Language of document : ECLI:EU:T:2015:499

URTEIL DES GERICHTS (Sechste Kammer)

15. Juli 2015(*)

„Wettbewerb – Kartelle – Europäischer Markt für Spannstahl – Preisfestsetzung, Marktaufteilung und Austausch sensibler Geschäftsinformationen – Beschluss, mit dem eine Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV festgestellt wird – Zusammenarbeit im Verwaltungsverfahren – Art. 139 Buchst. a der Verfahrensordnung des Gerichts“

In der Rechtssache T‑406/10

Emesa-Trefilería SA mit Sitz in Arteixo (Spanien),

Industrias Galycas SA mit Sitz in Vitoria (Spanien),

Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwalt A. Creus Carreras und Rechtsanwältin A. Valiente Martin,

Klägerinnen,

gegen

Europäische Kommission, vertreten zunächst durch V. Bottka und F. Castilla Contreras, dann durch V. Bottka und A. Biolan als Bevollmächtigte im Beistand von M. Gray, Barrister,

Beklagte,

unterstützt durch

Rat der Europäischen Union, vertreten durch F. Florindo Gijón und R. Liudvinaviciute-Cordeiro als Bevollmächtigte,

Streithelfer,

wegen Nichtigerklärung und Abänderung des Beschlusses K(2010) 4387 endg. der Kommission vom 30. Juni 2010 in einem Verfahren nach Art. 101 AEUV und Art. 53 EWR-Abkommen (Sache COMP/38.344 – Spannstahl), geändert durch den Beschluss K(2010) 6676 endg. der Kommission vom 30. September 2010 und den Beschluss C(2011) 2269 final der Kommission vom 4. April 2011,

erlässt

DAS GERICHT (Sechste Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten S. Frimodt Nielsen (Berichterstatter) sowie der Richter F. Dehousse und A. M. Collins,

Kanzler: S. Spyropoulos, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 26. Juni 2014

folgendes

Urteil(1)

[nicht wiedergegeben]

 Würdigung durch das Gericht

113    Der erste Klagegrund stützt sich im Wesentlichen darauf, dass das Verfahren bei Verstößen gegen das Wettbewerbsrecht im Hinblick auf Art. 6 EMRK und Art. 47 der Charta der Grundrechte rechtswidrig sei, da es sich um ein Verfahren strafrechtlicher Art handele und der Kommission daher nicht gleichzeitig Aufgaben der Ermittlung, der Verfolgung von Verstößen und der Entscheidung über entsprechende Sanktionen übertragen werden könnten, ohne dass das Gericht die Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung dieser Entscheidungen habe, was nach Auffassung der Klägerinnen hier nicht der Fall ist.

 Grundsätze

114    In seinem Urteil Schindler Holding u. a./Kommission, oben in Rn. 69 angeführt (EU:C:2013:522), hat der Gerichtshof Folgendes ausgeführt:

„33      Entgegen dem Vorbringen der [Klägerinnen] verstößt jedenfalls der Umstand, dass die Bußgeldentscheidungen in Wettbewerbssachen von der Kommission erlassen werden, für sich genommen nicht gegen Art. 6 EMRK in seiner Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Hierzu ist festzustellen, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem Urteil A. Menarini Diagnostics/Italien in Bezug auf eine Sanktion, die wegen ähnlicher wettbewerbswidriger Verhaltensweisen wie denen, die den [Klägerinnen] vorgeworfen worden sind, von der italienischen Wettbewerbsbehörde verhängt wurde, ausgeführt hat, dass die Sanktion angesichts der Höhe der verhängten Geldbuße aufgrund ihrer Schwere Strafcharakter habe.

34       In Randnr. 58 seines Urteils hat er jedoch darauf hingewiesen, dass es mit der EMRK vereinbar sei, Verwaltungsbehörden die Aufgabe zu übertragen, Zuwiderhandlungen gegen die Wettbewerbsregeln zu verfolgen und zu ahnden, sofern der Betroffene gegen jede derartige ihm gegenüber ergangene Entscheidung ein Gericht anrufen könne, das die in Art. 6 EMRK vorgesehenen Garantien biete.

35       In Randnr. 59 seines Urteils A. Menarini Diagnostics/Italien hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hinzugefügt, dass die Beachtung von Art. 6 EMRK nicht dadurch ausgeschlossen werde, dass in einem Verfahren verwaltungsrechtlicher Natur eine ‚Strafe‘ zunächst von einer Verwaltungsbehörde verhängt werde. Dies setze allerdings voraus, dass die Entscheidung einer Verwaltungsbehörde, die selbst nicht den Anforderungen von Art. 6 Abs. 1 EMRK genüge, anschließend der Kontrolle durch ein Rechtsprechungsorgan mit Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung unterliege. Zu den Merkmalen eines solchen Organs gehöre die Befugnis, die Entscheidung des untergeordneten Organs in allen Punkten, tatsächlichen wie rechtlichen, abzuändern. Das Rechtsprechungsorgan müsse insbesondere befugt sein, sich mit allen für den bei ihm anhängigen Rechtsstreit relevanten Sach- und Rechtsfragen zu befassen.

36      Der Gerichtshof hat jedoch in Bezug auf den Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes – eines allgemeinen Grundsatzes des Unionsrechts, der nunmehr in Art. 47 der Charta [der Grundrechte] zum Ausdruck kommt und der im Unionsrecht Art. 6 Abs. 1 EMRK entspricht – entschieden, dass der Unionsrichter über die im AEU-Vertrag vorgesehene Rechtmäßigkeitskontrolle hinaus eine ihm durch Art. 31 der Verordnung [(EG)] Nr. 1/2003 [des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln] im Einklang mit Art. 261 AEUV eingeräumte Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung besitzt, die ihn ermächtigt, die Beurteilung der Kommission durch seine eigene Beurteilung zu ersetzen und demgemäß die verhängte Geldbuße oder das verhängte Zwangsgeld aufzuheben, herabzusetzen oder zu erhöhen (Urteil [vom 8. Dezember 2011,] Chalkor/Kommission, [C‑386/10 P, Slg, EU:C:2011:815, Rn]. 63).

37      In Bezug auf die Rechtmäßigkeitskontrolle hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass der Unionsrichter sie auf der Grundlage der vom Kläger zur Stützung seiner Klagegründe vorgelegten Beweise vornehmen muss und dass er den Verzicht auf eine eingehende rechtliche wie tatsächliche Kontrolle weder hinsichtlich der Wahl der bei der Anwendung der in den Leitlinien von 1998 genannten Kriterien berücksichtigten Gesichtspunkte noch hinsichtlich ihrer Bewertung auf den Wertungsspielraum der Kommission stützen kann (Urteil Chalkor/Kommission, [EU:C:2011:815, Rn]. 62).

38      Da die in den Verträgen vorgesehene Kontrolle bedeutet, dass der Unionsrichter sowohl in rechtlicher als auch in tatsächlicher Hinsicht eine Kontrolle vornimmt und befugt ist, die Beweise zu würdigen, die angefochtene Entscheidung für nichtig zu erklären und die Höhe der Geldbußen zu ändern, ist für den Gerichtshof nicht ersichtlich, dass die in Art. 263 AEUV vorgesehene Rechtmäßigkeitskontrolle, ergänzt um die in Art. 31 der Verordnung Nr. 1/2003 vorgesehene Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung hinsichtlich der Höhe der Geldbuße, gegen den nunmehr in Art. 47 der Charta [der Grundrechte] verankerten Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes verstieße (Urteil Chalkor/Kommission, [EU:C:2011:815, Rn]. 67).“

115    Im Übrigen verstößt das Fehlen einer Verpflichtung, die gesamte streitige Entscheidung von Amts wegen zu prüfen, nicht gegen den Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes. Für die Wahrung dieses Grundsatzes ist es nicht unerlässlich, dass das Gericht, das jedenfalls die geltend gemachten Klagegründe prüfen und sowohl in rechtlicher wie in tatsächlicher Hinsicht eine Kontrolle vornehmen muss, verpflichtet ist, den gesamten Vorgang von Amts wegen erneut zu prüfen (Urteile vom 8. Dezember 2011, Chalkor/Kommission, C‑386/10 P, Slg, EU:C:2011:815, Rn. 66, und vom 26. Oktober 2013, Kone u. a./Kommission, C‑510/11 P, EU:C:2013:696, Rn. 32).

116    Zur relativen Tragweite von Nichtigkeitsurteilen hat der Gerichtshof wiederholt entschieden, dass eine mehrere Unternehmen betreffende Wettbewerbsentscheidung, obgleich sie in Form einer einzigen Entscheidung abgefasst und veröffentlicht worden ist, ein Bündel von Einzelentscheidungen darstellt, mit denen gegenüber jedem der Unternehmen, die Adressaten der Entscheidung sind, festgestellt wird, welche Zuwiderhandlung oder Zuwiderhandlungen es begangen hat, und diesem gegebenenfalls eine Geldbuße auferlegt wird (Urteile vom 14. September 1999, Kommission/AssiDomän Kraft Products u. a., C‑310/97 P, Slg, EU:C:1999:407, Rn. 49 ff., und vom 15. Oktober 2002, Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./Kommission, C‑238/99 P, C‑244/99 P, C‑245/99 P, C‑247/99 P, C‑250/99 P bis C‑252/99 P und C‑254/99 P, Slg, EU:C:2002:582, Rn. 100).

117    In seinem Urteil vom 11. Juli 2013, Team Relocations u. a./Kommission (C‑444/11 P, EU:C:2013:464), hat der Gerichtshof festgestellt, dass − abgesehen von besonderen Umständen − der Unionsrichter, wenn der Adressat einer Entscheidung beschließt, eine Nichtigkeitsklage zu erheben, nur mit den diesen Adressaten betreffenden Teilen der Entscheidung befasst wird, während die andere Adressaten betreffenden Teile nicht Gegenstand des vom Unionsrichter zu entscheidenden Rechtsstreits werden; der Gerichtshof verweist insoweit auf sein Urteil vom 22. Januar 2013, Kommission/Tomkins (C‑286/11 P, Slg, EU:C:2013:29, Rn. 43 und 49).

118    Im Übrigen hat die Entscheidung folglich für die Adressaten, die keine Nichtigkeitsklage erhoben haben, Bestand (vgl. in diesem Sinne Urteil Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./Kommission, oben in Rn. 116 angeführt, EU:C:2002:582, Rn. 100).

119    Außerdem legen gemäß der Rechtsprechung die Verfahrensgarantien, die mit dem Verfahren einhergehen müssen, das bei Verstößen gegen wettbewerbsrechtliche Vorschriften angewandt wird, der Kommission nicht die Pflicht auf, sich eine interne Organisation zu geben, die verhindert, dass ein und derselbe Beamte in der gleichen Sache als Ermittler und Berichterstatter tätig wird (vgl. Urteil vom 11. März 1999, Aristrain/Kommission, T‑156/94, Slg, EU:T:1999:53, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).

120    Der Gerichtshof hat zudem entschieden, dass nichts dagegen einzuwenden ist, dass sich die Mitglieder der Kommission, die über die Verhängung von Geldbußen zu entscheiden haben, durch von der Kommission mit der Anhörung beauftragte Personen über die Ergebnisse der Anhörung unterrichten lassen (Urteil vom 15. Juli 1970, Buchler/Kommission, 44/69, Slg, EU:C:1970:72, Rn. 19 bis 23).

 Zur Begründetheit des ersten Klagegrundes

121    Am 18. Dezember 2013 hat das Gericht im Rahmen prozessleitender Maßnahmen nach Art. 64 der Verfahrensordnung vom 2. Mai 1991 beschlossen, den Klägerinnen eine schriftliche Frage zu den etwaigen Auswirkungen des Urteils Schindler Holding u. a./Kommission, oben in Rn. 69 angeführt (EU:C:2013:522), auf den ersten zur Begründung der Klage angeführten Klagegrund zu stellen. Dieser Aufforderung sind die Klägerinnen am 30. Januar 2014 nachgekommen.

122    Sie haben dabei angegeben, ungeachtet des Urteils Schindler Holding u. a./Kommission, oben in Rn. 69 angeführt (EU:C:2013:522), an ihrem ersten Klagegrund festhalten zu wollen (siehe oben, Rn. 111).

123    Zum einen sind im Hinblick auf die oben in den Rn. 114 ff. angeführte Rechtsprechung alle Rügen zurückzuweisen, die auf der Unvereinbarkeit des von der Kommission gemäß der Verordnung Nr. 1/2003 betriebenen Kartellverfahrens mit Art. 6 EMRK und Art. 47 der Charta der Grundrechte sowie auf der angeblich vom Gericht auf diesem Gebiet nicht ausgeübten unbeschränkten Nachprüfung beruhen.

124    Die oben in Rn. 115 angeführte Rechtsprechung führt ebenfalls zur Zurückweisung der Rügen, die darauf gestützt sind, dass das Gericht nicht von Amts wegen die gesamte streitige Entscheidung überprüft habe.

125    Ebenso ist das Vorbringen der Klägerinnen zurückzuweisen, wonach die fehlende Erga-omnes-Wirkung der Nichtigkeitsurteile betreffend wettbewerbsrechtliche Einzelfallentscheidungen, mit denen gegen deren Adressaten eine Geldbuße verhängt wird, mit der Anforderung einer vollständigen Kontrolle durch das Gericht unvereinbar sei und das gesamte von der Kommission und dem Gericht angewandte Verfahren unvereinbar mit den Anforderungen von Art. 6 Abs. 1 EMRK werde.

126    Erstens ist festzustellen, dass die Nichtigerklärung einer Einzelfallentscheidung zwar Erga-omnes-Wirkung entfaltet und für alle verbindlich ist, dass sie aber nach der oben in Rn. 116 wiedergegebenen Rechtsprechung − anders als bei der Nichtigerklärung eines Rechtsakts mit allgemeiner Geltung −, abgesehen von besonderen Umständen, nicht jedem zugutekommt (Urteil Kommission/Tomkins, oben in Rn. 117 angeführt, EU:C:2013:29, Rn. 43 und 49). Ein Nichtigkeitsurteil, das eine Entscheidung betrifft, die Teil eines Bündels von Einzelentscheidungen im Rahmen eines von der Kommission durchgeführten Kartellverfahrens ist, kann folglich unter gewissen Umständen bestimmte Auswirkungen für andere Personen als den Kläger in dem Verfahren, das mit diesem Nichtigkeitsurteil abgeschlossen wurde, haben.

127    Zweitens ist festzustellen, dass der Gerichtshof in seinem Urteil Schindler Holding u. a./Kommission, oben in Rn. 69 angeführt (EU:C:2013:522), zum Ausdruck bringen wollte, dass das gesamte von der Kommission und dem Gericht durchgeführte Kartellverfahren mit Art. 6 EMRK und Art. 47 der Charta der Grundrechte vereinbar ist. Dieses Ergebnis kann folglich nicht durch das Vorbringen der Klägerinnen in Frage gestellt werden, das Gericht führe keine vollständige Kontrolle des Beschlusses der Kommission durch, weil seine Nichtigkeitsurteile keine Erga-omnes-Wirkung entfalteten, da der Gerichtshof bei der Entscheidung der Rechtssache, in der das Urteil Schindler Holding u. a./Kommission, oben in Rn. 69 angeführt (EU:C:2013:522), ergangen ist, zwangsläufig seine oben in den Rn. 116 bis 118 angeführte ständige Rechtsprechung berücksichtigt hat.

128    Schließlich ist drittens und soweit erforderlich darauf hinzuweisen, dass es nach ständiger Rechtsprechung jedenfalls nicht Sache des Unionsrichters ist, sich an die Stelle der verfassungsgebenden Gewalt der Union zu setzen, um eine Änderung des im Vertrag geregelten Systems von Rechtsbehelfen und Verfahren vorzunehmen (vgl. Urteil vom 21. April 2005, Holcim [Deutschland]/Kommission, T‑28/03, Slg, EU:T:2005:139, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).

129    Folglich ist die auf die fehlende Erga-omnes-Wirkung der Nichtigkeitsurteile gestützte Rüge zurückzuweisen.

130    Zum anderen sind die Ausführungen der Klägerinnen in Beantwortung der schriftlichen Fragen des Gerichts sowie der ihnen hierzu in der mündlichen Verhandlung gestellten Fragen jedenfalls unbegründet.

131    Nach der Verordnung Nr. 1/2003 handelt es sich bei der Entscheidung, mit der das Verwaltungsverfahren abgeschlossen wird, nicht um die vom Gericht zu erlassende Entscheidung. Für diese Argumentation de lege ferenda gibt es, wie die Klägerinnen im Übrigen in der mündlichen Verhandlung eingeräumt haben, keine Grundlage in den auf den vorliegenden Fall anwendbaren Rechtsvorschriften, so dass eine gegen einen Beschluss der Kommission erhobene Nichtigkeitsklage nicht darauf gestützt werden kann.

132    Außerdem tritt zwar gemäß Art. 25 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1/2003 die Verjährung spätestens mit dem Tag ein, an dem eine Frist, die der doppelten Verjährungsfrist entspricht, verstrichen ist, ohne dass die Kommission eine Geldbuße oder ein Zwangsgeld festgesetzt hat. Weiter verlängert sich nach Art. 25 Abs. 5 die Frist von höchstens zehn Jahren um den Zeitraum, in dem die Verjährung gemäß Abs. 6 ruht. Nach Art. 25 Abs. 6 der Verordnung ruht die Verfolgungsverjährung jedoch, solange wegen der Entscheidung der Kommission ein Verfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union anhängig ist.

133    Im vorliegenden Fall ist unstreitig, dass die Kommission vor dem Ablauf der Zehnjahresfrist des Art. 25 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1/2003 einen Beschluss erlassen hat, mit dem gegen die Klägerinnen eine Geldbuße festgesetzt wurde.

134    Soweit die Klägerinnen geltend machen wollen, in Bezug auf sie sei Verjährung eingetreten, ist also festzustellen, dass sie am 15. September 2010 Klage erhoben haben und die Verjährung somit nach Art. 25 Abs. 6 der Verordnung Nr. 1/2003 ab diesem Zeitpunkt ruhte.

135    Der erste Klagegrund ist daher insgesamt zurückzuweisen.

[nicht wiedergegeben]

 Würdigung durch das Gericht

 Grundsätze

152    Nach ständiger Rechtsprechung kann nur einem Unternehmen, das mit der Kommission auf der Grundlage der Kronzeugenregelung zusammengearbeitet hat, nach dieser Regelung eine niedrigere Festsetzung der Geldbuße als die gewährt werden, die ohne diese Zusammenarbeit verhängt worden wäre. Diese Ermäßigung kann nicht auf eine Gesellschaft erstreckt werden, die zwar während eines Teils der Dauer der fraglichen Zuwiderhandlung zu der von einem Unternehmen gebildeten wirtschaftlichen Einheit gehörte, aber nicht mehr zu dem Zeitpunkt der Zusammenarbeit dieses Unternehmens mit der Kommission. Eine gegenteilige Auslegung würde u. a. dazu führen, dass im Fall von Unternehmensveräußerungen einer Gesellschaft, die ursprünglich an einer Zuwiderhandlung als Muttergesellschaft einer unmittelbar an dieser Zuwiderhandlung beteiligten Tochtergesellschaft mitgewirkt hat und diese Tochtergesellschaft an ein anderes Unternehmen veräußert, gegebenenfalls eine diesem Unternehmen für dessen Zusammenarbeit mit der Kommission gewährte Ermäßigung der Geldbuße zugutekäme, obgleich die erstgenannte Gesellschaft weder selbst zur Aufdeckung der fraglichen Zuwiderhandlung beigetragen noch zum Zeitpunkt der Zusammenarbeit einen bestimmenden Einfluss auf ihre ehemalige Tochtergesellschaft ausgeübt hat. Im Hinblick auf das Ziel der Kronzeugenregelung, die Aufdeckung von gegen das Wettbewerbsrecht der Union verstoßenden Verhaltensweisen zu fördern, und die Gewährleistung einer wirksamen Anwendung dieses Rechts ist es durch nichts gerechtfertigt, die einem Unternehmen wegen seiner Zusammenarbeit mit der Kommission gewährte Ermäßigung einer Geldbuße auf ein Unternehmen zu erstrecken, das zwar in der Vergangenheit den Tätigkeitsbereich kontrolliert hat, in dem sich die Zuwiderhandlung zugetragen hat, das aber zu deren Aufdeckung selbst nichts beigetragen hat (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 30. April 2014, FLSmidth/Kommission, C‑238/12 P, Slg, EU:C:2014:284, Rn. 83 bis 85, vom 19. Juni 2014, FLS Plast/Kommission, C‑243/12 P, Slg, EU:C:2014:2006, Rn. 85 und 87, sowie Hoechst/Kommission, oben in Rn. 148 angeführt, EU:T:2009:366, Rn. 76).

153    Nach dieser Rechtsprechung kommt es für die Frage, ob einem Unternehmen der sich aus der Kronzeugenregelung ergebende Vorteil gewährt werden soll, auf das Kriterium des effektiven Beitrags dieses Unternehmens zur Aufdeckung oder zum Nachweis der Zuwiderhandlung an.

154    Weiter geht aus dieser Rechtsprechung hervor, dass der sich aus der Kronzeugenregelung ergebende Vorteil einem Unternehmen gewährt wird, d. h. der wirtschaftlichen Einheit, die zu dem Zeitpunkt besteht, zu dem der Antrag auf Anwendung der Kronzeugenregelung bei der Kommission gestellt wird.

155    Der Grundsatz einer wirksamen Zusammenarbeit des Unternehmens wird durch Rn. 7 der Kronzeugenregelung und deren Rn. 11 Buchst. a, die den Geldbußenerlass betrifft und wonach das Unternehmen mit der Kommission während des Verwaltungsverfahrens in vollem Umfang kontinuierlich und zügig zusammenarbeiten muss, sowie durch Rn. 23 Buchst. b Abs. 2 der Kronzeugenregelung widergespiegelt, die die Ermäßigung der Geldbuße betrifft und wonach die Kommission berücksichtigen kann, ob das Unternehmen seit der Vorlage des Beweismittels kontinuierlich mit ihr zusammengearbeitet hat.

156    Folglich kann einem Unternehmen keine Ermäßigung der Geldbuße gewährt werden, wenn es keine wirksame Zusammenarbeit seinerseits beim Nachweis der Zuwiderhandlung gab.

157    Auf dieser Grundlage hat der Gerichtshof in den oben in Rn. 152 angeführten Urteilen befunden, dass einer Gesellschaft, die zwar während eines Teils der Dauer der fraglichen Zuwiderhandlung zu der von einem Unternehmen gebildeten wirtschaftlichen Einheit gehörte, aber nicht mehr zum Zeitpunkt der Zusammenarbeit dieses Unternehmens mit der Kommission, nicht die Kronzeugenregelung zugutekommen kann, die der wirtschaftlichen Einheit gewährt wurde, die wirksam mit der Kommission zusammenarbeitet.

158    Ebenfalls auf dieser Grundlage hat der Gerichtshof befunden, dass es durch nichts gerechtfertigt wäre, die einem Unternehmen wegen seiner Zusammenarbeit mit der Kommission gewährte Ermäßigung einer Geldbuße auf ein Unternehmen zu erstrecken, das zwar in der Vergangenheit den Tätigkeitsbereich kontrolliert hat, in dem sich die Zuwiderhandlung zugetragen hat, zu deren Aufdeckung aber selbst nichts beigetragen hat.

159    Es ist davon auszugehen, dass der auf den fehlenden Beitrag zur Aufdeckung der Zuwiderhandlung und die fehlende wirksame Zusammenarbeit gestützte Ausschluss von der Kronzeugenregelung insoweit sowohl für eine ehemalige Tochtergesellschaft anlässlich des von ihrer ehemaligen Muttergesellschaft gestellten Antrags auf Anwendung der Kronzeugenregelung als auch für eine ehemalige Muttergesellschaft nach einem von ihrer ehemaligen Tochtergesellschaft gestellten Antrag auf Anwendung der Kronzeugenregelung gilt.

 Beurteilung im vorliegenden Fall

160    Im vorliegenden Fall ist zunächst darauf hinzuweisen, dass der Antrag auf Anwendung der Kronzeugenregelung, von dem die Klägerinnen meinen, dass er auch ihnen zugutekomme, am 28. Juni 2007 von Arcelor España und ihren Tochtergesellschaften, von der Mittal Steel Company und ihren Tochtergesellschaften einschließlich Arcelor sowie von Tréfileurope und ihren Tochtergesellschaften gestellt wurde, wobei diese ausdrücklich darum gebeten hatten, einen Erlass oder eine Ermäßigung der Geldbuße, der/die Arcelor España gewährt werde, auch auf Emesa und auf Galycas zu erstrecken, da die Verteidigungsrechte Letzterer gemäß der zwischen Arcelor España und Companhia Previdente geschlossenen Verkaufsvereinbarung von Arcelor España wahrgenommen würden.

161    Allerdings ist festzustellen, dass trotz der ausdrücklichen Verweise auf Emesa und Galycas in dem am 28. Juni 2007 gestellten Antrag auf Anwendung der Kronzeugenregelung diese beiden Gesellschaften formell nicht zu dem aus den Antragstellern bestehenden Unternehmen gehörten, was im Übrigen die Klägerinnen auch nicht behaupten.

162    Aus der oben in Rn. 152 angeführten Rechtsprechung geht hervor, dass einer Gesellschaft, die formell keinen Antrag auf Anwendung der Kronzeugenregelung gestellt hat, diese Regelung nur zugutekommen kann, wenn sie zum Zeitpunkt der Antragstellung zum selben Unternehmen wie der Antragsteller gehörte.

163    Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Emesa und Galycas, da sie 2004 von Companhia Previdente aufgekauft wurden, zu dem Zeitpunkt, zu dem Arcelor España im Jahr 2007 ihren Antrag auf Anwendung der Kronzeugenregelung stellte, nicht mehr zu Arcelor España gehörten. Somit hat die Kommission im angefochtenen Beschluss zutreffend festgestellt, dass sie nicht mehr zu dem Unternehmen gehörten, das bei ihr einen Antrag auf Anwendung der Kronzeugenregelung gestellt hatte.

164    Die Emesa und Galycas gewährte Ermäßigung um 5 % für die der Kommission von ihnen selbst im Jahr 2002 übermittelten Informationen wurde auf Arcelor España erstreckt, weil Arcelor España und die Klägerinnen zu dem Zeitpunkt, zu dem Letztere diese Informationen übermittelten, zu genau dem selben Unternehmen gehörten.

165    Sodann ist zu prüfen, ob die Kommission im Hinblick auf die besonderen Umstände des Falles und trotz der vorstehenden Ausführungen den Klägerinnen die Vorteile des Kronzeugenantrags von Arcelor España hätte zugutekommen lassen müssen.

166    Insoweit ist erstens festzustellen, dass sich die aktive Zusammenarbeit der Klägerinnen mit der Kommission in dem Verfahren, das zum Erlass des angefochtenen Beschlusses geführt hat, auf die Informationen beschränkt, die sie der Kommission im Rahmen ihres eigenen am 25. Oktober 2002 gestellten Antrags auf Anwendung der Kronzeugenregelung übermittelt haben, für die die Kommission eine Ermäßigung der Geldbuße um 5 % gewährt hat.

167    Die Klägerinnen geben zwar an, die Notizen von Emesa, die Arcelor España im Rahmen des am 28. Juni 2007 gestellten Antrags auf Anwendung der Kronzeugenregelung übermittelt habe, stammten von ihnen, seien seinerzeit von einem ehemaligen Mitarbeiter von Emesa erstellt worden und hätten erhebliche Auswirkungen auf die Dauer und die Schwere der Zuwiderhandlung gehabt.

168    Jedoch belegen die Herkunft der Notizen und ihr unbestreitbarer Mehrwert keine aktive Zusammenarbeit der Klägerinnen mit der Kommission. Vielmehr geht aus den Akten hervor, dass nicht die Klägerinnen, sondern Arcelor España im Besitz der von ihr an die Kommission übermittelten Notizen von Emesa war – was von den Klägerinnen nicht bestritten wird –, und es ist unstreitig, dass die Klägerinnen nichts von dem von Arcelor España gestellten Antrag auf Anwendung der Kronzeugenregelung wussten, da diese ihn gemäß den geltenden Vorschriften geheim gehalten hatte.

169    Zweitens ist das Verhalten der Kommission, die entgegen ihren Ausführungen Arcelor España nicht rechtzeitig und ausführlich darüber informiert hat, dass der Antrag auf Anwendung der Kronzeugenregelung nicht auf Emesa und Galycas erstreckt werden könne, trotzdem nicht geeignet, einen Anspruch der Klägerinnen darauf zu begründen, dass ihnen der von Arcelor España gestellte Antrag auf Anwendung der Kronzeugenregelung zugutekommt.

170    Zwar hätte der Kommission nämlich die Tatsache, dass sie auf den von Arcelor España am 28. Juni 2007 gestellten Antrag auf Anwendung der Kronzeugenregelung erst am 19. September 2008 reagiert und dabei den Antrag, die Kronzeugenregelung auch Emesa und Galycas zugutekommen zu lassen, nicht ausdrücklich zurückgewiesen hat, von ArcelorMittal España mit Blick auf den Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung vorgeworfen werden können. Doch sie bleibt ohne Einfluss auf die Möglichkeit, den Klägerinnen einen Antrag auf Anwendung der Kronzeugenregelung zugutekommen zu lassen, an dem sie nicht aktiv mitgewirkt haben.

171    Nach alledem ist festzustellen, dass die Kommission dadurch, dass sie Emesa und Galycas, die hierauf keinen Anspruch hatten, den von Arcelor España gestellten Antrag auf Anwendung der Kronzeugenregelung nicht zugutekommen ließ und ihnen somit keine Ermäßigung der Geldbuße gewährte, wie sie ArcelorMittal España gewährt worden war, weder gegen den Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung noch gegen Art. 41 der Charta der Grundrechte noch gegen die Grundsätze der Gleichbehandlung oder der Billigkeit verstoßen hat.

172    Folglich ist der zweite Klagegrund in vollem Umfang zurückzuweisen.

[nicht wiedergegeben]

 Kosten

188    Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen.

189    Da die Klägerinnen mit ihrem Vorbringen unterlegen sind und die Kommission und der Rat einen dahin gehenden Antrag gestellt haben, tragen die Klägerinnen ihre eigenen Kosten sowie die Kosten der Kommission und des Rates.

190    Im Übrigen kann das Gericht nach Art. 139 Buchst. a der Verfahrensordnung Kosten, die vermeidbar gewesen wären, insbesondere im Fall einer offensichtlich missbräuchlichen Klage, der Partei auferlegen, die sie veranlasst hat.

191    Im vorliegenden Fall hat das Gericht der Kommission mit Beschluss vom 16. Mai 2014 aufgegeben, ihm die vertrauliche Fassung der Dokumente vorzulegen, die Gegenstand der prozessleitenden Maßnahmen vom 17. Dezember 2013 waren und die ihm von der Kommission noch nicht übermittelt worden waren.

192    Am 23. Mai 2014 hat die Kommission dem Gericht eine nicht vertrauliche Fassung dieser Dokumente übermittelt.

193    Das Gericht hat der Kommission mit Beschluss vom 12. Juni 2014 aufgegeben, die vertrauliche Fassung dieser Dokumente vorzulegen.

194    Die Kommission ist dieser Aufforderung am 16. Juni 2014 nachgekommen.

195    Aufgrund der erheblichen Kosten, die dem Gericht entstanden sind und die vermeidbar gewesen wären, hat die Kommission daher dem Gericht einen Teil dieser Kosten in Höhe von 1 500 Euro zu erstatten.

Aus diesen Gründen hat

DAS GERICHT (Sechste Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1.      Die Klage wird abgewiesen.

2.      Die Emesa-Trefilería, SA und die Industrias Galycas, SA tragen ihre eigenen Kosten sowie die Kosten der Europäischen Kommission und des Rates der Europäischen Union.

3.      Die Kommission wird verurteilt, an das Gericht gemäß Art. 139 Buchst. a seiner Verfahrensordnung einen Betrag von 1 500 Euro zur Erstattung eines Teils der diesem entstandenen Kosten zu zahlen.

Frimodt Nielsen

Dehousse

Collins

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 15. Juli 2015.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Englisch.


1 – Es werden nur die Randnummern des Urteils wiedergegeben, deren Veröffentlichung das Gericht für zweckdienlich erachtet.