Language of document : ECLI:EU:C:2024:225

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)

14. März 2024(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Einwanderungspolitik – Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen – Richtlinie 2003/109/EG – Art. 12 und 22 – Verstärkter Ausweisungsschutz – Anwendbarkeit – Drittstaatsangehöriger, der sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats als desjenigen aufhält, der ihm die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten zuerkannt hat – Ausweisung aus Gründen der öffentlichen Ordnung und der öffentlichen Sicherheit durch den anderen Mitgliedstaat in den Mitgliedstaat, der ihm diesen Status zuerkannt hat – Von diesem anderen Mitgliedstaat verhängtes vorübergehendes Einreiseverbot in das Hoheitsgebiet – Verstoß gegen die Verpflichtung, bei diesem anderen Mitgliedstaat einen Aufenthaltstitel nach Kapitel III der Richtlinie 2003/109 zu beantragen – Von letzterem Mitgliedstaat aus den gleichen Gründen verfügte Ausweisung dieses Drittstaatsangehörigen in sein Herkunftsland“

In der Rechtssache C‑752/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Korkein hallinto-oikeus (Oberstes Verwaltungsgericht, Finnland) mit Entscheidung vom 2. Dezember 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 9. Dezember 2022, in dem Verfahren

EP

gegen

Maahanmuuttovirasto

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal (Berichterstatterin), der Richter F. Biltgen, N. Wahl und J. Passer sowie der Richterin M. L. Arastey Sahún,

Generalanwalt: J. Richard de la Tour,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der finnischen Regierung, vertreten durch A. Laine und H. Leppo als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Katsimerou und T. Sevón als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 26. Oktober 2023

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 12 Abs. 1 und 3 sowie Art. 22 Abs. 3 der Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (ABl. 2004, L 16, S. 44) in der durch die Richtlinie 2011/51/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2011 (ABl. 2011, L 132, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2003/109).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen EP, einem russischen Staatsangehörigen, der die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten besitzt, die ihm von der Republik Estland verliehen wurde, und der Maahanmuuttovirasto (Nationale Einwanderungsbehörde, Finnland, im Folgenden: Behörde) wegen einer Ausweisung aus Finnland nach Russland, die die Behörde gegen ihn aus Gründen der öffentlichen Ordnung und der öffentlichen Sicherheit verfügte.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

 Richtlinie 2003/109

3        In den Erwägungsgründen 4, 6, 16 und 21 der Richtlinie 2003/109 heißt es:

„(4)      Die Integration von Drittstaatsangehörigen, die in den Mitgliedstaaten langfristig ansässig sind, trägt entscheidend zur Förderung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts bei, der als eines der Hauptziele der Gemeinschaft im Vertrag angegeben ist.

(6)      Die Dauer des Aufenthalts im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats sollte das Hauptkriterium für die Erlangung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten sein. Der Aufenthalt sollte rechtmäßig und ununterbrochen sein, um die Verwurzlung der betreffenden Person im Land zu belegen. …

(16)      Langfristig Aufenthaltsberechtigte sollten verstärkten Ausweisungsschutz genießen. Dieser Schutz orientiert sich an den Kriterien, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seiner Rechtsprechung entwickelt hat. Um den Ausweisungsschutz sicherzustellen, sollten die Mitgliedstaaten wirksamen Rechtsschutz vorsehen.

(21)      Der Mitgliedstaat, in dem der langfristig Aufenthaltsberechtigte sein Aufenthaltsrecht ausüben möchte, sollte überprüfen können, ob diese Person die Voraussetzungen erfüllt, um sich in seinem Hoheitsgebiet aufzuhalten. Er sollte sich auch vergewissern können, dass die betreffende Person keine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die öffentliche Gesundheit darstellt.“

4        Art. 1 („Gegenstand“) der Richtlinie 2003/109 bestimmt:

„Ziel dieser Richtlinie ist die Festlegung

a)      der Bedingungen, unter denen ein Mitgliedstaat einem Drittstaatsangehörigen, der sich rechtmäßig in seinem Hoheitsgebiet aufhält, die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten erteilen oder entziehen kann, sowie der mit dieser Rechtsstellung verbundenen Rechte und

b)      der Bedingungen für den Aufenthalt eines Drittstaatsangehörigen, der die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten besitzt, in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen, der ihm diese Rechtsstellung zuerkannt hat.“

5        In Art. 2 („Definitionen“) der Richtlinie 2003/109 heißt es:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

b)      ‚langfristig Aufenthaltsberechtigter‘ jeden Drittstaatsangehörigen, der die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten im Sinne der Art. 4 bis 7 besitzt;

c) ‚erster Mitgliedstaat‘ den Mitgliedstaat, der einem Drittstaatsangehörigen erstmals die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten zuerkannt hat;

d)      ‚zweiter Mitgliedstaat‘ einen anderen Mitgliedstaat als den, der einem Drittstaatsangehörigen erstmals die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten zuerkannt hat … und in dem dieser langfristig Aufenthaltsberechtigte sein Aufenthaltsrecht ausübt;

…“

6        In Art. 3 („Anwendungsbereich“) Abs. 1 der Richtlinie 2003/109 heißt es:

„Diese Richtlinie findet auf Drittstaatsangehörige Anwendung, die sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhalten.“

7        Kapitel II der Richtlinie 2003/109, zu dem deren Art. 4 bis 13 gehören, umfasst eine Reihe von Regelungen über die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten in einem Mitgliedstaat, insbesondere zu Gewährung und Verlust dieser Rechtsstellung.

8        Art. 12 („Ausweisungsschutz“) der Richtlinie 2003/109 bestimmt:

„(1)      Die Mitgliedstaaten können nur dann gegen einen langfristig Aufenthaltsberechtigten eine Ausweisung verfügen, wenn er eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die öffentliche Sicherheit darstellt.

(3)      Bevor sie gegen einen langfristig Aufenthaltsberechtigten eine Ausweisung verfügen, berücksichtigen die Mitgliedstaaten Folgendes:

a)      Dauer des Aufenthalts in ihrem Hoheitsgebiet,

b)      Alter der betreffenden Person,

c)      Folgen für die betreffende Person und ihre Familienangehörigen,

d)      Bindungen zum Aufenthaltsstaat oder fehlende Bindungen zum Herkunftsstaat.

…“

9        Kapitel III („Aufenthalt in den anderen Mitgliedstaaten“) der Richtlinie 2003/109 umfasst deren Art. 14 bis 23.

10      Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2003/109 bestimmt:

„Ein langfristig Aufenthaltsberechtigter erwirbt das Recht, sich länger als drei Monate im Hoheitsgebiet anderer Mitgliedstaaten als desjenigen, der ihm die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten zuerkannt hat, aufzuhalten, sofern die in diesem Kapitel festgelegten Bedingungen erfüllt sind.“

11      Art. 15 („Bedingungen für den Aufenthalt in einem zweiten Mitgliedstaat“) Abs. 1 der Richtlinie 2003/109 bestimmt:

„Der langfristig Aufenthaltsberechtigte beantragt unverzüglich, spätestens jedoch drei Monate nach seiner Einreise in den zweiten Mitgliedstaat, einen Aufenthaltstitel bei den zuständigen Behörden jenes Mitgliedstaats.

…“

12      In Art. 17 („Öffentliche Ordnung und öffentliche Sicherheit“) Abs. 1 der Richtlinie 2003/109 heißt es:

„Die Mitgliedstaaten können einem langfristig Aufenthaltsberechtigten oder seinen Familienangehörigen den Aufenthalt versagen, wenn die betreffende Person eine Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die öffentliche Sicherheit darstellt.

Trifft ein Mitgliedstaat eine entsprechende Entscheidung, so berücksichtigt er die Schwere oder die Art des von dem langfristig Aufenthaltsberechtigten oder seinem bzw. seinen Familienangehörigen begangenen Verstoßes gegen die öffentliche Ordnung oder die öffentliche Sicherheit bzw. die von der betreffenden Person ausgehende Gefahr.“

13      Art. 22 („Entzug des Aufenthaltstitels und Verpflichtung zur Rückübernahme“) der Richtlinie 2003/109 bestimmt:

„(1)      Bis der Drittstaatsangehörige die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten erlangt hat, kann der zweite Mitgliedstaat die Verlängerung des Aufenthaltstitels versagen oder den Aufenthaltstitel entziehen und die betreffende Person und ihre Familienangehörigen gemäß den Verfahren des nationalen Rechts einschließlich der Rückführungsverfahren zur Ausreise aus seinem Hoheitsgebiet verpflichten, wenn

a)      Gründe der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit im Sinne des Art. 17 vorliegen;

b)      die Voraussetzungen der Art. 14, 15 und 16 nicht mehr vorliegen;

c)      sich der Drittstaatsangehörige unrechtmäßig im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats aufhält.

(2)      Trifft der zweite Mitgliedstaat eine der Maßnahmen nach Abs. 1, so nimmt der erste Mitgliedstaat den langfristig Aufenthaltsberechtigten und seine Familienangehörigen unverzüglich und ohne Formalitäten zurück. Der zweite Mitgliedstaat teilt dem ersten Mitgliedstaat seine Entscheidung mit.

(3)      Bis der Drittstaatsangehörige die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten erlangt hat, kann der zweite Mitgliedstaat unbeschadet der Verpflichtung zur Rückübernahme nach Abs. 2 aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit die Rückführung des Drittstaatsangehörigen aus dem Gebiet der [Europäischen] Union und unter Beachtung der Garantien des Art. 12 verfügen.

In diesen Fällen konsultiert der zweite Mitgliedstaat beim Erlass dieser Verfügung den ersten Mitgliedstaat.

Fasst der zweite Mitgliedstaat einen Beschluss zur Rückführung des betreffenden Drittstaatsangehörigen, so trifft er alle geeigneten Maßnahmen, um den Beschluss tatsächlich durchzuführen. In diesen Fällen übermittelt der zweite Mitgliedstaat dem ersten Mitgliedstaat geeignete Informationen bezüglich der Durchführung des Rückführungsbeschlusses.

(4)      In den in Abs. 1 Buchst. b) und c) genannten Fällen darf die Entscheidung über die Rückführung nicht mit einem dauerhaften Aufenthaltsverbot verbunden werden.

(5)      Die in Abs. 2 genannte Verpflichtung zur Rückübernahme lässt die Möglichkeit unberührt, dass sich der langfristig Aufenthaltsberechtigte und seine Familienangehörigen in einen dritten Mitgliedstaat begeben.“

 Richtlinie 2008/115/EG

14      Art. 2 („Anwendungsbereich“) der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. 2008, L 348, S. 98) sieht in Abs. 1 vor:

„Diese Richtlinie findet Anwendung auf illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältige Drittstaatsangehörige.“

15      In Art. 3 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie 2008/115 heißt es:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnen die Ausdrücke

2.      ‚illegaler Aufenthalt‘: die Anwesenheit von Drittstaatsangehörigen, die nicht oder nicht mehr … andere Voraussetzungen für die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt erfüllen, im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats;

3.      ‚Rückkehr‘: die Rückreise von Drittstaatsangehörigen – in freiwilliger Erfüllung einer Rückkehrverpflichtung oder erzwungener Rückführung – in

–        deren Herkunftsland oder

–        ein Transitland gemäß gemeinschaftlichen oder bilateralen Rückübernahmeabkommen oder anderen Vereinbarungen oder

–        ein anderes Drittland, in das der betreffende Drittstaatsangehörige freiwillig zurückkehren will und in dem er aufgenommen wird;

4.      ‚Rückkehrentscheidung‘: die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme mit der der illegale Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen festgestellt und eine Rückkehrverpflichtung auferlegt oder festgestellt wird;

…“

16      Art. 4 („Günstigere Bestimmungen“) Abs. 2 der Richtlinie 2008/115 bestimmt:

„Von dieser Richtlinie unberührt bleibt jede im gemeinschaftlichen Besitzstand auf dem Gebiet Asyl und Einwanderung festgelegte Bestimmung, die für Drittstaatsangehörige günstiger sein kann.“

 Finnisches Recht

17      Das Ulkomaalaislaki (301/2004) (Ausländergesetz [301/2004]) vom 30. April 2004 (im Folgenden: Ausländergesetz) sieht in § 11 Abs. 1 vor, dass die Einreise eines Ausländers u. a. voraussetzt, dass gegen ihn kein Einreiseverbot verhängt wurde und er nicht als Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit angesehen wird.

18      Nach § 146a des Ausländergesetzes bezeichnet der Ausdruck „Rückkehr“ ein Rückführungsverfahren, während dessen ein Drittstaatsangehöriger, dem die Einreise verweigert worden oder dessen Rückkehr oder Ausweisung verfügt worden ist, entweder freiwillig ausreist oder abgeschoben wird: in das Herkunftsland, in ein Transitland gemäß einem Rückübernahmeabkommen oder einer anderen Vereinbarung zwischen der Union oder Finnland und einem Drittland oder in ein anderes Drittland, in das der betreffende Drittstaatsangehörige freiwillig zurückkehren will und in dem er aufgenommen wird.

19      Nach § 148 Abs. 1 des Ausländergesetzes kann ein Ausländer u. a. dann ausgewiesen werden, wenn er die in § 11 Abs. 1 des Ausländergesetzes festgelegten Voraussetzungen für die Einreise nicht erfüllt oder wenn eine gegen ihn verhängte Freiheitsstrafe oder ein sonstiger stichhaltiger Grund den Verdacht begründet, dass er eine Straftat begehen wird, die in Finnland mit Freiheitsstrafe bedroht ist, oder dass er wiederholt Straftaten begehen wird.

20      Nach § 148 Abs. 2 des Ausländergesetzes kann ein ohne Aufenthaltstitel eingereister Ausländer auch dann ausgewiesen werden, wenn für seinen Aufenthalt in Finnland ein Visum oder eine Aufenthaltserlaubnis erforderlich wären, diese aber nicht beantragt oder erteilt worden sind.

21      Nach § 149 Abs. 4 des Ausländergesetzes kann ein Ausländer, dem in Finnland eine langfristige Aufenthaltsberechtigung – EU erteilt worden ist, nur ausgewiesen werden, wenn er für die öffentliche Ordnung oder die öffentliche Sicherheit eine unmittelbare und hinreichend schwere Gefahr darstellt.

22      Nach § 149b des Ausländergesetzes ist ein Drittstaatsangehöriger, der sich illegal im Land aufhält oder dessen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis abgelehnt worden ist und der Inhaber eines von einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union erteilten gültigen Aufenthaltstitels oder einer sonstigen Aufenthaltsberechtigung ist, zu verpflichten, sich unverzüglich in das Hoheitsgebiet dieses anderen Mitgliedstaats zu begeben. Kommt der Drittstaatsangehörige dieser Verpflichtung nicht nach oder ist seine sofortige Ausreise aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit geboten, wird seine Abschiebung angeordnet.

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

23      EP, ein russischer Staatsangehöriger, besitzt eine langfristige Aufenthaltsberechtigung – EU, ausgestellt von der Republik Estland für den Zeitraum vom 12. Juli 2019 bis zum 12. Juli 2024 zum Nachweis der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten in diesem Mitgliedstaat. Er ist auch im Besitz eines russischen Passes, der bis zum 26. Dezember 2024 gültig ist.

24      Am 9. Februar 2017 wurde EP ein erstes Mal von Finnland nach Estland ausgewiesen. In der Ausweisungsverfügung wurde gegen ihn ein Finnland betreffendes zweijähriges Einreiseverbot verhängt.

25      Am 16. März 2017 und am 26. November 2018 wurde er erneut von Finnland nach Estland ausgewiesen. Am 26. November 2018 wurde gegen ihn von der Behörde ein Finnland betreffendes, weiteres zweijähriges Einreiseverbot verhängt.

26      Auf Grundlage einer Entscheidung der Behörde vom 8. Juli 2019, die mit einem Finnland betreffenden vierjährigen Einreiseverbot verbunden war, wurde er ein viertes Mal von Finnland nach Estland ausgewiesen.

27      In Finnland wurde EP wegen zweier Vergehen nach dem Ausländergesetz zu Geldstrafen, wegen schwerer Trunkenheit im Verkehr und Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu einer Freiheitsstrafe von 80 Tagen auf Bewährung sowie wegen Verstoßes gegen ein Einreiseverbot zu einer Geldstrafe verurteilt. Er wird auch anderer Straftaten verdächtigt.

28      Am 18. November 2019 erklärte EP bei einer Anhörung vor der Behörde, dass er seine Ausweisung in die Russische Föderation ablehne, zu der er abgesehen von seiner Staatsangehörigkeit keine anderen Bindungen habe, nicht aber eine Ausweisung in sein Wohnsitzland Estland, in dem er sich fast sein ganzes Leben aufgehalten habe. Er gab an, vorübergehend in Finnland zu wohnen sowie in Finnland in zwei Unternehmen zu arbeiten. Seiner Aussage zufolge hat er keine anderen Bindungen zu Finnland. Er gab an, dass sein minderjähriges Kind bei seiner früheren Ehefrau in Estland lebe.

29      Mit Entscheidung vom 19. November 2019 ordnete die Behörde die Ausweisung von EP in sein Heimatland, die Russische Föderation, an, u. a. mit der Begründung, dass er die öffentliche Ordnung und Sicherheit in Finnland gefährde (im Folgenden: im Ausgangsverfahren in Rede stehende Entscheidung). Mit dieser Entscheidung wurde gegen ihn auch ein den Schengen-Raum betreffendes Einreiseverbot für einen Zeitraum von vier Jahren verhängt. Der Begründung dieser Entscheidung zufolge hat EP keinen Nachweis über seine familiären Bindungen in Estland erbracht und besitzt auch keine Aufenthaltserlaubnis, die ihn zur Arbeit in Finnland berechtigt.

30      Am selben Tag fragte die Behörde die estnischen Behörden, ob sie den Widerruf der langfristigen Aufenthaltsberechtigung – EU, die sie EP erteilt hatten, in Betracht ziehen könnten.

31      Da die Republik Estland mitteilte, dass sie nicht beabsichtige, diese Aufenthaltsberechtigung zu widerrufen, änderte die Behörde am 9. Dezember 2019 die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Entscheidung dahin ab, dass sie das Einreiseverbot auf das finnische Hoheitsgebiet beschränkte.

32      Die Abschiebung von EP nach Russland aufgrund dieser Entscheidung erfolgte am 24. März 2020.

33      Da EP erneut nach Finnland eingereist war, wurde er in der Folge am 8. August 2020 und am 16. November 2020 nach Estland abgeschoben.

34      Nachdem seine Klage gegen die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Entscheidung durch ein Urteil des Helsingin hallinto-oikeus (Verwaltungsgericht Helsinki, Finnland) abgewiesen worden war, legte EP gegen dieses Urteil Rechtsmittel beim Korkein hallinto-oikeus (Oberstes Verwaltungsgericht, Finnland), dem vorlegenden Gericht, ein.

35      Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass die Behörde vor ihm u. a. geltend gemacht habe, dass die Richtlinie 2003/109, insbesondere ihr Art. 17 und ihr Art. 22 Abs. 3, im vorliegenden Fall nicht anwendbar sei, da EP sich nicht rechtmäßig im finnischen Hoheitsgebiet aufgehalten habe, wie es Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie verlange. EP unterliege nämlich einem Einreiseverbot in das finnische Hoheitsgebiet und habe keinen Aufenthaltstitel in Finnland beantragt, nachdem er mit einer von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten langfristigen Aufenthaltsberechtigung – EU in das Land eingereist sei.

36      Daher sei die Richtlinie 2008/115 anwendbar. Da die sofortige Ausreise von EP aus Gründen der öffentlichen Ordnung und der öffentlichen Sicherheit erforderlich gewesen sei, sei gegen ihn eine Rückkehrentscheidung nach dieser Richtlinie ergangen. Nach dieser Richtlinie könne eine solche Rückkehrentscheidung aber nur die Rückkehr in einen Drittstaat und nicht in einen anderen Mitgliedstaat zum Gegenstand haben.

37      In Anbetracht des Vorbringens der Behörde ist das vorlegende Gericht erstens der Ansicht, dass sich anhand der Vorschriften der Richtlinie 2003/109 nicht eindeutig bestimmen lasse, wie Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie in einem Fall wie dem des bei ihm anhängigen Rechtsstreits auszulegen sei.

38      Tatsächlich sei zwar der Aufenthalt von EP in Estland wegen der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten, die ihm von diesem Mitgliedstaat gewährt worden sei, rechtmäßig, dies sei jedoch bei seinem Aufenthalt in Finnland nicht der Fall, da er in Finnland keinen Aufenthaltstitel nach Kapitel III der Richtlinie 2003/109 beantragt habe und ihm ein Einreiseverbot in das finnische Hoheitsgebiet auferlegt worden sei.

39      Zweitens ist das vorlegende Gericht der Ansicht, dass das Ausländergesetz keine ausdrücklichen Bestimmungen zur Umsetzung von Art. 22 Abs. 3 der Richtlinie 2003/109 enthalte, was die Ausweisung eines Drittstaatsangehörigen aus dem Gebiet der Europäischen Union angehe, dem ein anderer Mitgliedstaat eine langfristige Aufenthaltsberechtigung – EU erteilt habe.

40      So gelte § 149 Abs. 4 des Ausländergesetzes nach seinem Wortlaut nur für einen Ausländer, dem eine solche Aufenthaltsberechtigung in Finnland erteilt worden sei.

41      Es stelle sich daher die Frage, ob Art. 12 Abs. 1 und 3 sowie Art. 22 Abs. 3 der Richtlinie 2003/109 inhaltlich dergestalt unbedingt und hinreichend genau im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs seien, dass sich ein Drittstaatsangehöriger gegenüber einem Mitgliedstaat auf diese Bestimmungen berufen könne.

42      Unter diesen Umständen hat das Korkein hallinto-oikeus (Oberstes Verwaltungsgericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Gilt für die Ausweisung einer Person, die während der Geltung eines gegen sie verhängten Einreiseverbots in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats eingereist und deren Aufenthalt in dem Mitgliedstaat daher nach nationalem Recht illegal gewesen ist und die in diesem Mitgliedstaat keinen Aufenthaltstitel beantragt hat, aus dem Gebiet der Europäischen Union die Richtlinie 2003/109, wenn der Person in einem anderen Mitgliedstaat eine langfristige Aufenthaltsberechtigung für Drittstaatsangehörige erteilt worden ist?

Falls die erste Frage bejaht wird:

2.      Sind Art. 12 Abs. 1 und 3 und Art. 22 Abs. 3 der Richtlinie 2003/109 inhaltlich dergestalt unbedingt und hinreichend genau, dass sich ein Drittstaatsangehöriger gegenüber einem Mitgliedstaat auf sie berufen kann?

 Zu den Vorlagefragen

 Zur ersten Frage

43      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 22 Abs. 3 der Richtlinie 2003/109 dahin auszulegen ist, dass der verstärkte Ausweisungsschutz, den langfristig aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige nach dieser Bestimmung genießen, im Rahmen einer Ausweisung eines solchen Drittstaatsangehörigen aus dem Gebiet der Union durch den zweiten Mitgliedstaat im Sinne von Art. 2 Buchst. d dieser Richtlinie aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit Anwendung findet, auch wenn er sich zum einen unter Verstoß gegen ein Einreiseverbot im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats aufhält und zum anderen bei den zuständigen Behörden dieses Mitgliedstaats keinen Aufenthaltstitel nach Kapitel III der Richtlinie 2003/109 beantragt hat.

44      Zunächst ist erstens darauf hinzuweisen, dass das Recht zum Aufenthalt im „zweiten Mitgliedstaat“ im Sinne von Art. 2 Buchst. d der Richtlinie 2003/109 ein aus der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten im „ersten Mitgliedstaat“ im Sinne von Art. 2 Buchst. c dieser Richtlinie abgeleitetes Recht ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. Juni 2023, Stadt Frankfurt am Main und Stadt Offenbach am Main [Verlängerung eines Aufenthaltstitels im zweiten Mitgliedstaat], C‑829/21 und C‑129/22, EU:C:2023:525, Rn. 44).

45      Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass, wie es im 16. Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/109 heißt, langfristig Aufenthaltsberechtigte einen „verstärkten Ausweisungsschutz“ genießen sollten, der sich an den in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte entwickelten Kriterien orientiert.

46      Drittens trifft es zwar zu, wie die Behörde vor dem vorlegenden Gericht insbesondere geltend machte, dass der Aufenthalt von EP im Hoheitsgebiet Finnlands nach finnischem Recht rechtswidrig war, da gegen EP im vorliegenden Fall ein Einreiseverbot in dieses Hoheitsgebiet bestand und er keinen Aufenthaltstitel in Finnland beantragte, nachdem er mit einer von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten langfristigen Aufenthaltsberechtigung – EU dort eingereist war.

47      Daraus folgt jedoch nicht, dass die Richtlinie 2003/109 im vorliegenden Fall deshalb nicht anwendbar wäre, weil sich der betreffende Drittstaatsangehörige nicht rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhält, wie es Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie verlangt, und dass er daher nicht in deren Anwendungsbereich fiele.

48      Da der in Rede stehende Drittstaatsangehörige in der Republik Estland die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten besitzt, hat er nämlich das Recht, sich im „Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2003/109, d. h. im estnischen Hoheitsgebiet, aufzuhalten.

49      Viertens fällt, wie der Generalanwalt in den Nrn. 37 bis 39 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, die Ausweisung eines langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen aus dem Unionsgebiet wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2003/109 und nicht in den der Richtlinie 2008/115.

50      Da nämlich die Bestimmungen der Richtlinie 2003/109, die einen verstärkten Ausweisungsschutz langfristig aufenthaltsberechtigter Drittstaatsangehöriger vorsehen, für solche Drittstaatsangehörigen ohne jeden Zweifel „günstiger“ sind als die in der Richtlinie 2008/115 vorgesehenen Ausweisungsbestimmungen, finden nach Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115 die Bestimmungen der Richtlinie 2003/109 auf eine Ausweisung eines langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen aus dem Unionsgebiet wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Anwendung.

51      Nach diesen Vorbemerkungen ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung bei der Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts nicht nur deren Wortlaut, sondern auch der Zusammenhang, in dem sie steht, sowie die Zwecke und Ziele zu berücksichtigen sind, die mit dem Rechtsakt, zu dem sie gehört, verfolgt werden (Urteil vom 21. September 2023, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Diplomatenausweis], C‑568/21, EU:C:2023:683, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).

52      Was zunächst den Wortlaut von Art. 22 Abs. 3 der Richtlinie 2003/109 betrifft, so geht aus diesem hervor, dass diese Bestimmung dem zweiten Mitgliedstaat vier Voraussetzungen auferlegt, wenn er beabsichtigt, eine Rückführung eines Drittstaatsangehörigen, der in einem anderen Mitgliedstaat die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten besitzt, aus dem Gebiet der Union zu verfügen.

53      Erstens darf dieser Drittstaatsangehörige die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten im zweiten Mitgliedstaat nicht erlangt haben. Hätte er diese Rechtsstellung in diesem Mitgliedstaat, wäre nämlich insbesondere im Bereich der Ausweisung Kapitel II der Richtlinie 2003/109 anwendbar. Zweitens ist dieser Mitgliedstaat zur „Beachtung der Garantien des Artikels 12“ dieser Richtlinie verpflichtet. Drittens darf eine solche Rückführung nur aus „schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit“ verfügt werden. Viertens schließlich ist der zweite Mitgliedstaat, wenn er eine solche Rückführung verfügt, verpflichtet, den ersten Mitgliedstaat zu konsultieren und alle geeigneten Maßnahmen zu treffen, um den Beschluss tatsächlich durchzuführen, sowie dem ersten Mitgliedstaat geeignete Informationen bezüglich dieser Durchführung zu übermitteln.

54      Es ist festzustellen, dass der Wortlaut von Art. 22 Abs. 3 der Richtlinie 2003/109 keine Auslegung dieser Bestimmung stützen kann, wonach der darin vorgesehene verstärkte Ausweisungsschutz nicht zur Anwendung kommt, wenn sich ein Drittstaatsangehöriger, der im ersten Mitgliedstaat die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten besitzt, unter Verstoß gegen ein Einreiseverbot im Hoheitsgebiet des zweiten Mitgliedstaats aufhält und bei den zuständigen Behörden dieses Mitgliedstaats keinen Aufenthaltstitel nach Kapitel III dieser Richtlinie beantragt hat.

55      Insoweit trifft es zu, dass die Überschrift von Art. 22 der Richtlinie 2003/109, nämlich „Entzug des Aufenthaltstitels und Verpflichtung zur Rückübernahme“, und der Verweis in diesem Art. 22 Abs. 1 auf die Möglichkeit des zweiten Mitgliedstaats, die Verlängerung des nach Kapitel III dieser Richtlinie gewährten Aufenthaltstitels zu versagen oder diesen zu entziehen, darauf hindeuten könnten, dass Art. 22 nur Fälle betrifft, in denen es um den Entzug oder die Nichtverlängerung einer solchen Aufenthaltsberechtigung geht.

56      Es ist jedoch festzustellen, dass sich der Wortlaut von Art. 22 Abs. 3 der Richtlinie 2003/109 nicht auf den Erhalt eines Aufenthaltstitels im zweiten Mitgliedstaat bezieht und weit genug ist, um eine Situation wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende zu erfassen, in der der zweite Mitgliedstaat gegen einen langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen eine Ausweisung aus dem Unionsgebiet verfügt, der in diesem Mitgliedstaat keinen Aufenthaltstitel nach Kapitel III dieser Richtlinie beantragt hat und somit über keinen solchen Aufenthaltstitel verfügt.

57      Sodann ist zum Zusammenhang, in dem Art. 22 Abs. 3 der Richtlinie 2003/109 steht, festzustellen, dass diese Bestimmung im Hinblick auf die Regelung über einen verstärkten Ausweisungsschutz zu verstehen ist, den langfristig aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige nach diesem Art. 22 genießen.

58      Diese Regelung des verstärkten Schutzes umfasst erstens Art. 22 Abs. 1 der Richtlinie 2003/109, der u. a. Vorschriften für die Ausweisung eines Drittstaatsangehörigen, der die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten besitzt, aus dem Hoheitsgebiet des zweiten Mitgliedstaats aus den dort genannten Gründen vorsieht.

59      Zweitens umfasst sie Art. 22 Abs. 3 dieser Richtlinie, der, wie in den Rn. 52 und 53 des vorliegenden Urteils ausgeführt, vier Voraussetzungen aufstellt, die es diesem Mitgliedstaat, wenn sie erfüllt sind, erlauben, eine Ausweisung eines solchen Drittstaatsangehörigen aus dem Unionsgebiet zu verfügen.

60      Drittens enthält diese Regelung über den verstärkten Schutz bereichsübergreifende Bestimmungen, nämlich zum einen Art. 22 Abs. 2 und 5 der Richtlinie, der im Fall der Rückführung eines betroffenen langfristig Aufenthaltsberechtigten und seiner Familienangehörigen durch den zweiten Mitgliedstaat den ersten Mitgliedstaat verpflichtet, diese „unverzüglich und ohne Formalitäten“ zurückzunehmen, und ihnen zugleich gestattet, sich in einen „dritten Mitgliedstaat“ zu begeben, und zum anderen Art. 22 Abs. 4 dieser Richtlinie, wonach die Entscheidung über die Rückführung in den in Art. 22 Abs. 1 Buchst. b und c dieser Richtlinie genannten Fällen nicht mit einem „dauerhaften Aufenthaltsverbot“ verbunden werden darf.

61      Zwar kann, wie in Rn. 54 des vorliegenden Urteils ausgeführt, der Wortlaut von Art. 22 Abs. 3 der Richtlinie 2003/109 keine Auslegung stützen, wonach der darin vorgesehene verstärkte Ausweisungsschutz auf einen Fall wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht anwendbar wäre. Etwas anderes gilt jedoch für den Wortlaut von Art. 22 Abs. 1 Buchst. b und c dieser Richtlinie, da er diese beiden Fälle ausdrücklich als Gründe anführt, die die Verfügung einer Rückführung eines solchen Drittstaatsangehörigen aus dem Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats rechtfertigen.

62      Zum einen erlaubt nämlich Art. 22 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2003/109, soweit er u. a. einen Verstoß gegen die in Art. 15 dieser Richtlinie vorgesehenen Voraussetzungen betrifft, die Verfügung einer solchen Rückführung, wenn die in Art. 15 Abs. 1 vorgesehene Verpflichtung nicht erfüllt ist, nämlich die einem langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen auferlegte Verpflichtung, unverzüglich, spätestens jedoch drei Monate nach seiner Einreise in den zweiten Mitgliedstaat, einen Aufenthaltstitel bei den zuständigen Behörden jenes Mitgliedstaats zu beantragen.

63      Zum anderen erfasst Art. 22 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/109 den Fall eines Aufenthalts in dem Hoheitsgebiet des zweiten Mitgliedstaats unter Verstoß gegen ein entsprechendes Einreiseverbot, da er darauf Bezug nimmt, dass sich ein Drittstaatsangehöriger in diesem Mitgliedstaat „unrechtmäßig“ aufhält, was es rechtfertigen kann, dass dieser Mitgliedstaat gegenüber diesem Drittstaatsangehörigen eine Rückführung aus seinem Hoheitsgebiet verfügt.

64      Außerdem bestätigt der ausdrückliche Verweis in Art. 22 Abs. 1 der Richtlinie 2003/109 auf diese beiden in Art. 22 Abs. 1 Buchst. b und c der Richtlinie genannten Fälle, die es rechtfertigen können, dass gegen einen langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen eine Rückführung aus dem Hoheitsgebiet des zweiten Mitgliedstaats verfügt wird, die bereits aus dem Wortlaut von Art. 22 Abs. 3 dieser Richtlinie gezogene Schlussfolgerung, dass das Vorliegen dieser Fälle nicht zur Unanwendbarkeit der letztgenannten Bestimmung führt.

65      Was insbesondere den Grund betrifft, dass ein langfristig Aufenthaltsberechtigter unter Verstoß gegen Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2003/109 bei den zuständigen Behörden des zweiten Mitgliedstaats keinen Aufenthaltstitel beantragt hat, so trifft es zu, wie bereits in Rn. 55 des vorliegenden Urteils ausgeführt, dass der Wortlaut von Art. 22 Abs. 1 dieser Richtlinie, d. h. der Verweis in dieser Bestimmung auf die Möglichkeit dieses Mitgliedstaats, die Verlängerung des nach Kapitel III dieser Richtlinie gewährten Aufenthaltstitels zu versagen oder diesen zu entziehen, darauf hindeuten könnte, dass der besagte Art. 22 Abs. 1 nur Fälle betrifft, in denen es um den Entzug oder die Nichtverlängerung einer solchen Aufenthaltsberechtigung geht.

66      Art. 22 Abs. 1 bezieht sich jedoch ausdrücklich nicht nur auf Maßnahmen, mit denen die Verlängerung des nach Kapitel III gewährten Aufenthaltstitels durch den zweiten Mitgliedstaat versagt oder dieser entzogen wird, sondern auch auf andere Maßnahmen wie gerade die Rückführung aus dem Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats.

67      Diese verschiedenen Aspekte des Normzusammenhangs bestätigen die bereits aus der Prüfung des Wortlauts von Art. 22 Abs. 3 der Richtlinie 2003/109 gezogene Schlussfolgerung, dass die Anwendbarkeit des in dieser Bestimmung vorgesehenen verstärkten Schutzes vor Ausweisung aus dem Gebiet der Union nicht dadurch ausgeschlossen ist, dass sich die betreffende Person im Hoheitsgebiet des zweiten Mitgliedstaats aufhält, obwohl gegen sie ein entsprechendes Einreiseverbot verhängt wurde und sie bei den zuständigen Behörden dieses Mitgliedstaats innerhalb der vorgeschriebenen Fristen keinen Aufenthaltstitel nach Kapitel III dieser Richtlinie beantragt hat.

68      Schließlich wird eine solche wörtliche und systematische Auslegung von Art. 22 Abs. 3 der Richtlinie 2003/109 auch durch den Zweck dieser Bestimmung gestützt.

69      Diese Auslegung, die auf einer Abgrenzung des jeweiligen Anwendungsbereichs von Abs. 1 und von Abs. 3 des Art. 22 der Richtlinie 2003/109 in Abhängigkeit davon beruht, ob es sich um eine Rückführung aus dem Hoheitsgebiet des zweiten Mitgliedstaats oder um eine Rückführung aus dem Unionsgebiet und den daraus folgenden verstärkten Ausweisungsschutz mit variablem Zuschnitt handelt, ermöglicht es nämlich, eine Regelungslücke des „verstärkten Ausweisungsschutzes“, den Art. 22 dieser Richtlinie ausweislich ihres 16. Erwägungsgrundes sicherstellen soll, zu vermeiden und damit die Wirksamkeit dieser Regelung sicherzustellen.

70      Die genannte Auslegung gewährleistet somit, dass einem Drittstaatsangehörigen die genannte Regelung des verstärkten Schutzes selbst dann zugutekommt, wenn er sich unter Verstoß gegen ein Einreiseverbot im Hoheitsgebiet des zweiten Mitgliedstaats aufhält und bei den zuständigen Behörden dieses Mitgliedstaats keinen Aufenthaltstitel nach Kapitel III der Richtlinie 2003/109 beantragt hat.

71      Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 22 Abs. 3 der Richtlinie 2003/109 dahin auszulegen ist, dass der verstärkte Ausweisungsschutz, den langfristig aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige nach dieser Bestimmung genießen, im Rahmen einer Ausweisung eines solchen Drittstaatsangehörigen durch den zweiten Mitgliedstaat im Sinne von Art. 2 Buchst. d dieser Richtlinie aus dem Gebiet der Union aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit Anwendung findet, auch wenn er sich zum einen unter Verstoß gegen ein Einreiseverbot im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats aufhält und zum anderen bei den zuständigen Behörden dieses Mitgliedstaats keinen Aufenthaltstitel nach Kapitel III der Richtlinie 2003/109 beantragt hat.

 Zur zweiten Frage

72      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 12 Abs. 3 und Art. 22 Abs. 3 der Richtlinie 2003/109 dahin auszulegen sind, dass sie es einem langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen gestatten, sich gegenüber dem zweiten Mitgliedstaat im Sinne von Art. 2 Buchst. d dieser Richtlinie auf diese Bestimmungen zu berufen, wenn dieser beabsichtigt, gegenüber diesem Drittstaatsangehörigen eine Ausweisung aus dem Gebiet der Union aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit zu verfügen.

73      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass sich der Einzelne nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs in all den Fällen, in denen die Bestimmungen einer Richtlinie inhaltlich unbedingt und hinreichend genau sind, gegenüber einem Mitgliedstaat auf diese Bestimmungen berufen kann, wenn dieser die Richtlinie nicht fristgemäß oder nur unzulänglich in das nationale Recht umgesetzt hat (Urteil vom 20. April 2023, Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato [Gemeinde Ginosa], C‑348/22, EU:C:2023:301, Rn. 62 und die dort angeführte Rechtsprechung).

74      Der Gerichtshof hat klargestellt, dass eine Unionsvorschrift zum einen unbedingt ist, wenn sie eine Verpflichtung normiert, die an keine Bedingung geknüpft ist und zu ihrer Durchführung oder Wirksamkeit auch keiner weiteren Maßnahmen der Unionsorgane oder der Mitgliedstaaten – außer des Rechtsakts, mit dem sie in nationales Recht umgesetzt wird – bedarf, und sie zum anderen hinreichend genau ist, um von einem Einzelnen geltend gemacht und vom Gericht angewandt zu werden, wenn sie in unzweideutigen Worten eine Verpflichtung festlegt (Urteil vom 20. April 2023, Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato [Gemeinde Ginosa], C‑348/22, EU:C:2023:301, Rn. 63 und die dort angeführte Rechtsprechung).

75      Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass Art. 12 Abs. 3 und Art. 22 Abs. 3 der Richtlinie 2003/109 nicht ausdrücklich in finnisches Recht umgesetzt wurden.

76      In Anbetracht der in den Rn. 73 und 74 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ist jedoch festzustellen, dass diese Bestimmungen geeignet sind, zugunsten der betreffenden Drittstaatsangehörigen unmittelbare Wirkung zu entfalten. Diese Bestimmungen sind nämlich unbedingt und hinreichend genau, da sie, ohne Bedingungen vorzusehen oder den Erlass weiterer Maßnahmen erforderlich zu machen, den zweiten Mitgliedstaat in unzweideutigen Worten verpflichten, die Einhaltung der verschiedenen Bedingungen und Garantien sicherzustellen, die diese Bestimmungen zugunsten eines langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen vorsehen und die dem mit der Richtlinie 2003/109 verfolgten Ziel eines verstärkten Ausweisungsschutzes entsprechen, wenn dieser Mitgliedstaat gegenüber einem solchen Drittstaatsangehörigen eine Ausweisung aus dem Gebiet der Union aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit verfügt.

77      Dies gilt sowohl für Art. 22 Abs. 3 der Richtlinie 2003/109, der, wie in den Rn. 52 und 53 des vorliegenden Urteils ausgeführt, dem zweiten Mitgliedstaat im Wesentlichen vier besondere Voraussetzungen auferlegt, wenn dieser eine Rückführung eines langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen aus dem Gebiet der Union verfügt, als auch für Art. 12 Abs. 3 dieser Richtlinie, da die letztgenannte Bestimmung vier Kriterien aufzählt, die in Art. 22 Abs. 3 als „Garantien“ eingestuft werden und die die betreffenden Mitgliedstaaten beim Verfügen einer solchen Rückführung beachten müssen, nämlich die Dauer des Aufenthalts in ihrem Hoheitsgebiet, das Alter der betreffenden Person, die Folgen für sie und ihre Familienangehörigen sowie die Bindungen zum Aufenthaltsstaat oder fehlende Bindungen zum Herkunftsstaat.

78      Da diese verschiedenen Voraussetzungen und Garantien durch Bestimmungen vorgeschrieben sind, die inhaltlich als unbedingt und hinreichend genau anzusehen sind, folgt daraus, dass sich der Einzelne gemäß dem in der in Rn. 73 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung aufgestellten Grundsatz gegenüber einem Mitgliedstaat auf sie berufen kann.

79      Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 12 Abs. 3 und Art. 22 Abs. 3 der Richtlinie 2003/109 dahin auszulegen sind, dass sie es einem langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen gestatten, sich gegenüber dem zweiten Mitgliedstaat im Sinne von Art. 2 Buchst. d dieser Richtlinie auf diese Bestimmungen zu berufen, wenn dieser beabsichtigt, gegenüber diesem Drittstaatsangehörigen eine Ausweisung aus dem Gebiet der Union aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit zu verfügen.

 Kosten

80      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 22 Abs. 3 der Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen in der durch die Richtlinie 2011/51/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2011 geänderten Fassung

ist dahin auszulegen, dass

der verstärkte Ausweisungsschutz, den langfristig aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige nach dieser Bestimmung genießen, im Rahmen einer Ausweisung eines solchen Drittstaatsangehörigen durch den zweiten Mitgliedstaat im Sinne von Art. 2 Buchst. d dieser Richtlinie aus dem Gebiet der Europäischen Union aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit Anwendung findet, auch wenn er sich zum einen unter Verstoß gegen ein Einreiseverbot im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats aufhält und zum anderen bei den zuständigen Behörden dieses Mitgliedstaats keinen Aufenthaltstitel nach Kapitel III der Richtlinie 2003/109 beantragt hat.

2.      Art. 12 Abs. 3 und Art. 22 Abs. 3 der Richtlinie 2003/109 in der durch die Richtlinie 2011/51 geänderten Fassung

sind dahin auszulegen, dass

sie es einem langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen gestatten, sich gegenüber dem zweiten Mitgliedstaat im Sinne von Art. 2 Buchst. d dieser Richtlinie auf diese Bestimmungen zu berufen, wenn dieser beabsichtigt, gegenüber diesem Drittstaatsangehörigen eine Ausweisung aus dem Gebiet der Europäischen Union aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit zu verfügen.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Finnisch.