SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
ANTHONY COLLINS
vom 13. Juli 2023(1)
Rechtssache C‑646/21
K,
L
gegen
Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid
(Vorabentscheidungsersuchen der Rechtbank Den Haag, zittingsplaats ’s‑Hertogenbosch [Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort ’s‑Hertogenbosch, Niederlande])
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsame Asylpolitik und subsidiärer Schutz – Folgeanträge auf internationalen Schutz – Richtlinie 2011/95/EU – Art. 10 Abs. 1 Buchst. d – Verfolgungsgründe – Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe – Drittstaatsangehörige, die einen beträchtlichen Teil ihrer identitätsbildenden Lebensphase in einem Mitgliedstaat verbracht haben – Europäische Werte, Normen und Verhaltensweisen – Gleichstellung der Geschlechter – Frauen und Mädchen, die gegen die Regeln sozialen Verhaltens in ihrem Herkunftsland verstoßen – Wohl des Kindes“
I. Einführung
1. Die vorliegenden Schlussanträge betreffen Anträge auf internationalen Schutz von K und L, zwei Mädchen im Teenageralter aus dem Irak(2), die fünf Jahre lang in den Niederlanden lebten, während die Erstanträge ihrer Familie auf internationalen Schutz geprüft wurden. Während dieser Zeit gehörten sie einer Gesellschaft an, in der die Gleichstellung der Geschlechter einen Wert darstellt, und sie übernahmen die Werte, Normen und Verhaltensweisen ihrer Altersgenossen. Mit ihren Folgeanträgen auf internationalen Schutz(3), die der Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Staatssekretär für Justiz und Sicherheit, Niederlande) als offensichtlich unbegründet zurückgewiesen hat(4), machen die Klägerinnen geltend, dass sie sich im Falle einer Rückkehr in den Irak nicht an die Werte, Normen und Verhaltensweisen anpassen könnten, die Frauen und Mädchen nicht die Freiheiten gewähren, die sie in den Niederlanden genossen hätten und deren Ausübung sie der Gefahr der Verfolgung aussetzen würde. Mit den zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Personen, die sich in der Situation der Klägerinnen befinden, Anspruch auf internationalen Schutz haben können, weil sie Mitglieder einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95/EU(5) sind, und wie das Wohl des Kindes bei der Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz berücksichtigt werden kann.
II. Rechtlicher Rahmen
A. Unionsrecht
2. Art. 10 („Verfolgungsgründe“) der Richtlinie 2011/95 bestimmt:
„(1) Bei der Prüfung der Verfolgungsgründe berücksichtigen die Mitgliedstaaten Folgendes:
a) Der Begriff der Rasse umfasst insbesondere die Aspekte Hautfarbe, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe;
b) der Begriff der Religion umfasst insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme bzw. Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind;
c) der Begriff der Nationalität beschränkt sich nicht auf die Staatsangehörigkeit oder das Fehlen einer solchen, sondern bezeichnet insbesondere auch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die durch ihre kulturelle, ethnische oder sprachliche Identität, gemeinsame geografische oder politische Herkunft oder ihre Verwandtschaft mit der Bevölkerung eines anderen Staates bestimmt wird;
d) eine Gruppe gilt insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn:
– die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und
– die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird.
Je nach den Gegebenheiten im Herkunftsland kann als eine bestimmte soziale Gruppe auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet. Als sexuelle Orientierung dürfen keine Handlungen verstanden werden, die nach dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten als strafbar gelten. Geschlechtsbezogene Aspekte, einschließlich der geschlechtlichen Identität, werden zum Zweck der Bestimmung der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der Ermittlung eines Merkmals einer solchen Gruppe angemessen berücksichtigt;
e) unter dem Begriff der politischen Überzeugung ist insbesondere zu verstehen, dass der Antragsteller in einer Angelegenheit, die die in Artikel 6 genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob der Antragsteller aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist.
(2) Bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, ist es unerheblich, ob der Antragsteller tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.“
B. Niederländische Leitlinien
3. In der Anlage zur Vorlageentscheidung heißt es in Abschnitt C7.2.8(6) des Vreemdelingencirculaire 2000 (C) (im Folgenden: Rundschreiben über ausländische Staatsangehörige 2000 [C]):
„Ein in den Niederlanden entwickelter westlicher Lebensstil begründet grundsätzlich für sich betrachtet weder den Flüchtlingsstatus noch subsidiären Schutz. Erforderlich ist vielmehr eine Anpassung an die Gepflogenheiten in Afghanistan. Zwei Ausnahmen sind denkbar:
– wenn eine Frau plausibel darlegt, dass die westliche Lebensweise Ausdruck einer religiösen oder politischen Überzeugung ist;
– wenn eine Frau plausibel macht, dass sie persönliche Merkmale besitzt, die nur sehr schwer oder gar nicht zu ändern sind, und dass sie aufgrund dieser Merkmale Verfolgung oder unmenschliche Behandlung in Afghanistan befürchtet.“
4. Abschnitt B8.10 („Verwestlichte Schülerinnen“) des Vreemdelingencirculaire 2000 (B) (Rundschreiben über ausländische Staatsangehörige 2000 [B]) bestimmt:
„Der IND [(Immigratie- en Naturalisatiedienst [Immigrations- und Einbürgerungsdienst, Niederlande, im Folgenden: IND])] erteilt westlich orientierten Mädchen eine befristete Aufenthaltserlaubnis …, wenn das Mädchen glaubhaft dargelegt hat, dass es bei einer Rückkehr nach Afghanistan einem unverhältnismäßigen psychosozialen Druck ausgesetzt sein wird.
Der IND beurteilt, ob ein unverhältnismäßiger psychosozialer Druck vorliegt oder nicht, und stützt sich dabei auf folgende Umstände:
a. den Grad der Verwestlichung des Mädchens,
b. individuelle humanitäre Umstände, einschließlich der medizinischen Situation (des Mädchens oder eines Familienmitglieds) und des Todes eines Familienmitglieds des Mädchens in den Niederlanden, und
c. die Möglichkeit der Teilhabe an der Afghanischen Gesellschaft, wozu auch eine Bewertung der Familienzusammensetzung und das Vorhandensein von mächtigen Akteuren (Stammesführer, Kriegsherren) zum Schutz des Mädchens zählt.
Zu a.
Der IND beurteilt den Grad der Verwestlichung auf der Grundlage folgender Umstände:
– das Mädchen ist mindestens zehn Jahre alt,
– das Mädchen hält sich seit mindestens acht Jahren in den Niederlanden auf, und zwar vom Zeitpunkt des ersten Asylantrags für einen bestimmten Zeitraum bis zum Zeitpunkt der Beantragung einer gewöhnlichen Aufenthaltsgenehmigung für einen bestimmten Zeitraum, wie es in diesem Abschnitt beschrieben wird, und
– es hat in den Niederlanden eine Schule besucht.
Erfüllt das Mädchen einen oder mehrere dieser Umstände nicht, so hat es eine erhöhte Beweislast, um glaubhaft zu machen, dass ihm eine befristete Aufenthaltserlaubnis im Rahmen dieses Regelwerks erteilt werden muss.
…“
III. Ausgangsverfahren, Vorlagefragen und Verfahren vor dem Gerichtshof
5. Am 29. September 2015 verließen die Klägerinnen zusammen mit ihrem Vater, ihrer Mutter und ihrer Tante den Irak. Am 7. November 2015 stellten sie bei den niederländischen Behörden Anträge auf internationalen Schutz. Zu diesem Zeitpunkt waren die Klägerinnen zehn bzw. zwölf Jahre alt. Am 31. Juli 2018 lehnte der Raad van State (Staatsrat, Niederlande) diese Anträge endgültig ab. Am 4. April 2019 stellten die Klägerinnen Folgeanträge auf internationalen Schutz. Diese wurden am 21. Dezember 2020 als offensichtlich unbegründet abgelehnt. Am 28. Dezember 2020 erhoben die Klägerinnen Klage beim vorlegenden Gericht gegen diese Bescheide, das hierüber am 17. Juni 2021 mündlich verhandelte. Zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung waren die Klägerinnen 15 und 17 Jahre alt und hatten sich seit fünf Jahren und siebeneinhalb Monaten ununterbrochen in den Niederlanden aufgehalten.
6. Die Klägerinnen machen geltend, dass sie aufgrund ihres langfristigen Aufenthalts in den Niederlanden in der identitätsbildenden Lebensphase einer Person die Werte, Normen und Verhaltensweisen ihrer niederländischen Altersgenossen übernommen hätten. In den Niederlanden seien sie sich der Freiheit bewusst geworden, die sie als Mädchen haben, ihre eigenen Lebensentscheidungen zu treffen. Sie weisen darauf hin, dass sie wie in den Niederlanden weiterhin selbst bestimmen wollten, ob sie Umgang mit Jungen haben, ob sie Sport treiben, ob sie studieren, ob – und wen – sie heiraten und ob sie außer Haus arbeiten möchten. Auch wollten sie selbst entscheiden, welche politischen und religiösen Meinungen sie vertreten, und in der Lage sein, diese in der Öffentlichkeit zu äußern. Da sie auf diese Werte, Normen und Verhaltensweisen im Falle einer Rückkehr in den Irak verzichten müssten, benötigten sie internationalen Schutz.
7. Das vorlegende Gericht ist der Auffassung, dass die Werte, Normen und Verhaltensweisen, auf die sich die Klägerinnen berufen, im Wesentlichen mit einem Glauben an die Gleichstellung der Geschlechter gleichzusetzen seien(7). Es hat zu entscheiden, ob die Klägerinnen als Mitglieder einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 angesehen werden können, ob, wann und wie ein Entscheidungsträger bei einem Antrag auf internationalen Schutz das Wohl des Kindes zu berücksichtigen hat und ob der Schaden, den die Klägerinnen nach eigenen Angaben aufgrund der Belastung erlitten haben, die durch die anhaltende Unsicherheit über ihren Aufenthalt in den Niederlanden und die drohende erzwungene Rückkehr in ihr Herkunftsland verursacht wurde, Berücksichtigung finden soll.
8. Das vorlegende Gericht hat daher das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Ist Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen, dass westliche Normen, Werte und Verhaltensweisen, die Drittstaatsangehörige durch ihren Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats während eines beträchtlichen Teils ihrer identitätsbildenden Lebensphase übernehmen, wobei sie uneingeschränkt am Gesellschaftsleben teilnehmen, als gemeinsamer Hintergrund, der nicht verändert werden kann, bzw. derart bedeutsame Identitätsmerkmale anzusehen sind, dass von den Betroffenen nicht verlangt werden kann, auf sie zu verzichten?
2. Falls die erste Frage zu bejahen ist, sind Drittstaatsangehörige, die – aus welchen Gründen auch immer – vergleichbare westliche Normen und Werte durch einen tatsächlichen Aufenthalt in einem Mitgliedstaat während ihrer identitätsbildenden Lebensphase übernommen haben, als „Mitglieder einer bestimmten sozialen Gruppe“ im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 anzusehen? Ist die Frage, ob eine „bestimmte soziale Gruppe, die in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat“, vorliegt, dabei aus Sicht des Mitgliedstaats zu beurteilen, oder ist dies in Verbindung mit Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen, dass ausschlaggebend ist, dass der Ausländer dartun kann, dass er im Herkunftsland als Teil einer bestimmten sozialen Gruppe angesehen wird bzw. ihm dort jedenfalls die entsprechenden Merkmale zugeschrieben werden? Ist eine Anforderung, wonach eine Verwestlichung die Flüchtlingseigenschaft nur dann begründen kann, wenn diese auf religiösen oder politischen Gründen beruht, mit Art. 10 der Richtlinie 2011/95 in Verbindung mit dem Grundsatz der Nichtzurückweisung und dem Recht auf Asyl vereinbar?
3. Ist eine nationale Rechtspraxis, bei der eine entscheidende Behörde im Rahmen der Beurteilung eines Antrags auf internationalen Schutz das Wohl des Kindes gewichtet, ohne dieses zuerst (in jedem Verfahren) konkret festzustellen (bzw. feststellen zu lassen), mit dem Unionsrecht, insbesondere mit Art. 24 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) in Verbindung mit Art. 51 Abs. 1 der Charta vereinbar? Fällt die Antwort auf diese Frage anders aus, wenn der Mitgliedstaat einen Antrag auf Gestattung des Aufenthalts aus regulären Gründen beurteilen muss und das Wohl des Kindes bei der Entscheidung über diesen Antrag zu berücksichtigen ist?
4. Auf welche Weise und in welchem Stadium der Beurteilung eines Antrags auf internationalen Schutz muss im Licht von Art. 24 Abs. 2 der Charta das Wohl des Kindes, insbesondere der Schaden, den ein Minderjähriger durch einen langfristigen tatsächlichen Aufenthalt in einem Mitgliedstaat erlitten hat, berücksichtigt und gewichtet werden? Ist dabei relevant, ob dieser tatsächliche Aufenthalt rechtmäßig war? Ist es bei der Gewichtung des Kindeswohls im Rahmen dieser Beurteilung von Bedeutung, ob der Mitgliedstaat innerhalb der nach dem Unionsrecht vorgesehenen Entscheidungsfristen über den Antrag auf internationalen Schutz entschieden hat, ob einer zu einem früheren Zeitpunkt auferlegten Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen wurde und ob der Mitgliedstaat die Abschiebung unterlassen hat, nachdem eine Rückkehrentscheidung erlassen wurde, wodurch der tatsächliche Aufenthalt des Minderjährigen in diesem Mitgliedstaat fortgesetzt werden konnte?
5. Ist eine nationale Rechtspraxis, bei der zwischen Erst- und Folgeanträgen auf internationalen Schutz in dem Sinne unterschieden wird, dass reguläre Gründe bei Folgeanträgen auf internationalen Schutz unberücksichtigt bleiben, im Licht von Art. 7 der Charta in Verbindung mit Art. 24 Abs. 2 der Charta mit dem Unionsrecht vereinbar?
9. Die Klägerinnen, die tschechische, die griechische, die französische, die ungarische und die niederländische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Diese Beteiligten und die spanische Regierung haben in der Verhandlung vom 18. April 2023 schriftliche und mündliche Fragen des Gerichtshofs beantwortet.
IV. Würdigung
A. Zur ersten und zur zweiten Frage
10. Ich werde die erste und die zweite Frage gemeinsam prüfen, da beide die Auslegung von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 betreffen.
11. Das vorlegende Gericht möchte im Wesentlichen wissen, ob Drittstaatsangehörige, die während eines beträchtlichen Teils ihrer identitätsbildenden Lebensphase in einem Mitgliedstaat gelebt haben, als Mitglieder einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d erster Gedankenstrich angesehen werden können, weil sie „einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann“, oder „Merkmale … teilen, die so bedeutsam für die Identität … [sind], dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten“. Wird nach dieser Bestimmung vorausgesetzt, dass das Festhalten an bestimmten Werten die Gewährung von internationalem Schutz nur dann rechtfertigt, wenn ihm eine religiöse oder politische Motivation zugrunde liegt? Wie soll das vorlegende Gericht beurteilen, ob die Bedingung in Art. 10 Abs. 1 Buchst. d zweiter Gedankenstrich – dass die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, weil sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird – erfüllt ist?
1. Zusammenfassung der eingegangenen Stellungnahmen
12. Die niederländische Regierung weist darauf hin, dass nach den Leitlinien der IND, die sich auf ein Urteil des Raad van State (Staatsrat)(8) stützen, Frauen mit einem westlichen Lebensstil keiner bestimmten sozialen Gruppe angehören. Sie können jedoch internationalen Schutz erhalten, wenn: i) dieser Lebensstil auf religiösen oder politischen Überzeugungen beruht, die für ihre Identität oder moralische Integrität von entscheidender Bedeutung sind, oder ii) es plausibel ist, dass sie aufgrund von Merkmalen, die praktisch nicht veränderbar sind, von Akteuren in ihrem Herkunftsland verfolgt werden, oder iii) sie in ihrem Herkunftsland der Gefahr einer unmenschlichen Behandlung im Sinne von Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 ausgesetzt sind. Der unter der ersten Bedingung genannte Begriff der für die Identität oder die moralische Integrität bedeutsamen politischen Überzeugung wird weit ausgelegt, so dass darunter die Verfolgung von Frauen, die sich nicht an soziale Bräuche, religiöse Regeln oder kulturelle Normen halten, die eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts enthalten, gefasst werden kann(9).
13. Die tschechische, die griechische, die ungarische und die niederländische Regierung teilen die Auffassung, dass das Vorbringen der Klägerinnen auf der Bevorzugung eines bestimmten Lebensstils beruhe. Auf dieser Grundlage könne internationaler Schutz nach den nationalen Vorschriften zur Umsetzung der Richtlinie 2011/95 nicht gewährt werden. Auch wenn sie sich während eines langen Aufenthalts in einem Mitgliedstaat an das Leben dort angepasst hätten, könne von den Klägerinnen erwartet werden, dass sie sich nach ihrer Rückkehr in ihr Herkunftsland wieder an das dortige Leben anpassten, indem sie sich in gleicher Weise nach den Normen und Gebräuchen ihres Herkunftslands richteten wie andere Einwohner. Der Wunsch nach einem bestimmten Lebensstil sei keine Überzeugung, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sei, dass eine Person nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten. Die Klägerinnen hätten keine gemeinsamen erkennbaren angeborenen Merkmale oder keinen gemeinsamen Hintergrund, da die vermeintliche Kategorie „Frauen und Mädchen, die einen westlichen Lebensstil angenommen haben“ zu weit, zu heterogen und abstrakt sei, als dass auf ihrer Grundlage eine klar abgegrenzte soziale Gruppe im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 angenommen werden könnte. Die Klägerinnen hätten auch keinen Versuch unternommen, darzulegen, warum und inwiefern sie bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland einer Verfolgung ausgesetzt sein würden.
14. Die spanische und die französische Regierung sowie die Kommission sind anderer Meinung. Sie geben zu bedenken, dass Mädchen u. a. aufgrund ihres Geschlechts und ihres Alters – beides angeborene Merkmale – Mitglieder einer bestimmten sozialen Gruppe sein können.
15. In ihren mündlichen Ausführungen trug die spanische Regierung vor, aus der Vorlageentscheidung ergebe sich, dass die Klägerinnen nicht nur gelernt hätten, danach zu streben, sich finanziell oder kulturell zu verbessern. Sie könnten vielmehr als Frauen oder Mädchen beschrieben werden, die eine Lebensweise angenommen hätten, die von der Geltung der Grundrechte ausgehe und es ihnen erlaube, von ihnen Gebrauch zu machen. Sie erfüllten daher die erste Voraussetzung von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95. Ob auch die zweite Voraussetzung dieser Bestimmung – dass die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat – erfüllt sei, hänge von den Umständen in ihrem Herkunftsland ab.
16. Die französische Regierung macht geltend, dass die Tatsache, dass die Betreffenden lange Zeit in einem Mitgliedstaat gelebt hätten, bedeute, dass sie einen gemeinsamen Hintergrund hätten, der nicht verändert werden könne, oder eine geteilte Glaubensüberzeugung, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sei, dass sie nicht gezwungen werden sollten, auf sie zu verzichten. Indem sie sich weiterhin an die in diesem Mitgliedstaat geltenden Werte, Normen und Verhaltensweisen hielten, würden Personen, die diese Merkmale teilten, von der sie umgebenden Gesellschaft in ihrem Herkunftsland als Mitglieder einer deutlich abgegrenzten Gruppe wahrgenommen. So könne z. B. der Widerstand gegen eine Zwangsverheiratung die Klägerinnen einer Verfolgung aussetzen, vor der sie durch die Behörden nicht geschützt würden.
17. Die Kommission macht geltend, dass die Überzeugung, dass Männer und Frauen gleichberechtigt seien, als eine gemeinsame und grundlegende Überzeugung angesehen werden könne. Das Vorhandensein von Gesetzen im Herkunftsland, die Mädchen und Frauen diskriminierten und darauf abzielten, sie unverhältnismäßig zu bestrafen, wenn sie gegen bestimmte Normen und Gebräuche verstießen, deute darauf hin, dass diese Personen in diesem Land Gefahr liefen, als eine deutlich abgegrenzte Gruppe wahrgenommen zu werden.
2. Vorbemerkung
18. Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass es im vorliegenden Fall nicht um „verwestlichte Frauen“ als solche gehe(10). Die Vorlageentscheidung enthält jedoch Verweise auf einen „westlichen Lebensstil“ und „westliche Verhaltensweisen“, was die Verwendung dieser Begriffe im Rundschreiben über ausländische Staatsangehörige 2000 (C) widerspiegeln könnte. Die Beteiligten, die Erklärungen eingereicht haben, waren überwiegend der Ansicht, dass die Begriffe „verwestlicht“ und „westlich“ zu unbestimmt seien, um im Zusammenhang mit Anträgen auf internationalen Schutz verwendet zu werden. Ich stimme dem zu. Mit „Osten“ und „Westen“ werden riesige, ganz unterschiedliche Regionen mit einer Vielzahl von religiösen Traditionen, Moralvorstellungen und Werten bezeichnet. In Ermangelung präziser Definitionen, die vor dem Gerichtshof nicht erörtert wurden, sind Begriffe wie „westlicher Lebensstil“ und „verwestlichte Frauen“ weitgehend bedeutungslos. Noch bedenklicher ist, dass die Verwendung der Begriffe „östlich“ und „westlich“ im Zusammenhang mit Moralvorstellungen und Werten zu einer falschen Dichotomie führt, die Teil eines spaltenden Dialogs ist. In den vorliegenden Schlussanträgen wird daher auf eine Verwendung dieser Begriffe verzichtet.
3. Würdigung
a) Überblick über den rechtlichen Rahmen und Einleitung
19. Das am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichnete Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge(11) (im Folgenden: Genfer Flüchtlingskonvention) trat am 22. April 1954 in Kraft. Es wurde durch das am 31. Januar 1967 in New York abgeschlossene Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge ergänzt, das am 4. Oktober 1967 in Kraft trat(12). Die Genfer Flüchtlingskonvention stellt einen wesentlichen Bestandteil des internationalen Rechtsrahmens für den Schutz von Flüchtlingen dar(13). Alle Mitgliedstaaten sind Vertragsparteien der Genfer Flüchtlingskonvention, die Europäische Union indes ist es nicht.
20. Die Richtlinie 2011/95 dient den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten als Richtschnur, indem sie auf gemeinsame Begriffe verweist, die im Einklang mit der Genfer Flüchtlingskonvention auszulegen sind. In der Präambel dieser Konvention heißt es, dass dem Hohen Kommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (im Folgenden: UNHCR) die Aufgabe obliegt, die Durchführung der internationalen Abkommen zum Schutz der Flüchtlinge zu überwachen. Angesichts der Rolle, die die Genfer Flüchtlingskonvention dem UNHCR zuweist, hat der Gerichtshof festgestellt, dass die Dokumente des UNHCR für die Auslegung der Richtlinie 2011/95 besonders relevant sind(14). Diese Richtlinie ist außerdem in einer Weise auszulegen, die die Achtung der Charta gewährleistet(15).
21. Der internationale Schutz, auf den die Richtlinie 2011/95 Bezug nimmt, ist grundsätzlich einem Drittstaatsangehörigen oder einem Staatenlosen zu gewähren, der eine begründete Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (Flüchtling) hat oder der tatsächlich Gefahr läuft, im Falle einer Rückkehr in sein Herkunftsland einen ernsthaften Schaden zu erleiden (Person mit Anspruch auf subsidiären Schutz)(16).
22. In Art. 10 der Richtlinie 2011/95 sind die Gründe für eine Verfolgung aufgeführt(17). Alle in Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 genannten Anhaltspunkte sind für die Beurteilung der Frage, ob Verfolgungsgründe vorliegen, relevant, und diese Kategorien schließen sich nicht gegenseitig aus(18). Die Verwendung des Wortes „insbesondere“ in den Unterabsätzen dieser Bestimmung deutet darauf hin, dass die dort aufgeführten Erwägungen nicht abschließend sind. Schließlich muss nach ständiger Rechtsprechung jede Entscheidung über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzstatus auf einer individuellen Prüfung beruhen(19).
23. Der UNHCR hat festgestellt, dass die Wendung „Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe“ in Art. 1 A (2) der Genfer Flüchtlingskonvention evolutionär zu lesen ist, auf eine Weise, die offen ist für die vielfältige und sich verändernde Natur der Gruppen in verschiedenen Gesellschaften und für die Entwicklung internationaler Menschenrechtsnormen. Frauen, Familien, Stämme, Berufsgruppen und Homosexuelle wurden von den Staaten bereits als eine bestimmte soziale Gruppe im Sinne der Konvention anerkannt. Je nach den in einer Gesellschaft vorherrschenden besonderen Umständen ist es denkbar, dass eine Frau einen Anspruch auf internationalen Schutz aufgrund ihrer politischen Meinung (wenn der Staat ihr Verhalten als eine politische Äußerung ansieht, die er zu unterdrücken sucht), ihrer Religion (wenn ihr Verhalten auf einer religiösen Überzeugung beruht, die der Staat ablehnt) oder ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe geltend macht(20).
24. Damit eine „bestimmte soziale Gruppe“ im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 vorliegt, müssen zwei kumulative Voraussetzungen erfüllt sein. Erstens müssen die Mitglieder dieser Gruppe „angeborene Merkmale“ oder einen „gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann“, oder ein Merkmal oder eine Überzeugung teilen, „die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten“. Diese Voraussetzungen beziehen sich auf das, was man als die inneren Aspekte einer Gruppe beschreiben kann. Zweitens muss diese Gruppe in dem betreffenden Land aufgrund der Tatsache, dass sie von der sie umgebenden Gesellschaft als „andersartig“ betrachtet wird, eine deutlich abgegrenzte Identität haben(21). Dies beinhaltet ein Element der „sozialen Wahrnehmung“ oder dessen, was man als die äußeren Aspekte einer Gruppe bezeichnen könnte. Für den vorliegenden Zweck ist das „betreffende Land“ das Herkunftsland, hier der Irak, und die „umgebende Gesellschaft“ ist die Gesellschaft dieses Herkunftslands.
b) Interne Aspekte einer Gruppe
25. Aus dem Wortlaut von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Unterabs. 2 der Richtlinie 2011/95 geht deutlich hervor, dass das Geschlecht(22) und geschlechtsbezogene Aspekte für die Feststellung des Vorliegens einer bestimmten sozialen Gruppe von Bedeutung sein können. Unter bestimmten Voraussetzungen kann das Geschlecht ein ausreichendes Kriterium für die Definition einer solchen Gruppe sein(23). Dem UNHCR zufolge sind Frauen ein eindeutiges Beispiel einer sozialen Untergruppe, die durch angeborene Merkmale definiert ist und häufig anders behandelt wird als Männer. In einigen Gesellschaften können Frauen allgemein eine besondere soziale Gruppe darstellen, weil sie bei der Wahrnehmung ihrer Grundrechte im Vergleich zu Männern systematisch diskriminiert werden(24).
26. In der vorliegenden Rechtssache machen die Klägerinnen nicht geltend, dass sie allein aufgrund ihres Geschlechts Anspruch auf internationalen Schutz hätten. Sie tragen vielmehr vor, dass sie nicht auf ihre Werte, Normen und Verhaltensweisen verzichten könnten, die auf ihrem in den Niederlanden angenommenen Glauben an die Gleichstellung der Geschlechter beruhten. Es stellt sich daher die Frage, ob eine solche Überzeugung entweder ein gemeinsames Merkmal oder eine geteilte Glaubensüberzeugung darstellen kann, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen ist, dass eine Person nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten. Zunächst werde ich auf die Bedeutung der Begriffe „Merkmal“ und „Überzeugung“ eingehen, bevor ich die Voraussetzung prüfe, dass es sich um eine geteilte Glaubensüberzeugung handeln muss, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen ist, dass eine Person nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten.
1) Bedeutung der Begriffe „Merkmal“ und „Überzeugung“
27. Im Zusammenhang mit den Werten, Normen und Verhaltensweisen, die sich die Klägerinnen während ihres Aufenthalts in den Niederlanden angeeignet haben wollen, führt das vorlegende Gericht aus, dass die Annahme dieser Werte, Normen und Verhaltensweisen ein „Merkmal“ darstellen könne, das so bedeutsam für die Identität sei, dass von den Betroffenen nicht verlangt werden könne, auf es zu verzichten.
28. Die Richtlinie 2011/95 definiert die in Art. 10 Abs. 1 Buchst. d verwendeten Begriffe „angeborene Merkmale“ und „Merkmale …, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten“ nicht. Im Lexikon wird der Begriff „Merkmal“ einer Person z. B. als „eine Eigenschaft, die typisch für diese Person ist und zu ihrer Identifizierung dient“, definiert. „Angeboren“ bedeutet „durch Faktoren bestimmt, die bei einer Person von Geburt an vorhanden sind“. Beispiele für angeborene Merkmale sind die Größe einer Person, ihre Augenfarbe und ihre genetische Veranlagung. Die Richtlinie 2011/95 nennt als einziges Beispiel eines „gemeinsamen Merkmals“ die sexuelle Orientierung(25).
29. Diese Definitionen führen mich zu dem Schluss, dass die Annahme bestimmter Werte, Normen und Verhaltensweisen nicht als ein „Merkmal“ bezeichnet werden kann(26). Der Begriff „Überzeugung“, der „die Anerkennung oder das Gefühl, dass etwas wahr ist“, bedeutet, scheint im Fall der Klägerinnen der passendere zu sein.
30. In Anbetracht des von der niederländischen Regierung vertretenen Standpunkts ist sodann zu fragen, ob die geteilte Glaubensüberzeugung im Sinne des ersten Gedankenstrichs von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 als eine stillschweigende Verweisung auf eine religiöse oder politische Überzeugung zu verstehen ist. Die Kommission weist darauf hin, dass die Verwendung des Wortes „Glaubensüberzeugung“ in der deutschen Sprachfassung einen gewissen Zweifel daran aufkommen lassen kann, ob die fragliche Überzeugung religiöser Natur sein muss.
31. Art. 10 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95, der die Verfolgung aus Gründen der Religion betrifft, nimmt Bezug auf „theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen“. So werden z. B. in der deutschen, der englischen, der französischen und der niederländischen Sprachfassung dieses Artikels der Richtlinie 2011/95 die Begriffe „religiöse Überzeugung“, „religious belief“, „croyances religieuses“ und „godsdienstige overtuiging“ verwendet. Demgegenüber ist der in Buchst. d dieses Artikels verwendete Begriff „Glaubensüberzeugung“, „belief“, „croyance“ und „geloof“ in den genannten jeweiligen Sprachfassungen.
32. Art. 10 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2011/95, der die politische Verfolgung betrifft, verweist auf das Vertreten einer Meinung, einer Grundhaltung oder Überzeugung in einer Angelegenheit, die die in Art. 6 genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft.
33. Art. 10 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 bezieht sich somit auf theistische, nicht theistische und atheistische Glaubensüberzeugungen; Art. 10 Abs. 1 Buchst. e nimmt Bezug auf politische Überzeugungen, Grundhaltungen oder Überzeugungen; Art. 10 Abs. 1 Buchst. d schließlich bezieht sich auf Glaubensüberzeugungen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten(27). Auf dieser Grundlage scheint es keine textlichen oder kontextuellen Hinweise für die Annahme zu geben, dass die Grundlage einer Überzeugung im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d religiöser oder politischer Natur sein muss(28). Eine gegenteilige Auslegung verkennt darüber hinaus, dass es innerhalb einer bestimmten Religionsgemeinschaft unterschiedliche Ansichten zu grundlegenden Fragen geben und eine Person ihre Ansichten zu diesen Fragen ändern kann, ohne zu einer anderen Religion überzutreten(29).
2) Handelt es sich bei der fraglichen Überzeugung um eine geteilte Glaubensüberzeugung, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen ist, dass eine Person nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten?
34. Der Glaube an die Gleichstellung der Geschlechter prägt eine Reihe von Entscheidungen im Zusammenhang mit dem Bildungsweg und der Berufswahl, dem Ausmaß und der Art der Aktivitäten im öffentlichen Raum, der Möglichkeit, durch eine außerhäusliche Tätigkeit wirtschaftliche Unabhängigkeit zu erlangen, der Entscheidung, ob man allein oder mit einer Familie leben möchte, und der freien Partnerwahl. Diese Fragen sind für die Identität des Einzelnen von grundlegender Bedeutung(30).
35. In Art. 2 und Art. 3 Abs. 3 EUV ist die Gleichstellung der Geschlechter als einer der zentralen Werte und Ziele der Union verankert, und in der Rechtsprechung des Gerichtshofs wird sie als Grundprinzip des Unionsrechts anerkannt. In Art. 8 AEUV heißt es, dass die Union bei allen ihren Tätigkeiten darauf hinwirkt, Ungleichheiten zu beseitigen und die Gleichstellung von Männern und Frauen zu fördern. Art. 19 AEUV ermöglicht es der Union, gesetzliche Vorschriften zur Bekämpfung der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu erlassen. Art. 157 AEUV legt den Grundsatz des gleichen Entgelts bei gleichwertiger Arbeit fest und bietet eine Rechtsgrundlage für den Erlass von Gleichstellungsvorschriften im Bereich der Beschäftigung. In Art. 157 Abs. 4 AEUV werden positive Maßnahmen als Mittel zur Verwirklichung der Gleichstellung von Männer und Frauen anerkannt.
36. Seit der Verabschiedung der ersten Richtlinien in diesem Bereich in den 1970er Jahren hat die Europäische Union eine umfangreiche Gesetzgebung zur Gleichstellung von Männern und Frauen auf den Weg gebracht, vor allem im Bereich der Beschäftigung, einschließlich der Fragen des gleichen Entgelts, der sozialen Sicherheit, der Arbeitsverhältnisse und ‑bedingungen sowie der Belästigung(31). Diese Rechtsvorschriften verbieten die unmittelbare und mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts und schaffen einklagbare Rechte für den Einzelnen in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten(32).
37. Die Werte, Normen und Verhaltensweisen, die sich die Klägerinnen während ihres Aufenthalts in den Niederlanden angeeignet haben wollen, spiegeln sich auch in einer Reihe von Grundrechten wider, die nunmehr in der Charta verankert sind. Art. 21 Abs. 1 beinhaltet das Recht, nicht aufgrund des Geschlechts diskriminiert zu werden. In Art. 23 wird die Gleichheit von Männern und Frauen in allen Bereichen, einschließlich der Beschäftigung, der Arbeit und des Arbeitsentgelts anerkannt(33). Art. 9 verweist auf das Recht, nach freier Wahl eine Ehe einzugehen. Art. 11 sieht die Freiheit der Meinungsäußerung vor. In Art. 14 ist das Recht auf Bildung sowie auf Zugang zur beruflichen Ausbildung und Weiterbildung verankert, und Art. 15 garantiert das Recht, zu arbeiten und einen Beruf zu wählen(34). Die Mitgliedstaaten sind auch Vertragsparteien des Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau, das die gleichberechtigte Anerkennung, Inanspruchnahme und Ausübung aller Menschenrechte der Frau im politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen, zivilen und häuslichen Bereich fördern soll(35).
38. Ich zweifle nicht daran, dass viele Menschen, die ihr Leben in den Niederlanden verbracht haben, vom Wert der Gleichstellung der Geschlechter so sehr beeinflusst sind, dass er einen unauslöschlichen Teil ihrer Identität bildet.
39. In Anbetracht dieser Erwägungen bin ich der Auffassung, dass von Mädchen und Frauen, die Werte, Normen und Verhaltensweisen angenommen haben, die den Glauben an die Gleichstellung der Geschlechter widerspiegeln, nicht erwartet werden kann, dass sie diesen Glauben aufgeben, ebenso wenig wie von einer Person erwartet werden kann, dass sie ihre religiösen oder politischen Überzeugungen aufgibt oder ihre sexuelle Orientierung verleugnet. Daraus folgt, dass die Mitgliedstaaten nicht davon ausgehen können, dass Mädchen und Frauen ihr Verhalten anpassen, indem sie sich diskret verhalten, nur um nicht in Gefahr zu geraten, zumal die von der Überzeugung der Gleichstellung der Geschlechter geprägten Aspekte der Identität naturgemäß häufig in der Öffentlichkeit zum Ausdruck kommen(36). Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie im Zusammenhang mit Homosexuellen keine Beschränkungen vorsieht, was die Haltung der Mitglieder der bestimmten sozialen Gruppe in Bezug auf ihre Identität oder ihre Verhaltensweisen betrifft(37).
40. Die sich dann stellende Frage ist, ob die Klägerinnen eine Glaubensüberzeugung in Bezug auf die Gleichstellung der Geschlechter so gründlich akzeptiert und verinnerlicht haben, dass sie Teil ihrer Identität geworden ist(38). In Anbetracht des Alters der Klägerinnen und der Dauer ihres Aufenthalts in den Niederlanden stellt das vorlegende Gericht mit gewissem Recht fest, dass sie einen beträchtlichen Teil ihrer identitätsbildenden Lebensphase in diesem Mitgliedstaat verbracht haben(39). Ich habe keinen Zweifel, dass die Begegnung mit der Kultur dieses Mitgliedstaats eine tiefgreifende Erfahrung war, die ihnen Möglichkeiten und Perspektiven für ihre Zukunft eröffnete, deren sie sich andernfalls vielleicht nicht bewusst geworden wären. Es ist daher plausibel, dass sie im Gegensatz zu Gleichaltrigen im Irak, die diese Erfahrung nicht gemacht haben, einen Lebensstil angenommen haben, der Ausdruck der Anerkennung und der Ausübung ihrer Grundrechte ist, insbesondere ihrer Überzeugung von der Gleichstellung der Geschlechter, so dass sie diese Überzeugung so gründlich akzeptiert und verinnerlicht haben, dass sie zu einem Teil ihrer Persönlichkeit geworden ist. Inwieweit dies der Fall ist, müssen die zuständigen Behörden und letztlich die nationalen Gerichte anhand der individuellen Umstände der Klägerinnen beurteilen, wobei sie gegebenenfalls die in Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 genannten Erwägungen zu berücksichtigen haben(40).
c) Externe Merkmale einer Gruppe
41. Trotz einiger Unklarheiten möchte das vorlegende Gericht offenbar im Wesentlichen wissen, wie die zuständigen Behörden und die nationalen Gerichte feststellen sollen, ob das Erfordernis von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d zweiter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 erfüllt ist, nämlich dass eine bestimmte soziale Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Diese Frage betrifft die Beweislast und die materiell-rechtliche Beurteilung des Vorbringens der Klägerinnen.
1) Beweislast
42. Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 bestimmt, dass Anträge auf internationalen Schutz individuell zu prüfen sind und dabei u. a. Folgendes zu berücksichtigen ist: a) alle mit dem Herkunftsland verbundenen Tatsachen, einschließlich der Rechts- und Verwaltungsvorschriften des Herkunftslandes und der Weise, in der sie angewandt werden; b) die maßgeblichen Angaben des Antragstellers und die von ihm vorgelegten Unterlagen, und c) die individuelle Lage und die persönlichen Umstände des Antragstellers. Nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 können die Mitgliedstaaten es als Pflicht des Antragstellers betrachten, so schnell wie möglich alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte darzulegen, einschließlich der Gründe für diesen Antrag(41). Die Antragsteller müssen daher die Gründe, weshalb sie eine Verfolgung in ihrem Herkunftsland befürchten, darlegen und glaubhaft machen.
43. Beinhaltet dieses Erfordernis eine Pflicht, glaubhaft zu machen, dass die bestimmte soziale Gruppe, der der Antragsteller nach eigenen Angaben angehört, in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, weil sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig wahrgenommen wird, wie es die niederländische Regierung zu vertreten scheint? Ich meine, nein. Die Erklärungen, die der Antragsteller gemäß Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 zur Begründung eines Antrags auf internationalen Schutz abzugeben hat, sind nur der Ausgangspunkt für die Prüfung der Tatsachen und Umstände durch die zuständigen Behörden. Nach dieser Bestimmung ist der Mitgliedstaat auch verpflichtet, unter Mitwirkung des Antragstellers die für seinen Antrag maßgeblichen Anhaltspunkte zu prüfen(42).
44. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs hat das Erfordernis der Mitwirkung des Mitgliedstaats an der Prüfung in der Praxis zur Folge, dass der Mitgliedstaat, wenn die von einem Antragsteller auf internationalen Schutz vorgetragenen Anhaltspunkte aus irgendeinem Grund unvollständig, nicht aktuell oder nicht maßgeblich sind, verpflichtet ist, diesen bei der Zusammenstellung aller zur Begründung seines Antrags geeigneten Anhaltspunkte zu unterstützen. Die Mitgliedstaaten haben im Übrigen möglicherweise eher Zugang zu bestimmten Arten von Unterlagen als der Antragsteller(43). Die Beweislast dafür, dass eine bestimmte soziale Gruppe in einem bestimmten Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, scheint somit gleichermaßen den Antragsteller und den Mitgliedstaat zu treffen und gerade nicht ausschließlich den Ersteren. In diesem Zusammenhang ist auch daran zu erinnern, dass Aussagen des Antragstellers, für die Unterlagen oder sonstige Beweise fehlen, nach Art. 4 Abs. 5 der Richtlinie 2011/95 u. a. dann keines Nachweises bedürfen, wenn die Aussagen des Antragstellers kohärent und plausibel sind und zu den für seinen Fall relevanten, verfügbaren besonderen und allgemeinen Informationen nicht in Widerspruch stehen.
45. Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 sieht vor, dass es bei der Beurteilung der Frage, ob die Furcht eines Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, unerheblich ist, ob er die Merkmale, die zur Verfolgung führen, tatsächlich aufweist, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden(44). Aus dem Wortlaut dieser Bestimmung geht hervor, dass sie zur Anwendung kommt, sobald festgestellt worden ist, dass eine bestimmte soziale Gruppe existiert. Anders als das vorlegende Gericht meint, ersetzt die Beurteilung der Wahrnehmung der Verfolger nicht die Feststellung, ob eine Gruppe im Herkunftsland eine deutlich abgegrenzte Identität hat, oder macht sie weniger wichtig. Sie wirkt sich nur auf die Anforderungen aus, die an den Nachweis dafür gestellt werden, dass der Antragsteller Mitglied dieser sozialen Gruppe ist, da es für die Zwecke des Antrags auf internationalen Schutz ausreichen kann, dass er lediglich als solches wahrgenommen wird(45).
2) Materiell-rechtliche Bewertung
46. Der Gerichtshof hat anerkannt, dass das Vorhandensein von strafrechtlichen Bestimmungen, die sich speziell gegen Homosexuelle richten, die Feststellung stützen kann, dass diese Personen eine gesonderte Gruppe bilden, die von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig wahrgenommen wird. Entsprechend kann die Tatsache, dass die Gesellschaft ein bestimmtes Verhalten von Männern akzeptiert, während das gleiche Verhalten von Frauen bestraft wird, ein Hinweis darauf sein, dass die sie umgebende Gesellschaft Frauen oder bestimmte Kategorien von Frauen als andersartig wahrnimmt. Die zuständigen Behörden müssen daher die gesetzlichen Vorschriften sowie die gesellschaftlichen Konventionen und die in der jeweiligen Kultur verankerten Vorstellungen im Herkunftsland des Antragstellers berücksichtigen(46).
47. Im jüngsten länderspezifischen Leitfaden der Asylagentur der Europäischen Union (im Folgenden: EUAA)(47) für den Irak werden Personengruppen genannt, die von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig wahrgenommen werden. Nach diesem länderspezifischen Leitfaden können Personen, insbesondere Frauen, die gegen die gesellschaftlichen Konventionen verstoßen, als unmoralisch wahrgenommen werden, sie werden stigmatisiert und laufen Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden(48). Zu diesen Verstößen sollen sexuelle Beziehungen außerhalb der Ehe, Vergewaltigung oder andere Formen sexueller Gewalt, die Weigerung, einen von der Familie ausgewählten Mann zu heiraten(49), die Heirat gegen den Willen der Familie, ein unangemessenes Erscheinungsbild oder unangemessene Kleidung sowie inakzeptable Kontakte oder eine inakzeptable Partnersuche gehören. Akzeptable Arbeitsplätze für Frauen sollen auf haushaltsnahe Bereiche und Regierungsstellen beschränkt sein. Die Arbeit von Frauen und Mädchen in Geschäften, Cafés, in der Unterhaltungsbranche, in der Krankenpflege oder im Transportwesen ist gesellschaftlich verpönt. Das öffentliche Auftreten von Frauen, einschließlich ihrer Präsenz oder ihrer Aktivitäten im Internet, kann Belästigungen zur Folge haben. Frauen können von der Teilnahme an Demonstrationen ausgeschlossen werden, weil ihre Familien befürchten, negativ wahrgenommen zu werden. Als Folge sexueller Diffamierung werden sie möglicherweise gesellschaftlich stigmatisiert, oder es wird ihnen vorgeworfen, dass sie die Familienehre verletzt hätten(50).
48. Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass man von Mädchen und Frauen, die an die Gleichstellung der Geschlechter glauben, aufgrund der Bekundung dieser Überzeugung möglicherweise annimmt, dass sie gegen die im Irak geltenden Moralvorstellungen verstoßen, z. B. durch Äußerungen oder Verhaltensweisen im Zusammenhang mit Entscheidungen in Bereichen wie Bildung, Karriere und außerhäuslicher Arbeit, den Umfang und die Art von Aktivitäten im öffentlichen Raum, durch Entscheidungen darüber, ob sie allein oder mit einer Familie leben wollen, und die freie Wahl des Partners. Es ist Sache der zuständigen Behörden und der nationalen Gerichte, zu prüfen, ob dies auf die Klägerinnen in ihrer individuellen Situation tatsächlich zutrifft.
d) Verfolgung
49. Ein Teil der Beteiligten, die Stellungnahmen eingereicht haben, hat geltend gemacht, dass die Klägerinnen keine Beweise dafür vorgelegt hätten, dass sie bei ihrer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat Verfolgungen ausgesetzt wären. Dies ist eine andere, wenn auch mit der Entscheidung darüber zusammenhängende(51) Frage, ob sie Mitglieder einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 sind. Das vorlegende Gericht möchte nicht wissen, wie die Bestimmungen dieser Richtlinie, die sich speziell auf die Beurteilung einer begründeten Furcht vor Verfolgung beziehen, auszulegen sind. Es genügt der Hinweis, dass die Mitgliedstaaten gemäß Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 bei der Prüfung der Frage, ob ein Antragsteller begründete Furcht vor Verfolgung hat, u. a. die allgemeinen Umstände in dem betreffenden Teil des Herkunftslandes berücksichtigen müssen. Zu diesem Zweck müssen sie genaue und aktuelle Informationen aus einschlägigen Quellen wie dem UNHCR und der EUAA einholen.
50. Der jüngste länderspezifische Leitfaden für den Irak weist darauf hin, dass Mädchen und Frauen, die gegen Moralvorstellungen der Gesellschaft verstoßen, Handlungen ausgesetzt sein können, die so schwerwiegend sind, dass sie einer Verfolgung gleichkommen(52). Es ist daher möglich, dass die Klägerinnen und/oder ihre unmittelbare Familie aufgrund der Tatsache, dass sie in dieser Hinsicht als andersartig wahrgenommen werden(53), Vergeltungsmaßnahmen ausgesetzt sind, die eine Verfolgung im Sinne von Art. 9 der Richtlinie 2011/95 darstellen. Die Wahrscheinlichkeit und die Schwere dieser Risiken sind wiederum von den zuständigen Behörden und den nationalen Gerichten unter Berücksichtigung der Umstände, in denen sich die Klägerinnen befinden, zu beurteilen.
B. Zur dritten Frage
51. Die dritte Frage besteht aus zwei Teilen. Erstens möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob das Unionsrecht die entscheidende Behörde bei einem Antrag auf internationalen Schutz verpflichtet, das Wohl des Kindes im Sinne von Art. 24 Abs. 2 der Charta festzustellen und zu berücksichtigen. Zweitens möchte es wissen, ob die Antwort auf den ersten Teil dieser Frage anders ausfiele, wenn das Wohl des Kindes bei einer, wie es heißt, „Gestattung des Aufenthalts aus regulären Gründen“ zu berücksichtigen ist.
52. In diesem Zusammenhang ist von Bedeutung, dass es in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahren um Folgeanträge und nicht um Erstanträge auf internationalen Schutz geht(54).
1. Zum ersten Teil
53. Art. 2 Buchst. k der Richtlinie 2011/95 definiert einen Minderjährigen, d. h. ein Kind, als „einen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen unter 18 Jahren“.
54. Art. 24 Abs. 2 und Art. 51 Abs. 1 der Charta bekräftigen den grundlegenden Charakter der Rechte des Kindes und die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, diese Rechte bei der Durchführung des Rechts der Union zu achten. Die Richtlinie 2011/95 muss daher im Licht von Art. 24 Abs. 2 der Charta ausgelegt und angewandt werden(55). Dies spiegelt sich im 16. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95 wider, wonach diese Richtlinie darauf abzielt, die Anwendung u. a. von Art. 24 der Charta zu fördern, und ihrem 18. Erwägungsgrund, wonach die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung dieser Richtlinie das Wohl des Kindes im Einklang mit dem Übereinkommen der Vereinten Nationen von 1989 über die Rechte des Kindes(56) vorrangig berücksichtigen sollten. Bei der Beurteilung des Kindeswohls sollten die Mitgliedstaaten insbesondere dem Grundsatz der Einheit der Familie, dem Wohlergehen und der sozialen Entwicklung des Kindes, Sicherheitsaspekten und den Ansichten des Kindes unter Berücksichtigung seines Alters und seines Reifegrads gebührend Rechnung tragen.
55. Nach Art. 4 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 2011/95 ist ein Antrag auf internationalen Schutz individuell zu prüfen, wobei der individuellen Lage und den persönlichen Umständen des Antragstellers, einschließlich solcher Faktoren wie familiärer und sozialer Hintergrund, Geschlecht und Alter, Rechnung zu tragen ist, um bewerten zu können, ob in Anbetracht seiner persönlichen Umstände die Handlungen, denen er ausgesetzt war oder ausgesetzt sein könnte, einer Verfolgung oder einem sonstigen ernsthaften Schaden gleichkommen. Nach Art. 9 Abs. 2 Buchst. f der Richtlinie können Verfolgungshandlungen u. a. die Form von Handlungen annehmen, die gegen Kinder gerichtet sind(57).
56. In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen und der Rechtsprechung des Gerichtshofs(58) bin ich der Auffassung, dass das Wohl des Kindes im Einzelfall zu bestimmen und bei der Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz, einschließlich Folgeanträgen, zu berücksichtigen ist.
57. Die niederländische Regierung hat vorgetragen, dass die zuständigen niederländischen Behörden das Wohl des Kindes hinreichend berücksichtigten, weil es sich in allen verfahrensrechtlichen Aspekten der Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz, der Kinder betreffe oder an dem Kinder beteiligt seien, widerspiegle, z. B. durch die Anwendung kindgerechter Anhörungsverfahren(59).
58. Der Rückgriff auf kindgerechte Verfahrensgarantien ist von großer praktischer Bedeutung. Dennoch ergibt sich weder aus Art. 24 der Charta noch aus den Art. 3, 9, 12 und 13 des Übereinkommens über die Rechte des Kindes, auf dem diese Bestimmung der Charta beruht, noch aus der Richtlinie 2011/95 oder aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass das Wohl des Kindes bei der Beurteilung der Begründetheit von Anträgen, die Kinder betreffen, nicht berücksichtigt werden sollte. In Art. 24 Abs. 2 der Charta selbst heißt es, dass das Wohl des Kindes bei „allen“ Maßnahmen, die Kinder betreffen, berücksichtigt werden „muss“(60). Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist es nur durch eine umfassende und eingehende Beurteilung der Situation des betreffenden Kindes möglich, das Wohl des Kindes zu ermitteln(61). In diesem Zusammenhang kann der Rat eines Sachverständigen hilfreich oder sogar notwendig sein. Die Kommission erinnert zu Recht daran, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 10 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 sicherstellen müssen, dass Entscheidungen über einen Antrag auf internationalen Schutz nach angemessener Prüfung getroffen werden und dass die für die Prüfung und Entscheidung der Anträge zuständigen Bediensteten die Möglichkeit erhalten, in u. a. kinderspezifischen Fragen den Rat von Sachverständigen einzuholen, wann immer dies erforderlich ist(62).
59. Ich möchte hinzufügen, dass in Fällen, in denen sich die Lebensumstände oder der Gesundheitszustand eines Kindes zwischen dem Zeitpunkt der Prüfung seines Erstantrags auf internationalen Schutz und einem Folgeantrag wesentlich verändert haben, eine erneute Beurteilung des Kindeswohls angebracht sein kann, um Letzteres zu bestimmen(63).
60. Entscheidungen über den genauen Zeitpunkt und die Art und Weise, wie derartige Fragen geprüft und berücksichtigt werden, werden von den Mitgliedstaaten im Rahmen ihrer Verfahrensautonomie getroffen, wobei der Äquivalenzgrundsatz und der Effektivitätsgrundsatz zu beachten sind(64).
61. Daher ist für eine Entscheidung über den Antrag eines Minderjährigen auf internationalen Schutz oder eine Entscheidung, die einen Minderjährigen betrifft oder erhebliche Folgen für ihn hat(65), eine Bewertung des Wohls des Kindes erforderlich, die den Anforderungen der Richtlinie 2011/95 in Verbindung mit Art. 24 Abs. 2 und Art. 51 Abs. 1 der Charta entspricht. Bei einer solchen angemessenen Beurteilung können Faktoren wie das Lebensalter des Kindes, das Entwicklungsalter, das Geschlecht, die besondere Schutzbedürftigkeit, die familiäre Situation, das Bildungsniveau und der physische und psychische Gesundheitszustand Berücksichtigung finden(66).
62. In diesem Zusammenhang schließe ich mich den Ausführungen der tschechischen, der ungarischen und der niederländischen Regierung an, wonach das Wohl des Kindes nur ein Gesichtspunkt bei der Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz ist, wenn auch ein entscheidender. Es ist wichtig, daran zu erinnern, dass das Ziel der Richtlinie 2011/95 darin besteht, Personen zu erfassen, die wegen besonderer Umstände tatsächlich internationalen Schutz in der Europäischen Union benötigen und rechtmäßig darum ersuchen. Internationaler Schutz steht nur Flüchtlingen und Personen mit Anspruch auf subsidiären Schutz im Sinne von Art. 2 Buchst. d bzw. Buchst. f der Richtlinie zu. Innerhalb dieses rechtlichen Rahmens müssen die zuständigen Behörden das Wohl des Kindes vorrangig berücksichtigen(67), und es liefe der allgemeinen Systematik und den Zielen der Richtlinie 2011/95 zuwider, die in dieser Richtlinie vorgesehenen Rechtsstellungen Drittstaatsangehörigen zuzuerkennen, die sich in Situationen befinden, die keinen Zusammenhang mit dem Zweck des internationalen Schutzes aufweisen(68).
63. Als Beispiel für einen Antrag auf internationalen Schutz, bei dem dem Wohl des Kindes eine besondere Bedeutung zukommt, denke ich an Fälle, in denen die besondere geistige oder körperliche Schutzbedürftigkeit des Kindes darauf hindeutet, dass Handlungen, die nicht als Verfolgung gelten würden, wenn sie ein anderes Kind, das nicht diese Art von Verletzlichkeit aufweist, oder einen Erwachsenen beträfen, unter Berücksichtigung anderer relevanter Umstände wie der Verfügbarkeit familiärer Unterstützung im Herkunftsland schwerwiegendere Auswirkungen auf dieses Kind hätten, so dass sie Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 der Richtlinie 2011/95 gleichkämen. Das Wohl des Kindes ist auch im Zusammenhang mit kinderspezifischen Formen der Verfolgung besonders relevant(69).
64. Ein solcher Sachverhalt unterscheidet sich eindeutig von denjenigen Umständen, die im Urteil M’Bodj(70) gegeben waren, in dem der Gerichtshof entschied, dass das Fehlen einer angemessenen medizinischen Versorgung im Herkunftsland eines Antragstellers keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung darstellt, es sei denn, einem Antragsteller, der an einer schweren Krankheit leidet, wird die medizinische Versorgung absichtlich verweigert, und dass es einem Mitgliedstaat verwehrt ist, Bestimmungen zu erlassen oder beizubehalten, mit denen die Rechtsstellung einer Person mit Anspruch auf subsidiären Schutz einem an einer schweren Krankheit leidenden Drittstaatsangehörigen wegen der Gefahr der Verschlechterung seines Gesundheitszustands, die auf das Fehlen einer angemessenen Behandlung in seinem Herkunftsland zurückzuführen ist, zuerkannt wird.
65. All diese Fragen sind wiederum von den zuständigen Behörden und letztlich von den nationalen Gerichten im Rahmen der individuellen Anträge auf internationalen Schutz zu prüfen.
2. Zum zweiten Teil
66. Der Art und Weise, wie das vorlegende Gericht den zweiten Teil der dritten Frage formuliert hat, entnehme ich, dass es keiner Antwort bedarf, wenn die Antwort auf den ersten Teil der Frage lautet, dass das Unionsrecht die entscheidende Behörde verpflichtet, bei der Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz das Wohl des Kindes festzustellen und zu berücksichtigen.
67. Jedenfalls ist anhand der Vorlageentscheidung schwer zu verstehen, inwiefern es in der beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtssache einen tatsächlichen oder logischen Zusammenhang zwischen den Vorgängen in Verfahren über einen „Antrag auf Gestattung des Aufenthalts aus regulären Gründen“, die nach Ansicht der niederländischen Regierung nicht Gegenstand des Unionsrechts sind(71), und den Anträgen auf internationalen Schutz, die sich nach dem nationalen Recht zur Umsetzung der Richtlinie 2011/95 richten, geben kann. Die französische und die ungarische Regierung sowie die Kommission sind der Ansicht, dass die Vorlageentscheidung insbesondere in Bezug auf den Begriff „Antrag auf Gestattung des Aufenthalts aus regulären Gründen“ keine hinreichenden Angaben enthalte, so dass der Gerichtshof den zweiten Teil der dritten Frage nicht sinnvoll beantworten könne. Darüber hinaus hat der Vertreter der Klägerinnen in der mündlichen Verhandlung auf eine Frage des Gerichtshofs hin bestätigt, dass es im vorliegenden Verfahren nur um Anträge auf internationalen Schutz und nicht um „Anträge auf Gestattung des Aufenthalts aus regulären Gründen“ geht. Dies untermauert das Vorbringen der niederländischen Regierung, dass der zweite Teil der dritten Frage für die Entscheidung der beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtssachen nicht relevant sei. Aus den vorstehenden Gründen empfehle ich dem Gerichtshof daher, den zweiten Teil der dritten Frage als unzulässig anzusehen, und schlage vor, ihn nicht weiter zu prüfen(72).
C. Zur vierten Frage
68. Die vierte Frage bezieht sich speziell auf den Schaden, den ein Minderjähriger infolge eines langen Aufenthalts in einem Mitgliedstaat möglicherweise erleidet, und darauf, wann dieser gegebenenfalls bei der materiell-rechtlichen Beurteilung eines Folgeantrags auf internationalen Schutz zu berücksichtigen ist. Das vorlegende Gericht gibt zu bedenken, dass es für die Entscheidung von Bedeutung sein könne, ob über einen Erstantrag innerhalb der im Unionsrecht vorgesehenen Fristen entschieden worden war, ob der Aufenthalt des Antragstellers in dem Mitgliedstaat rechtmäßig war und ob eine zuvor auferlegte Rückkehrverpflichtung erfüllt oder vollstreckt wurde.
69. Laut Vorlageentscheidung machen die Klägerinnen geltend, dass sie aufgrund des Stresses, dem sie aufgrund der Ungewissheit über den Erfolg der Erstanträge ihrer Familie auf internationalen Schutz und der drohenden Zwangsrückführung in ihr Herkunftsland ausgesetzt gewesen seien, Entwicklungsverzögerungen bzw. ‑schäden erlitten hätten, und traten für diese Behauptungen Beweis an. Mit Ausnahme des Vertreters der Klägerinnen sind alle Beteiligten, die auf die vierte Frage geantwortet haben, der Ansicht, dass über einen Folgeantrag auf internationalen Schutz nicht unter Bezugnahme auf diese Art von Schaden entschieden werden sollte.
70. Es steht außer Zweifel, dass ein Leben in ständiger Ungewissheit und Bedrohung zu Stress führt, der bei Kindern Entwicklungsverzögerungen oder ‑schäden hervorrufen kann(73). Dies ist jedoch für sich genommen kein Faktor, der einen Anspruch auf internationalen Schutz nach der Richtlinie 2011/95 begründen oder ein milderes Vorgehen bei der Prüfung eines entsprechenden Antrags rechtfertigen kann, wie das vorlegende Gericht anzunehmen scheint. Die Eltern der Klägerinnen haben die Entscheidung getroffen, dass es im Interesse ihrer Kinder sei, die verfügbaren Rechtsbehelfe im Rahmen des Erstantrags der Familie auf internationalen Schutz auszuschöpfen und Folgeanträge im Namen ihrer Kinder zu stellen. Nichts deutet darauf hin, dass die Bearbeitung dieser Anträge und die Entscheidung über diese Rechtsbehelfe mehr Zeit in Anspruch genommen hätten, als vernünftigerweise zu erwarten gewesen wäre. Die Entscheidung der Eltern der Klägerinnen hatten die unvermeidliche Folge, dass sich der Aufenthalt der Familie in den Niederlanden verlängerte. Es ist davon auszugehen, dass die Eltern die Folgen ihrer Entscheidungen für das Wohlergehen ihrer Kinder in Anbetracht dieser Umstände bedacht haben. Es ist anzunehmen, dass sie diese Entscheidungen in der Überzeugung getroffen haben, dass es für ihre Kinder besser sei, in den Niederlanden zu bleiben, als in den Irak zurückzukehren. Dies mag keine ideale Wahl gewesen sein, nach dem eigenen Vortrag der Klägerinnen kann jedoch kaum angenommen werden, dass sie einen größeren Schaden erlitten haben, als es der Fall gewesen wäre, wenn ihre Eltern beschlossen hätten, mit ihnen in den Irak zurückzukehren.
71. Schließlich müssen bei Entscheidungen über Anträge auf internationalen Schutz, die einen Minderjährigen betreffen, sein Entwicklungsalter und der Zustand seiner körperlichen und geistigen Gesundheit im Zeitpunkt dieser Beurteilung berücksichtigt werden. Die Umstände, die sich möglicherweise nachteilig auf die Entwicklung oder die Gesundheit des Kindes ausgewirkt haben, sind in diesem Zusammenhang unerheblich.
D. Zur fünften Frage
72. Mit seiner fünften Frage möchte das vorlegende nationale Gericht wissen, ob eine nationale Rechtspraxis, bei der zwischen Erst- und Folgeanträgen auf internationalen Schutz in dem Sinne unterschieden wird, dass reguläre Gründe bei Folgeanträgen auf internationalen Schutz unberücksichtigt bleiben, im Licht von Art. 7 in Verbindung mit Art. 24 Abs. 2 der Charta mit dem Unionsrecht vereinbar ist.
73. Inwiefern ein Zusammenhang mit dem Unionsrecht besteht und weshalb die vorliegende Frage im Rahmen des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens – es geht darin um Folgeanträge auf internationalen Schutz und nicht um Anträge auf Gestattung des Aufenthalts aus regulären Gründen, die nach Ansicht der niederländischen Regierung nicht unter das Unionsrecht fallen – erheblich sein soll, ist schwer zu erkennen. Ich empfehle daher dem Gerichtshof, die vorliegende Frage aus den gleichen Gründen wie in Nr. 67 der vorliegenden Schlussanträge als unzulässig anzusehen.
V. Ergebnis
74. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die von der Rechtbank Den Haag, zittingsplaats ’s‑Hertogenbosch (Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort ’s‑Hertogenbosch, Niederlande) vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:
1. Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes
ist wie folgt auszulegen:
– Drittstaatsangehörige, die Mädchen oder Frauen sind, teilen aufgrund ihres biologischen Geschlechts „angeborene Merkmale“ und können aufgrund der Tatsache, dass sie während einer beträchtlichen Zeitspanne ihrer identitätsbildenden Lebensphase in einem Mitgliedstaat gelebt haben, eine Überzeugung von der Gleichheit der Geschlechter teilen, die so bedeutsam für ihre Identität ist, dass sie nicht gezwungen werden sollten, auf sie zu verzichten;
– um festzustellen, ob eine Gruppe in einem Herkunftsland eine deutlich abgegrenzte Identität hat, weil sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird, sind die Mitgliedstaaten gemäß Art. 4 der Richtlinie 2011/95 verpflichtet, alle mit dem Herkunftsland verbundenen Tatsachen, die zum Zeitpunkt der Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz relevant sind, einschließlich der Rechts- und Verwaltungsvorschriften des Herkunftslandes und der Art und Weise, wie sie angewandt werden, sowie alle relevanten Anhaltspunkte, die der Antragsteller auf internationalen Schutz darlegt, zu berücksichtigen;
– eine Gruppe von Frauen und Mädchen, die den Glauben an die Gleichstellung der Geschlechter teilen, hat im Herkunftsland eine deutlich abgegrenzte Identität, wenn sie für den Fall, dass sie diese Überzeugung durch Äußerungen oder Verhaltensweisen zum Ausdruck bringen, nach Ansicht der Gesellschaft in diesem Land gegen die Moralvorstellungen verstoßen;
– es ist nicht erforderlich, dass eine gemeinsame Überzeugung in Bezug auf die Gleichstellung der Geschlechter eine religiöse oder politische Grundlage hat.
2. Die Richtlinie 2011/95 ist in Verbindung mit Art. 24 Abs. 2 und Art. 51 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union
dahin auszulegen, dass
– eine nationale Praxis, wonach eine entscheidende Behörde bei der materiell-rechtlichen Beurteilung eines Antrags auf internationalen Schutz oder eines Folgeantrags auf internationalen Schutz das Wohl des Kindes nicht als vorrangige Erwägung berücksichtigt oder das Wohl des Kindes gewichtet, ohne dieses zuerst in jedem Verfahren konkret festzustellen, mit dem Unionsrecht unvereinbar ist;
– die Methode und das Verfahren zur Bestimmung des Kindeswohls von den Mitgliedstaaten festzulegen sind, wobei der Effektivitätsgrundsatz in vollem Umfang zu berücksichtigen ist;
– ein Schaden, den ein Minderjähriger infolge eines langen Aufenthalts in einem Mitgliedstaat erlitten hat, für die Frage, ob einem Folgeantrag auf internationalen Schutz stattzugeben ist, keine Rolle spielt, wenn dieser Aufenthalt auf die Entscheidung der Eltern oder des Vormunds des Minderjährigen zurückzuführen ist, die verfügbaren Rechtsmittel zur Anfechtung der Ablehnung des Erstantrags auszuschöpfen und einen Folgeantrag auf internationalen Schutz zu stellen.