Language of document : ECLI:EU:C:2023:356

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

GIOVANNI PITRUZZELLA

vom 27. April 2023(1)

Rechtssache C655/21

Strafverfahren

gegen

G. ST. T.,

Beteiligte:

Rayonna prokuratura Burgas, TO Nesebar

(Vorabentscheidungsersuchen des Rayonen sad Nesebar [Rayongericht Nesebar, Bulgarien])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums – TRIPS-Übereinkommen – Strafrechtliche Sanktionen im Fall der Markenverletzung – Anwendbarkeit der Charta – Grundsätze der Gesetzmäßigkeit und der Verhältnismäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen“






1.        In der Rechtssache, die Gegenstand der vorliegenden Schlussanträge ist, legt der Rayonen sad Nesebar (Rayongericht Nesebar, Bulgarien) dem Gerichtshof vier Fragen zur Vorabentscheidung vor, von denen die ersten beiden die Auslegung der Richtlinie 2004/48(2) und die letzten beiden die Auslegung von Art. 49 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) betreffen. Diese Fragen stellen sich im Rahmen eines Strafverfahrens gegen G. ST. T., der mehrere Markenverletzungsdelikte zur Last gelegt werden.

I.      Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht

2.        Im Rahmen des Primärrechts von Bedeutung ist im Vorabentscheidungsersuchen Art. 49 der Charta unter den beiden Gesichtspunkten der Gesetzmäßigkeit und der Verhältnismäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen nach den Abs. 1 und 3 dieses Artikels. In Bezug auf die Richtlinie 2004/48 verweist das vorlegende Gericht auf die Erwägungsgründe 26 und 28 sowie auf Art. 13 betreffend den Schadensersatz für die Verletzung geistiger Eigentumsrechte. Aus Platzgründen beschränke ich mich vorliegend auf den Verweis auf den betreffenden Wortlaut dieser Bestimmungen und behalte mir vor, ihren Inhalt, wo dies erforderlich ist, im weiteren Verlauf dieser Schlussanträge darzustellen.

B.      Bulgarisches Recht

3.        Das Vorabentscheidungsersuchen erwähnt die Art. 13, 119 und 127 des Zakon za markite i geografskite oznacheniya (Gesetz über Marken und geografische Angaben, im Folgenden: ZMGO) sowie die Art. 13, 76b und 81 des Zakon za markite i geografskite oznacheniya (Gesetz über Marken und geografische Angaben, abgeschafft, gültig bis zum 22. Juni 2016, im Folgenden: ZMGO 2016). Insbesondere regeln Art. 127 Abs. 1 ZMGO und Art. 81 Abs. 1 ZMGO 2016, dass eine verwaltungsrechtliche Sanktion gegen denjenigen verhängt werden kann, der im geschäftlichen Verkehr Waren oder Dienstleistungen benutzt, die mit einem einer eingetragenen Marke identischen oder ähnlichen Zeichen gekennzeichnet sind, ohne dass der Markeninhaber dem zugestimmt hat.

4.        Das vorlegende Gericht verweist außerdem auf die Art. 55, 66 und 172b des Nakazatelen kodeks (Strafgesetzbuch, im Folgenden: NK) sowie auf die Art. 84 bis 88 und 247c des Nakazatelno-protsesualen kodeks (Strafprozessordnung, im Folgenden: NPK). Für die vorliegende Rechtssache ist insbesondere Art. 172b NK bedeutsam, dessen Wortlaut sinnvollerweise bereits an dieser Stelle wiedergegeben sei und wie folgt lautet:

„(1)      Wer im geschäftlichen Verkehr ohne Zustimmung des Inhabers des ausschließlichen Rechts eine Marke, ein Geschmacksmuster, eine Pflanzensorte oder eine Tierrasse, die Gegenstand dieses ausschließlichen Rechts sind, benutzt oder eine geografische Angabe oder deren Nachahmung ohne Rechtsgrundlage benutzt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren und mit Geldstrafe bis zu fünftausend bulgarischen Leva (BGN) bestraft.

(2)      Wenn die in Abs. 1 genannte Tat wiederholt erfolgt oder schwerwiegende schädigende Auswirkungen verursacht werden, wird dies mit Freiheitsstrafe von fünf bis zu acht Jahren und einer Geldstrafe von fünftausend bis zu achttausend BGN geahndet.

(3)      Der Gegenstand der Straftat wird unabhängig davon, in wessen Eigentum er steht, eingezogen und vernichtet.“

II.    Ausgangsverfahren und Verfahren vor dem Gerichtshof

5.        Der Beschuldigten G. ST. T., Inhaberin eines Einzelunternehmens, wird vorgeworfen, im Jahr 2016 verschiedene eingetragene Marken verletzt zu haben, indem sie ohne Zustimmung des Inhabers des jeweiligen Rechts Kleidungsstücke zum Verkauf angeboten habe, auf denen Zeichen angebracht gewesen seien, die diesen Marken ähnelten, bei einem Gesamtwert der Originale in Höhe von 1 404 590 BGN und einem Gesamtwert der Nachahmungen in Höhe von 80 201 BGN. Die in Rede stehenden Waren, die in dem Laden beschlagnahmt wurden, in dem sie zum Verkauf angeboten worden waren, wurden eingezogen und anschließend vernichtet.

6.        Das vorlegende Gericht weist erstens darauf hin, dass im Rahmen des vom 28. Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/48 gewährten Ermessensspielraums in der Republik Bulgarien die Straftatbestände in Art. 172b Abs. 1 und 2 NK eingeführt worden seien, die neben die derzeit in Art. 81 Abs. 1 ZMGO 2016 geregelte Ordnungswidrigkeit träten. Der Straftatbestand nach Art. 172b Abs. 2 NK erfordere die Feststellung der Höhe des dem Rechtsinhaber zugefügten Schadens. Zu diesem Zweck greife die nationale Rechtsprechung auf eine in der Richtlinie 2004/48 nicht vorgesehene Vermutung zurück, nach der der von einer solchen Straftat verursachte Schaden dem Gegenwert der Einzelhandelsverkaufspreise der rechtmäßig hergestellten Waren entspreche, die mit den markenrechtsverletzenden Waren identisch oder diesen ähnlich seien. Zu diesen Schäden gehörten außerdem weder der entgangene Gewinn noch der immaterielle Schaden. Vor diesem Hintergrund fragt sich das vorlegende Gericht, ob die bulgarischen Rechtsvorschriften mit der Richtlinie 2004/48 vereinbar sind.

7.        Zweitens fragt sich das vorlegende Gericht – im Anschluss an die Feststellung, dass der Straftatbestand nach Art. 172b und die im ZMGO geregelte Ordnungswidrigkeit, da sie als Sanktionsbestimmungen, die auf unionsrechtlich geregelte Rechtsverhältnisse anwendbar seien, in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fielen –, ob mit Art. 49 Abs. 1 der Charta diejenigen bulgarischen Rechtsvorschriften vereinbar sind, die dasselbe Verhalten den Tatbeständen einer Ordnungswidrigkeit und einer Straftat unterfallen ließen, ohne ein klares und genaues Abgrenzungskriterium zu regeln.

8.        Zuletzt fragt sich das vorlegende Gericht, ob die in Art. 172b Abs. 2 NK geregelte Freiheitsstrafe mit einer besonders hohen Mindeststrafe und einer Höchststrafe, die nicht als milde angesehen werden könne, den in Art. 49 Abs. 3 der Charta aufgestellten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit einhält, zumal die konkreten Möglichkeiten einer Herabsetzung der Strafe äußerst begrenzt seien.

9.        Vor diesem Hintergrund hat der Rayonen sad Nesebar (Rayongericht Nesebar) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Stehen die Rechtsvorschriften und die Rechtsprechung, wonach die vom Rechtsinhaber erlittenen Schäden Tatbestandsmerkmale der Straftaten nach Art. 172b Abs. 1 und 2 NK sind, mit den durch die Richtlinie 2004/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 eingeführten Normen hinsichtlich der durch unrechtmäßige Ausübung von Rechten des geistigen Eigentums verursachten Schäden in Einklang?

Falls die erste Frage bejaht wird: Steht die durch die Rechtsprechung in der Republik Bulgarien eingeführte automatische Vermutung für die Feststellung der Schäden – in Höhe des Werts der zum Verkauf angebotenen Waren, berechnet auf Basis der Einzelhandelspreise rechtmäßig hergestellter Waren – mit den Normen der Richtlinie 2004/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 in Einklang?

Sind mit dem in Art. 49 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerten Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten Rechtsvorschriften vereinbar, in denen eine Abgrenzung zwischen einer Ordnungswidrigkeit (Art. 127 Abs. 1 des derzeit geltenden ZMGO und Art. 81 Abs. 1 des im Jahr 2016 geltenden ZMGO), der Straftat nach Art. 172b Abs. 1 NK und, falls die erste Frage verneint wird, der Straftat nach Art. 172b Abs. 2 NK fehlt?

Stehen die in Art. 172b Abs. 2 NK vorgesehenen Strafen (Freiheitsstrafe von fünf bis zu acht Jahren sowie Geldstrafe in Höhe von 5 000 BGN bis zu 8 000 BGN) mit dem in Art. 49 Abs. 3 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union aufgestellten Grundsatz (das Strafmaß darf zur Straftat nicht unverhältnismäßig sein) in Einklang?

10.      Die Republik Österreich und die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen gemäß Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs abgegeben. Als prozessleitende Maßnahme hat der Gerichtshof den Betroffenen nach dem erwähnten Art. 23 einige Fragen zu den Art. 49 und 51 der Charta zur schriftlichen Beantwortung vorgelegt. Die Republik Österreich und die Kommission sind dem nachgekommen.

11.      Wie vom Gerichtshof gewünscht werden die vorliegenden Schlussanträge allein auf die dritte und die vierte Vorlagefrage eingehen.

III. Würdigung

A.      Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs: Vorbemerkungen

12.      Die Zuständigkeit des Gerichtshofs für die Beantwortung der dritten und der vierten Vorlagefrage hängt von der Anwendbarkeit der Charta im Ausgangsverfahren ab. Diese Anwendbarkeit hängt ihrerseits von der Antwort auf die Frage ab, ob der bulgarische Gesetzgeber wie von Art. 51 Abs. 1 der Charta, der ihren Anwendungsbereich begrenzt, gefordert, bei der Festlegung der in Art. 172b NK geregelten Sanktionen das Unionsrecht durchgeführt hat. Diese Frage wäre eindeutig zu bejahen, wenn man wie das vorlegende Gericht davon ausginge, dass Art. 172b NK eine in Umsetzung der Richtlinie 2004/48 in bulgarisches Recht erlassene Strafvorschrift darstellt. Der Gerichtshof muss diese Frage im Rahmen der Beantwortung der ersten beiden Vorlagefragen entscheiden.

13.      Die vorliegenden Schlussanträge, die sich wie erwähnt nicht mit diesen Fragen befassen, zielen stattdessen auf die Prüfung der Anwendbarkeit der Charta aus einem anderen Blickwinkel und setzen deshalb als Prämisse die Entscheidung des Gerichtshofs voraus, dass die Strafvorschriften, deren Vereinbarkeit mit der Richtlinie 2004/48 das vorlegende Gericht zu prüfen hat, aus dem Anwendungsbereich der Richtlinie herausfallen. Genauer gesagt werde ich nachfolgend prüfen, ob sich die Anwendbarkeit der Charta und infolgedessen die Zuständigkeit des Gerichtshofs zur Beantwortung dieser Fragen daraus herleiten lassen, dass die in Rede stehenden nationalen Vorschriften der Erfüllung einer Verpflichtung dienen, die im Rahmen einer von der Europäischen Union geschlossenen internationalen Übereinkunft übernommen wurde.

1.      Anwendung der Charta auf die Erfüllung völkerrechtlicher Verpflichtungen der Union durch die Mitgliedstaaten

14.      Nach Maßgabe von Art. 51 Abs. 1 der Charta gelten deren Bestimmungen für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union. Nach ihrem Art. 51 Abs. 2 dehnt die Charta den Geltungsbereich des Unionsrechts nicht über die Zuständigkeiten der Europäischen Union hinaus aus und begründet weder neue Zuständigkeiten noch neue Aufgaben für die Union, noch ändert sie die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten und Aufgaben.

15.      Nach ständiger Rechtsprechung finden die von der Charta garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen Anwendung, aber nicht außerhalb derselben(3). Diese Grundrechte sind daher insbesondere dann zu beachten, wenn eine nationale Regelung in den Geltungsbereich dieses Rechts fällt(4). Ist dies der Fall, so hat der Gerichtshof, wenn er im Vorabentscheidungsverfahren angerufen wird, dem vorlegenden Gericht alle Auslegungshinweise zu geben, die es benötigt, um die Vereinbarkeit dieser Regelung mit den Grundrechten beurteilen zu können, deren Wahrung er sichert(5).

16.      Wie Generalanwalt Saugmandsgaard Øe in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Kommission/Ungarn (Nießbrauchsrechte an landwirtschaftlichen Flächen)(6) ausgeführt hat, lassen sich nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs die Fallkonstellationen, in denen die Mitgliedstaaten an die in der Rechtsordnung der Union anerkannten Grundrechte gebunden sind, in – mindestens – zwei Kategorien einteilen.

17.      Zum einen binden diese Grundrechte die Mitgliedstaaten, wenn sie Vorschriften des Unionsrechts durchführen, die im Vertrag(7), in Verordnungen(8), Richtlinien(9), Rahmenbeschlüssen(10) oder auch in anderen Rechtsakten enthalten sind, deren Rechtsgrundlage in unionsrechtlichen Regelungen liegt und die Teil des Unionsrechts sind(11).

18.      Zum anderen finden die in der Unionsrechtsordnung anerkannten Grundrechte Anwendung, wenn ein Mitgliedstaat durch eine nationale Regelung vom Unionsrecht abweicht und sich zur Verteidigung dieser Regelung auf einen unionsrechtlich anerkannten Rechtfertigungsgrund beruft. Hierzu hat der Gerichtshof – ausgehend von den bereits vor dem Inkrafttreten der Charta ergangenen Feststellungen im Urteil ERT(12) – klargestellt, dass eine „Durchführung des Rechts der Union“ im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta auch dann vorliegt, wenn ein Mitgliedstaat im Unionsrecht vorgesehene Ausnahmen in Anspruch nimmt, um eine Beschränkung einer durch den Vertrag garantierten Grundfreiheit zu rechtfertigen, auch wenn die betreffende Regelung an und für sich nicht den Zweck hat, das Recht der Union durchzuführen(13).

19.      Mit dieser Zweiteilung sind die Fallgestaltungen, in denen die Charta Anwendung findet, jedoch nicht erschöpft. Dies ergibt sich bereits deutlich aus dem Urteil vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson(14). In diesem Urteil fielen die in Rede stehenden nationalen Maßnahmen, die die Erhebung von Steuerzuschlägen und die Einleitung von Strafverfahren zur Ahndung von Mehrwertsteuerhinterziehung vorsahen, nicht eindeutig in eine der beiden oben bezeichneten Kategorien. Der Gerichtshof hat nichtsdestotrotz festgestellt, dass diese Maßnahmen als Durchführung des Rechts der Union im Sinne von Art. 51 Abs. 1 anzusehen sind, und darauf abgestellt, dass durch sie ein Verstoß gegen die Bestimmungen der unionsrechtlichen Mehrwertsteuerrichtlinien geahndet und damit die den Mitgliedstaaten durch den Vertrag auferlegte Verpflichtung zur wirksamen Ahndung von die finanziellen Interessen der Union gefährdenden Verhaltensweisen erfüllt werden soll.

20.      Das Spektrum der Fallgestaltungen, die in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen und zur Anwendbarkeit der Charta führen, ist somit weiter und weder eindeutig noch abschließend definiert. Es umfasst im Allgemeinen sämtliche Fallgestaltungen, in denen das Unionsrecht den Mitgliedstaaten spezifische Verpflichtungen auferlegt oder in denen eine Bestimmung des Unionsrechts Anwendung findet. Die Kriterien für die konkrete Bewertung, ob ein Fall der „Durchführung des Rechts der Union“ im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta vorliegt, sind ebenfalls fließend. Der Gerichtshof hat festgestellt, dass zu diesem Zweck u. a. zu prüfen ist, ob mit der in Rede stehenden nationalen Regelung „die Durchführung einer Bestimmung des Unionsrechts bezweckt wird, welchen Charakter diese Regelung hat und ob mit ihr andere als die unter das Unionsrecht fallenden Ziele verfolgt werden, selbst wenn sie das Unionsrecht mittelbar beeinflussen kann, sowie ferner, ob es eine Regelung des Unionsrechts gibt, die für diesen Bereich spezifisch ist oder ihn beeinflussen kann“(15). Ungeachtet dieser fließenden Grenzziehung ist das Ziel der Bewertung eindeutig die Gewährleistung der Anwendung der in der Charta verankerten Grundrechte in all jenen Fällen, in denen das Unionsrecht Anwendung findet. Wie der Gerichtshof in Rn. 21 des Urteils Åkerberg Fransson festgestellt hat, sind nämlich „keine Fallgestaltungen denkbar, die vom Unionsrecht erfasst würden, ohne dass diese Grundrechte anwendbar wären“.

21.      Im kürzlich ergangenen Urteil vom 6. Oktober 2020, Kommission/Ungarn (Hochschulausbildung)(16) hat der Gerichtshof (Große Kammer) der oben angeführten Rechtsprechung einen wichtigen Gesichtspunkt hinzugefügt. Gegenstand des diesem Urteil zugrunde liegenden Rechtsstreits war ein Vertragsverletzungsverfahren, in dem die Kommission Ungarn neben einem gerügten Verstoß gegen Art. XVII des Allgemeinen Übereinkommens über den Handel mit Dienstleistungen (im Folgenden: GATS)(17) und einer Verletzung der dem ungarischen Staat kraft Art. 16 der Richtlinie 2006/123 obliegenden Verpflichtungen(18) auch einen gesonderten und eigenständigen Verstoß gegen Art. 13, Art. 14 Abs. 3 und Art. 16 der Charta betreffend die akademische Freiheit, die Freiheit zur Gründung von Lehranstalten und die unternehmerische Freiheit vorwarf(19).

22.      In diesem Urteil hat der Gerichtshof auf seine ständige Rechtsprechung verwiesen, nach der eine von der Union geschlossene internationale Übereinkunft ab ihrem Inkrafttreten fester Bestandteil des Unionsrechts ist(20). Er hat zudem festgestellt, dass das GATS als Bestandteil des von der Union unterzeichneten und anschließend am 22. Dezember 1994 genehmigten Übereinkommens zur Errichtung der WTO(21) Bestandteil des Unionsrechts ist(22). In Rn. 213 schließlich gelangte der Gerichtshof zum Schluss, „dass die Mitgliedstaaten, wenn sie die sich aus diesem Übereinkommen ergebenden Verpflichtungen … erfüllen, das Recht der Union im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta durchführen“.

23.      Auch wenn der Gerichtshof keinen Präzedenzfall angeführt hat, ergibt sich aus der Systematik des Urteils, dass die dieser Schlussfolgerung zugrunde liegenden Annahmen die in den Nrn. 19 und 20 der vorliegenden Schlussanträge genannten sind(23). Ausgehend von diesen Grundannahmen ist die Anwendung der von der Charta garantierten Grundrechte in einer Fallgestaltung wie jener in Rn. 213 des Urteils Kommission/Ungarn erwähnten gerechtfertigt, weil die Mitgliedstaaten, wenn sie die völkerrechtlichen Verpflichtungen der Union intern auf Grundlage einer eigenen Regelungszuständigkeit umsetzen, eine Verpflichtung gegenüber der Union erfüllen, indem sie Vorschriften umsetzen, die fester Bestandteil des Unionsrechts sind, wobei die Anwendbarkeit der Charta sicherstellt, dass die Mitgliedstaaten nicht als „Vertreter“ der Union gegen Grundrechte verstoßen(24). Zudem ergibt sich die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, die von der Union geschlossenen Übereinkünfte umzusetzen, aus Art. 216 Abs. 2 AEUV, nach dem diese Übereinkünfte die Mitgliedstaaten binden.

24.      Die Schlussfolgerung des Gerichtshofs in Rn. 213 des Urteils Kommission/Ungarn besitzt somit ein besonders weitreichendes Potenzial der entsprechenden Anwendung über die Grenzen des Sachverhalts hinaus, zu dem sie ergangen ist. Ich bin nämlich nicht der Ansicht, dass aus dem Kontext der Rechtssache, in der dieses Urteil ergangen ist, und insbesondere aus dem Umstand, dass diese Rechtssache die Verletzung einer Verpflichtung aus einer von der Union geschlossenen Übereinkunft betroffen hatte, abgeleitet werden kann, dass der Gerichtshof diese Feststellung allein auf diejenigen Fallgestaltungen habe begrenzen wollen, in denen die betreffende nationale Maßnahme geeignet ist, die Erfüllung der völkerrechtlichen Verpflichtungen der Union zu gefährden. Gegen eine solche restriktive Auslegung sprechen meines Erachtens sowohl der Wortlaut dieser Rn. 213 als auch die Vorüberlegungen, aus denen im betreffenden Fall die Anwendbarkeit der Charta hergeleitet wird – also die Einordnung des GATS ins Unionsrecht –, sowie ferner die dieser Anwendung zugrunde liegenden, oben dargestellten Grundannahmen.

25.      In diesem Zusammenhang stelle ich fest, dass sich ein ähnlicher Gedankengang wie jener des Gerichtshofs im Urteil Kommission/Ungarn nunmehr zur Rechtfertigung der Anwendung der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts im Urteil vom 24. Februar 2022 findet (Agenzia delle dogane e dei monopoli und Ministero dell’Economia e delle Finanze)(25). In der Rechtssache, in der dieses Urteil ergangen ist, hatte sich das vorlegende Gericht nach der Verhältnismäßigkeit einer nationalen Regelung gefragt, die für den Fall des Verkaufs von Tabakerzeugnissen an Minderjährige die Kumulierung einer Geldbuße und einer zusätzlichen verwaltungsrechtlichen Sanktion in Form der vorübergehenden Aussetzung der Lizenz zum Tabakverkauf geregelt hatte. Der Gerichtshof hat zunächst festgestellt, dass die Bestimmungen des Unionsrechts, um deren Auslegung das vorlegende Gericht ersucht hatte(26), auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens keine Anwendung finden. Anschließend und unter Bezugnahme auf Rn. 69 des Urteils Kommission/Ungarn und die Rechtsprechung, nach der eine von der Union geschlossene internationale Übereinkunft ab ihrem Inkrafttreten fester Bestandteil des Unionsrechts ist, hat der Gerichtshof festgestellt, dass die im nationalen Verfahren in Rede stehende nationale Regelung anhand der in Art. 16 des am 21. Mai 2003 unterzeichneten Rahmenübereinkommens der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Eindämmung des Tabakkonsums (WHO Framework Convention on Tobacco Control, im Folgenden: FCTC) aufgestellten Anforderungen zu beurteilen ist(27), und insbesondere nach dessen Abs. 1, auf dessen Grundlage jede Vertragspartei dieses Abkommens „wirksame gesetzgeberische, vollziehende, administrative oder sonstige Maßnahmen auf staatlicher Ebene [beschließt] und … solche Maßnahmen durch[führt], um den Verkauf von Tabakerzeugnissen an Personen unter dem durch internes oder innerstaatliches Recht festgelegten Alter oder unter einem Alter von 18 Jahren zu verhindern“. Wie der Gerichtshof zuletzt feststellt, „muss die Umsetzung des FCTC, da es ein fester Bestandteil des Unionsrechts ist, den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts beachten“(28). Mit anderen Worten hat der Gerichtshof anerkannt, dass die Erfüllung der auf der Grundlage dieses Rahmenübereinkommens übernommenen Verpflichtungen durch die Mitgliedstaaten einen Fall der „Durchführung des Rechts der Union“ darstellt und somit zur Anwendung der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts führt.

26.      Die Anwendbarkeit der Charta auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens ist anhand der vorstehend dargelegten Grundsätze zu beurteilen.

2.      Zur Anwendung der Charta auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens

27.      Das vorlegende Gericht fragt den Gerichtshof nach der Auslegung von Art. 49 der Charta, um zu beurteilen, ob die Bestimmungen des bulgarischen Rechts zur Sanktionierung der Verletzung eingetragener Marken mit Art. 49 der Charta vereinbar sind. Der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens falle in den Anwendungsbereich des Unionsrechts, da die Straftatbestände nach Art. 172b Abs. 1 und 2 NK und die im ZMGO und im ZMGO 2016 geregelten Ordnungswidrigkeiten „auf unionsrechtlich geregelte Rechtsverhältnisse“ Anwendung fänden.

28.      Insoweit weise ich darauf hin, dass das in Anhang 1 C des Übereinkommens zur Errichtung der WTO enthaltene Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums (im Folgenden: TRIPS-Übereinkommen) u. a. das Ziel verfolgt, multilaterale Mindestvorschriften zur Bekämpfung von Markenverletzungen aufzustellen, und zu einer faktischen Harmonisierung der Maßnahmen und Verfahren zur Gewährleistung der Achtung der Rechte des geistigen Eigentums führt(29). Art. 61 dieses Übereinkommens bestimmt: „Die Mitglieder sehen Strafverfahren und Strafen vor, die zumindest bei vorsätzlicher Nachahmung von Markenwaren … Anwendung finden. Die vorgesehenen Sanktionen umfassen zur Abschreckung ausreichende Haft- und/oder Geldstrafen entsprechend dem Strafmaß, das auf entsprechend schwere Straftaten anwendbar ist. In geeigneten Fällen umfassen die vorzusehenden Sanktionen auch die Beschlagnahme, die Einbeziehung und die Vernichtung der rechtsverletzenden Waren …“. Auch wenn das vorlegende Gericht dieses Übereinkommen nicht erwähnt hat, enthält es konkrete Pflichten in Bezug auf Strafverfahren und Strafen. Das Übereinkommen gibt zwar kein bestimmtes Strafmaß vor, erfordert aber dennoch die Einführung bestimmter Arten von Sanktionen. Der im 28. Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/48 enthaltene Verweis auf strafrechtliche Sanktionen als „Mittel zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums“ ist als impliziter Verweis auf diese Verpflichtungen anzusehen, die die Richtlinie jedoch ausdrücklich nicht berührt(30).

29.      Der Gerichtshof hat bereits vor längerer Zeit festgestellt, dass das TRIPS-Übereinkommen – wie auch das GATS – integraler Bestandteil des Unionsrechts und daher in der Union anwendbar ist(31), auch wenn seine Bestimmungen keine unmittelbare Wirkung haben und für den Einzelnen keine Rechte begründen, auf die er sich nach dem Unionsrecht vor den Gerichten unmittelbar berufen könnte(32). Dieses Übereinkommen fällt zudem unter den Begriff der „Handelsaspekte des geistigen Eigentums“ im Sinne von Art. 207 Abs. 1 AEUV und somit ab dem Inkrafttreten des AEU-Vertrags in die ausschließliche Zuständigkeit der Union zum auswärtigen Handeln im Rahmen der gemeinsamen Handelspolitik(33).

30.      Aus der entsprechenden Anwendung der Überlegungen des Gerichtshofs in Rn. 213 des Urteils Kommission/Ungarn folgt, dass die Mitgliedstaaten, wenn sie die sich aus dem TRIPS-Übereinkommen ergebenden Verpflichtungen einschließlich derjenigen aus Art. 61 dieses Übereinkommens erfüllen, das Recht der Union im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta durchführen. Insofern, als die Straftatbestände nach Art. 172b Abs. 1 und 2 NK eine Erfüllung der Verpflichtungen aus Art. 61 des TRIPS-Übereinkommens darstellen, ist die Charta also auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbar.

31.      Entgegen dem Vorbringen der österreichischen Regierung steht diesem Ergebnis nicht der Umstand entgegen, dass die Verfasser der Verträge der Union nur begrenzte Zuständigkeiten auf dem Gebiet des Strafrechts übertragen haben(34) und das Strafrecht grundsätzlich in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt(35).

32.      Aus der angeführten Rechtsprechung ergibt sich nämlich zum einen, dass diese Zuständigkeit unter Wahrung nicht nur der durch das Unionsrecht garantierten Grundfreiheiten wahrgenommen werden muss, sondern unter Wahrung des gesamten Unionsrechts, insbesondere des Primärrechts(36). Auch bei Maßnahmen auf Gebieten, die in ihre Zuständigkeit fallen, haben die Mitgliedstaaten folglich die Verpflichtungen einzuhalten, die sich für sie aus dem Unionsrecht ergeben(37). Zum anderen hat der Gerichtshof bereits vor längerer Zeit entschieden, dass allein der Umstand, dass das Strafrecht wie auch das Strafprozessrecht grundsätzlich nicht in die Zuständigkeit der Union fallen(38), den Unionsgesetzgeber nicht daran hindert, Maßnahmen in Bezug auf das Strafrecht der Mitgliedstaaten zu ergreifen, um die volle Wirksamkeit der Unionspolitik oder das Funktionieren des Binnenmarkts zu gewährleisten, wenn die Anwendung wirksamer, verhältnismäßiger und abschreckender Sanktionen durch die zuständigen nationalen Behörden eine unerlässliche Maßnahme darstellt(39). Diese Kompetenz ist nunmehr ausdrücklich in Art. 83 Abs. 2 AEUV aufgeführt. Daraus folgt, dass der Unionsgesetzgeber befugt ist, unter den Voraussetzungen dieser Vorschrift die Harmonisierungsmaßnahmen in Bezug auf das Strafrecht zu ergreifen, die die Festlegung der Mindestvorschriften zur Festlegung von Straftaten und Strafen betreffen und erforderlich sind, um die volle Wirksamkeit der von ihm zum Schutz des geistigen Eigentums erlassenen Rechtsnormen zu gewährleisten; diesem Schutz dient auch Art. 17 Abs. 2 der Charta. Somit reicht der Umfang der Verpflichtung der Mitgliedstaaten aus Art. 61 des TRIPS-Übereinkommens zur Regelung von Strafverfahren und Strafen für Fälle der vorsätzlichen Markenverletzung nicht weiter als die in Art. 83 Abs. 2 AEUV geregelte Zuständigkeit.

33.      Es handelt sich zwar, wie die österreichische Regierung erklärt, nach Art. 4 Abs. 2 Buchst. j AEUV um eine mit den Mitgliedstaaten geteilte Zuständigkeit, die die Mitgliedstaaten nach Art. 2 Abs. 2 AEUV wahrnehmen, „sofern und soweit die Union ihre Zuständigkeit nicht ausgeübt hat“. Jedoch hat die Union keine Harmonisierungsvorschriften in Bezug auf Strafen und Strafverfahren für die Verletzung geistiger Eigentumsrechte erlassen(40). Wie von der österreichischen Regierung ferner geltend gemacht, hat der Gerichtshof entschieden, dass der bloße Umstand, dass nationale Maßnahmen zu einem Bereich gehören, in dem die Union über Zuständigkeiten verfügt, nicht dazu führt, dass sie in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen und somit die Charta anwendbar wird(41). Zudem ergibt sich aus einer auf das Urteil vom 26. Oktober 1982, Kupferberg, zurückgehenden ständigen Rechtsprechung, auf die sich die österreichische Regierung ebenfalls beruft, dass die notwendigen Maßnahmen zur Durchführung eines von der Union geschlossenen Abkommens je nach dem aktuellen Stand des Unionsrechts in den vom Abkommen erfassten Bereichen von den Unionsorganen oder von den Mitgliedstaaten zu treffen sind(42).

34.      Verbleibt der Union allerdings die volle Befugnis zur Rechtsetzung zum einen hinsichtlich der Rechte des geistigen Eigentums kraft der betreffenden Zuständigkeiten für den Bereich des Binnenmarkts und unter Beachtung der im TRIPS-Übereinkommen enthaltenen Normen betreffend die Verfügbarkeit, den Umfang und die Ausübung der Rechte des geistigen Eigentums(43) und zum anderen nach Art. 83 Abs. 2 AEUV im Bereich des Strafrechts, um die volle Wirksamkeit der Vorschriften zum Schutz dieser Rechte zu gewährleisten, so bindet die von diesem Übereinkommen verwirklichte weltweite Harmonisierung des Schutzes des geistigen Eigentums(44) auch hinsichtlich der Bekämpfung von Markenverletzungen grundsätzlich jeden Mitgliedstaat der WTO und fügt sich unabhängig von internen Harmonisierungsmaßnahmen in die Unionsrechtsordnung ein, so dass die Erfüllung der im Rahmen dieser Übereinkommen übernommenen Verpflichtungen auch dann, wenn die Mitgliedstaaten diese Verpflichtungen in Ausübung ihrer Zuständigkeit erfüllen, in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt.

35.      Darüber hinaus hat der Gerichtshof bereits im Urteil Kupferberg entschieden, dass „die Mitgliedstaaten[, indem sie] dafür sorgen, dass die Verpflichtungen aus einem von den Gemeinschaftsorganen geschlossenen Abkommen eingehalten werden, … eine Pflicht [erfüllen], die nicht nur dem betroffenen Drittland, sondern auch und vor allem der Gemeinschaft gegenüber besteht, die die Verantwortung für die ordnungsgemäße Durchführung des Abkommens übernommen hat“, wobei der Gerichtshof den „gemeinschaftsrechtlichen Charakter“ der in Rede stehenden vertraglichen Bestimmungen hervorhebt(45). Rn. 213 des Urteils Kommission/Ungarn erscheint als Fortentwicklung dieser Rechtsprechung, die zwar den Begriff der „Durchführung des Rechts der Union“ im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta zweifelsohne weit auslegt, jedoch nicht über die von dieser Bestimmung gesteckten Grenzen hinausgeht. Ich denke daher nicht, dass die aus dieser Rn. 213 folgende Reichweite der Auslegung dieses Begriffs wie von der österreichischen Regierung vorgeschlagen allein auf die Fallgestaltungen begrenzt werden kann, in denen es um die Umsetzung vertraglicher Bestimmungen geht, die in die bereits ausgeübte Zuständigkeit der Union fallen(46).

36.      Ferner weise ich zum einen darauf hin, dass der Gerichtshof im Urteil Kommission/Ungarn den auf der fehlenden Zuständigkeit der Union im Bereich der Hochschulausbildung beruhenden Einwand dahin beantwortet hat, dass, da die im Rahmen des GATS eingegangenen Verpflichtungen unter die Gemeinsame Handelspolitik fallen, auch wenn die Mitgliedstaaten über eine weitreichende Zuständigkeit im Bereich der Bildung verfügen, diese Verpflichtungen einschließlich derjenigen, die die Liberalisierung des Handels mit privaten Bildungsdienstleistungen betreffen, in die ausschließliche Zuständigkeit der Union fallen(47). Zum anderen stelle ich fest, dass im Urteil Agenzia delle dogane e dei monopoli und Ministero dell’Economia e delle Finanze die Umsetzung des FCTC durch den betroffenen Mitgliedstaat auch ohne gesonderte unionsrechtliche Harmonisierungsvorschriften zur Anwendung der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts geführt hat, und zwar nicht nur im Hinblick auf die anwendbaren Sanktionen, sondern auch hinsichtlich der verletzten materiellen Vorschriften(48). Ebenfalls von Bedeutung ist hierbei, dass im Gegensatz zu dem diesem Urteil zugrunde liegenden Rechtsstreit das Verfahren zulasten von G. ST. T. und die in diesem Verfahren in Rede stehenden Sanktionen dazu dienen, die Verletzung der von der eingetragenen Marke verliehenen ausschließlichen Rechte zu beenden, deren Reichweite auf Unionsebene umfassend harmonisiert und reguliert ist(49).

37.      Was schließlich das Argument angeht, das die österreichische Regierung Art. 207 Abs. 6 AEUV entnimmt, nach dem „[d]ie Ausübung der durch diesen Artikel übertragenen Zuständigkeiten im Bereich der gemeinsamen Handelspolitik … nicht zu einer Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten [führt], soweit eine solche Harmonisierung in den Verträgen ausgeschlossen wird“, genügt der Hinweis, dass zum einen in der Rechtssache Kommission/Ungarn der Umstand, dass Art. 166 Abs. 4 AEUV für den Bildungssektor ein ausdrückliches Harmonisierungsverbot enthält, den Gerichtshof nicht daran gehindert hat, die Charta aus den in Rn. 213 dieses Urteils genannten Gründen für anwendbar zu halten, und dass zum anderen die Möglichkeit einer Angleichung der strafrechtlichen Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten zwecks wirksamer Durchführung der Politik der Union wie gesehen ausdrücklich in Art. 83 Abs. 2 AEUV geregelt ist(50).

38.      Nach alledem bin ich der Ansicht, dass die Charta auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbar ist, wenn und soweit das im Ausgangsverfahren gerügte Verhalten und die hierfür vorgesehenen Sanktionen in den Anwendungsbereich von Art. 61 des TRIPS-Übereinkommens fallen, was festzustellen Sache des vorlegenden Gerichts ist.

B.      Zur dritten Vorlagefrage

39.      Mit seiner dritten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht vom Gerichtshof im Wesentlichen wissen, ob der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen nach Art. 49 Abs. 1 der Charta nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, nach der dasselbe Verhalten einen Ordnungswidrigkeitentatbestand und einen Straftatbestand erfüllen kann, ohne dass der eine Tatbestand klar vom anderen abgegrenzt wird, weshalb es den Betroffenen nicht möglich ist, die Folgen dieser Verhaltensweisen vorherzusehen.

40.      Nach ständiger Rechtsprechung müssen – nach dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen – Strafvorschriften hinsichtlich der Definition sowohl des Straftatbestands als auch des Strafmaßes bestimmten Anforderungen an die Zugänglichkeit und Vorhersehbarkeit genügen(51). Dieser Grundsatz gilt auch bei Kumulierung von verwaltungsrechtlichen und strafrechtlichen Verfahren und Sanktionen, so dass auch eine Bestimmung, die eine doppelte Ahndung zulässt, denselben Anforderungen genügen muss(52). Soweit dieser Grundsatz verlangt, dass die Straftaten und die für sie angedrohten Strafen gesetzlich klar definiert sind, ist diese Voraussetzung erfüllt, wenn der Rechtsunterworfene anhand des Wortlauts der einschlägigen Bestimmung und nötigenfalls mit Hilfe ihrer Auslegung durch die Gerichte erkennen kann, welche Handlungen und Unterlassungen seine strafrechtliche Verantwortung begründen(53). Zudem darf nach ständiger Rechtsprechung dieser Grundsatz nicht so verstanden werden, dass er die schrittweise Klärung der Vorschriften über die strafrechtliche Verantwortlichkeit durch richterliche Auslegung von Fall zu Fall untersagt, vorausgesetzt, dass das Ergebnis zum Zeitpunkt der Begehung der Tat insbesondere unter Berücksichtigung der Auslegung, die zu dieser Zeit in der Rechtsprechung zur fraglichen Rechtsvorschrift vertreten wurde, hinreichend vorhersehbar ist(54).

41.      Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass G. ST. T. allein der schweren Straftat nach Art. 172b Abs. 2 NK beschuldigt wurde. Wie das vorlegende Gericht betont, gehört das Vorliegen „schwerwiegender schädigender Auswirkungen“ zu den Tatbestandsmerkmalen dieser Straftat und dient deren Abgrenzung von der Ordnungswidrigkeit nach Art. 127 Abs. 1 ZMGO.

42.      Aus der Vorlageentscheidung geht ferner hervor, dass der Varhoven kasatsionen sad (Oberstes Kassationsgericht, Bulgarien) in einem auslegenden Urteil von 2013(55) einen Berechnungsalgorithmus für den infolge der Straftat nach Art. 172b NK erlittenen Schaden verwendet hat – die Vereinbarkeit dieses Art. 172b mit der Richtlinie 2004/48 beanstandet das vorlegende Gericht im Rahmen der ersten beiden Vorlagefragen –, um u. a. eine praktische Orientierung für die richtige Einordnung der in Art. 172b NK geregelten Straftat und deren Abgrenzung von den Ordnungswidrigkeiten bereitzustellen.

43.      Insofern, als sich aus der in Nr. 42 der vorliegenden Schlussanträge angeführten Rechtsprechung ergibt, dass zum einen die schrittweise Klärung der Vorschriften über die strafrechtliche Verantwortlichkeit durch richterliche Auslegung nicht per se mit dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen unvereinbar ist und dass zum anderen zur Infragestellung der Klarheit und Genauigkeit der nationalen Vorschriften nicht schon allein der Umstand genügt, dass die genaue Abgrenzung zwischen Ordnungswidrigkeit und Straftat sowie die etwaige Kumulierung vorgesehener Sanktionen von der Auslegung eines allgemeinen Begriffs abhängt, die eine umfassende Beurteilung durch die nationalen Gerichte erfordert(56), obliegt dem vorlegenden Gericht die Bewertung, ob trotz des eben erwähnten auslegenden Urteils des Varhoven kasatsionen sad eine Unklarheit hinsichtlich der Tatbestandsmerkmale der Ordnungswidrigkeit nach Art. 127 ZMGO und der Tatbestandsmerkmale der Straftat nach Art. 172b NK verbleibt, die zur Unvorhersehbarkeit der sich aus diesem Artikel ergebenden strafrechtlichen Verantwortlichkeit führt.

44.      Meiner Ansicht nach sollte die dritte Vorlagefrage dahin beantwortet werden, dass, sofern die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats die Verletzung eingetragener Marken durch die Verhängung verwaltungsrechtlicher und strafrechtlicher Sanktionen ahnden, Art. 49 Abs. 1 der Charta erfordert, dass die Grenzen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit klar bestimmt sind. Dieser Grundsatz schließt nicht aus, dass die genaue Reichweite der Tatbestandsmerkmale des Straftatbestands der Markenverletzung, die der Abgrenzung dieser Straftat von der Ordnungswidrigkeit dienen, durch richterliche Auslegung geklärt wird, sofern diese Auslegung den Betroffenen ermöglicht, klar zu erkennen, welche Handlungen und Unterlassungen ihre strafrechtliche Verantwortlichkeit auslösen.

C.      Zur vierten Vorlagefrage

45.      Mit der vierten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die in Art. 172b Abs. 2 NK geregelten Strafen, also eine Freiheitsstrafe von fünf bis zu acht Jahren und eine Geldstrafe von 5 000 BGN bis zu 8 000 BGN den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nach Art. 49 Abs. 3 der Charta wahren. Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts ist die Freiheitsstrafe, insbesondere die Mindeststrafe, von „außergewöhnlicher Härte“, auch weil die Begehung der Straftat im bloßen Angebot der betreffenden Waren zum Verkauf liege. Aufgrund der Höhe der Strafe sei die Möglichkeit des Gerichts, diese herabzusetzen oder ihren Vollzug auszusetzen, äußerst begrenzt. Zudem trage sowohl die Kumulierung der Freiheitsstrafe mit einer erhöhten Geldstrafe als auch die weitere Maßnahme in Form der Einziehung und Vernichtung der Waren, die Gegenstand der Tat seien, zur Verschärfung der insgesamt verhängten Sanktionen bei.

46.      Ich erinnere daran, dass nach ständiger Rechtsprechung die Mitgliedstaaten in Ermangelung einer Harmonisierung auf Unionsebene auf dem Gebiet der Sanktionen befugt bleiben, die Sanktionen zu wählen, die ihnen sachgerecht erscheinen. Sie sind allerdings, wie ich bereits oben dargelegt habe, verpflichtet, bei der Ausübung ihrer Befugnis das Unionsrecht und seine allgemeinen Grundsätze, also auch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, zu beachten(57). Art. 61 des TRIPS-Übereinkommens beschränkt sich auf die Regelung der Verpflichtung der Mitglieder der WTO, bestimmte Verletzungen der Rechte des geistigen Eigentums zu bestrafen, sowie die Angabe, dass „[d]ie vorgesehenen Sanktionen … zur Abschreckung ausreichende Haft- und/oder Geldstrafen entsprechend dem Strafmaß [umfassen], das auf entsprechend schwere Straftaten anwendbar ist“. Zudem ist, wie ich bereits ausgeführt habe, auf Unionsebene keine Harmonisierung in diesem Bereich erfolgt. Daraus folgt, dass die Mitgliedstaaten in diesem Zusammenhang über ein weites Ermessen verfügen, insbesondere hinsichtlich der anwendbaren Sanktionen, das es ihnen vor allem erlaubt, die Schwere der Tat auf nationaler Ebene zu bewerten und dementsprechend die Sanktionen anzupassen.

47.      Ich weise auch auf die ständige Rechtsprechung hin, nach der der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit von Strafen nach Art. 49 Abs. 3 der Charta erfordert, dass die Härte der verhängten Sanktionen der Schwere der mit ihnen geahndeten Taten entspricht, indem sie insbesondere eine wirklich abschreckende Wirkung gewährleistet, zugleich aber nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung der mit den in Rede stehenden Rechtsvorschriften rechtmäßig verfolgten Ziele erforderlich ist(58). Nach einer weiteren Feststellung des Gerichtshofs erfordert der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, dass bei der Bestimmung der Sanktion die individuellen Umstände des Einzelfalls berücksichtigt werden(59). Es obliegt letztlich dem nationalen Gericht, das allein für die tatsächliche Würdigung und die Auslegung des nationalen Rechts zuständig ist, festzustellen, ob in dem bei ihm anhängigen Verfahren diese Voraussetzungen erfüllt sind.

48.      Was im vorliegenden Fall vorab die Art und Schwere der Straftat betrifft, ergibt sich aus der Vorlageentscheidung, dass Art. 172b NK u. a. beabsichtigt, die vorsätzliche Markenverletzung zu bestrafen, also ein Verhalten von einer gewissen Schwere, das nach Art. 61 des TRIPS-Übereinkommens strafrechtlich zu ahnden ist, wobei eine ausreichende Abschreckung gewährleistet sein muss. Als ständig wachsendes Phänomen, das seit Längerem eine internationale Dimension angenommen hat, sind Markenverletzungen eine ernsthafte Bedrohung für Unternehmen und Volkswirtschaften mit erheblichen sozialen Auswirkungen, die auch den Verbraucherschutz vor Probleme stellt, vor allem wenn Gesundheit und öffentliche Sicherheit betroffen sind. Es handelt sich zudem um ein Phänomen, das offenbar zunehmend mit der organisierten Kriminalität in Verbindung steht(60).

49.      Was erstens die in Art. 172b Abs. 2 NK geregelte Freiheitsstrafe betrifft, so ist diese sehr hoch veranschlagt, insbesondere wenn man das Mindeststrafmaß von fünf Jahren betrachtet(61); diese Ausgestaltung der Strafe weckt erhebliche Zweifel an ihrer Verhältnismäßigkeit, vor allem wenn sie für ein Verhalten wie jenes im Ausgangsverfahren verhängt wird, wie es das vorlegende Gericht beschrieben hat. Zu bedenken ist allerdings, dass die Anwendung von Art. 172b Abs. 2 NK das Vorliegen bestimmter erschwerender Umstände voraussetzt, die zum einen an die wiederholte oder fortgesetzte Begehung und zum anderen an die Schwere des verursachten Schadens geknüpft sind. Für die einfache Tatbegehung sieht Art. 172b Abs. 1 NK nämlich eine geringere Mindeststrafe von drei Jahren vor. Nun ist, wie die Kommission zutreffend darlegt, einer der bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigenden Gesichtspunkte einer Strafvorschrift die Möglichkeit, die Sanktion je nach der Schwere des Verstoßes anzupassen(62).

50.      Ergibt sich im vorliegenden Fall wie dargelegt aus der Vorlageentscheidung, dass das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Verhalten in Form des Angebots von Bekleidungsstücken, die mit Marken gekennzeichnet waren, die eingetragenen Marken ähnelten, von der Staatsanwaltschaft aufgrund der Schwere des dadurch verursachten Schadens als Straftat nach Art. 172b Abs. 2 NK eingestuft wurde, so verfügt der Gerichtshof nicht über hinreichende Anhaltspunkte, insbesondere hinsichtlich der Reichweite des Begriffs „schwerwiegende schädigende Auswirkungen“ im Sinne von Art. 172b Abs. 2 NK, und zwar weder in abstrakter Form noch in Bezug auf den konkreten Fall, um dem vorlegenden Gericht weiter gehende Bewertungskriterien als die bereits angeführten an die Hand zu geben. In jedem Fall obliegt es dem vorlegenden Gericht, im Licht aller nach nationalem Recht berücksichtigungsfähigen Umstände des Einzelfalls die Verhältnismäßigkeit der Freiheitsstrafe zu dem unter Strafe gestellten Verhalten und zu dessen Folgen konkret zu prüfen und, sofern notwendig, das betreffende Strafmaß an die konkreten Fallumstände anzupassen, soweit dies im Rahmen des dem vorlegenden Gericht eingeräumten Ermessens möglich ist, einschließlich der etwaigen Befugnis zur Neubewertung der Taten, für die sich G. ST. T. nach dem Straftatbestand laut Art. 172b Abs. 2 NK verantworten muss, als Straftat nach Art. 172b Abs. 1 NK.

51.      Was zweitens die von Art. 172b Abs. 2 NK erlaubte Kumulierung von Geldstrafe und Freiheitsstrafe betrifft, weise ich auf die vom Gerichtshof bereits bei anderer Gelegenheit getroffene Feststellung hin, dass die Kumulierung von Sanktionen strafrechtlicher Natur von Regeln begleitet sein muss, mit denen sichergestellt werden kann, dass die Schwere aller verhängten Sanktionen der Schwere der betreffenden Straftat entspricht, und dass sich eine solche Anforderung nicht nur aus dem in Art. 49 Abs. 3 der Charta verankerten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit von Strafen ergibt, sondern auch aus Art. 52 Abs. 1 der Charta(63). Der Gerichtshof hat ferner festgestellt, dass diese Anforderung ausnahmslos für alle kumulativ verhängten Sanktionen gilt, also sowohl für die Kumulierung gleichartiger Sanktionen als auch für die Kumulierung verschiedenartiger Sanktionen, wie etwa die Kumulierung von finanziellen Sanktionen und Freiheitsstrafen(64).

52.      Im vorliegenden Fall ist es somit Sache des vorlegenden Gerichts, zur Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der konkreten Rechtsanwendung im Rahmen des Ausgangsverfahrens zu prüfen, ob geeignete Regeln vorhanden sind, um die Anpassung der Härte aller verhängten Sanktionen einschließlich der Einziehung und Vernichtung der Waren, die Gegenstand der Straftat sind, an das im Verhältnis zur Schwere der begangenen Tat zwingend erforderliche Maß sicherzustellen, und ob diese Regeln im Strafverfahren zulasten von G. ST. T. anwendbar sind.

53.      Nach alledem ist auf die vierte Vorlagefrage meines Erachtens zu antworten, dass Art. 49 Abs. 3 der Charta dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die mit Blick auf die Bekämpfung der Verletzung eingetragener Marken die Verhängung strafrechtlicher Sanktionen sowohl in Form von Freiheitsstrafen als auch von Geldstrafen vorsieht, deren Härte nicht im Verhältnis zur Schwere der begangenen Taten steht. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, diese Verhältnismäßigkeit konkret zu prüfen, insbesondere im Licht der von der betreffenden Regelung eröffneten Möglichkeit der Anpassung dieser Sanktionen an die Schwere der Rechtsverletzung sowie im Licht der Gesamtheit der nach nationalem Recht berücksichtigungsfähigen Umstände, um die Schwere der in Rede stehenden Straftat einerseits und die für die betroffene Person durch die Kumulierung der oben genannten Sanktionen konkret entstehende Belastung andererseits abzuwägen.

IV.    Ergebnis

54.      In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die dritte und die vierte Vorlagefrage des Rayonen sad Nesebar (Rayongericht Nesebar, Bulgarien) wie folgt zu antworten:

Art. 49 Abs. 1 der Charta ist dahin auszulegen, dass, sofern die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats die Verletzung eingetragener Marken durch die Verhängung verwaltungsrechtlicher und strafrechtlicher Sanktionen ahnden, der in dieser Bestimmung verankerte Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen erfordert, dass die Grenzen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit klar bestimmt sind. Dieser Grundsatz schließt nicht aus, dass die genaue Reichweite der Tatbestandsmerkmale des Straftatbestands der Markenverletzung, die der Abgrenzung dieser Straftat von der Ordnungswidrigkeit dienen, durch richterliche Auslegung geklärt wird, sofern diese Auslegung den Betroffenen ermöglicht, im Zeitpunkt der Tatbegehung klar zu erkennen, welche Handlungen und Unterlassungen ihre strafrechtliche Verantwortlichkeit auslösen.

Art. 49 Abs. 3 der Charta ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die mit Blick auf die Bekämpfung der Verletzung eingetragener Marken die Verhängung strafrechtlicher Sanktionen sowohl in Form von Freiheitsstrafen als auch von Geldstrafen vorsieht, soweit die Härte dieser Sanktionen sowohl bei gesonderter als auch bei kumulativer Betrachtung nicht im Verhältnis zur Schwere der begangenen Taten steht. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, diese Verhältnismäßigkeit konkret zu prüfen, insbesondere im Licht der von der betreffenden Regelung eröffneten Möglichkeit der Anpassung der Sanktion an die Schwere der Rechtsverletzung sowie im Licht der Gesamtheit der nach nationalem Recht berücksichtigungsfähigen Umstände, um die Schwere der in Rede stehenden Straftat einerseits und die für die betroffene Person durch die Kumulierung der oben genannten Sanktionen konkret entstehende Belastung andererseits abzuwägen.


1      Originalsprache: Italienisch.


2      Richtlinie 2004/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums (ABl. 2004, L 157, S. 45).


3      Vgl. Urteil vom 5. Mai 2022, BPC Lux 2 u. a. (C‑83/20, EU:C:2022:346, Rn. 26).


4      Vgl. Urteil vom 21. Mai 2019, Kommission/Ungarn (Nießbrauchsrechte an landwirtschaftlichen Flächen) (C‑235/17, EU:C:2019:432, Rn. 63 und die dort angeführte Rechtsprechung).


5      Vgl. Urteil vom 5. Mai 2022, BPC Lux 2 u. a. (C‑83/20, EU:C:2022:346, Rn. 26).


6      C‑235/17, EU:C:2018:971, Nrn. 71 ff.


7      Vgl. Urteil vom 5. Dezember 2017, M. A. S. und M. B. (C‑42/17, EU:C:2017:936).


8      Vgl. Urteil vom 24. März 1994, Bostock (C‑2/92, EU:C:1994:116).


9      Vgl. Urteil vom 10. Juli 2003, Booker Aquaculture und Hydro Seafood (C‑20/00 und C‑64/00, EU:C:2003:397).


10      Vgl. Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru (C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198).


11      Vgl. Urteil vom 5. Mai 2022, BPC Lux 2 u. a. (C‑83/20, EU:C:2022:346).


12      Vgl. Urteil vom 18. Juni 1991, ERT (C‑260/89, EU:C:1991:254).


13      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Mai 2019, Kommission/Ungarn (Nießbrauchsrechte an landwirtschaftlichen Flächen) (C‑235/17, EU:C:2019:432, Rn. 65 und die dort angeführte Rechtsprechung). In diesem Fall ging es um eine Vertragsverletzungsklage, in der die Kommission den Gerichtshof erstmals ersucht hatte, einen eigenständigen Verstoß des betreffenden Mitgliedstaats gegen eine Bestimmung der Charta festzustellen. Die angefochtene ungarische Regelung stellte eine Beschränkung des freien Kapitalverkehrs dar, und Ungarn machte zur Rechtfertigung dieser Beschränkung das Vorliegen zwingender Gründe des Allgemeininteresses sowie unter Art. 65 AEUV fallender Gründe geltend. Der Gerichtshof hat unter gleichgearteten Umständen entschieden, dass die Vereinbarkeit der genannten Regelungen mit dem Unionsrecht unter Berücksichtigung sowohl der sich aus dem Vertrag und der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergebenden Ausnahmen als auch der durch die Charta garantierten Grundrechte zu prüfen ist, und hat dementsprechend die verschiedenen von der Kommission vorgebrachten Klagegründe gemeinsam geprüft. Ich weise darauf hin, dass der Generalanwalt Saugmandsgaard Øe in seinen Schlussanträgen in dieser Rechtssache (C‑235/17, EU:C:2018:971) dem Gerichtshof vorgeschlagen hatte, den eigenständig auf die Charta gestützten Klagegrund zurückzuweisen.


14      C‑617/10, EU:C:2013:105 (im Folgenden: Urteil Åkerberg Fransson).


15      Vgl. Urteil vom 5. Mai 2022, BPC Lux 2 u. a. (C‑83/20, EU:C:2022:346, Rn. 27).


16      C‑66/18, EU:C:2020:792 (im Folgenden: Urteil Kommission/Ungarn).


17      Das GATS bildet den Anhang 1 B des Übereinkommens zur Errichtung der Welthandelsorganisation (WTO), das in Marrakesch unterzeichnet und durch den Beschluss 94/800/EG des Rates vom 22. Dezember 1994 über den Abschluss der Übereinkünfte im Rahmen der multilateralen Verhandlungen der Uruguay-Runde (1986–1994) im Namen der Europäischen Gemeinschaft in Bezug auf die in ihre Zuständigkeiten fallenden Bereiche genehmigt wurde (ABl. 1994, L 336, S. 1) (im Folgenden: Übereinkommen zur Errichtung der WTO).


18      Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt (ABl. 2006, L 376, S. 36).


19      Die von der Kommission in Frage gestellten nationalen Rechtsvorschriften forderten von außerhalb des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) ansässigen ausländischen Lehranstalten als Voraussetzung dafür, dass sie eine Lehrtätigkeit in Ungarn durchführen dürfen, den Abschluss eines völkerrechtlichen Vertrags zwischen Ungarn und dem Herkunftsstaat sowie die Durchführung von Hochschulausbildung im eigenen Herkunftsland.


20      Vgl. Rn. 69 des Urteils Kommission/Ungarn.


21      Vgl. Beschluss 94/800. Das WTO-Übereinkommen ist am 1. Januar 1995 in Kraft getreten.


22      Vgl. Rn. 70 und 71 des Urteils Kommission/Ungarn.


23      Siehe Nr. 19 der vorliegenden Schlussanträge. Die auf dem Urteil ERT aufbauende Rechtsprechung, die in die zweite dieser Kategorien fällt (siehe Nr. 20 der vorliegenden Schlussanträge), wird nämlich in Rn. 214 des Urteils Kommission/Ungarn ausdrücklich in Bezug genommen, um eine gesonderte Rechtfertigung der Anwendung der von der Charta garantierten Grundrechte im betreffenden Fall zu stützen.


24      Vgl. in diesem Sinne Schlussanträge der Generalanwältin Kokott in der Rechtssache Kommission/Ungarn (Hochschulausbildung) (C‑66/18, EU:C:2020:172, Nr. 128).


25      C‑452/20, EU:C:2022:111 (im Folgenden: Urteil Agenzia delle dogane e dei monopoli und Ministero dell’Economia e delle Finanze).


26      Es ging um Art. 5 EUV und Art. 23 Abs. 3 der Richtlinie 2014/40/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Herstellung, die Aufmachung und den Verkauf von Tabakerzeugnissen und verwandten Erzeugnissen und zur Aufhebung der Richtlinie 2001/37/EG (ABl. 2014, L 127, S. 1, und berichtigt in ABl. 2015, L 150, S. 24). Diese Richtlinie betreffend hat der Gerichtshof festgestellt, dass mit ihr keine Harmonisierung derjenigen Aspekte des Verkaufs vorgenommen worden ist, die den Verkauf von Tabakerzeugnissen an Minderjährige betreffen (vgl. Rn. 24 bis 27).


27      Vgl. Urteil Agenzia delle dogane e dei monopoli und Ministero dell’Economia e delle Finanze (Rn. 19 bis 32). Das FCTC ist durch den Beschluss 2004/513/EG des Rates vom 2. Juni 2004 über den Abschluss des WHO-Rahmenübereinkommens zur Eindämmung des Tabakkonsums im Namen der Union genehmigt worden (ABl. 2004, L 213, S. 8).


28      Vgl. Rn. 33 des Urteils Agenzia delle dogane e dei monopoli e Ministero dell’Economia e delle Finanze.


29      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Juli 2013, Daiichi Sankyo und Sanofi-Aventis Deutschland (C‑414/11, EU:C:2013:520, Rn. 58).


30      Vgl. Art. 2 Abs. 3 Buchst. b.


31      Vgl. Urteil vom 15. März 2012, SCF Consorzio Fonografici (C‑135/10, EU:C:2012:140, Rn. 39 und 40). Vgl. auch Urteil vom 13. November 2018, Levola Hengelo (C‑310/17, EU:C:2018:899, Rn. 39).


32      Vgl. Urteil vom 15. März 2012, SCF Consorzio Fonografici (C‑135/10, EU:C:2012:140, Rn. 46).


33      Vgl. Urteil vom 18. Juli 2013, Daiichi Sankyo und Sanofi-Aventis Deutschland (C‑414/11, EU:C:2013:520, Rn. 45 bis 60).


34      Vgl. Urteil vom 26. Februar 2019, Rimšēvičs und EZB/Lettland (C‑202/18 und C‑238/18, EU:C:2019:139, Rn. 57).


35      Vgl. Urteil vom 17. Dezember 2020, Generalstaatsanwaltschaft Berlin (Auslieferung an die Ukraine) (C‑398/19, EU:C:2020:1032, Rn. 65).


36      Vgl. Urteil vom 26. Februar 2019, Rimšēvičs und EZB/Lettland (C‑202/18 und C‑238/18, EU:C:2019:139, Rn. 57).


37      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Februar 2022, RS (Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts) (C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).


38      Vgl. Urteil vom 11. November 1981, Casati (C‑203/80, EU:C:1981:261, Rn. 27), und Urteil vom 16. Juni 1998, Lemmens (C‑226/97, EU:C:1998:296, Rn. 19).


39      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. September 2005, Kommission/Rat (C‑176/03, EU:C:2005:542, Rn. 48), wenngleich der Gerichtshof im Gegensatz dazu im Urteil vom 23. Oktober 2007, Kommission/Rat (C‑440/05, EU:C:2007:625, Rn. 70), die Bestimmung von Art und Maß der anzuwendenden strafrechtlichen Sanktionen aus der Zuständigkeit der Europäischen Gemeinschaft ausgeklammert hat.


40      Ich weise darauf hin, dass die Kommission am 12. Juli 2005 einen Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über strafrechtliche Maßnahmen zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums vorgelegt hat (KOM[2005] 276 endgültig), geändert am 26. April 2006 (KOM[2006] 168 endgültig, im Folgenden: geänderter Richtlinienvorschlag). Dieser Vorschlag, der ursprünglich auf Art. 95 EG und nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon auf Art. 83 Abs. 2 AEUV gestützt worden war, ist im Jahr 2010 zurückgezogen worden (ABl. 2010, C 252, S. 7).


41      Vgl. Urteil vom 14. Oktober 2021, INSS (Witwenrente auf der Grundlage einer faktischen Lebenspartnerschaft) (C‑244/20, nicht veröffentlicht, EU:C:2021:854, Rn. 61).


42      Vgl. Urteil vom 26. Oktober 1982, Kupferberg (104/81, EU:C:1982:362, Rn. 12, im Folgenden: Urteil Kupferberg).


43      Vgl. Urteil vom 18. Juli 2013, Daiichi Sankyo und Sanofi-Aventis Deutschland (C‑414/11, EU:C:2013:520, Rn. 59).


44      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Juli 2013, Daiichi Sankyo und Sanofi-Aventis Deutschland (C‑414/11, EU:C:2013:520, Rn. 58).


45      Vgl. Urteil Kupferberg (Rn. 13 und 14).


46      Ich merke zudem an, dass, wenn dies der Fall wäre, die Charta aufgrund der von der Union kraft ihrer internen Zuständigkeit erlassenen Bestimmungen anwendbar wäre.


47      Vgl. Urteil Kommission/Ungarn (Rn. 74). Mit seinem Einwand hatte Ungarn die Unzuständigkeit des Gerichtshofs zur Entscheidung über die betreffende Vertragsverletzungsklage gerügt.


48      Wie gesehen hat der Gerichtshof in diesem Urteil ausdrücklich anerkannt, dass keine Harmonisierung derjenigen Aspekte vorgenommen worden ist, die den Verkauf von Tabakerzeugnissen an Minderjährige betreffen.


49      Vgl. Richtlinie (EU) 2015/2436 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2015 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Marken (Neufassung) (ABl. 2015, L 336, S. 1) sowie Verordnung (EU) 2017/1001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Juni 2017 über die Unionsmarke (ABl. 2017, L 154, S. 1).


50      Vgl. hierzu auch die Schlussanträge der Generalanwältin Kokott in der Rechtssache Kommission/Rat (C‑137/12, EU:C:2013:441, Nrn. 66 und 67).


51      Vgl. Urteil vom 11. Juni 2020, JI (C‑634/18, EU:C:2020:455, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).


52      Vgl. Urteil vom 5. Mai 2022, BV (C‑570/20, EU:C:2022:348, Rn. 37).


53      Vgl. Urteil vom 5. Mai 2022, BV (C‑570/20, EU:C:2022:348, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).


54      Vgl. Urteil vom 5. Mai 2022, BV (C‑570/20, EU:C:2022:348, Rn. 41).


55      Vgl. Urteil vom 31. Mai 2013 in der Rechtssache Nr. 1/2013.


56      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. März 2018, Garlsson Real Estate u. a. (C‑537/16, EU:C:2018:193, Rn. 52 und 53).


57      Vgl. Urteil vom 11. Februar 2021, K. M. (Gegen den Kapitän eines Schiffs verhängte Sanktionen) (C‑77/20, EU:C:2021:112, Rn. 36).


58      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Oktober 2021, Landespolizeidirektion Steiermark u. a. (Glücksspielautomaten) (C‑231/20, EU:C:2021:845, Rn. 45).


59      Vgl. Urteil vom 4. Oktober 2018, Link Logistik N&N (C‑384/17, EU:C:2018:810, Rn. 45).


60      Auf der Grundlage dieser Umstände hat die Kommission in ihrem geänderten Richtlinienvorschlag betont, dass die Bekämpfung von Markenverletzungen und Markenpiraterie eine für die Union grundlegend wichtige Zielsetzung darstellt.


61      Zum Vergleich: Der geänderte Richtlinienvorschlag sah für dieselbe Straftat die Verhängung einer Höchststrafe von nicht weniger als vier Jahren Freiheitsstrafe vor, wenn sie im Rahmen einer kriminellen Vereinigung begangen wird oder eine Gefahr für die Gesundheit oder Sicherheit von Personen begründet.


62      Vgl. Urteile vom 11. Februar 2021, K. M. (Gegen den Kapitän eines Schiffs verhängte Sanktionen) (C‑77/20, EU:C:2021:112, Rn. 51), und vom 16. Juli 2015, Chmielewski (C‑255/14, EU:C:2015:475, Rn. 26).


63      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. März 2018, Menci (C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 55).


64      Vgl. Urteil vom 5. Mai 2022, BV (C‑570/20, EU:C:2022:348, Rn. 50).