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URTEIL DES GERICHTSHOFS (Sechste Kammer)

6. Juni 2019(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit – Wandererwerbstätige – Verordnung (EG) Nr. 883/2004 – Übergangsbestimmungen – Art. 87 Abs. 8 – Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 – Art. 14c Buchst. b – Erwerbstätiger, der in verschiedenen Mitgliedstaaten eine abhängige Beschäftigung und eine selbständige Tätigkeit ausübt – Ausnahmen vom Grundsatz der Anwendung nur eines nationalen Rechts – Doppelte Zugehörigkeit – Einreichung eines Antrags, den gemäß der Verordnung Nr. 883/2004 anzuwendenden Rechtsvorschriften unterstellt zu werden“

In der Rechtssache C‑33/18

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour du travail de Liège (Arbeitsgerichtshof Lüttich, Belgien) mit Entscheidung vom 21. Dezember 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 18. Januar 2018, in dem Verfahren

V

gegen

Institut national d’assurances sociales pour travailleurs indépendants (Inasti),

Securex Integrity ASBL

erlässt

DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin C. Toader sowie der Richter A. Rosas (Berichterstatter) und L. Bay Larsen,

Generalanwalt: G. Pitruzzella,

Kanzler: V. Giacobbo-Peyronnel, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 5. Dezember 2018,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der belgischen Regierung, vertreten durch M. Jacobs und L. Van den Broeck als Bevollmächtigte im Beistand von S. Rodrigues, avocat,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Martin und M. Van Hoof als Bevollmächtigte,

–        von Herrn V, der sich selbst vertritt,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 26. Februar 2019

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 87 Abs. 8 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2004, L 166, S. 1, berichtigt im ABl. 2004, L 200, S. 1) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 988/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 (ABl. 2009, L 284, S. 43) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 883/2004).

2        Es ergeht in einem Rechtsstreit zwischen Herrn V auf der einen und dem Institut national d’assurances sociales pour travailleurs indépendants (Landesinstitut der Sozialversicherungen für Selbständige, Belgien, im Folgenden: Inasti) sowie der Securex Integrity ASBL (im Folgenden: Securex) auf der anderen Seite über die Frage, ob Herr V den Vorschriften des belgischen Sozialrechts unterstellt ist.

 Rechtlicher Rahmen

 Verordnung Nr. 1408/71

3        Die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in ihrer durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 (ABl. 1997, L 28, S. 1) geänderten und aktualisierten und zuletzt durch die Verordnung (EG) Nr. 592/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juni 2008 (ABl. 2008, L 177, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 1408/71) bestimmte in dem zu ihrem Titel II gehörenden Art. 14c Buchst. b:

„Eine Person, die im Gebiet verschiedener Mitgliedstaaten gleichzeitig eine abhängige Beschäftigung und eine selbständige Tätigkeit ausübt, unterliegt:

b)      in den in Anhang VII aufgeführten Fällen

–        den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet sie eine abhängige Beschäftigung ausübt, wobei diese Rechtsvorschriften nach Artikel 14 Nummer 2 oder Nummer 3 bestimmt werden, falls sie eine solche Beschäftigung im Gebiet von zwei oder mehr Mitgliedstaaten ausübt, und

–        den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet sie eine selbständige Tätigkeit ausübt, wobei diese Rechtsvorschriften nach Artikel 14a Nummern 2, 3 oder 4 bestimmt werden, falls sie eine solche Tätigkeit im Gebiet von zwei oder mehr Mitgliedstaaten ausübt.“

4        In Anhang VII der Verordnung Nr. 1408/71 waren die Fälle genannt, in denen eine Person gemäß Art. 14c Buchst. b der Verordnung gleichzeitig den Rechtsvorschriften zweier Mitgliedstaaten unterlag. Zu diesen Fällen gehörte die in Nr. 1 dieses Anhangs genannte „Ausübung einer selbständigen Tätigkeit in Belgien und einer abhängigen Beschäftigung in einem anderen Mitgliedstaat“.

5        Die Verordnung Nr. 1408/71 wurde durch die Verordnung Nr. 883/2004 in ihrer ursprünglichen Fassung zum 1. Mai 2010, dem Zeitpunkt, ab dem die Verordnung Nr. 883/2004 gilt, aufgehoben und ersetzt.

 Verordnung Nr. 883/2004

6        Nach dem vierten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 883/2004 ist es notwendig, die Eigenheiten der nationalen Rechtsvorschriften über soziale Sicherheit zu berücksichtigen und nur eine Koordinierungsregelung vorzusehen.

7        Der 45. Erwägungsgrund der Verordnung lautet:

„Da das Ziel der beabsichtigten Maßnahme, nämlich Koordinierungsmaßnahmen zur Sicherstellung, dass das Recht auf Freizügigkeit wirksam ausgeübt werden kann, auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden kann und daher wegen des Umfangs und der Wirkungen der Maßnahme besser auf Gemeinschaftsebene zu erreichen ist, kann die Gemeinschaft im Einklang mit dem in Artikel 5 des Vertrags niedergelegten Subsidiaritätsprinzip tätig werden. Entsprechend dem in demselben Artikel genannten Verhältnismäßigkeitsprinzip geht diese Verordnung nicht über das für die Erreichung dieses Ziels erforderliche Maß hinaus.“

8        Art. 11 Abs. 1 der Verordnung bestimmt:

„Personen, für die diese Verordnung gilt, unterliegen den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Welche Rechtsvorschriften dies sind, bestimmt sich nach diesem Titel.“

9        Art. 13 Abs. 3 der Verordnung hat folgenden Wortlaut:

„Eine Person, die gewöhnlich in verschiedenen Mitgliedstaaten eine Beschäftigung und eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausübt, unterliegt den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem sie eine Beschäftigung ausübt, oder, wenn sie eine solche Beschäftigung in zwei oder mehr Mitgliedstaaten ausübt, den nach Absatz 1 bestimmten Rechtsvorschriften.“

10      Art. 87 Abs. 8 der Verordnung Nr. 883/2004 sieht vor:

„Gelten für eine Person infolge dieser Verordnung die Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats als desjenigen, der durch Titel II der Verordnung … Nr. 1408/71 bestimmt wird, bleiben diese Rechtsvorschriften so lange, wie sich der bis dahin vorherrschende Sachverhalt nicht ändert, und auf jeden Fall für einen Zeitraum von höchstens zehn Jahren ab dem Geltungsbeginn dieser Verordnung anwendbar, es sei denn, die betreffende Person beantragt, den nach dieser Verordnung anzuwendenden Rechtsvorschriften unterstellt zu werden. Der Antrag ist innerhalb von drei Monaten nach dem Geltungsbeginn dieser Verordnung bei dem zuständigen Träger des Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften nach dieser Verordnung anzuwenden sind, zu stellen, wenn die betreffende Person den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats ab dem Beginn der Anwendung dieser Verordnung unterliegen soll. Wird der Antrag nach Ablauf dieser Frist gestellt, gelten diese Rechtsvorschriften für die betreffende Person ab dem ersten Tag des darauf folgenden Monats.“

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

11      Herr V arbeitete von September 1980 bis 30. September 2007 als in Brüssel (Belgien) zugelassener Rechtsanwalt. In diesem Zeitraum war er beim Inasti eingetragen und bei der belgischen Sozialversicherungskasse Securex versichert.

12      Am 30. September 2007 beantragte Herr V seine Streichung aus dem Anwaltsverzeichnis und trat folglich aus der Securex aus. Am selben Tag wurde die Rechtsanwaltskanzlei, für die er arbeitete, abgewickelt und Herr V zum Abwickler bestellt.

13      Seit 1. Oktober 2007 arbeitet Herr V als Leiter der Rechtsabteilung einer in Luxemburg ansässigen Gesellschaft und ist dem luxemburgischen System der sozialen Sicherheit als Arbeitnehmer unterstellt.

14      Am 11. Juni 2010 forderte das Inasti Herrn V auf, nähere Angaben zu seinem Mandat als Abwickler zu machen. Mit Schreiben vom 24. Juni 2010 antwortete Herr V, dass er nicht wegen der ihm von der in Abwicklung befindlichen Rechtsanwaltskanzlei gezahlten Abwicklerbezüge einem Selbständigen gleichgestellt oder dem Sozialstatut der Selbständigen unterstellt werden könne.

15      Am 11. Dezember 2013 übermittelte das Inasti der Securex einen Berichtigungsbescheid für die Einkünfte von Herrn V in den Jahren 2008 bis 2010. Am 23. Dezember 2013 teilte die Securex Herrn V mit, dass er seit dem 1. Oktober 2007 dem belgischen System der sozialen Sicherheit ergänzend als Selbständiger unterstellt sei und daher für den Zeitraum vom vierten Quartal 2007 bis zum vierten Quartal 2013 35 198,42 Euro an Sozialversicherungsbeiträgen und Zuschlägen an sie zu entrichten habe.

16      Am 12. März 2014 erhob Herr V Klage beim Tribunal du travail de Liège (Arbeitsgericht Lüttich, Belgien), mit der er zum einen seine Unterstellung unter das belgische System der sozialen Sicherheit ergänzend als Selbständiger und zum anderen die Forderung der Securex auf Entrichtung der Sozialbeiträge anfocht.

17      Nach Erhebung dieser Klage übermittelte Herr V der Securex eine eidesstattliche Versicherung über die Kostenfreiheit seines Mandats als Abwickler, der er das Protokoll der Sitzung der geschäftsführenden Partner der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rechtsanwaltskanzlei vom 24. Februar 2014 beifügte, in dem u. a. festgestellt worden war, dass sein Mandat als Abwickler seit 1. Januar 2010 kostenfrei ausgeübt worden sei und diese Situation bis zum Abschluss der Abwicklung fortbestehen solle. In dieser Mitteilung beantragte Herr V, ab dem Zeitpunkt dieser Sitzung nicht mehr dem belgischen System der sozialen Sicherheit unterstellt zu sein.

18      Mit Urteil vom 17. August 2016 wies das Tribunal du travail de Liège (Arbeitsgericht Lüttich) die Klage von Herrn V als unbegründet ab, stellte dabei jedoch fest, dass für den Zeitraum von Oktober 2011 bis September 2013 die auf die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Sozialbeiträge berechneten gesetzlichen Zinsen nicht geschuldet seien.

19      Am 22. September 2016 legte Herr V beim vorlegenden Gericht gegen dieses Urteil ein Rechtsmittel ein, mit dem er die Abänderung des Urteils beantragte und u. a. geltend machte, dass im Hinblick auf die Verordnung Nr. 883/2004 das Inasti und die Securex keinen Anspruch auf Entrichtung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Beiträge hätten.

20      Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass Herr V seit dem 30. September 2007, dem Zeitpunkt des Endes seiner Tätigkeit als Rechtsanwalt, dem belgischen System der sozialen Sicherheit nicht mehr unterstellt war. Das vorlegende Gericht fragt sich daher, ob Herr V, der zum Geltungsbeginn der Verordnung Nr. 883/2004 nur dem luxemburgischen System der sozialen Sicherheit unterstellt war, dennoch gemäß Art. 87 Abs. 8 der Verordnung Nr. 883/2004 innerhalb von drei Monaten einen ausdrücklichen Antrag zu stellen hatte, um in den Genuss der Anwendung dieser Verordnung zu gelangen.

21      Das vorlegende Gericht führt weiter aus, dass nach dem von der Verwaltungskommission für die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit erarbeiteten praktischen Leitfaden zum anwendbaren Recht in der Europäischen Union, im Europäischen Wirtschaftsraum und in der Schweiz die erste Voraussetzung für die Anwendung von Art. 87 Abs. 8 der Verordnung Nr. 883/2004 laute, dass eine Person infolge dieser Verordnung den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats als jenes Mitgliedstaats unterliegen würde, der „bereits gemäß der Verordnung Nr. 1408/71 … bestimmt wurde“. Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts deutet der Leitfaden darauf hin, dass diese Bestimmung Anwendung findet, sofern die betreffende Person am 1. Mai 2010, der dem Zeitpunkt der Aufhebung der Verordnung Nr. 1408/71 und dem Geltungsbeginn der Verordnung Nr. 883/2004 entspreche, den Rechtsvorschriften des nach der Verordnung Nr. 1408/71 zuständigen Mitgliedstaats tatsächlich unterworfen sei. Eine solche Voraussetzung werde im Wortlaut von Art. 87 Abs. 8 der Verordnung Nr. 883/2004 jedoch nicht ausdrücklich erwähnt, weshalb sich bei der Auslegung dieser Bestimmung ein Problem stelle.

22      Unter diesen Umständen hat die Cour du travail de Liège (Arbeitsgerichtshof Lüttich, Belgien) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Art. 87 Abs. 8 der Verordnung Nr. 883/2004 dahin auszulegen, dass eine Person, die vor dem 1. Mai 2010 eine abhängige Beschäftigung in Luxemburg und eine selbständige Tätigkeit in Belgien aufgenommen hat, einen ausdrücklichen Antrag stellen muss, um den nach der Verordnung Nr. 883/2004 anwendbaren Rechtsvorschriften unterworfen zu werden, auch wenn sie in Belgien vor dem 1. Mai 2010 nicht beitragspflichtig war und den belgischen Rechtsvorschriften über das Sozialstatut der Selbständigen erst nach Ablauf der Frist von drei Monaten, die am 1. Mai 2010 begann, rückwirkend unterstellt wurde?

2.      Falls die erste Frage bejaht wird, führt dann der in Art. 87 Abs. 8 der Verordnung Nr. 883/2004 vorgesehene Antrag, wenn er unter den vorgenannten Umständen gestellt wird, dazu, dass die Rechtsvorschriften des nach der Verordnung Nr. 883/2004 zuständigen Mitgliedstaats rückwirkend ab dem 1. Mai 2010 anwendbar sind?

 Zu den Vorlagefragen

 Zulässigkeit

23      Das Königreich Belgien macht in seinen schriftlichen Erklärungen geltend, die Prüfung durch das vorlegende Gericht beruhe auf der unzutreffenden tatsächlichen Prämisse, dass Herr V am 1. Mai 2010, dem Geltungsbeginn der Verordnung Nr. 883/2004, in Belgien nicht beitragspflichtig gewesen sei. Nach Ansicht dieses Mitgliedstaats hat sich die Zugehörigkeit von Herrn V zum belgischen System der sozialen Sicherheit aufgrund seiner Tätigkeit als Abwickler nach dem 30. September 2007 ohne Unterbrechung fortgesetzt.

24      Die Vorlagefragen würfen somit ein rein hypothetisches Problem auf, das für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits nicht notwendig sei, und seien daher unzulässig.

25      Es ist festzustellen, dass das vorlegende Gericht auf ein vom Gerichtshof gemäß Art. 101 seiner Verfahrensordnung an es gerichtetes Ersuchen um Klarstellung ausgeführt hat, dass zum Geltungsbeginn der Verordnung Nr. 883/2004 bei Herrn V aufgrund seiner Tätigkeit als Abwickler angenommen werden könne, dass er als selbständig Erwerbstätiger den belgischen Rechtsvorschriften unterliege.

26      In Anbetracht der Ausführungen des vorlegenden Gerichts in seiner Antwort hat die belgische Regierung in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof daher vorgetragen, dass sie die Unzulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens nicht mehr geltend mache.

27      Jedenfalls ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs in dem Fall, dass die Fragen der nationalen Gerichte die Auslegung einer Bestimmung des Unionsrechts betreffen, der Gerichtshof grundsätzlich gehalten ist, über ein Vorabentscheidungsersuchen zu befinden, es sei denn, er soll offensichtlich in Wirklichkeit dazu veranlasst werden, über einen konstruierten Rechtsstreit zu entscheiden oder Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen abzugeben, die begehrte Auslegung des Unionsrechts steht in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Rechtsstreits oder der Gerichtshof verfügt nicht über die tatsächlichen oder rechtlichen Angaben, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 7. Dezember 2010, VEBIC, C‑439/08, EU:C:2010:739, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).

28      Wie der Generalanwalt in Nr. 25 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ist im vorliegenden Fall aus der dem Gerichtshof vorgelegten Akte ersichtlich, dass die Frage, ob Herr V verpflichtet war, einen Antrag gemäß Art. 87 Abs. 8 der Verordnung Nr. 883/2004 zu stellen, um nach dem 1. Mai 2010 ausschließlich den gemäß dieser Verordnung bestimmten Rechtsvorschriften – hier den luxemburgischen – unterstellt sein zu können, und die sich bejahendenfalls stellende Frage, welche Folgen sich daraus ergeben, dass ein solcher Antrag mehrere Jahre nach diesem Zeitpunkt gestellt wird, sicherlich Auswirkungen auf die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits haben. Die Antwort auf diese Fragen beeinflusst nämlich unmittelbar die Ermittlung der Zahl der Jahre, für die die belgischen Behörden von Herrn V die Entrichtung von Beiträgen verlangen dürften.

29      Folglich ist das Vorabentscheidungsersuchen zulässig.

 Beantwortung der Vorlagefragen

30      In Anbetracht der Ausführungen des vorlegenden Gerichts auf das Klarstellungsersuchen des Gerichtshofs ist davon auszugehen, dass es mit seiner ersten Frage wissen möchte, ob Art. 87 Abs. 8 der Verordnung Nr. 883/2004 dahin auszulegen ist, dass eine Person, die zum Geltungsbeginn dieser Verordnung eine abhängige Beschäftigung in einem Mitgliedstaat und eine selbständige Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat ausübte und damit gleichzeitig den gemäß Titel II der Verordnung Nr. 1408/71 im Bereich der sozialen Sicherheit anwendbaren Rechtsvorschriften dieser beiden Mitgliedstaaten unterlag, einen ausdrücklichen Antrag stellen muss, um den nach der Verordnung Nr. 883/2004 anwendbaren Rechtsvorschriften unterworfen zu werden.

31      Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass Art. 87 Abs. 8 der Verordnung Nr. 883/2004 zugunsten einer Person, für die infolge dieser Verordnung die Rechtsvorschriften eines anderen als des durch Titel II der Verordnung Nr. 1408/71 bestimmten Mitgliedstaats gelten, vorsieht, dass die zuvor geltenden Rechtsvorschriften für einen bestimmten Zeitraum nach dem Geltungsbeginn der Verordnung Nr. 883/2004 anwendbar bleiben, wenn sich der bis dahin vorherrschende Sachverhalt nicht ändert.

32      Die Anwendung dieser Bestimmung setzt somit erstens voraus, dass die anwendbaren Rechtsvorschriften unter Titel II der Verordnung Nr. 1408/71 fallen, und zweitens, dass sich der bis dahin vorherrschende Sachverhalt nicht ändert (Urteil vom 11. April 2013, Jeltes u. a., C‑443/11, EU:C:2013:224, Rn. 50).

33      Was die erste dieser beiden Voraussetzungen anbelangt, fiel die Situation von Herrn V zum Geltungsbeginn der Verordnung Nr. 883/2004 unstreitig unter Art. 14c Buchst. b der Verordnung Nr. 1408/71, der in deren Titel II steht. Es ist allerdings festzustellen, dass Art. 87 Abs. 8 der Verordnung Nr. 883/2004 nicht ausdrücklich Situationen wie die in Art. 14c Buchst. b der Verordnung Nr. 1408/71 genannten regelt, in denen die Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit zweier Mitgliedstaaten gleichzeitig anwendbar sind und infolge der Verordnung Nr. 883/2004 nur die Rechtsvorschriften eines dieser beiden Mitgliedstaaten anwendbar bleiben.

34      Daher stellt sich die Frage, ob dieser Umstand verhindert, dass eine Person, die sich in der Situation von Herrn V befindet, in den Anwendungsbereich von Art. 87 Abs. 8 der Verordnung Nr. 883/2004 fällt.

35      Nach ständiger Rechtsprechung sind bei der Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (Urteil vom 21. März 2018, Klein Schiphorst, C‑551/16, EU:C:2018:200, Rn. 34).

36      Nach seinem Wortlaut betrifft Art. 87 Abs. 8 der Verordnung Nr. 883/2004, der eine Übergangsbestimmung ist, den Fall einer Person, für die infolge der Verordnung Nr. 883/2004 „die Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats als desjenigen [gelten], der durch Titel II der Verordnung … Nr. 1408/71 bestimmt wird“.

37      Da sich das Adjektiv „anderen“ auf das Wort „Staat“ bezieht, ergibt sich aus dem Wortlaut dieser Bestimmung somit offenbar, dass der Unionsgesetzgeber auf die Situation Bezug nimmt, in der die Anwendung der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats auf die Anwendung der Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats folgt.

38      Bei wörtlicher Auslegung des Art. 87 Abs. 8 der Verordnung Nr. 883/2004 nimmt sein erster Satzteil offenbar nur auf Situationen Bezug, in denen für eine Person ab Geltungsbeginn der Verordnung Nr. 883/2004 die Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats als des Staates gelten, dessen Rechtsvorschriften zuvor für sie galten.

39      Dagegen würden für eine Person, für die unter der Verordnung Nr. 1408/71 gleichzeitig die Rechtsvorschriften zweier Mitgliedstaaten galten, gemäß der Verordnung Nr. 883/2004 weiterhin die Rechtsvorschriften eines dieser beiden Mitgliedstaaten gelten, und ihre Situation würde sich nur aufgrund der Tatsache ändern, dass die Rechtsvorschriften des anderen Mitgliedstaats nicht mehr für sie gelten.

40      Zum Zusammenhang, in dem Art. 87 Abs. 8 der Verordnung Nr. 883/2004 steht, ist festzustellen, dass bei der Erstreckung der Verordnung Nr. 1408/71 auf Selbständige Art. 14c dieser Verordnung eingeführt wurde, um für den Fall, dass eine Person, die gleichzeitig eine selbständige Tätigkeit im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats und eine abhängige Beschäftigung im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats ausübt, eine Ausnahme von der Regel der Anwendbarkeit nur eines Rechts vorzusehen. In den in Anhang VII der Verordnung Nr. 1408/71 genannten Fällen galten für diese Person dann die Rechtsvorschriften dieser beiden Mitgliedstaaten.

41      Wie der Gerichtshof bereits festgestellt hat, besteht das Ziel der Verordnung Nr. 883/2004 nach ihren Erwägungsgründen 4 und 45 darin, die Systeme der sozialen Sicherheit in den Mitgliedstaaten zu koordinieren, um sicherzustellen, dass das Recht auf Freizügigkeit wirksam ausgeübt werden kann. Mit dieser Verordnung wurden die Vorschriften der Verordnung Nr. 1408/71 aktualisiert und vereinfacht, dabei jedoch das Ziel letztgenannter Verordnung beibehalten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. März 2018, Klein Schiphorst, C‑551/16, EU:C:2018:200, Rn. 31).

42      Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 bestätigt den Grundsatz der Anwendbarkeit nur eines Rechts, wonach Personen, für die diese Verordnung gilt, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats unterliegen. Mit diesem Grundsatz sollen die Komplikationen, die sich aus der gleichzeitigen Anwendung von Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten ergeben können, vermieden und die Ungleichbehandlungen ausgeschlossen werden, die für innerhalb der Union zu- und abwandernde Personen aus einer teilweisen oder vollständigen Kumulierung der anwendbaren Rechtsvorschriften folgen würden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. März 2006, Piatkowski, C‑493/04, EU:C:2006:167, Rn. 21).

43      Entsprechend dem Grundsatz der Anwendbarkeit nur eines Rechts sieht Art. 13 Abs. 3 der Verordnung Nr. 883/2004 vor, dass eine Person, die gewöhnlich in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung und in einem anderen Mitgliedstaat eine selbständige Erwerbstätigkeit ausübt, den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats unterliegt, in dem sie eine Beschäftigung ausübt.

44      Des Weiteren ist entsprechend den Ausführungen des Generalanwalts in Nr. 35 seiner Schlussanträge festzustellen, dass durch die Verordnung Nr. 883/2004 alle unter der Verordnung Nr. 1408/71 geltenden Ausnahmen vom Grundsatz der Anwendbarkeit nur eines nationalen Rechts gestrichen wurden.

45      Daher spricht eine Auslegung von Art. 87 Abs. 8 der Verordnung Nr. 883/2004, bei der der Zusammenhang berücksichtigt wird, in dem diese Bestimmung steht, nicht für die Fortgeltung der Ausnahmeregelung, die eine doppelte Zugehörigkeit vorsieht, die sich mit dem von dieser Verordnung eingeführten System nicht vereinbaren ließe, das sich auf den Grundsatz der Anwendbarkeit nur eines nationalen Rechts stützt.

46      Der Zweck von Art. 87 Abs. 8 der Verordnung Nr. 883/2004 wurde – wie der Generalanwalt in Nr. 36 seiner Schlussanträge ausgeführt hat und sich aus dem Praktischen Leitfaden zur Bestimmung des anwendbaren Rechts für Erwerbstätige in der Europäischen Union, im Europäischen Wirtschaftsraum und in der Schweiz ergibt – dahin bestimmt, eine Vielzahl von Änderungen der anwendbaren Rechtsvorschriften bei der Umstellung auf die Verordnung Nr. 883/2004 zu vermeiden und für die betreffende Person hinsichtlich der anwendbaren Rechtsvorschriften eine „weiche Landung“ zu ermöglichen, falls sich Abweichungen hinsichtlich der nach der Verordnung Nr. 1408/71 und der nach der Verordnung Nr. 883/2004 anwendbaren Rechtsvorschriften ergeben.

47      Mit dieser Übergangsbestimmung wollte der Unionsgesetzgeber demnach Erwerbstätigen die zur Anpassung erforderliche Zeit gewährleisten, und zwar insbesondere um es ihnen zu ermöglichen, die Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats, die für sie neu wären, zur Kenntnis zu nehmen.

48      Aus Rn. 39 des vorliegenden Urteils ergibt sich jedoch, dass in einer Situation, in der für eine Person unter der Verordnung Nr. 1408/71 gleichzeitig die Rechtsvorschriften zweier Mitgliedstaaten galten, die Anwendung der Verordnung Nr. 883/2004 nicht dazu führt, dass auf den Erwerbstätigen die Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats, die somit neu wären, Anwendung finden, sondern lediglich eine Änderung seiner Situation nach sich zieht, weil in Bezug auf ihn die Anwendung der bis dahin für ihn geltenden Rechtsvorschriften eines der beiden Mitgliedstaaten endet.

49      Nach alledem erübrigt sich die Prüfung der in Rn. 32 des vorliegenden Urteils genannten zweiten Voraussetzung und ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 87 Abs. 8 der Verordnung Nr. 883/2004 auf eine Situation wie die von Herrn V nicht anwendbar ist, für den zum Geltungsbeginn der Verordnung Nr. 883/2004 gemäß Art. 14c Buchst. b der Verordnung Nr. 1408/71 gleichzeitig die Rechtsvorschriften zweier Mitgliedstaaten galten.

50      Folglich ist eine Person, die sich in einer Situation wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende befindet, nicht verpflichtet, einen Antrag gemäß Art. 87 Abs. 8 der Verordnung Nr. 883/2004 zu stellen, um ab dem 1. Mai 2010 ausschließlich den gemäß der Verordnung Nr. 883/2004 bestimmten Rechtsvorschriften, d. h. hier aufgrund ihres Art. 13 Abs. 3 den luxemburgischen Rechtsvorschriften, unterstellt zu sein.

51      Daher ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 87 Abs. 8 der Verordnung Nr. 883/2004 dahin auszulegen ist, dass eine Person, die zum Geltungsbeginn der Verordnung Nr. 883/2004 eine abhängige Beschäftigung in einem Mitgliedstaat und eine selbständige Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat ausübte und damit gleichzeitig den im Bereich der sozialen Sicherheit anwendbaren Rechtsvorschriften dieser beiden Mitgliedstaaten unterlag, keinen ausdrücklichen Antrag stellen musste, um den nach der Verordnung Nr. 883/2004 anwendbaren Rechtsvorschriften unterworfen zu werden.

52      In Anbetracht der Antwort auf die erste Frage erübrigt sich die Beantwortung der zweiten Frage.

 Kosten

53      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Sechste Kammer) für Recht erkannt:

Art. 87 Abs. 8 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in der durch die Verordnung (EG) Nr. 988/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass eine Person, die zum Geltungsbeginn der Verordnung Nr. 883/2004 eine abhängige Beschäftigung in einem Mitgliedstaat und eine selbständige Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat ausübte und damit gleichzeitig den im Bereich der sozialen Sicherheit anwendbaren Rechtsvorschriften dieser beiden Mitgliedstaaten unterlag, keinen ausdrücklichen Antrag stellen musste, um den nach der Verordnung Nr. 883/2004 in der durch die Verordnung Nr. 988/2009 geänderten Fassung anwendbaren Rechtsvorschriften unterworfen zu werden.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Französisch.