Language of document : ECLI:EU:T:2010:54

Rechtssache T‑16/04

Arcelor SA

gegen

Europäisches Parlament und Rat der Europäischen Union

„Umwelt – Richtlinie 2003/87/EG – System für den Handel mit Emissionszertifikaten für Treibhausgase – Antrag auf Nichtigerklärung – Keine unmittelbare und individuelle Betroffenheit – Antrag auf Schadensersatz – Zulässigkeit – Hinreichend qualifizierte Verletzung einer höherrangigen Rechtsnorm, die dem Einzelnen Rechte verleiht – Eigentumsrecht – Freie Berufsausübung – Verhältnismäßigkeit – Gleichbehandlung – Niederlassungsfreiheit – Rechtssicherheit“

Leitsätze des Urteils

1.      Nichtigkeitsklage – Natürliche oder juristische Personen – Handlungen, die sie unmittelbar und individuell betreffen – Rechtsnorm – Richtlinie

(Art. 230 Abs. 4 EG und 249 Abs. 3 EG)

2.      Nichtigkeitsklage – Natürliche oder juristische Personen – Handlungen, die sie unmittelbar und individuell betreffen – Richtlinie 2003/87 – System für den Handel mit Emissionszertifikaten für Treibhausgase

(Art. 174 EG, 175 Abs. 1 EG und 230 Abs. 4 EG; Richtlinie 2003/87 des Europäischen Parlaments und des Rates, Anhang I)

3.      Verfahren – Klageschrift – Formerfordernisse – Ermittlung des Streitgegenstands – Kurze Darstellung der Klagegründe

(Satzung des Gerichtshofs, Art. 21 Abs. 1 und 53 Abs. 1; Verfahrensordnung des Gerichts, Art. 44 § 1 Buchst. c)

4.      Außervertragliche Haftung – Voraussetzungen – Rechtswidrigkeit – Hinreichend qualifizierte Verletzung des Gemeinschaftsrechts

(Art. 174 EG, 175 EG und 288 Abs. 2 EG; Richtlinie 2003/87 des Europäischen Parlaments und des Rates)

5.      Freizügigkeit – Niederlassungsfreiheit – Bestimmungen des Vertrags

(Art. 3 Abs. 1 Buchst. c EG, 43 EG, 174 EG, 175 EG und 249 Abs. 3 EG; Richtlinie 2003/87 des Europäischen Parlaments und des Rates)

6.      Umwelt – Luftverunreinigung – Richtlinie 2003/87 – System für den Handel mit Emissionszertifikaten für Treibhausgase

(Art. 5 Abs. 2 EG, 10 EG, 174 EG bis 176 EG und 249 Abs. 3 EG; Richtlinie 2003/87 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 9 Abs. 1 und 11 Abs. 1)

7.      Gemeinschaftsrecht – Grundsätze – Grundrechte

(Richtlinie 2003/87 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 9 Abs. 1 und 11 Abs. 1)

8.      Umwelt – Luftverunreinigung – Richtlinie 2003/87 – System für den Handel mit Emissionszertifikaten für Treibhausgase

(Art. 43 EG und 174 EG; Richtlinie 2003/87 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 3 Buchst. a und 12 Abs. 2 und 3)

9.      Umwelt – Luftverunreinigung – Richtlinie 2003/87 – System für den Handel mit Emissionszertifikaten für Treibhausgase

(Art. 174 EG; Richtlinie 2003/87 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 9 Abs. 1 und 3, 11 Abs. 1 und Anhang III; Entscheidung 2002/358 des Rates)

10.    Gemeinschaftsrecht – Grundsätze – Rechtssicherheit

(Art. 2 EG und 3 Abs. 1 Buchst. c und g EG; Richtlinie 2003/87 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 1)

1.      Allein der Umstand, dass Art. 230 Abs. 4 EG die Zulässigkeit der von einer Privatperson gegenüber einer Richtlinie erhobenen Nichtigkeitsklage im Sinne von Art. 249 Abs. 3 EG nicht ausdrücklich anerkennt, reicht nicht aus, um eine solche Klage für unzulässig zu erklären. Die Gemeinschaftsorgane können nämlich den gerichtlichen Rechtsschutz, den der Vertrag für die Einzelnen vorsieht, nicht allein durch die Wahl der Form der betreffenden Handlung ausschließen, und zwar selbst dann nicht, wenn sie die Form einer Richtlinie hat. Auch genügt die bloße Tatsache, dass die streitigen Bestimmungen zu einem Rechtsakt allgemeiner Geltung gehören, der eine wirkliche Richtlinie und nicht nur eine als Richtlinie ergangene Entscheidung im Sinne von Art. 249 Abs. 4 EG darstellt, für sich allein nicht, um die Möglichkeit auszuschließen, dass diese Bestimmungen einen Einzelnen unmittelbar und individuell betreffen.

(vgl. Randnr. 94)

2.      Zwar müssen die Gemeinschaftsorgane beim Erlass eines Rechtsakts mit allgemeiner Geltung höherrangige Rechtsnormen einschließlich der Grundrechte beachten, doch genügt die Behauptung, ein solcher Rechtsakt verstoße gegen diese Vorschriften oder Rechte, für sich allein nicht, um die Zulässigkeit der Klage eines Einzelnen herbeizuführen, solange der behauptete Verstoß nicht geeignet ist, ihn in ähnlicher Weise zu individualisieren wie den Adressaten, denn sonst würden die Anforderungen von Art. 230 Abs. 4 EG ihres Inhalts beraubt.

Es gibt insoweit keine ausdrückliche und spezifische Norm höherrangigen oder abgeleiteten Rechts, nach der der Gemeinschaftsgesetzgeber verpflichtet gewesen wäre, im Verfahren des Erlasses der Richtlinie 2003/87 über ein System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten in der Gemeinschaft der Situation der Hersteller von Roheisen oder Stahl gegenüber der Situation der Marktteilnehmer aus den anderen von Anhang I dieser Richtlinie erfassten Industriebereichen besonders Rechnung zu tragen. So sehen insbesondere Art. 174 EG und Art. 175 Abs. 1 EG als Rechtsgrundlagen für die Regelungstätigkeit der Gemeinschaft im Bereich der Umwelt keine solche Verpflichtung vor.

Daher kann ein Unternehmen, das Stahl herstellt, nicht als von den Bestimmungen der Richtlinie 2003/87 individuell betroffen betrachtet werden.

(vgl. Randnrn. 102-103, 105)

3.      Eine Klage auf Ersatz von Schäden, die ein Gemeinschaftsorgan verursacht haben soll, muss Angaben enthalten, anhand deren sich das dem Organ vom Kläger vorgeworfene Verhalten bestimmen lässt, die Gründe angeben, aus denen nach Auffassung des Klägers ein Kausalzusammenhang zwischen dem Verhalten und dem geltend gemachten Schaden besteht, sowie Art und Umfang dieses Schadens bezeichnen.

Musste allerdings dieser Schaden in Anbetracht der Umstände, die zum Zeitpunkt der Einreichung einer Klageschrift gegeben sind, die darauf gerichtet ist, Schadensersatz wegen eines als rechtswidrig gerügten Verhaltens des Europäischen Parlaments und des Rates beim Erlass der Richtlinie 2003/87 über ein System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten in der Gemeinschaft zu erlangen, schon deshalb zwangsläufig zukünftiger Natur sein, weil die Umsetzung der angefochtenen Richtlinie in die nationalen Rechtsordnungen noch im Gang war, und konnte der Kläger in Anbetracht des Ermessensspielraums der Mitgliedstaaten bei der Anwendung des Emissionshandelssystems in ihrem Hoheitsgebiet in Umsetzung ihrer nationalen Zuteilungspläne bei Klageerhebung nicht den genauen Umfang dieses künftigen Schadens angeben, so war es nicht unerlässlich, als Zulässigkeitsvoraussetzung in der Klageschrift den genauen Umfang des Schadens anzugeben, und erst recht nicht, die Höhe des begehrten Schadensersatzes zu beziffern, da dies in jedem Fall bis zum Stadium der Erwiderung möglich ist, sofern sich der Kläger auf derartige Umstände beruft und die Tatsachen angibt, die eine Beurteilung von Art und Umfang des Schadens erlauben, damit der Beklagte sich verteidigen kann.

(vgl. Randnrn. 132, 135)

4.      Damit durch den Erlass der Richtlinie 2003/87 über ein System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten in der Gemeinschaft die außervertragliche Haftung der Gemeinschaft ausgelöst wird, muss eine etwaige hinreichend qualifizierte Verletzung von Rechtsnormen, die bezwecken, dem Einzelnen Rechte zu verleihen, auf einer offenkundigen und erheblichen Überschreitung der Grenzen des weiten Ermessens beruhen, über das der Gemeinschaftsgesetzgeber bei der Ausübung der Befugnisse im Umweltbereich gemäß den Art. 174 EG und 175 EG verfügt. Bei der Ausübung dieses Ermessens geht es nämlich darum, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber zum einen komplexe und ungewisse ökologische, wissenschaftliche, technische und wirtschaftliche Entwicklungen vorhersehen und bewerten und zum anderen die in Art. 174 EG genannten verschiedenen Ziele, Grundsätze und Interessen gegeneinander abwägen und miteinander versöhnen muss. Dies schlägt sich in dieser Richtlinie in der Festlegung einer Reihe von teilweise gegenläufigen Haupt- und Nebenzielen nieder.

(vgl. Randnrn. 141, 143)

5.      Die Gemeinschaftsorgane wie auch die Mitgliedstaaten müssen die Grundfreiheiten, wie die Niederlassungsfreiheit, beachten, die dazu dienen, eines der wesentlichen Ziele der Gemeinschaft, insbesondere das in Art. 3 Abs. 1 Buchst. c EG verankerte Ziel der Verwirklichung des Binnenmarkts, zu erreichen.

Aus dieser allgemeinen Verpflichtung ergibt sich jedoch nicht, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber verpflichtet wäre, das in Rede stehende Sachgebiet so zu regeln, dass das Gemeinschaftsrecht, insbesondere wenn es die Gestalt einer Richtlinie im Sinne von Art. 249 Abs. 3 EG annimmt, eine erschöpfende und abschließende Lösung bestimmter, sich unter dem Blickwinkel der Verwirklichung des Binnenmarkts stellender Probleme liefert oder dass es eine vollständige Harmonisierung der nationalen Rechtsvorschriften vornimmt, um jede nur denkbare Behinderung des innergemeinschaftlichen Handels zu vermeiden. Wenn der Gemeinschaftsgesetzgeber ein komplexes System wie das durch die Richtlinie 2003/87 über ein System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten in der Gemeinschaft errichtete Emissionshandelssystem umstrukturieren oder schaffen muss, steht es ihm frei, einen Lösungsansatz in Etappen zugrunde zu legen und nur eine schrittweise Harmonisierung der betreffenden nationalen Rechtsvorschriften vorzunehmen, da die Durchführung solcher Maßnahmen im Allgemeinen schwierig ist, weil sie voraussetzt, dass die zuständigen Gemeinschaftsorgane ausgehend von unterschiedlichen und komplexen nationalen Bestimmungen gemeinsame Vorschriften ausarbeiten, die den im Vertrag festgelegten Zielen entsprechen und die Zustimmung einer qualifizierten Mehrheit der Mitglieder des Rates finden. Dies ist auch bei den Gemeinschaftsvorschriften im Bereich des Umweltschutzes nach den Art. 174 EG und 175 EG der Fall.

(vgl. Randnrn. 177-178)

6.      Gemäß Art. 249 Abs. 3 EG ist eine Richtlinie für jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet wird, nur hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, überlässt den innerstaatlichen Stellen jedoch die Wahl der Form und der Mittel, was denknotwendig bedeutet, dass die Mitgliedstaaten über den erforderlichen Beurteilungsspielraum beim Erlass der Umsetzungsmaßnahmen verfügen. Darüber hinaus wird die Gemeinschaft nach dem in Art. 5 Abs. 2 EG verankerten Subsidiaritätsgrundsatz, auf den der 30. Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/87 über ein System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten in der Gemeinschaft verweist, in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf der Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können. Den Art. 174 EG bis 176 EG ist aber zu entnehmen, dass im Bereich des Umweltschutzes die Zuständigkeiten der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten geteilt sind. Mit der Gemeinschaftsregelung in diesem Bereich wird somit keine vollständige Harmonisierung angestrebt, und Art. 176 EG sieht die Möglichkeit für die Mitgliedstaaten vor, verstärkte Schutzmaßnahmen zu ergreifen, die nur zur Voraussetzung haben, dass sie mit dem Vertrag vereinbar sein müssen und der Kommission notifiziert werden.

Im Einklang mit diesen Grundsätzen sieht die in Rede stehende Richtlinie 2003/87 keine vollständige Harmonisierung der Voraussetzungen auf Gemeinschaftsebene vor, die der Schaffung und der Funktionsweise des Emissionshandelssystems zugrunde liegen. Vorbehaltlich der Beachtung der Vorschriften des Vertrags verfügen die Mitgliedstaaten bei der Anwendung dieses Systems, insbesondere im Rahmen der Erarbeitung ihrer nationalen Zuteilungspläne und ihrer eigenständigen Entscheidungen über die Zuteilung von Emissionszertifikaten gemäß Art. 9 Abs. 1 und Art. 11 Abs. 1 dieser Richtlinie nämlich über ein weites Ermessen. Daher rechtfertigt allein der Umstand, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber eine besondere, in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie sowie in den einer Grundfreiheit wie der Niederlassungsfreiheit fallende Frage offengelassen hat, so dass es Sache der Mitgliedstaaten ist, diese Frage in Ausübung ihres Ermessens, selbstverständlich im Einklang mit den höherrangigen Normen des Gemeinschaftsrechts, zu regeln, an sich nicht, dieses Unterlassen als Verstoß gegen die Vorschriften des Vertrags einzustufen. Dies gilt umso mehr, als die Mitgliedstaaten aufgrund ihrer Pflicht zu loyaler Zusammenarbeit gemäß Art. 10 EG die praktische Wirksamkeit der Richtlinien gewährleisten müssen, was auch bedeutet, dass sie das innerstaatliche Recht im Licht der Ziele und der Grundsätze auszulegen haben, die der in Rede stehenden Richtlinie zugrunde liegen.

(vgl. Randnrn. 179-180)

7.      Sowohl der Gemeinschaftsgesetzgeber beim Erlass einer Richtlinie als auch die Mitgliedstaaten bei deren Umsetzung in innerstaatliches Recht müssen die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts wahren. So haben auch die Mitgliedstaaten die Erfordernisse des Schutzes der in der Gemeinschaftsrechtsordnung anerkannten allgemeinen Grundsätze, zu denen auch die Grundrechte zählen, bei der Durchführung gemeinschaftsrechtlicher Regelungen zu beachten; sie müssen diese Regelungen deshalb, soweit irgend möglich, so anwenden, dass diese Erfordernisse nicht verkannt werden. Diese Grundsätze gelten entsprechend auch für die Grundfreiheiten des Vertrags.

Soweit die Richtlinie 2003/87 über ein System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten in der Gemeinschaft, insbesondere ihr Art. 9 Abs. 1 und ihr Art. 11 Abs. 1, den Mitgliedstaaten einen Ermessensspielraum belässt, ist dieser grundsätzlich weit genug, um ihnen die Anwendung der Vorschriften dieser Richtlinie in einer mit den Erfordernissen des Schutzes der Grundrechte und der Grundfreiheiten des Vertrags im Einklang stehenden Weise zu ermöglichen. Da im Übrigen die Durchführung dieser Richtlinie der Kontrolle durch die nationalen Gerichte unterliegt, haben diese dem Gerichtshof unter den Voraussetzungen des Art. 234 EG ein Vorabentscheidungsersuchen vorzulegen, wenn sie auf Schwierigkeiten hinsichtlich der Auslegung oder der Gültigkeit dieser Richtlinie stoßen. Somit haben die Behörden und Gerichte der Mitgliedstaaten nicht nur ihr nationales Recht im Einklang mit der angefochtenen Richtlinie auszulegen, sondern auch darauf zu achten, dass sie sich nicht auf eine Auslegung dieser Richtlinie stützen, die mit den durch die Gemeinschaftsrechtsordnung geschützten Grundrechten, den übrigen allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts oder den Grundfreiheiten des Vertrags wie der Niederlassungsfreiheit kollidiert. Es kann dem Gemeinschaftsgesetzgeber nicht vorgeworfen werden, dass er im Rahmen einer Richtlinie eine bestimmte, in den Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit fallende Frage nicht erschöpfend und abschließend geregelt hat, wenn diese Richtlinie den Mitgliedstaaten einen Ermessensspielraum vorbehält, der ihnen eine umfassende Beachtung der Vorschriften des Vertrags und der allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ermöglicht.

(vgl. Randnrn. 181-184)

8.      Ohne eine freie, grenzüberschreitende Übertragung von Emissionszertifikaten für Treibhausgase im Sinne von Art. 12 Abs. 2 und 3 in Verbindung mit Art. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/87 über ein System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten in der Gemeinschaft wären die Kosteneffizienz und die wirtschaftliche Effizienz des Emissionshandelssystems im Sinne von Art. 1 dieser Richtlinie erheblich beeinträchtigt. Deshalb erlegt Art. 12 Abs. 2 dieser Richtlinie den Mitgliedstaaten die allgemeine Verpflichtung auf, sicherzustellen, dass diese Freiheit im Rahmen des einschlägigen nationalen Rechts nutzbar gemacht wird. Umgekehrt sieht diese Richtlinie keine Einschränkung der grenzüberschreitenden Übertragung von Zertifikaten zwischen juristischen Personen derselben Unternehmensgruppe, unabhängig von ihrem wirtschaftlichen und/oder ihrem Gesellschaftssitz im Binnenmarkt, vor. Im Licht der vorgenannten Bestimmungen der Richtlinie 2003/87 kann daher nicht der Schluss gezogen werden, dass diese eine rechtswidrige Beschränkung der Grundfreiheiten des Vertrags, einschließlich der Niederlassungsfreiheit, enthielte oder den Mitgliedstaaten einen Anreiz böte, diese Freiheiten nicht zu beachten. Dem Gemeinschaftsgesetzgeber kann erst recht nicht vorgeworfen werden, insoweit die Grenzen seines Ermessens gemäß Art. 174 EG in Verbindung mit Art. 43 EG offenkundig und erheblich überschritten zu haben.

(vgl. Randnrn. 188, 190)

9.      Die Richtlinie 2003/87 über ein System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten in der Gemeinschaft enthält keine Bestimmung in Bezug auf das Ausmaß der finanziellen Folgen, die sich sowohl daraus ergeben können, dass die an eine Anlage vergebenen Emissionszertifikate unzureichend sein könnten, als auch aus dem Preis dieser Zertifikate, der ausschließlich durch die Kräfte des Marktes bestimmt wird, der im Anschluss an die Schaffung des Emissionshandelssystems entstanden ist, das gemäß Art. 1 dieser Richtlinie darauf gerichtet ist, auf kosteneffiziente und wirtschaftlich effiziente Weise auf eine Verringerung von Treibhausgasemissionen hinzuwirken. Eine gemeinschaftliche Regelung des Preises der Zertifikate wäre geeignet, dem Hauptziel dieser Richtlinie zuwiderzulaufen, nämlich der Verringerung der Treibhausgasemissionen durch ein effizientes Emissionshandelssystem, in dessen Rahmen die Kosten der Emissionen und der zu ihrer Verringerung getätigten Investitionen im Wesentlichen durch die Marktmechanismen bestimmt werden (fünfter Erwägungsgrund der Richtlinie). Mangelt es an Zertifikaten, setzt der Anreiz für die Betreiber, ihre Treibhausgasemissionen zu verringern oder nicht, demnach eine komplexe wirtschaftliche Entscheidung voraus, die in Anbetracht insbesondere der Preise für die auf dem Handelsmarkt verfügbaren Emissionszertifikate auf der einen und der Kosten etwaiger Maßnahmen zur Emissionsverringerung auf der anderen Seite getroffen werden, die entweder eine Drosselung der Produktion oder die Investition in energieeffizientere Produktionsmittel zum Gegenstand haben können (20. Erwägungsgrund der Richtlinie).

In einem solchen System kann der von einer Reihe wirtschaftlicher Parameter abhängige Anstieg der Emissionskosten und damit des Preises der Zertifikate nicht vom Gemeinschaftsgesetzgeber im Voraus geregelt werden, ohne dass die wirtschaftlichen Anreize, die die Grundlage für das Funktionieren des Systems bilden, gemindert oder sogar beseitigt werden und somit die Effizienz des Emissionshandelssystems beeinträchtigt wird. Außerdem fällt die Schaffung eines solchen Systems, einschließlich seiner wirtschaftlichen Prämissen, für die Zwecke der Einhaltung der sich aus dem Kyoto-Protokoll ergebenden Verpflichtungen in den weiten Ermessensspielraum, über den der Gemeinschaftsgesetzgeber gemäß Art. 174 EG verfügt, und bildet an sich eine von ihm getroffene rechtmäßige und geeignete Entscheidung. Der Gemeinschaftsgesetzgeber hat auf der Grundlage dieser rechtmäßigen Entscheidung das Emissionshandelssystem auf die Prämisse gestützt, dass gemäß Art. 9 Abs. 1 und Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 2003/87 die Mitgliedstaaten auf der Grundlage ihrer nationalen Zuteilungspläne (NZP) und in Ausübung des ihnen insoweit vorbehaltenen Ermessens darüber zu entscheiden haben, welche Gesamtzahl an Zertifikaten zugeteilt wird und wie die individuelle Vergabe dieser Zertifikate an die Anlagen in ihrem Hoheitsgebiet erfolgen soll. Diese Entscheidung unterliegt nur einer eingeschränkten Vorabkontrolle durch die Kommission gemäß Art. 9 Abs. 3 dieser Richtlinie, insbesondere im Hinblick auf die in deren Anhang III genannten Kriterien. Daher sind die Abweichungen, denen die Ziele und die Maßnahmen der einzelnen Mitgliedstaaten zur Emissionsverringerung unterliegen, die sich aus deren Verpflichtungen aus dem Kyoto-Protokoll ergeben, so wie sie in dem in der Entscheidung 2002/358 über die Genehmigung des Protokolls von Kyoto zum Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen im Namen der Gemeinschaft sowie die gemeinsame Erfüllung der daraus erwachsenden Verpflichtungen vorgesehenen Lastenteilungsplan zum Ausdruck kommen, und somit die Ungewissheit über den Umfang der Gesamtmenge und der individuellen Menge an Zertifikaten, die den einzelnen Industriesektoren und den Betreibern auf der Grundlage der einzelnen NZP zugeteilt werden sollen, nicht den Bestimmungen der Richtlinie als solchen zuzuschreiben.

(vgl. Randnrn. 199-202)

10.    Die fehlende Vorhersehbarkeit der Entwicklung des Handelsmarkts ist ein Umstand, der dem wirtschaftlichen Mechanismus, der das durch die Richtlinie 2003/87 über ein System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten in der Gemeinschaft errichtete Emissionshandelssystem charakterisiert, das den klassischen, einen freien und wettbewerbsorientierten Markt im Sinne der in Art. 1 in Verbindung mit dem siebten Erwägungsgrund dieser Richtlinie sowie in Art. 2 und Art. 3 Abs. 1 Buchst. c und g EG verankerten Prinzipien kennzeichnenden Regeln von Angebot und Nachfrage unterliegt, untrennbar innewohnt. Dieser Aspekt kann demnach nicht als dem Grundsatz der Rechtssicherheit zuwiderlaufend eingestuft werden, sollen nicht die wirtschaftlichen Grundlagen des Emissionshandelssystems selbst, wie sie in der genannten Richtlinie im Einklang mit den Vorschriften des Vertrags gelegt wurden, in Frage gestellt werden.

(vgl. Randnr. 203)