Language of document : ECLI:EU:C:2023:852

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zehnte Kammer)

9. November 2023(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – Richtlinie 2008/115/EG – Art. 3 Nr. 2 – Begriff ‚illegaler Aufenthalt‘ – Richtlinie 2013/32/EU – Person, die um internationalen Schutz nachsucht – Art. 9 Abs. 1 – Berechtigung zum Verbleib im Mitgliedstaat während der Prüfung des Antrags – Rückkehrentscheidung, die vor dem Erlass der erstinstanzlichen Entscheidung getroffen wurde, mit der der Antrag auf internationalen Schutz abgelehnt wurde“

In der Rechtssache C‑257/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Krajský soud v Brně (Regionalgericht Brno [Brünn], Tschechische Republik) mit Entscheidung vom 28. Februar 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 14. April 2022, in dem Verfahren

CD

gegen

Ministerstvo vnitra České republiky, Odbor azylové a migrační politiky

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zehnte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten Z. Csehi, des Präsidenten der fünften Kammer E. Regan (Berichterstatter) und des Richters D. Gratsias,

Generalanwalt: J. Richard de la Tour,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der tschechischen Regierung, vertreten durch A. Edelmannová, M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Azéma, A. Katsimerou und M. Salyková als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 Abs. 2 und 3 sowie von Art. 5 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. 2008, L 348, S. 98) in Verbindung mit Art. 2, Art. 4 und Art. 19 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

2        Dieses Ersuchen ergeht in einem Rechtsstreit zwischen CD, einem algerischen Staatsangehörigen, und dem Ministerstvo vnitra České republiky, Odbor azylové a migrační politiky (Innenministerium der Tschechischen Republik, Abteilung für Asyl- und Migrationspolitik, im Folgenden: Innenministerium) wegen einer Rückkehrentscheidung, die der Ředitelství služby cizinecké policie (Direktorat des Ausländerpolizeidiensts, Tschechische Republik, im Folgenden: Direktorat der Fremdenpolizei) gegenüber CD getroffen hat (im Folgenden: in Rede stehende Rückkehrentscheidung).

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

 Richtlinie 2008/115

3        Die Erwägungsgründe 9 und 12 der Richtlinie 2008/115 lauten:

„(9)      Gemäß der Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft [(ABl. 2005, L 326, S. 13)] sollten Drittstaatsangehörige, die in einem Mitgliedstaat Asyl beantragt haben, so lange nicht als illegal im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats aufhältige Person gelten, bis eine abschlägige Entscheidung über den Antrag oder eine Entscheidung, mit der [ihr] Aufenthaltsrecht als Asylbewerber beendet wird, bestandskräftig geworden ist.

(12)      Die Situation von Drittstaatsangehörigen, die sich unrechtmäßig im Land aufhalten, aber noch nicht abgeschoben werden können, sollte geregelt werden. Die Festlegungen hinsichtlich der Sicherung des Existenzminimums dieser Personen sollten nach Maßgabe der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften getroffen werden. Die betreffenden Personen sollten eine schriftliche Bestätigung erhalten, damit sie im Falle administrativer Kontrollen oder Überprüfungen ihre besondere Situation nachweisen können. Die Mitgliedstaaten sollten hinsichtlich der Gestaltung und des Formats der schriftlichen Bestätigung über einen breiten Ermessensspielraum verfügen und auch die Möglichkeit haben, sie in aufgrund dieser Richtlinie getroffene Entscheidungen in Bezug auf die Rückkehr aufzunehmen.“

4        Art. 2 („Anwendungsbereich“) Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 bestimmt:

„Diese Richtlinie findet Anwendung auf illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältige Drittstaatsangehörige.“

5        Art. 3 („Begriffsbestimmungen“) Nrn. 2 und 4 dieser Richtlinie bestimmt:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnen die Ausdrücke

2.      ‚illegaler Aufenthalt‘: die Anwesenheit von Drittstaatsangehörigen, die nicht oder nicht mehr die Einreisevoraussetzungen nach Artikel 5 [der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. 2006, L 105, S. 1)] oder andere Voraussetzungen für die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt erfüllen, im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats;

4.      ‚Rückkehrentscheidung‘: die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der der illegale Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen festgestellt und eine Rückkehrverpflichtung auferlegt oder festgestellt wird;

…“

6        Art. 5 („Grundsatz der Nichtzurückweisung, Wohl des Kindes, familiäre Bindungen und Gesundheitszustand“) der Richtlinie bestimmt u. a., dass die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Richtlinie den Grundsatz der Nichtzurückweisung einhalten.

7        Art. 6 („Rückkehrentscheidung“) Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 bestimmt:

„Unbeschadet der Ausnahmen nach den Absätzen 2 bis 5 erlassen die Mitgliedstaaten gegen alle illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung.“

 Richtlinie 2013/32/EU

8        Art. 9 („Berechtigung zum Verbleib im Mitgliedstaat während der Prüfung des Antrags“) Abs. 1 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. 2013, L 180, S. 60) bestimmt:

„Antragsteller dürfen ausschließlich zum Zwecke des Verfahrens so lange im Mitgliedstaat verbleiben, bis die Asylbehörde auf der Grundlage der in Kapitel III genannten erstinstanzlichen Verfahren über den Antrag entschieden hat. Aus dieser Berechtigung zum Verbleib ergibt sich kein Anspruch auf einen Aufenthaltstitel.“

9        Art. 36 („Das Konzept des sicheren Herkunftsstaats“) der Richtlinie 2013/32 bestimmt:

„(1)      Ein Drittstaat, der nach dieser Richtlinie als sicherer Herkunftsstaat bestimmt wurde, kann nach individueller Prüfung des Antrags nur dann als für einen bestimmten Antragsteller sicherer Herkunftsstaat betrachtet werden, wenn

a)      der Antragsteller die Staatsangehörigkeit des betreffenden Staates besitzt oder

b)      der Antragsteller staatenlos ist und zuvor seinen gewöhnlichen Aufenthalt in dem betreffenden Staat hatte

und er keine schwerwiegenden Gründe dafür vorgebracht hat, dass der Staat in seinem speziellen Fall im Hinblick auf die Anerkennung als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz im Sinne der Richtlinie 2011/95/EU [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9)] nicht als sicherer Herkunftsstaat zu betrachten ist.

(2)      Die Mitgliedstaaten legen in den nationalen Rechtsvorschriften weitere Regeln und Modalitäten für die Anwendung des Konzepts des sicheren Herkunftsstaats fest.“

10      Art. 37 („Nationale Bestimmung von Drittstaaten als sichere Herkunftsstaaten“) der Richtlinie sieht vor:

„(1)      Zum Zwecke der Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz können die Mitgliedstaaten Rechts- oder Verwaltungsvorschriften beibehalten oder erlassen, aufgrund deren sie im Einklang mit Anhang I sichere Herkunftsstaaten bestimmen können.

(2)      Die Mitgliedstaaten überprüfen regelmäßig die Lage in Drittstaaten, die gemäß diesem Artikel als sichere Herkunftstaaten bestimmt wurden.

…“

 Tschechisches Recht

11      § 120a Abs. 1 Buchst. b des Zákon č. 326/1999 Sb., o pobytu cizinců na území České republiky a o změně některých zákonů (Gesetz Nr. 326/1999 über den Aufenthalt von Ausländern im Gebiet der Tschechischen Republik und zur Änderung einiger Gesetze) in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (im Folgenden: Gesetz über den Aufenthalt von Ausländern) bestimmt:

„Die Polizei ist im Rahmen der Entscheidung über eine behördliche Abschiebung gemäß Art. 119 und 120 verpflichtet, eine verbindliche Stellungnahme des Ministeriums zu der Frage einzuholen, ob die Abschiebung des Ausländers möglich ist (§ 179); dies gilt nicht,

b)      wenn der Ausländer aus einem sicheren Herkunftsstaat im Sinne einer anderen gesetzlichen Bestimmung stammt und keine Tatsachen vorgebracht hat, die darauf hindeuten, dass er einer tatsächlichen Gefahr gemäß § 179 ausgesetzt sein könnte.

…“

12      In § 179 Abs. 1 und 2 des Gesetzes über den Aufenthalt von Ausländern heißt es:

„(1)      Die Abschiebung eines Ausländers ist nicht möglich, wenn begründete Bedenken bestehen, dass dem zurückgeführten Ausländer im Herkunftsstaat oder, wenn er staatenlos ist, im Staat seines letzten gewöhnlichen Aufenthalts eine tatsächliche Gefahr drohen könnte.

(2)      Unter einer tatsächlichen Gefahr im Sinne dieses Gesetzes ist die Rückführung unter Verstoß gegen Art. 3 der [am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten] Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten [(im Folgenden: EMRK)] zu verstehen.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

13      Am 30. September 2021 kam der Kläger des Ausgangsverfahrens, ein algerischer Staatsangehöriger, in eine Hafteinrichtung für Drittstaatsangehörige und stellte dort einen Antrag auf internationalen Schutz. Da er sich ohne Aufenthaltstitel oder gültiges Reisedokument im tschechischen Hoheitsgebiet aufhielt, leitete die Polizei am 8. Oktober 2021 gegen ihn ein behördliches Abschiebungsverfahren ein.

14      Bei seiner Anhörung erklärte der Kläger des Ausgangsverfahrens, dass Algerien kein sicheres Land sei und dass die staatlichen Behörden insbesondere nicht in der Lage seien, die algerischen Staatsbürger zu schützen. Er sei von der Familie des Opfers einer tätlichen Auseinandersetzung, bei der er anwesend gewesen und dabei Zeuge eines Mordes geworden sei, mit dem Tode bedroht worden. Obwohl das algerische Gericht ihn für nicht schuldig befunden habe, habe er aus Angst vor dieser Drohung tagsüber nicht nach Hause gehen können, sondern dafür bis nachts warten müssen.

15      Mit der in Rede stehenden Rückkehrentscheidung vom 12. Oktober 2021 wurde die behördliche Abschiebung des Klägers des Ausgangsverfahrens vom Direktorat der Fremdenpolizei angeordnet und gegen ihn ein Einreiseverbot in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten für die Dauer von einem Jahr verhängt.

16      Nach Ansicht des Direktorats der Fremdenpolizei lagen keine Gründe vor, die gegen die Abschiebung des Klägers des Ausgangsverfahrens aus dem tschechischen Hoheitsgebiet sprachen, da keine begründeten Bedenken bestanden hätten, dass im Herkunftsstaat eine tatsächliche Gefahr im Sinne von § 179 Abs. 1 und 2 des Gesetzes über den Aufenthalt von Ausländern vorliege.

17      In diesem Zusammenhang stellte das Direktorat der Fremdenpolizei fest, dass Algerien auf der Liste der sicheren Herkunftsstaaten stehe, die in der Vyhláška č. 328/2015 Sb., kterou se provádí zákon o azylu a zákon č. 221/2003 Sb., o dočasné ochraně cizinců (Verordnung Nr. 328/2015 Slg. zur Durchführung des Asylgesetzes und des Gesetzes Nr. 221/2003 Slg. über den vorübergehenden Schutz von Ausländern) in ihrer auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 328/2015) enthalten ist.

18      Da der Verwaltungsrechtsbehelf des Klägers des Ausgangsverfahrens gegen die in Rede stehende Rückkehrentscheidung vom Innenministerium mit Entscheidung vom 6. Dezember 2021 zurückgewiesen wurde, erhob der Kläger Klage beim Krajský soud v Brně (Regionalgericht Brno [Brünn], Tschechische Republik), dem vorlegenden Gericht. Vor diesem macht er u. a. geltend, dass die Entscheidung auf allgemeine Erwägungen gestützt sei, nach denen Algerien gemäß der Verordnung Nr. 328/2015 ein sicheres Herkunftsland sei, obwohl eine individuelle Prüfung seines Falls hätte vorgenommen werden müssen.

19      Das vorlegende Gericht hat Zweifel hinsichtlich der Frage, ob das Unionsrecht es verbietet, dass ein Mitgliedstaat zur Beurteilung, ob eine gegenüber einem Drittstaatsangehörigen getroffene Rückkehrentscheidung gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung verstößt, zum einen im Rahmen des gemäß der Richtlinie 2008/115 vorgesehenen Systems zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger das Konzept des „sicheren Herkunftsstaats“ gemäß Art. 36 der Richtlinie 2013/32 anwendet, und zum anderen den Grundsatz der Nichtzurückweisung dahin auslegt, dass er nur das Verbot von Misshandlungen betrifft.

20      Das vorlegende Gericht stellt fest, dass die Anwendung des Konzepts des „sicheren Herkunftsstaats“, obwohl dieses nicht in der Richtlinie 2008/115 enthalten sei, der Polizei im Rahmen des Rückführungsverfahrens ermögliche, ein vereinfachtes Verfahren durchzuführen, da sie nicht verpflichtet sei, konkret zu prüfen, ob die Gefahr eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung im Zielstaat im Fall eines rückgeführten Drittstaatsangehörigen vorliege. Die Anwendung dieses Konzepts brächte den Drittstaatsangehörigen jedoch in eine schwierigere Lage, da er die Vermutung des sicheren Herkunftsstaats widerlegen müsse.

21      Im Hinblick auf den Grundsatz der Nichtzurückweisung hebt das vorlegende Gericht hervor, dass Art. 19 Abs. 2 der Charta und Art. 3 der EMRK in der Auslegung durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte diesem Grundsatz eine weitere Tragweite zuschrieben als die von § 179 Abs. 2 des Gesetzes über den Aufenthalt von Ausländern, das diese Bedeutung auf das Verbot von Misshandlungen beschränke.

22      Darüber hinaus ist das vorlegende Gericht der Ansicht, dass die Tschechische Republik gegen die ihr gemäß Art. 37 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 obliegende Pflicht verstoßen hat, regelmäßig die Lage in Drittstaaten, die gemäß diesem Artikel als sichere Herkunftstaaten bestimmt wurden, zu überprüfen. Daher stelle sich insbesondere die Frage, ob vier Jahre nach der Veröffentlichung der Quellen, auf die die Bestimmung Algeriens als sicherer Herkunftsstaat gestützt worden sei, und drei Jahre nach der Nennung dieses Landes in der Verordnung Nr. 328/2015 die Einstufung Algeriens als sicherer Staat weiterhin gerechtfertigt sei.

23      Unter diesen Umständen hat der Krajský soud v Brně (Regionalgericht Brno) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Sind Art. 4 Abs. 2 und 3 sowie Art. 5 in fine der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit Art. 2, Art. 4 und Art. 19 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen, dass sie dem entgegenstehen, dass zur Beurteilung, ob eine Rückkehrentscheidung gemäß Art. 6 der Richtlinie 2008/115 gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung verstößt, das Konzept des sicheren Herkunftsstaats gemäß den Art. 36 und 37 der Richtlinie 2013/32 in Verbindung mit der engeren, nur auf das Verbot der Misshandlung gemäß Art. 4 der Charta und Art. 3 der EMRK abstellenden Definition des Grundsatzes der Nichtzurückweisung angewandt wird?

 Zur Vorlagefrage

24      Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 4 Abs. 2 und 3 sowie Art. 5 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit Art. 2, Art. 4 und Art. 19 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen sind, dass der Grundsatz der Nichtzurückweisung dem Erlass einer Rückkehrentscheidung, die gegenüber einem illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältigen Drittstaatsangehörigen getroffen wurde, entgegensteht, wenn dieser vor den Behörden des Mitgliedstaats geltend macht, dass er in seinem Herkunftsstaat von Privatpersonen mit dem Tode bedroht werde, und ob es dem Mitgliedstaat freisteht, auf das Konzept des „sicheren Herkunftsstaats“ gemäß der Art. 36 und 37 der Richtlinie 2013/32 zurückzugreifen, um die Gefahr eines Verstoßes gegen diesen Grundsatz unter den gegebenen Umständen zu beurteilen.

25      Die Europäische Kommission hat in ihren schriftlichen Erklärungen Zweifel an der Zulässigkeit des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens geäußert. Sie weist insbesondere darauf hin, dass sich aus den eingereichten Akten ergebe, dass der Antrag auf internationalen Schutz von den zuständigen Behörden nicht vor der Eröffnung des Abschiebeverfahrens geprüft worden sei, weshalb die nationalen Bestimmungen, mit denen die Richtlinie 2008/115 umgesetzt werde, im vorliegenden Fall keinesfalls hätten angewandt werden dürfen. Die Kommission hat zudem ausgeführt, dass der Kläger im Rahmen der vor dem vorlegenden Gericht erhobenen Klage gegen die in Rede stehende Rückkehrentscheidung insbesondere geltend gemacht habe, dass gegen ihn zu Unrecht ein Abschiebeverfahren eingeleitet worden sei, da sein Antrag auf internationalen Schutz noch nicht geprüft worden sei.

26      Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass der Kläger des Ausgangsverfahrens am 30. September 2021 bei der Tschechischen Republik einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt und dass das Direktorat der Fremdenpolizei am 12. Oktober 2021 ihm gegenüber die in Rede stehende Rückkehrentscheidung in Verbindung mit einem Einreiseverbot erlassen hat.

27      Im Anschluss an zwei Auskunftsverlangen des Gerichtshofs vom 26. Januar und 1. März 2023 nach Art. 62 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs hat das vorlegende Gericht u. a. bestätigt, dass zum einen das Innenministerium mit Entscheidung vom 25. November 2021 den Antrag auf internationalen Schutz des Klägers des Ausgangsverfahrens abgelehnt hat und dass der Kläger zum anderen im Rahmen der gegen die in Rede stehende Rückkehrentscheidung erhobenen Klage insbesondere geltend gemacht hat, dass angesichts seines Antrags auf internationalen Schutz kein Abschiebeverfahren hätte durchgeführt werden dürfen.

28      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen des nationalen Gerichts spricht, die es zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festgelegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. Der Gerichtshof kann das Ersuchen eines nationalen Gerichts insbesondere nur dann zurückweisen, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht oder das Problem hypothetischer Natur ist (Urteil vom 12. Januar 2023, Nemzeti Adatvédelmi és Információszabadság Hatóság, C‑132/21, EU:C:2023:2, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).

29      Im vorliegenden Fall hat das Direktorat der Fremdenpolizei gegenüber dem Kläger des Ausgangsverfahrens eine Rückkehrentscheidung erlassen. Darüber hinaus ist das vorlegende Gericht mit einem Rechtsstreit befasst, der die Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung zum Gegenstand hat, und in der Vorlagefrage geht es um die Auslegung der Bestimmungen der Richtlinien 2008/115 und 2013/32, die im Hinblick auf die nach Angaben des vorlegenden Gerichts vom Kläger des Ausgangsverfahrens vorgebrachten Gründe, aus denen diese Entscheidung rechtswidrig sein soll, einschlägig sind. Aus den Akten, die dem Gerichtshof vorgelegt worden sind, geht somit nicht hervor, dass die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht oder dass das vom vorlegenden Gericht aufgeworfene Problem hypothetischer Natur ist.

30      Daher ist die Vorlagefrage entgegen dem Vorbringen der Kommission nicht unzulässig.

31      Nach ständiger Rechtsprechung kommt es jedoch im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingerichteten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof dem Gerichtshof zu, dem nationalen Gericht alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts zu geben, die für die Entscheidung der bei diesem anhängigen Sache von Nutzen sein können, und zwar unabhängig davon, ob das vorlegende Gericht bei seiner Fragestellung Bezug darauf genommen hat oder nicht (Urteil vom 21. September 2017, Aviva, C‑605/15, EU:C:2017:718, Rn. 21 und die dort angeführte Rechtsprechung).

32      Im vorliegenden Fall ist nach dieser Rechtsprechung zunächst die Frage zu erörtern, ob die Richtlinie 2008/115 unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens überhaupt anwendbar ist, in denen die Rückkehrentscheidung vor dem Erlass der erstinstanzlichen Entscheidung, mit der der Antrag auf internationalen Schutz abgelehnt wurde, getroffen wurde.

33      Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Anweisung, das Staatsgebiet zu verlassen, eine „Rückkehrentscheidung“ im Sinne von Art. 3 Nr. 4 der Richtlinie 2008/115 darstellt, d. h. eine behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der der illegale Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen festgestellt und eine Rückkehrverpflichtung auferlegt oder festgestellt wird.

34      Nach Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 findet die Richtlinie Anwendung auf illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältige Drittstaatsangehörige. Speziell in Bezug auf Rückkehrentscheidungen sieht Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie vor, dass die Mitgliedstaaten eine solche Entscheidung grundsätzlich gegen alle illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen erlassen.

35      Um zu klären, ob gegen einen Drittstaatsangehörigen für die Zeit von der Stellung seines Antrags auf internationalen Schutz bis zum Erlass der erstinstanzlichen Entscheidung, mit der über den Antrag entschieden wird, eine Rückkehrentscheidung erlassen werden kann, ist daher zu prüfen, ob ein solcher Drittstaatsangehöriger für diese Zeit illegal aufhältig im Sinne der Richtlinie 2008/115 ist (vgl. entsprechend Urteil vom 19. Juni 2018, Gnandi, C‑181/16, EU:C:2018:465, Rn. 38).

36      Insoweit geht aus der Definition des Begriffs „illegaler Aufenthalt“ in Art. 3 Nr. 2 der Richtlinie hervor, dass jeder Drittstaatsangehörige, der sich, ohne die Voraussetzungen für die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt zu erfüllen, in dessen Hoheitsgebiet befindet, schon allein deswegen dort illegal aufhältig ist (Urteil vom 19. Juni 2018, Gnandi, C‑181/16, EU:C:2018:465, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).

37      Nach Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 darf jedoch eine Person, die um internationalen Schutz nachsucht, ausschließlich zum Zweck des Verfahrens bis zum Erlass der erstinstanzlichen Entscheidung, mit der der Antrag abgelehnt wird, im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats verbleiben, in dem sie den Antrag gestellt hat. Zwar ergibt sich, wie es in dieser Bestimmung ausdrücklich heißt, aus der Bleibeberechtigung für das Hoheitsgebiet kein Anspruch auf einen Aufenthaltstitel, doch geht u. a. aus dem neunten Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/115 hervor, dass diese Berechtigung verhindert, dass der Aufenthalt einer Person, die um internationalen Schutz nachgesucht hat, für die Zeit von der Stellung ihres Antrags auf internationalen Schutz bis zum Erlass der erstinstanzlichen Entscheidung über diesen Antrag als „illegal“ im Sinne der Richtlinie 2008/115 eingestuft wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. November 2021, Kommission/Ungarn [Pönalisierung der Unterstützung von Asylbewerbern], C‑821/19, EU:C:2021:930, Rn. 137 und die dort angeführte Rechtsprechung).

38      Wie aus dem Wortlaut von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 klar hervorgeht, endet für die Person, die um internationalen Schutz nachsucht, die in dieser Bestimmung vorgesehene Bleibeberechtigung in dem Mitgliedstaat, in dem sie den Antrag gestellt hat, wenn die zuständigen Behörden des Mitgliedstaats die erstinstanzliche Entscheidung erlassen, mit der der Antrag abgelehnt wird. Mangels einer Aufenthaltsberechtigung oder eines Aufenthaltstitels auf einer anderen Rechtsgrundlage – insbesondere nach Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115 –, die es dem erfolglosen Antragsteller ermöglicht, die Voraussetzungen für die Einreise in den betreffenden Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt zu erfüllen, hat die Ablehnung des Antrags zur Folge, dass der Antragsteller danach diese Voraussetzungen nicht mehr erfüllt, so dass sein Aufenthalt illegal wird (vgl. entsprechend Urteil vom 19. Juni 2018, Gnandi, C‑181/16, EU:C:2018:465, Rn. 41).

39      Da folglich das Vorliegen einer Bleibeberechtigung für die Zeit von der Stellung des Antrags auf internationalen Schutz bis zum Erlass der erstinstanzlichen Entscheidung, mit der über diesen entschieden wird, die Illegalität des Aufenthalts des Antragstellers und daher die Anwendung der Richtlinie 2008/115 diesem gegenüber ausschließt, kann eine ihn betreffende Rückkehrentscheidung nicht in dieser Zeit erlassen werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Juni 2018, Gnandi, C‑181/16, EU:C:2018:465, Rn. 46, 58 und 59).

40      Demgegenüber kann gegen den Antragsteller grundsätzlich ab der Ablehnung des Antrags auf internationalen Schutz oder zusammen mit ihr in einer einzigen behördlichen Entscheidung eine Rückkehrentscheidung erlassen werden. (Urteil vom 19. Juni 2018, Gnandi, C‑181/16, EU:C:2018:465, Rn. 59).

41      Dessen ungeachtet kann aus den Erwägungen in den Rn. 33 bis 40 des vorliegenden Urteils nicht darauf geschlossen werden, dass der Umstand, dass mit der Rückkehrentscheidung die Abschiebung eines Drittstaatsangehörigen bezweckt wird, weil sein Aufenthalt illegal war, bevor er seinen Antrag auf internationalen Schutz stellte, es rechtfertigen würde, dass die zuständige Behörde des Mitgliedstaats, der mit dem Antrag auf internationalen Schutz des Drittstaatsangehörigen befasst ist, eine solche Rückkehrentscheidung nach der Stellung des Antrags, aber bevor über diesen erstinstanzlich entschieden wurde, erlassen kann.

42      Zwar ergibt sich, wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, aus dem zwölften Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/115, dass sie auf Drittstaatsangehörige Anwendung findet, die, obwohl sie sich illegal im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats aufhalten, dortbleiben dürfen, da sie noch nicht abgeschoben werden können. Gleichwohl ist, wie sich aus Rn. 37 des vorliegenden Urteils ergibt, Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 in Verbindung mit dem neunten Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen, dass das Bleiberecht der Person, die um internationalen Schutz nachsucht, im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats für die Zeit von der Stellung ihres Antrags bis zum Erlass der erstinstanzlichen Entscheidung über diesen Antrag verhindert, dass der Aufenthalt dieser Person während dieser Zeit als „illegal“ im Sinne der Richtlinie 2008/115 eingestuft wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Juni 2018, Gnandi, C‑181/16, EU:C:2018:465, Rn. 46 und 47). In diesem Zusammenhang ist unerheblich, dass sich die Rückkehrentscheidung auf die Zeit bezieht, in der der Antragsteller im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats illegal aufhältig war, bevor er seinen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

43      Unter Berücksichtigung der in den Rn. 33 bis 42 des vorliegenden Urteils angestellten Erwägungen ist die Frage des vorlegenden Gerichts, ob die in Rn. 24 des vorliegenden Urteils genannten Bestimmungen des Unionsrechts, insbesondere die der Richtlinie 2008/115 dem Erlass einer Rückkehrentscheidung, die gegenüber einem illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältigen Drittstaatsangehörigen getroffen wurde, unter den in der letztgenannten Randnummer des vorliegenden Urteils beschriebenen Umständen entgegenstehen und ob es dem Mitgliedstaat freisteht, auf das Konzept des „sicheren Herkunftsstaats“ gemäß Art. 36 und 37 der Richtlinie 2013/32 zurückzugreifen, um die Gefahr eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung im Fall des Erlasses einer solchen Entscheidung zu beurteilen, nicht zu beantworten.

44      Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 2 Abs. 1 und Art. 3 Nr. 2 der Richtlinie 2008/115 im Licht des neunten Erwägungsgrundes dieser Richtlinie und in Verbindung mit Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 dahin auszulegen sind, dass sie es nicht zulassen, dass eine Rückkehrentscheidung nach Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 gegenüber einem Drittstaatsangehörigen erlassen wird, nachdem dieser einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, aber bevor über diesen erstinstanzlich entschieden wurde, unabhängig davon, auf welchen Zeitraum des Aufenthalts in der Rückkehrentscheidung Bezug genommen wird.

 Kosten

45      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zehnte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 2 Abs. 1 und Art. 3 Nr. 2 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger im Licht des neunten Erwägungsgrundes dieser Richtlinie und in Verbindung mit Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes

sind dahin auszulegen, dass

sie es nicht zulassen, dass eine Rückkehrentscheidung nach Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 gegenüber einem Drittstaatsangehörigen erlassen wird, nachdem dieser einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, aber bevor über diesen erstinstanzlich entschieden wurde, unabhängig davon, auf welchen Zeitraum des Aufenthalts in der Rückkehrentscheidung Bezug genommen wird.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Tschechisch.