen, die Verantwortlichkeit von juristischen Personen und die Gerichtsbarkeit, die Gegenstand des Rahmenbeschlusses 2002/946/JI des Rates vom 28. November 2002 zur Verstärkung des strafrechtlichen Rahmens für die Bekämpfung der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt [(ABl. 2002, L 328, S. 1)] sind.

(4)      Mit dieser Richtlinie soll die Beihilfe zur illegalen Einwanderung definiert und somit die Umsetzung des Rahmenbeschlusses [2002/946] zur Verhinderung dieser Straftat praxisgerechter gestaltet werden.“

11      Art. 1 („Allgemeiner Tatbestand“) der Richtlinie 2002/90 bestimmt in Abs. 1:

„Jeder Mitgliedstaat legt angemessene Sanktionen für diejenigen fest, die

a)      einer Person, die nicht Angehörige eines Mitgliedstaats ist, vorsätzlich dabei helfen, in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats unter Verletzung der Rechtsvorschriften des betreffenden Staates über die Einreise oder die Durchreise von Ausländern einzureisen oder durch dessen Hoheitsgebiet zu reisen;

b)      einer Person, die nicht Angehörige eines Mitgliedstaats ist, zu Gewinnzwecken vorsätzlich dabei helfen, sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats unter Verletzung der Rechtsvorschriften des betreffenden Staates über den Aufenthalt von Ausländern aufzuhalten.“

12      Art. 2 („Anstiftung, Beteiligung und Versuch“) dieser Richtlinie sieht vor:

„Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die in Artikel 1 genannten Sanktionen auch für diejenigen gelten, die im Falle einer der in Artikel 1 Absatz 1 Buchstaben a) oder b) aufgeführten Handlungen

a)      Anstifter sind oder

b)      als Gehilfen beteiligt sind …

…“

13      Nach Art. 3 („Sanktionen“) dieser Richtlinie trifft jeder Mitgliedstaat die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die in den Art. 1 und 2 der Richtlinie genannten Handlungen Gegenstand wirksamer, angemessener und abschreckender Sanktionen sind.

 Rahmenbeschluss 2002/946

14      Art. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/946 sieht vor:

„(1)      Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die in den Artikeln 1 und 2 der Richtlinie [2002/90] beschriebenen Handlungen mit wirksamen, angemessenen und abschreckenden Strafen bedroht sind, die zu einer Auslieferung führen können.

(2)      Gegebenenfalls können neben den in Absatz 1 genannten Strafen noch folgende Maßnahmen ergriffen werden:

–        Einziehung des Verkehrsmittels, das zur Begehung der strafbaren Handlung benutzt wurde;

–        Verbot, unmittelbar oder über Dritte die berufliche Tätigkeit auszuüben, in deren Rahmen die strafbare Handlung begangen wurde;

…“


15      Art. 2 („Verantwortlichkeit von juristischen Personen“) des Rahmenbeschlusses bestimmt:

„(1)      Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass eine juristische Person für die Handlungen nach Artikel 1 Absatz 1 verantwortlich gemacht werden kann, die zu ihren Gunsten von einer Person begangen wurden, die entweder allein oder als Teil eines Organs der juristischen Person gehandelt hat und die eine Führungsposition innerhalb der juristischen Person innehat …

(2)      Neben den in Absatz 1 vorgesehenen Fällen trifft jeder Mitgliedstaat die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass eine juristische Person verantwortlich gemacht werden kann, wenn mangelnde Überwachung oder Kontrolle seitens einer der in Absatz 1 genannten Personen die Handlungen nach Artikel 1 Absatz 1 zugunsten dieser juristischen Person durch eine ihr unterstellte Person ermöglicht hat.

(3)      Die Verantwortlichkeit der juristischen Person nach den Absätzen 1 und 2 schließt die strafrechtliche Verfolgung natürlicher Personen als Täter, Anstifter oder Gehilfen bei den in Absatz 1 genannten strafbaren Handlungen nicht aus.“

16      In Art. 3 („Sanktionen für juristische Personen“) des Rahmenbeschlusses heißt es:

„(1)      Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass gegen eine im Sinne von Artikel 2 Absatz 1 verantwortliche juristische Person wirksame, angemessene und abschreckende Sanktionen verhängt werden können, zu denen strafrechtliche oder nicht strafrechtliche Geldsanktionen gehören und andere Sanktionen gehören können …

(2)      Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass gegen eine im Sinne von Artikel 2 Absatz 2 verantwortliche juristische Person wirksame, angemessene und abschreckende Sanktionen oder Maßnahmen verhängt werden können.“

 Verordnung Nr. 562/2006

17      Die Verordnung Nr. 562/2006, die zu der für die Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeit anwendbar war, wurde durch die Verordnung (EU) 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. 2016, L 77, S. 1) aufgehoben und ersetzt.


18      Art. 2 Nrn. 9 bis 11 und 14 der Verordnung Nr. 562/2006 bestimmte:

„Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck

9.      ‚Grenzkontrollen‘ die an einer Grenze nach Maßgabe und für die Zwecke dieser Verordnung unabhängig von jedem anderen Anlass ausschließlich aufgrund des beabsichtigten oder bereits erfolgten Grenzübertritts durchgeführten Maßnahmen, die aus Grenzübertrittskontrollen und Grenzüberwachung bestehen;

10.      ‚Grenzübertrittskontrollen‘ die Kontrollen, die an den Grenzübergangsstellen erfolgen, um festzustellen, ob die betreffenden Personen mit ihrem Fortbewegungsmittel und den von ihnen mitgeführten Sachen in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten einreisen oder aus dem Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten ausreisen dürfen;

11.      ‚Grenzüberwachung‘ die Überwachung der Grenzen zwischen den Grenzübergangsstellen und die Überwachung der Grenzübergangsstellen außerhalb der festgesetzten Verkehrsstunden, um zu vermeiden, dass Personen die Grenzübertrittskontrollen umgehen;

14.      ‚Beförderungsunternehmer‘ eine natürliche oder juristische Person, die gewerblich die Beförderung von Personen durchführt.“

19      Art. 5 („Einreisevoraussetzungen für Drittstaatsangehörige“) sah in Abs. 1 vor:

„Für einen geplanten Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten von bis zu 90 Tagen je Zeitraum von 180 Tagen, wobei der Zeitraum von 180 Tagen, der jedem Tag des Aufenthalts vorangeht, berücksichtigt wird, gelten für einen Drittstaatsangehörigen folgende Einreisevoraussetzungen:

a)      Er muss im Besitz eines gültigen Reisedokuments sein, das seinen Inhaber zum Überschreiten der Grenze berechtigt und folgende Anforderungen erfüllt:

i)      Es muss mindestens noch drei Monate nach der geplanten Ausreise aus dem Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten gültig sein. In begründeten Notfällen kann von dieser Verpflichtung abgesehen werden.

ii)      Es muss innerhalb der vorangegangenen zehn Jahre ausgestellt worden sein.


b)      Er muss im Besitz eines gültigen Visums sein, falls dies … vorgeschrieben ist, außer wenn er Inhaber eines gültigen Aufenthaltstitels oder eines gültigen Visums für den längerfristigen Aufenthalt ist.

…“

20      Art. 20 („Überschreiten der Binnengrenzen“) der Verordnung Nr. 562/2006 bestimmte:

„Die Binnengrenzen dürfen unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betreffenden Personen an jeder Stelle ohne Personenkontrollen überschritten werden.“

21      Art. 21 („Kontrollen innerhalb des Hoheitsgebiets“) dieser Verordnung lautete:

„Die Abschaffung der Grenzkontrollen an den Binnengrenzen berührt nicht:

a)      die Ausübung der polizeilichen Befugnisse durch die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten nach Maßgabe des nationalen Rechts, sofern die Ausübung solcher Befugnisse nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen hat; dies gilt auch in Grenzgebieten. Im Sinne von Satz 1 darf die Ausübung der polizeilichen Befugnisse insbesondere nicht der Durchführung von Grenzübertrittskontrollen gleichgestellt werden, wenn die polizeilichen Maßnahmen

i)      keine Grenzkontrollen zum Ziel haben;

ii)      auf allgemeinen polizeilichen Informationen und Erfahrungen in Bezug auf mögliche Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit beruhen und insbesondere auf die Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität abzielen;

iii)      in einer Weise konzipiert sind und durchgeführt werden, die sich eindeutig von systematischen Personenkontrollen an den Außengrenzen unterscheidet;

iv)      auf der Grundlage von Stichproben durchgeführt werden;

b)      die Durchführung von Sicherheitskontrollen bei Personen in See- oder Flughäfen durch die zuständigen Behörden nach Maßgabe des nationalen Rechts, die Verantwortlichen der See- oder Flughäfen oder die Beförderungsunternehmer, sofern diese Kontrollen auch bei Personen vorgenommen werden, die Reisen innerhalb des Mitgliedstaats unternehmen;


c)      die den Mitgliedstaaten eingeräumte Möglichkeit, in ihren Rechtsvorschriften die Verpflichtung zum Besitz oder Mitführen von Urkunden und Bescheinigungen vorzusehen;

d)      die Möglichkeit eines Mitgliedstaats, die Verpflichtung für Drittstaatsangehörige, ihre Anwesenheit in seinem Hoheitsgebiet gemäß Artikel 22 [SDÜ] zu melden, gesetzlich vorzuschreiben.“

 Deutsches Recht

22      § 13 („Grenzübertritt“) des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz – AufenthG) vom 30. Juli 2004 (BGBl. 2004 I S. 1950) in seiner für die Ausgangsverfahren maßgeblichen Fassung stellt in Abs. 1 die Verpflichtung für Ausländer auf, bei der Einreise und der Ausreise einen anerkannten und gültigen Pass oder Passersatz mitzuführen und sich der polizeilichen Kontrolle des grenzüberschreitenden Verkehrs zu unterziehen.

23      § 63 („Pflichten der Beförderungsunternehmer“) AufenthG bestimmt:

„(1)      Ein Beförderungsunternehmer darf Ausländer nur in das Bundesgebiet befördern, wenn sie im Besitz eines erforderlichen Passes und eines erforderlichen Aufenthaltstitels sind.

(2)      Das Bundesministerium des Innern oder die von ihm bestimmte Stelle kann im Einvernehmen mit dem Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur einem Beförderungsunternehmer untersagen, Ausländer entgegen Absatz 1 in das Bundesgebiet zu befördern und für den Fall der Zuwiderhandlung ein Zwangsgeld androhen. …

(3)      Das Zwangsgeld gegen den Beförderungsunternehmer beträgt für jeden Ausländer, den er einer Verfügung nach Absatz 2 zuwider befördert, mindestens 1 000 und höchstens 5 000 Euro. …

(4)      Das Bundesministerium des Innern oder die von ihm bestimmte Stelle kann mit Beförderungsunternehmern Regelungen zur Umsetzung der in Absatz 1 genannten Pflicht vereinbaren.“

24      In den Nrn. 63.1 und 63.2 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz vom 26. Oktober 2009 (GMBl. 2009, S. 878) heißt es:

„63.1      Kontroll- und Sicherungspflichten

63.1.1      [§ 63 AufenthG] untersagt es Beförderungsunternehmern, Ausländer ohne die erforderlichen Reisedokumente in das Bundesgebiet zu befördern. Das Verbot gilt sowohl für Beförderungen auf dem Luft- und Seeweg als auch für Beförderungen auf dem Landweg mit Ausnahme des grenzüberschreitenden Eisenbahnverkehrs. … Aus dem gesetzlichen Verbot, Ausländer nicht in das Bundesgebiet zu befördern, wenn sie nicht im Besitz eines erforderlichen Passes oder eines erforderlichen Visums sind, das sie auf Grund ihrer Staatsangehörigkeit benötigen, ergibt sich zugleich die Pflicht des Beförderungsunternehmers, Pass und Visum ausreichend zu kontrollieren. Durch die Kontrollpflicht soll sichergestellt werden, dass der Ausländer die für den Grenzübertritt nach § 13 Absatz 1 erforderlichen Voraussetzungen erfüllt. …

63.1.3.1      Die Kontrollpflicht nach § 63 Absatz 1 fordert von dem Beförderungsunternehmer, vor dem Transport zu prüfen, ob der Ausländer im Besitz der erforderlichen Dokumente ist. …

63.2      Untersagung der Beförderung und Zwangsgeld

63.2.0      Sowohl das Beförderungsverbot als auch die Androhung, Festsetzung und Vollstreckung von Zwangsgeldern soll[en] dazu dienen, den Beförderungsunternehmer zur Kontrolle der Einhaltung der Pass- und Visumpflicht in jedem Einzelfall anzuhalten.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

25      Die fraglichen Beförderungsunternehmer bieten Busreisen an und betreiben u. a. Linienverkehre nach Deutschland über die deutsch-niederländische und die deutsch-belgische Grenze.

26      Da das Bundespolizeipräsidium der Auffassung war, dass die Unternehmen eine erhebliche Zahl von Drittstaatsangehörigen entgegen § 63 Abs. 1 AufenthG ohne die erforderlichen Reisedokumente nach Deutschland befördert hätten, erteilte es ihnen zunächst im November 2013 bzw. März 2014 eine „Abmahnung“ unter Auflistung der Fälle unerlaubter Beförderungen und kündigte für den Fall fortgesetzter Zuwiderhandlung den Erlass einer Untersagungsverfügung nach § 63 Abs. 2 AufenthG an.

27      Da das Bundespolizeipräsidium in der Folge feststellte, dass die fraglichen Beförderungsunternehmer weiterhin rechtswidrig handelten, erließ es am 26. September 2014 bzw. 18. November 2014 Untersagungsverfügungen und drohte für jeden Fall einer neuen Zuwiderhandlung ein Zwangsgeld von 1 000 Euro an.

28      In diesen Verfügungen heißt es, dass die fraglichen Beförderungsunternehmer nach § 63 Abs. 1 AufenthG verpflichtet seien, alle zumutbaren Anstrengungen zu unternehmen, um zu verhindern, dass Ausländer ohne die erforderlichen Reisedokumente nach Deutschland einreisten. Zu diesem Zweck seien die Beförderungsunternehmer verpflichtet, diese Dokumente beim Einstieg der Passagiere in den Bus zusammen mit der Fahrkartenkontrolle zu überprüfen, und müssten Drittstaatsangehörigen, die nicht im Besitz der erforderlichen Reisedokumente seien, den Zugang verweigern.

29      Das im Klagewege von den fraglichen Beförderungsunternehmern angerufene Verwaltungsgericht (Deutschland) hob die Verfügungen auf und vertrat im Wesentlichen die Auffassung, dass § 63 Abs. 2 AufenthG angesichts des Vorrangs des Unionsrechts unangewendet bleiben müsse, da seine Anwendung auf Unternehmen, die Drittstaatsangehörige nach Deutschland beförderten und dabei eine Binnengrenze des Schengen-Raums überschritten, gegen Art. 67 Abs. 2 AEUV sowie die Art. 20 und 21 der Verordnung Nr. 562/2006 verstoße. Die diesen Unternehmen aufgetragenen Kontrollen seien insbesondere aufgrund ihrer Systematik und der Verpflichtung, sie durchzuführen, noch bevor die Grenze überschritten werde, als Maßnahmen mit gleicher Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen im Sinne von Art. 21 der Verordnung Nr. 562/2006 einzustufen.

30      Die Bundesrepublik Deutschland legte dagegen beim vorlegenden Gericht, dem Bundesverwaltungsgericht (Deutschland), Revision ein. Sie macht u. a. geltend, das Unionsrecht und insbesondere die Richtlinie 2002/90 sowie der Rahmenbeschluss 2002/946, die im Verhältnis zur Verordnung Nr. 562/2006 die spezielleren Regelungen seien, schrieben vor, Verstöße gegen Beförderungsverbote wie die in § 63 AufenthG vorgesehenen zu ahnden.

31      Die von dieser nationalen Rechtsvorschrift geforderte Kontrolle der Reisedokumente könne jedenfalls nicht als Maßnahme mit „gleiche[r] Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen“ im Sinne von Art. 21 Buchst. a der Verordnung Nr. 562/2006 eingestuft werden. Es gehe nämlich nicht um die Kontrolle des Grenzübertritts, sondern um die Beachtung der Einreisevorschriften. Da die Kontrollen nicht von staatlichen Bediensteten, sondern von privatem Personal durchgeführt würden, blieben sie im Übrigen in Umfang und Tiefe hinter einer Grenzkontrolle zurück. So könne das private Personal keine Zwangs- oder Fahndungsmaßnahmen ergreifen, wenn sich die Betroffenen weigerten, sich einer derartigen Kontrolle zu unterziehen.

32      Unter diesen Umständen hat das Bundesverwaltungsgericht beschlossen, die Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende, in den Rechtssachen C‑412/17 und C‑474/17 gleichlautende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Stehen Art. 67 Abs. 2 AEUV sowie die Art. 20 und 21 der Verordnung Nr. 562/2006 der nationalen Regelung eines Mitgliedstaats entgegen, die Busunternehmen im Linienverkehr über eine Schengen-Binnengrenze im Ergebnis verpflichtet, die Grenzübertrittsdokumente ihrer Passagiere vor dem Überschreiten einer Binnengrenze zu kontrollieren, um einer Beförderung von Ausländern ohne Pass und Aufenthaltstitel in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland entgegenzuwirken?

Insbesondere:

a)      Stellt die generelle gesetzliche Pflicht oder die an einzelne Beförderungsunternehmen gerichtete behördliche Verpflichtung, Ausländer nicht ohne den erforderlichen Pass oder einen erforderlichen Aufenthaltstitel in das Bundesgebiet zu befördern, die nur durch eine Kontrolle der Grenzübertrittspapiere aller Passagiere vor Überschreiten der Binnengrenze durch die Beförderungsunternehmen erfüllt werden kann, eine Personenkontrolle an den Binnengrenzen im Sinne von Art. 20 der Verordnung Nr. 562/2006 dar bzw. ist sie einer solchen gleichzustellen?

b)      Ist die Auferlegung der unter 1. genannten Pflichten an Art. 21 Buchst. a der Verordnung Nr. 562/2006 zu messen, obwohl die Beförderungsunternehmer keine „polizeilichen Befugnisse“ im Sinne dieser Vorschrift ausüben und mit der staatlichen Inpflichtnahme zu Kontrollen auch nicht förmlich zur Inanspruchnahme hoheitlicher Befugnisse ermächtigt werden?

c)      Falls Frage 1 b) bejaht wird: Liegt in den von den Beförderungsunternehmern geforderten Kontrollen unter Berücksichtigung der Kriterien des Art. 21 Buchst. a Satz 2 der Verordnung Nr. 562/2006 eine unzulässige Maßnahme gleicher Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen?

d)      Ist die Auferlegung der unter 1. genannten Pflichten, soweit sie Busunternehmen im Linienverkehr betrifft, an Art. 21 Buchst. b der Verordnung Nr. 562/2006 zu messen, wonach die Befugnis von Beförderungsunternehmern zu Sicherheitskontrollen bei Personen in See- und Flughäfen das Ausbleiben von Grenzkontrollen an den Binnengrenzen nicht berührt? Folgt daraus die Unzulässigkeit von Kontrollen im Sinne von Frage 1 auch außerhalb von See- und Flughäfen, wenn sie keine Sicherheitskontrollen darstellen und nicht auch bei Personen vorgenommen werden, die Reisen innerhalb des Mitgliedstaats unternehmen?

2.      Gestatten die Art. 20 und 21 der Verordnung Nr. 562/2006 nationale Regelungen, nach denen zur Einhaltung der unter 1. genannten Pflicht eine Untersagungsverfügung und Zwangsgeldandrohung gegen ein Busunternehmen erlassen werden kann, wenn infolge der unterlassenen Kontrollen auch Ausländer ohne Pass und Aufenthaltstitel in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland befördert worden sind?

33      Durch Beschluss vom 24. April 2018 hat der Gerichtshof die Rechtssachen C‑412/17 und C‑474/17 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden.

 Zu den Vorlagefragen

34      Mit seinen beiden in jeder der verbundenen Rechtssachen gestellten Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 67 Abs. 2 AEUV sowie die Art. 20 und 21 der Verordnung Nr. 562/2006 dahin auszulegen sind, dass sie Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie den in den Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen, nach denen jeder Beförderungsunternehmer, der im Schengen-Raum einen grenzüberschreitenden Linienbusverkehr mit Zielort im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats betreibt, verpflichtet ist, den Pass und den Aufenthaltstitel der Passagiere vor dem Überschreiten einer Binnengrenze zu kontrollieren, um zu verhindern, dass Drittstaatsangehörige, die nicht im Besitz dieser Reisedokumente sind, in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats befördert werden, und nach denen die Polizeibehörden zur Durchsetzung dieser Kontrollpflicht zwangsgeldbewehrte Verfügungen zur Untersagung solcher Beförderungen an Beförderungsunternehmer richten können, die nach ihren Feststellungen Drittstaatsangehörige, die nicht im Besitz der genannten Reisedokumente waren, in das betreffende Hoheitsgebiet befördert haben.

35      Eingangs ist darauf hinzuweisen, dass die Tragweite der Vorlagefragen auf eine Prüfung des Mechanismus in § 63 AufenthG am Maßstab des Art. 67 Abs. 2 AEUV sowie der Art. 20 und 21 der Verordnung Nr. 562/2006 beschränkt ist.

36      Allerdings hat die Bundesrepublik Deutschland als Partei der Ausgangsverfahren sowohl in ihren schriftlichen Erklärungen als auch in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof vorgetragen, dass die zwangsgeldbewehrte Kontrollpflicht der Beförderungsunternehmen nach § 63 AufenthG nicht unionsrechtswidrig sei. Eine Reihe von Bestimmungen der Richtlinie 2002/90, des Rahmenbeschlusses 2002/946, des Zusatzprotokolls und der Richtlinie 2001/51 verpflichteten die Mitgliedstaaten nämlich, den Personenbeförderungsunternehmern Kontrollpflichten wie die in § 63 AufenthG vorgesehenen aufzuerlegen und gegen Beförderungsunternehmer, die einem Drittstaatsangehörigen bei der Einreise in das Gebiet eines Mitgliedstaats, der Durchreise durch dessen Gebiet oder dem rechtswidrigen Aufenthalt in diesem Gebiet vorsätzlich Hilfe leisteten, angemessene Sanktionen zu verhängen.

37      Aus den Vorabentscheidungsersuchen geht jedoch hervor, dass das vorlegende Gericht auf diese von der Bundesrepublik Deutschland bereits zur Begründung ihrer Revision vorgetragene Argumentation ausdrücklich erwidert hat, dass die Frage, wie sich die Richtlinie 2002/90, der Rahmenbeschluss 2002/946 und die Richtlinie 2001/51 auf die Beantwortung der Vorlagefragen auswirkten, keiner Klärung bedürfe, und dabei auch die Gründe für seine Ansicht erläutert hat.


38      Deshalb hat das vorlegende Gericht in seinen Vorlagefragen weder auf einen dieser drei Unionsrechtsakte noch auf das Zusatzprotokoll Bezug genommen.

39      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass es allein Sache des vorlegenden Gerichts ist, die Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts, zu denen es für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits einer Vorabentscheidung bedarf, zu bestimmen und zu formulieren (Urteil vom 18. Juli 2013, Consiglio Nazionale dei Geologi, C‑136/12, EU:C:2013:489, Rn. 31).

40      Auch wenn es dem nationalen Gericht freisteht, die Parteien des bei ihm anhängigen Rechtsstreits aufzufordern, Formulierungen vorzuschlagen, die bei der Abfassung der Fragen, die Gegenstand des Vorabentscheidungsersuchens sind, übernommen werden können, ist daher die Entscheidung sowohl über die Form als auch über den Inhalt der Fragen doch letztlich allein Sache dieses Gerichts (Urteil vom 21. Juli 2011, Kelly, C‑104/10, EU:C:2011:506, Rn. 65).

41      Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs geht ferner hervor, dass der Gerichtshof, wenn das vorlegende Gericht in seiner Vorlageentscheidung ausdrücklich festgestellt hat, dass es die Vorlage einer Frage nicht für erforderlich gehalten habe, oder wenn es stillschweigend davon abgesehen hat, dem Gerichtshof eine von einer der Parteien aufgeworfene Frage zu unterbreiten, weder auf diese Frage antworten noch sie im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens berücksichtigen kann (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. Oktober 1988, Alsatel, 247/86, EU:C:1988:469, Rn. 8, vom 2. Juni 1994, AC‑ATEL Electronics, C‑30/93, EU:C:1994:224, Rn. 19, und vom 26. September 2000, Engelbrecht, C‑262/97, EU:C:2000:492, Rn. 21 und 22).

42      Daher kann der Gerichtshof im vorliegenden Fall den Gegenstand der Vorlagefragen nicht in der Weise erweitern, dass er sie nicht nur anhand der Art. 20 und 21 der Verordnung Nr. 562/2006 prüft, sondern auch anhand der Bestimmungen der Richtlinie 2002/90, des Rahmenbeschlusses 2002/946 und der Richtlinie 2001/51.

43      Hinzuzufügen ist, dass eine etwaige unter bestimmten Voraussetzungen bestehende grundsätzliche Pflicht eines Mitgliedstaats, nach bestimmten Vorschriften dieser drei Rechtsakte oder des Zusatzprotokolls Busunternehmen, die Drittstaatsangehörige in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats befördern, unter Androhung u. a. strafrechtlicher Sanktionen mit der Kontrolle der Reisedokumente, in deren Besitz die Drittstaatsangehörigen sein müssen, zu betrauen, im Rahmen des Schengener Grenzkodex in seiner Fassung aufgrund der Verordnung Nr. 562/2006 umzusetzen ist.

44      Zur Beantwortung der Vorlagefragen und somit zur Vereinbarkeit einer Vorschrift des nationalen Rechts wie § 63 AufenthG mit den Bestimmungen der Verordnung Nr. 562/2006 ist festzustellen, dass diese nicht am Maßstab des Art. 20 der Verordnung Nr. 562/2006 zu prüfen ist.

45      Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich nämlich, dass die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Kontrollen, da sie nicht „an einer Grenze“ oder „beim Grenzübertritt“ durchgeführt werden, sondern grundsätzlich innerhalb des Hoheitsgebiets des Mitgliedstaats – hier des Mitgliedstaats, in dem die Reisenden zu Beginn der grenzüberschreitenden Reise in den Bus einsteigen –, keine nach Art. 20 der Verordnung Nr. 562/2006 verbotenen Grenzübertrittskontrollen sind, sondern Kontrollen innerhalb des Hoheitsgebiets eines Mitgliedstaats, die unter Art. 21 der Verordnung fallen (vgl. entsprechend Urteile vom 22. Juni 2010, Melki und Abdeli, C‑188/10 und C‑189/10, EU:C:2010:363, Rn. 68, und vom 19. Juli 2012, Adil, C‑278/12 PPU, EU:C:2012:508, Rn. 56).

46      Somit ist zu prüfen, ob Kontrollen innerhalb des Hoheitsgebiets eines Mitgliedstaats wie die gemäß § 63 AufenthG konzipierten und durchgeführten Kontrollen nach Art. 21 Buchst. a der Verordnung Nr. 562/2006 verboten sind. Das wäre der Fall, wenn sie in Wirklichkeit die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen im Sinne dieser Bestimmung hätten (vgl. entsprechend Urteil vom 19. Juli 2012, Adil, C‑278/12 PPU, EU:C:2012:508, Rn. 57).

47      Vor dieser Prüfung stellt sich indes die Vorfrage, ob Art. 21 Buchst. a der Verordnung Nr. 562/2006 auf Kontrollen wie die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden anwendbar ist, da diese Kontrollen nicht von Polizeibehörden oder ihnen gleichgestellte Behörden durchzuführen sind, sondern vom Personal privatrechtlicher Beförderungsunternehmer, das keine hoheitlichen Befugnisse hat, während sich Art. 21 Buchst. a auf „die Ausübung der polizeilichen Befugnisse durch die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten nach Maßgabe des nationalen Rechts“ und auf „die polizeilichen Maßnahmen“ bezieht.

48      Hierzu ist festzustellen, dass im vorliegenden Fall die von den fraglichen Unternehmern vorzunehmende Kontrolle der Reisedokumente sowohl als allgemeine rechtliche Verpflichtung in § 63 Abs. 1 AufenthG vorgeschrieben ist als auch als spezielle rechtliche Verpflichtung aufgrund der zwangsgeldbewehrten Verfügungen, die das Bundespolizeipräsidium auf der Grundlage von § 63 Abs. 2 AufenthG an sie gerichtet hat.

49      Somit sind es die zuständigen Behörden des betreffenden Mitgliedstaats, die nach Maßgabe des nationalen Rechts Beförderungsunternehmer, gegebenenfalls unter Androhung eines Zwangsgelds, zur Durchführung der üblicherweise von Polizeibehörden oder ihnen gleichgestellten Behörden vorgenommenen Kontrolle der Reisedokumente verpflichten. Somit führen die Beförderungsunternehmer, auch wenn sie keine hoheitlichen Befugnisse haben, diese Kontrollen im Auftrag und unter der Aufsicht der mit solchen Befugnissen ausgestatteten Behörden durch.


50      Derartige Kontrollen fallen daher, auch wenn sie von Beförderungsunternehmern durchgeführt werden, unter Art. 21 Buchst. a der Verordnung Nr. 562/2006. Andernfalls könnte diese Bestimmung im Übrigen leicht umgangen werden, was ihre praktische Wirksamkeit beeinträchtigen würde.

51      Zu Art. 21 Buchst. a ist zum einen darauf hinzuweisen, dass diese Bestimmung, wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, nicht dahin ausgelegt werden kann, dass sie eine Voraussetzung enthält, wonach Polizeikontrollen in einem Grenzgebiet hinsichtlich ihrer Modalitäten und Ziele mit den Kontrollen im gesamten Hoheitsgebiet identisch sein müssen. Diese Auslegung wird dadurch gestützt, dass der Unionsgesetzgeber dem Vorschlag der Europäischen Kommission, eine solche Voraussetzung einzuführen, nicht gefolgt ist, sowie dadurch, dass sie hingegen in Art. 21 Buchst. b der Verordnung für Sicherheitskontrollen in See- und Flughäfen ausdrücklich vorgesehen ist, da sie dort nur zulässig sind, wenn sie auch bei Personen vorgenommen werden, die Reisen innerhalb des Mitgliedstaats unternehmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Juli 2012, Adil, C‑278/12 PPU, EU:C:2012:508, Rn. 73).

52      Daraus folgt ferner – womit Buchst. d der ersten Frage des vorlegenden Gerichts beantwortet wird –, dass Art. 21 Buchst. b der Verordnung Nr. 562/2006, auch wenn er die „Beförderungsunternehmer“ ausdrücklich erfasst, nicht im Umkehrschluss entnommen werden kann, dass Kontrollen wie die nach § 63 AufenthG durchgeführten allein deshalb verboten sind, weil sie nicht die in dieser Bestimmung aufgestellten Voraussetzungen erfüllen, und dass es sich mithin weder um Sicherheitskontrollen in See- oder Flughäfen handelt noch um Kontrollen, die auch bei Personen vorgenommen werden, die Reisen innerhalb des Mitgliedstaats unternehmen.

53      Wie nämlich insbesondere aus der in Rn. 51 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung des Gerichtshofs hervorgeht, haben Art. 21 Buchst. a der Verordnung Nr. 562/2006 und ihr Art. 21 Buchst. b jeweils einen eigenen Anwendungsbereich und eigene Anwendungsvoraussetzungen.

54      Zum anderen ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass die in Art. 21 Buchst. a Satz 2 der Verordnung Nr. 562/2006 aufgezählten Indizien zugleich Hinweise darauf sind, dass eine gleiche Wirkung wie bei Grenzübertrittskontrollen besteht. Liegen solche Indizien vor, sind die fraglichen Kontrollen nur zulässig, wenn ihre Ausübung in den nationalen Rechtsvorschriften, mit denen sie angeordnet werden, durch Konkretisierungen und Einschränkungen eingerahmt wird, die ihrerseits in Bezug auf die Intensität, die Häufigkeit und die Selektivität der Kontrollen hinreichend genau und detailliert sind. Daher müssen, je zahlreicher die Indizien sind, auf die sich die nationalen Rechtsvorschriften beziehen – sei es hinsichtlich des mit den Kontrollen in einem Grenzgebiet verfolgten Ziels, des räumlichen Anwendungsbereichs dieser Kontrollen und der Existenz unterschiedlicher Grundlagen für diese Kontrollen und die Kontrollen im übrigen Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats –, die Konkretisierungen und Einschränkungen umso strenger sein und eingehalten werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Juni 2017, A, C‑9/16, EU:C:2017:483, Rn. 38 bis 41).

55      Was im vorliegenden Fall erstens die Analyse von § 63 Abs. 2 AufenthG am Maßstab des Indizes in Art. 21 Buchst. a Satz 2 Ziff. i der Verordnung Nr. 562/2006 angeht, wonach die Ausübung polizeilicher Befugnisse insbesondere dann nicht „der Durchführung von Grenzübertrittskontrollen gleichgestellt“ werden kann, wenn die in der nationalen Regelung vorgesehenen Kontrollen „keine Grenzkontrollen zum Ziel haben“, hat der Gerichtshof bereits festgestellt, dass Grenzübertrittskontrollen nach Art. 2 Nrn. 9 bis 11 der Verordnung Nr. 562/2006 zum einen das Ziel haben, sich zu vergewissern, dass die betreffenden Personen in das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats einreisen oder aus ihm ausreisen dürfen, und zum anderen diese Personen daran hindern sollen, sich den Grenzübertrittskontrollen zu entziehen. Es handelt sich um Kontrollen, die systematisch durchgeführt werden dürfen (Urteil vom 19. Juli 2012, Adil, C‑278/12 PPU, EU:C:2012:508, Rn. 61).

56      Aus der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz geht jedoch hervor, dass durch die aus § 63 Abs. 1 AufenthG resultierende Pflicht zur Kontrolle der Reisedokumente sichergestellt werden soll, dass der betreffende Drittstaatsangehörige „die für den Grenzübertritt nach § 13 Absatz 1 [AufenthG] erforderlichen Voraussetzungen erfüllt“.

57      § 13 („Grenzübertritt“) AufenthG stellt in Abs. 1 die Verpflichtung für Drittstaatsangehörige auf, bei der Einreise und der Ausreise einen anerkannten und gültigen Pass oder Passersatz mitzuführen und sich der polizeilichen Kontrolle des grenzüberschreitenden Verkehrs zu unterziehen.

58      Somit ist festzustellen, dass die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Kontrollen „Grenzkontrollen“ im Sinne von Art. 21 Buchst. a Satz 2 Ziff. i der Verordnung Nr. 562/2006 zum Ziel haben, da mit ihnen überprüft werden soll, ob die in Art. 5 Abs. 1 Buchst. a und b der Verordnung Nr. 562/2006 in Bezug auf die erforderlichen Reisedokumente aufgeführten Voraussetzungen für die Einreise in die Mitgliedstaaten des Schengen-Raums erfüllt sind; diese Vorschrift wird in § 13 Abs. 1 AufenthG wiedergegeben.

59      Wie auch der Generalanwalt in Nr. 85 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, sollen die gemäß § 63 AufenthG durchzuführenden Kontrollen daher nur sicherstellen, dass den Personen, die sich in dem betreffenden Bus befinden und die Absicht haben, die Grenze des Bestimmungsmitgliedstaats zu überschreiten, tatsächlich gestattet werden kann, in dessen Hoheitsgebiet einzureisen. Sie sollen somit – ebenso wie die Kontrollen durch die Grenzschutzbehörden beim Überschreiten der Außengrenzen – die Passagiere daran hindern, in das Hoheitsgebiet dieses Staates zu gelangen, wenn sie nicht über die erforderlichen Reisedokumente verfügen.

60      Zweitens kann hinsichtlich der Analyse von § 63 Abs. 2 AufenthG am Maßstab des Indizes in Art. 21 Buchst. a Satz 2 Ziff. ii der Verordnung Nr. 562/2006 davon ausgegangen werden, dass die von Beförderungsunternehmern, die bestimmte grenzüberschreitende Buslinien betreiben, aufgrund von Verfügungen nach § 63 Abs. 2 AufenthG durchzuführenden Kontrollen auf allgemeinen polizeilichen Informationen und Erfahrungen in Bezug auf mögliche Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit beruhen, da diese Verfügungen ergingen, nachdem die fraglichen Beförderungsunternehmer abgemahnt worden waren, weil sich herausgestellt hatte, dass bestimmte von ihnen betriebene Buslinien von Ausländern genutzt wurden, um ohne die erforderlichen Reisedokumente nach Deutschland einzureisen.

61      Bei Kontrollen, die auf der Verpflichtung in § 63 Abs. 1 AufenthG beruhen, kann dies hingegen nicht der Fall sein, da diese Verpflichtung allgemeinen Charakter hat und für alle grenzüberschreitenden Buslinien gilt, unabhängig vom Verhalten der betreffenden Personen und von Umständen, aus denen sich die Gefahr einer Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung ergibt (vgl. entsprechend Urteil vom 21. Juni 2017, A, C‑9/16, EU:C:2017:483, Rn. 55).

62      Drittens trifft es hinsichtlich des Indizes in Art. 21 Buchst. a Satz 2 Ziff. iii und iv der Verordnung Nr. 562/2006 zu, dass die vom Personal der Beförderungsunternehmer nach § 63 AufenthG vorgenommene Kontrolle der Reisedokumente schon ihrer Natur nach nicht so eingehend ist wie eine polizeiliche Kontrolle, sei es nur deshalb, weil dieses Personal weder die Sachkenntnis noch die Mittel, wie z. B. den Zugang zu Datenbanken, oder die hoheitlichen Befugnisse der Polizei oder anderer ihr gleichgestellter Behörden hat. Daher könnte dieses Personal nur offensichtlich gefälschte Pässe erkennen.

63      Das ändert aber nichts daran, dass nach der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung, wie auch das vorlegende Gericht ausgeführt hat, diese Kontrolle der Reisedokumente systematisch bei allen Reisenden auf allen grenzüberschreitenden Buslinien vorgenommen werden muss.

64      § 63 Abs. 1 AufenthG enthält nämlich keine Konkretisierungen oder Einschränkungen in Bezug auf die Intensität, die Häufigkeit und die Selektivität der auf dieser Rechtsgrundlage durchzuführenden Kontrollen (vgl. entsprechend Urteil vom 21. Juni 2017, A, C‑9/16, EU:C:2017:483, Rn. 57 und 59).

65      In diesem Kontext steht ebenfalls fest, dass die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Kontrollen nicht auf der Grundlage von Stichproben durchgeführt werden.

66      Viertens ist zu den Gesichtspunkten, die nach den Ausführungen in Rn. 54 des vorliegenden Urteils als Indizien für das Bestehen einer gleichen Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen dienen können, insbesondere zu denen, die den räumlichen Anwendungsbereich dieser Kontrollen und den Unterschied zwischen deren Grundlage und der Grundlage der im übrigen deutschen Hoheitsgebiet durchgeführten Kontrollen betreffen, im Einklang mit dem in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof unwidersprochen gebliebenen Vorbringen der Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen festzustellen, dass die nach § 63 AufenthG durchzuführenden Kontrollen dadurch gekennzeichnet sind, dass sie gerade durch die Überschreitung einer Binnengrenze ausgelöst werden.

67      Dieses wesentliche Merkmal der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Kontrollen, auf das auch der Generalanwalt in Nr. 85 seiner Schlussanträge hinweist, unterscheidet sie von denen, um die es in anderen Rechtssachen ging, in denen Urteile des Gerichtshofs zur Auslegung von Art. 21 Buchst. a der Verordnung Nr. 562/2006 ergangen sind, insbesondere die Urteile vom 22. Juni 2010, Melki und Abdeli (C‑188/10 und C‑189/10, EU:C:2010:363), vom 19. Juli 2012, Adil (C‑278/12 PPU, EU:C:2012:508), und vom 21. Juni 2017, A (C‑9/16, EU:C:2017:483); dort ging es um Polizeikontrollen in Grenzgebieten, die nicht mehr als 20 oder 30 km von einer Binnengrenze des Schengen-Raums entfernt waren.

68      Der Umstand, dass die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Kontrollen durch eine ganz besonders enge Verbindung zur Überschreitung einer Binnengrenze gekennzeichnet sind, weil eben dies der Auslöser der Kontrollen ist, deutet in besonderem Maß auf eine „gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen“ im Sinne von Art. 21 Buchst. a der Verordnung Nr. 562/2006 hin.

69      Das gilt umso mehr, als die nach § 63 AufenthG vorgeschriebenen und die im übrigen deutschen Hoheitsgebiet durchgeführten Kontrollen auf unterschiedlichen Rechtsgrundlagen beruhen, obwohl die letztgenannten Kontrollen Binnenlinien mit vergleichbarer Streckenlänge wie die grenzüberschreitenden Linien, die Gegenstand der erstgenannten Kontrollen sind, betreffen können. Nach der in Rn. 54 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung kann ein solcher Umstand im Rahmen der Gesamtwürdigung berücksichtigt werden, die für die Einstufung eines Kontrollmechanismus als Maßnahme mit „gleiche[r] Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen“ im Sinne von Art. 21 Buchst a der Verordnung Nr. 562/2006 erforderlich ist.

70      Wie auch das vorlegende Gericht ausgeführt hat, findet § 63 AufenthG nämlich nur auf Buslinien Anwendung, die eine Binnengrenze des Schengen-Raums überschreiten, und erfasst die auf das deutsche Hoheitsgebiet beschränkten Linien mit einer ebenso großen oder größeren Streckenlänge als die genannten grenzüberschreitenden Linien nicht.

71      In Anbetracht des Vorliegens mehrerer der in Art. 21 Buchst. a Satz 2 der Verordnung Nr. 562/2006 aufgeführten Indizien, einer Beurteilung ihres jeweiligen Gewichts sowie des Fehlens hinreichender Konkretisierungen und Einschränkungen in Bezug auf die Intensität, die Häufigkeit und die Selektivität der nach § 63 Abs. 1 AufenthG vorgeschriebenen Kontrollen in der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung sind solche Kontrollen daher als Maßnahme mit „gleiche[r] Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen“ einzustufen, die nach Art. 21 Buchst. a Satz 1 der Verordnung verboten ist.

72      Daraus folgt ferner, dass Art. 21 Buchst. a der Verordnung Nr. 562/2006 der Regelung in § 63 Abs. 2 AufenthG entgegensteht, soweit danach die Nichterfüllung der in § 63 Abs. 1 AufenthG vorgesehenen allgemeinen Kontrollpflicht mit einer zwangsgeldbewehrten Untersagungsverfügung geahndet werden kann. Eine solche Sanktion ist nämlich nicht mit Art. 21 Buchst. a vereinbar, da sie die Einhaltung einer Kontrollpflicht sicherstellen soll, die ihrerseits nicht mit Art. 21 Buchst. a im Einklang steht.

73      Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 67 Abs. 2 AEUV sowie Art. 21 der Verordnung Nr. 562/2006 dahin auszulegen sind, dass sie Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie den in den Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen, nach denen jeder Beförderungsunternehmer, der im Schengen-Raum einen grenzüberschreitenden Linienbusverkehr mit Zielort im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats betreibt, verpflichtet ist, den Pass und den Aufenthaltstitel der Passagiere vor dem Überschreiten einer Binnengrenze zu kontrollieren, um zu verhindern, dass Drittstaatsangehörige, die nicht im Besitz dieser Reisedokumente sind, in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats befördert werden, und nach denen die Polizeibehörden zur Durchsetzung dieser Kontrollpflicht zwangsgeldbewehrte Verfügungen zur Untersagung solcher Beförderungen an Beförderungsunternehmer richten können, die nach ihren Feststellungen Drittstaatsangehörige, die nicht im Besitz der genannten Reisedokumente waren, in das betreffende Hoheitsgebiet befördert haben.

 Kosten

74      Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:

Art. 67 Abs. 2 AEUV sowie Art. 21 der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) in der durch die Verordnung (EU) Nr. 610/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 geänderten Fassung sind dahin auszulegen, dass sie Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie den in den Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen, nach denen jeder Beförderungsunternehmer, der im Schengen-Raum einen grenzüberschreitenden Linienbusverkehr mit Zielort im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats betreibt, verpflichtet ist, den Pass und den Aufenthaltstitel der Passagiere vor dem Überschreiten einer Binnengrenze zu kontrollieren, um zu verhindern, dass Drittstaatsangehörige, die nicht im Besitz dieser Reisedokumente sind, in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats befördert werden, und nach denen die Polizeibehörden zur Durchsetzung dieser Kontrollpflicht zwangsgeldbewehrte Verfügungen zur Untersagung solcher Beförderungen an Beförderungsunternehmer richten können, die nach ihren Feststellungen Drittstaatsangehörige, die nicht im Besitz der genannten Reisedokumente waren, in das betreffende Hoheitsgebiet befördert haben.

Bonichot

Prechal

Toader

Rosas

 

Ilešič

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 13. Dezember 2018.

Der Kanzler

 

      Der Präsident

A. Calot Escobar

 

      K. Lenaerts


*      Verfahrenssprache: Deutsch.