SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN
VERICA TRSTENJAK
vom 24. Januar 2008(1)
Rechtssache C‑350/06
Gerhard Schultz-Hoff
gegen
Deutsche Rentenversicherung Bund
(Vorabentscheidungsersuchen des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf [Deutschland])
„Richtlinie 2003/88/EG – Arbeitszeitgestaltung – Art. 7 – Recht auf bezahlten Mindestjahresurlaub – Urlaubsabgeltungsanspruch – Soziale Grundrechte im Gemeinschaftsrecht – Erlöschen des Urlaubsanspruchs nach Ablauf einer gesetzlich festgelegten Frist“
Inhaltsverzeichnis
I – Einleitung
II – Rechtlicher Rahmen
A – Gemeinschaftsrecht
B – Nationales Recht
1. Gesetzesrecht
2. Anwendbare Tarifverträge
III – Sachverhalt, Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
IV – Verfahren vor dem Gerichtshof
V – Wesentliche Argumente der Parteien
VI – Rechtliche Würdigung
A – Zur ersten Frage
1. Einleitende Bemerkungen
2. Der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub als soziales Grundrecht
3. Der Anspruch auf bezahlten Mindestjahresurlaub im Gemeinschaftsrecht
a) Die Umsetzungskompetenz der Mitgliedstaaten
b) Das gemeinschaftsrechtlich gewährleistete Schutzniveau
c) Anknüpfung des Urlaubsanspruchs an die Arbeitsfähigkeit
i) Übertragbarkeit der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze
ii) Verstoß gegen Sinn und Zweck von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88
– Gefahr der zweckentfremdenden Auslegung
– Auslegung orientiert an den Interessen der Parteien des Arbeitsverhältnisses
iii) Vergleich mit den Regelungen im IAO-Abkommen Nr. 132
B – Zur zweiten Frage
C – Zur dritten Frage
VII – Ergebnis
I – Einleitung
1. Mit seiner Vorlage zur Vorabentscheidung ersucht das Landesarbeitsgericht Düsseldorf den Gerichtshof gemäß Art. 234 EG um Auslegung von Art. 7 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung(2) (im Folgenden: Richtlinie 2003/88).
2. Die Vorlagefrage stellt sich im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Gerhard Schultz-Hoff (Kläger) und seiner ehemaligen Arbeitgeberin, der Deutschen Rentenversicherung Bund (Beklagte), in dem das Landesarbeitsgericht darüber zu befinden hat, ob der Kläger nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses Ansprüche auf Urlaubsabgeltung gegen die Beklagte hat.
3. Das Landesarbeitsgericht Düsseldorf möchte im Wesentlichen wissen, ob es mit Art. 7 der Richtlinie 2003/88 vereinbar ist, dass der Anspruch eines Arbeitnehmers, bezahlten Mindesturlaub von vier Wochen zu erhalten, zum Ende des Urlaubsjahrs, spätestens aber mit dem Ende des Übertragungszeitraums erlischt und der Urlaub bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht durch finanzielle Vergütung zu ersetzen ist, wenn der Arbeitnehmer anschließend bis zum Ende des Übertragungszeitraums arbeitsunfähig erkrankt.
II – Rechtlicher Rahmen
A – Gemeinschaftsrecht
4. Die Richtlinie 2003/88 ist am 2. August 2004 an die Stelle der Richtlinie 93/104/EG vom 23. November 1993 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung(3) getreten. Wie die Vorgängerrichtlinie bezweckt sie die Festlegung bestimmter Mindestvorschriften für Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeitszeitgestaltung. Ihr unverändert übernommener Art. 7 besagt Folgendes:
„Jahresurlaub
(1) Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit jeder Arbeitnehmer einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen nach Maßgabe der Bedingungen für die Inanspruchnahme und die Gewährung erhält, die in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder nach den einzelstaatlichen Gepflogenheiten vorgesehen sind.
(2) Der bezahlte Mindestjahresurlaub darf außer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht durch eine finanzielle Vergütung ersetzt werden.“
5. Art. 17 der Richtlinie 2003/88 sieht vor, dass die Mitgliedstaaten von bestimmten Vorschriften abweichen können. Art. 7 gehört nicht zu den Vorschriften, von denen die Richtlinie 2003/88 eine Abweichung zulässt.
B – Nationales Recht
1. Gesetzesrecht
6. Das Bundesurlaubsgesetz (BUrlG) vom 8. Januar 1963 in der Fassung vom 7. Mai 2002 bestimmt u. a. Folgendes:
„§ 1 Urlaubsanspruch
Jeder Arbeitnehmer hat in jedem Kalenderjahr Anspruch auf bezahlten Erholungsurlaub.
…
§ 3 Dauer des Urlaubs
(1) Der Urlaub beträgt jährlich mindestens 24 Werktage.
…
§ 7 Zeitpunkt, Übertragbarkeit und Abgeltung des Urlaubs
(1) Bei der zeitlichen Festlegung des Urlaubs sind die Urlaubswünsche des Arbeitnehmers zu berücksichtigen, es sei denn, dass ihrer Berücksichtigung dringende betriebliche Belange oder Urlaubswünsche anderer Arbeitnehmer, die unter sozialen Gesichtspunkten den Vorrang verdienen, entgegenstehen.
(3) Der Urlaub muss im laufenden Kalenderjahr gewährt und genommen werden. Eine Übertragung des Urlaubs auf das nächste Kalenderjahr ist nur statthaft, wenn dringende betriebliche oder in der Person des Arbeitnehmers liegende Gründe dies rechtfertigen. Im Fall der Übertragung muss der Urlaub in den ersten drei Monaten des folgenden Kalenderjahrs gewährt und genommen werden.
(4) Kann der Urlaub wegen Beendigung des Arbeitsverhältnisses ganz oder teilweise nicht mehr gewährt werden, so ist er abzugelten.“
7. § 13 BUrlG bestimmt, dass von den vorstehenden Vorschriften, darunter § 7 Abs. 3 BUrlG, in Tarifverträgen abgewichen werden kann, sofern dies nicht zu Ungunsten des Arbeitnehmers erfolgt.
2. Anwendbare Tarifverträge
8. Der Manteltarifvertrag für die Angestellten der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (im Folgenden: MTAng-BfA) sieht Folgendes vor:
„§ 47 Erholungsurlaub
(1) Der Angestellte erhält in jedem Urlaubsjahr Erholungsurlaub unter Zahlung der Urlaubsvergütung. Urlaubsjahr ist das Kalenderjahr.
…
(7) Der Urlaub ist spätestens bis zum Ende des Urlaubsjahres anzutreten. Kann der Urlaub bis zum Ende des Urlaubsjahres nicht angetreten werden, ist er bis zum 30. April des folgenden Urlaubsjahres anzutreten. Kann der Urlaub aus dienstlichen Gründen, wegen Arbeitsunfähigkeit oder wegen der Schutzfristen nach dem Mutterschutzgesetz nicht bis zum 30. April angetreten werden, ist er bis zum 30. Juni anzutreten. War ein innerhalb des Urlaubsjahres für dieses Urlaubsjahr festgelegter Urlaub auf Veranlassung der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte in die Zeit nach dem 31. Dezember des Urlaubsjahres verlegt worden und konnte er wegen Arbeitsunfähigkeit nicht nach Satz 2 bis zum 30. Juni angetreten werden, ist er bis zum 30. September anzutreten.
…
Urlaub, der nicht innerhalb der genannten Fristen angetreten ist, verfällt.
…
§ 51 Urlaubsabgeltung
(1) Ist im Zeitpunkt der Kündigung des Arbeitsverhältnisses der Urlaubsanspruch noch nicht erfüllt, ist der Urlaub, soweit dies dienstlich oder betrieblich möglich ist, während der Kündigungsfrist zu gewähren und zu nehmen. Soweit der Urlaub nicht gewährt werden kann oder die Kündigungsfrist nicht ausreicht, ist der Urlaub abzugelten. Entsprechendes gilt, wenn das Arbeitsverhältnis durch Auflösungsvertrag (§ 58) oder wegen verminderter Erwerbsfähigkeit (§ 59) endet oder wenn das Arbeitsverhältnis nach § 59 Abs. 1 Unterabs. 1 Satz 5 zum Ruhen kommt.“
III – Sachverhalt, Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
9. Die Parteien des Ausgangsverfahrens streiten nach der Beendigung eines Arbeitsverhältnisses am 30. September 2005 darüber, ob der Kläger Ansprüche auf Urlaubsabgeltung für die Jahre 2004 und 2005 hat.
10. Der Kläger, am 14. Januar 1949 geboren, war seit dem 1. April 1971 bei der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängerin beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien fand der MTAng-BfA Anwendung. Der Kläger bezog zuletzt eine Vergütung nach Vergütungsgruppe 11. Seit 1985 war der Kläger in der Zweigniederlassung Düsseldorf als Außendienstmitarbeiter tätig. Zu seiner Arbeitsaufgabe gehörte die Vornahme von Betriebsprüfungen und Prüfungen der Einzugsstellen; hierzu war er auf ein Kraftfahrzeug angewiesen.
11. Der Kläger, nach deutschem Recht als Schwerbehinderter (GdB 60 „G“(4)) eingestuft, musste sich wegen eines schweren Bandscheibenleidens seit dem Jahr 1995 insgesamt 16 Operationen unterziehen. Es lösten sich Zeiten der Arbeitsfähigkeit und solche krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit ab. Im Jahr 2004 war der Kläger bis Anfang September arbeitsfähig. Ab dem 8. September 2004 wurde er – dann fortlaufend bis zum 30. September 2005 – ärztlich krankgeschrieben. Die ständige Einnahme von morphinhaltigen Schmerzmitteln hindert den Kläger seither bis heute daran, ein Kraftfahrzeug zu führen.
12. Mit Schreiben vom 13. Mai 2005 beantragte der Kläger, ihm ab dem 1. Juni 2005 den Urlaub für 2004 zu gewähren. Den Urlaubsantrag lehnte die Beklagte am 25. Mai 2005 mit der Begründung ab, dass zuvor der Personalärztliche Dienst gemäß § 7 Abs. 2 MTAng-BfA die Dienstfähigkeit feststellen müsse. Mit Schreiben vom 10. August 2005 bat der Kläger darum, ihm im Wege einer Wiedereingliederungsmaßnahme einen Vorschlag über häuslich zu verrichtende Arbeit zu unterbreiten. Am 6. September 2005 antwortete die Beklagte, dass sie nach dem vom Kläger kurzfristig gestellten Rentenantrag zunächst den Ausgang des Rentenverfahrens abwarten wolle.
13. Die Beklagte stellte als Rentenversicherungsträger mit im September 2005 zugegangenem Bescheid fest, dass der Kläger erwerbsgemindert sei und bewilligte rückwirkend ab 1. März 2005 eine unbefristete Rente wegen voller Erwerbsminderung. Aufgrund dieser Feststellung fand das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien gemäß § 59 MTAng-BfA zum 30. September 2005 sein Ende.
14. Im November 2005 erhob der Kläger vor dem Arbeitsgericht Düsseldorf Klage auf Abgeltung des Urlaubs 2004 und 2005. Durch Urteil vom 7. März 2006 wies das Arbeitsgericht die Klage ab. Gegen dieses Urteil legte der Kläger am 27. April 2006 Berufung bei dem vorlegenden Landesarbeitsgericht Düsseldorf ein.
15. Der Kläger beziffert unter Zugrundelegung von 35 Urlaubstagen pro Jahr und eines Monatsverdienstes von 4 362,67 Euro brutto seinen Zahlungsanspruch auf insgesamt 14 094,78 Euro brutto. Er trägt vor, dass er sich in dem ab 1. Juni 2005 beantragten Urlaub für die spätere Teilnahme an einer Wiedereingliederungsmaßnahme habe erholen wollen. Weiterhin macht er geltend, in der Lage zu sein, eine leichte Bürotätigkeit in Teilzeit auszuüben.
16. Die Beklagte hält dem entgegen, dass die vom Kläger aufgezeigte Teilzeit-Bürotätigkeit keine Erfüllung der vertraglichen Arbeitsleistungspflicht bedeute. Bestehe daher die Arbeitsunfähigkeit des Klägers bis heute fort, seien die Urlaubsansprüche bis zum jeweiligen Ende des Übertragungszeitraums nicht erfüllbar gewesen und verfallen. Dem Kläger stehe demnach auch nicht die geforderte Urlaubsabgeltung zu.
17. Das vorlegende Gericht ist der Auffassung, dass die Entscheidung des Rechtsstreits von der Auslegung der Richtlinie 2003/88 abhänge. Es hat daher das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Ist Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG (= Art. 7 der Richtlinie 93/104/EG) dahin zu verstehen, dass Arbeitnehmer auf jeden Fall einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen erhalten müssen [und dass] insbesondere vom Arbeitnehmer wegen Krankheit im Urlaubsjahr nicht genommener Urlaub zu einer späteren Zeit zu gewähren ist, oder kann durch einzelstaatliche Rechtsvorschriften und/oder einzelstaatliche Gepflogenheiten vorgesehen werden, dass der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub erlischt, wenn Arbeitnehmer im Urlaubsjahr vor der Urlaubsgewährung arbeitsunfähig erkranken und vor Ablauf des Urlaubsjahrs bzw. des gesetzlich, kollektiv- oder einzelvertraglich festgelegten Übertragungszeitraums ihre Arbeitsfähigkeit nicht wiedererlangen?
2. Ist Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2003/88/EG dahin zu verstehen, dass Arbeitnehmern bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses auf jeden Fall ein Anspruch auf finanzielle Vergütung als Ersatz für erworbenen und nicht genommenen Urlaub (Urlaubsabgeltung) zusteht, oder können einzelstaatliche Rechtsvorschriften und/oder einzelstaatliche Gepflogenheiten vorsehen, dass Arbeitnehmern Urlaubsabgeltung nicht zusteht, wenn sie bis zum Ablauf des Urlaubsjahrs bzw. des anschließenden Übertragungszeitraums arbeitsunfähig erkrankt sind und/oder wenn sie nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit oder Invalidität beziehen?
3. Für den Fall, dass der Gerichtshof die Fragen zu 1 und 2 bejaht:
Ist Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG dahin zu verstehen, dass der Anspruch auf Jahresurlaub oder auf finanziellen Ersatz voraussetzt, dass der Arbeitnehmer tatsächlich im Urlaubsjahr gearbeitet hat, oder entsteht der Anspruch auch bei entschuldigtem Fehlen (wegen Krankheit) oder unentschuldigtem Fehlen im gesamten Urlaubsjahr?
IV – Verfahren vor dem Gerichtshof
18. Der Vorlagebeschluss mit Datum vom 2. August 2006 ist am 21. August 2006 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen.
19. Schriftliche Erklärungen sind von der Beklagten des Ausgangsverfahrens, den Regierungen der Bundesrepublik Deutschland, des Vereinigten Königreichs und der Italienischen Republik sowie von der Kommission der Europäischen Gemeinschaften innerhalb der in Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs genannten Frist eingereicht worden.
20. In der mündlichen Verhandlung vom 20. November 2007 sind die Prozessbevollmächtigten der Regierungen der Bundesrepublik Deutschland, des Vereinigten Königreichs, des Königreichs der Niederlande sowie der Kommission erschienen, um mündliche Ausführungen zu machen.
V – Wesentliche Argumente der Parteien
21. Die Beklagte trägt vor, eine unbeschränkte Übertragung von Urlaubsansprüchen bei arbeitsfähigen Arbeitnehmern liefe dem von der Richtlinie verfolgten Schutzzweck (Gewährung von Mindestruhezeiten zum Schutz der Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer) gerade zuwider. Bei arbeitsunfähigen Arbeitnehmern könnte die unbefristete Übertragung sogar dazu führen, dass Arbeitgeber geneigt seien könnten, sich früher von langfristig erkrankten Arbeitnehmern durch Kündigung zu trennen. Andernfalls liefen sie nämlich Gefahr, die gegebenenfalls über mehrere Jahre angesammelten erheblichen Urlaubsansprüche bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses abgelten zu müssen, was eine gravierende Beeinträchtigung betrieblicher Interessen nach sich ziehen könnte.
22. Die deutsche Regierung vertritt die Ansicht, dass Art. 7 Abs. 1 der Arbeitszeitrichtlinie lediglich festlege, dass einem Arbeitnehmer ein bezahlter Mindestjahresurlaub von vier Wochen zustehe. Regelungsgegenstand dieser Vorschrift sei nur die Mindestdauer des jährlichen Urlaubs. Die Modalitäten der Urlaubsgewährung, zu denen das Erlöschen des Urlaubsanspruchs zähle, überlasse die Richtlinie der Regelungsbefugnis der Mitgliedstaaten und der Auslegung des nationalen Rechts durch die Rechtsprechung.
23. Im Hinblick auf die zweite Vorlagefrage trägt die deutsche Regierung vor, es sei den Mitgliedstaaten und ihren Institutionen überlassen, ob und unter welchen Voraussetzungen sie eine Urlaubsabgeltung bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses vorsehen wollten.
24. Nach Ansicht der britischen Regierung hat der Kläger nicht gearbeitet, solange er sich im Krankheitsurlaub befunden habe, so dass er auch keiner „tatsächlichen Ruhezeit“ bedurft habe, um sich von der Arbeit zu erholen. Ziel des Art. 7 ist es nach der von der britischen Regierung vertretenen Auffassung, die Sicherheit und die Gesundheit derer, die tatsächlich arbeiten, dadurch zu schützen, dass Ruhezeiten für sie vorgesehen seien. Im vorliegenden Fall hätte die Gewährung von Urlaub sich jedoch nicht positiv auf die Sicherheit oder die Gesundheit des Arbeitnehmers ausgewirkt. Der Urlaub hätte vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht genommen werden können. Hätte der Kläger im vorliegenden Fall einen Anspruch auf Jahresurlaub, wäre zu fragen: Urlaub wovon? Die Aussage, dass der Kläger „Jahresurlaub“ während seines „Krankheitsurlaubs“ nehme, ergebe daher keinen Sinn.
25. Die britische Regierung weist darauf hin, dass sich die Antwort auf die zweite Vorlagefrage aus der Antwort auf die erste Frage ergebe. Da ein solcher Arbeitnehmer keinen Anspruch auf Jahresurlaub nach Art. 7 Abs. 1 habe, könne er auch keinen Anspruch auf eine Urlaubsabgeltung nach Art. 7 Abs. 2 haben. Überdies sei nach Art. 7 Abs. 2 eine Urlaubsabgeltung am Ende eines Arbeitsverhältnisses zwar zulässig, aber nicht vorgeschrieben. Daher könne keine Verpflichtung zu einer solchen Zahlung bestehen, wenn jemand der Arbeit wegen längerer krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit ferngeblieben sei.
26. Die italienische Regierung verweist sowohl auf die Übereinkommen Nrn. 52 und 132 der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO oder ILO entsprechend der englischsprachigen Abkürzung) als auch auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Auslegung des Art. 7 der Richtlinie. Unter Berücksichtigung der vom Gerichtshof entwickelten Grundsätze ist es nach Ansicht dieser Regierung nicht möglich, zu dem Ergebnis zu gelangen, dass der Anspruch auf tatsächliche Gewährung des Urlaubs seitens des Klägers des Ausgangsverfahrens erlösche, sollten nicht die unterschiedlichen Zwecke des Erholungsurlaubs und des Krankheitsurlaubs in Frage gestellt werden.
27. Aus den vorstehenden Erwägungen schließt die italienische Regierung, dass ein Arbeitnehmer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses auf jeden Fall Anspruch auf finanzielle Vergütung als Ersatz für den erworbenen und nicht genommenen Urlaub habe. Eine nationale Vorschrift, wonach die Arbeitnehmer keinen Anspruch auf eine Urlaubsabgeltung hätten, wenn sie bis zum Ablauf des Urlaubsjahrs oder des entsprechenden Übertragungszeitraums arbeitsunfähig erkrankt seien, erscheine daher nicht im Einklang mit den Gemeinschaftsgrundsätzen.
28. Die Kommission ist der Auffassung, dass der Einwand, wonach ein Arbeitnehmer, der krankheitsbedingt abwesend gewesen sei und nicht gearbeitet habe, keine entsprechende Ruhezeit benötige, nicht mit dem vom Gerichtshof in der Rechtsprechung zum Ausdruck gebrachten Ansatz vereinbar sei. Im Fall einer Krankschreibung des Arbeitnehmers könne der Anspruch auf Jahresurlaub nicht als erfüllt angesehen werden, da die Krankschreibung Folge der Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers sei und nicht dem Ausruhen, der Abstandgewinnung und der Erholung, sondern der Genesung und der Wiedererlangung von Gesundheit und Arbeitsfähigkeit diene. Nach Meinung der Kommission müssen die Mitgliedstaaten die ihnen von der Richtlinie gesetzten Grenzen respektieren. Mitgliedstaatliche Maßnahmen könnten daher nicht so weit gehen, den Arbeitnehmer zu verpflichten, den Jahresurlaub innerhalb eines begrenzten Übertragungszeitraums im Folgejahr zu nehmen, und die Nichtbefolgung dieser Bedingungen mit dem automatischen Erlöschen des Urlaubsanspruchs zu sanktionieren. Das ersatzlose Erlöschen des Anspruchs stehe daher im Widerspruch zum Ziel der Richtlinie.
29. Bezüglich der zweiten Vorlagefrage bringt die Kommission vor, dass die der Rechtsprechung des Gerichtshofs zugrunde liegende Argumentation, nach der die Möglichkeit, den Anspruch auf Jahresurlaub durch eine finanzielle Vergütung ersetzen zu können, mit der Richtlinie 2003/88 grundsätzlich unvereinbar sei, a fortiori auch auf eine nationale Regelung anwendbar sei, nach der die fehlende Inanspruchnahme des Jahresurlaubs dazu führe, dass dieser automatisch verfalle.
30. Die niederländische Regierung hinterfragt in ihrer mündlichen Stellungnahme die grundsätzliche Anwendbarkeit der Richtlinie 2003/88 auf Fälle krankheitsbedingter Abwesenheit von Arbeitnehmern mit der Begründung, dass diese nicht Regelungsgegenstand der Norm seien. Der Anwendungsbereich der Richtlinie 2003/88 beschränke sich ausschließlich auf aktive Arbeitnehmer, mit der Folge, dass im vorliegenden Fall allein nationales Recht gelte. Die Vielfalt an mitgliedstaatlichen Regelungen lasse jedoch keine allgemeingültigen Schlussfolgerungen im Hinblick auf die Rechte von kranken Arbeitnehmern zu.
VI – Rechtliche Würdigung
A – Zur ersten Frage
1. Einleitende Bemerkungen
31. Mit der ersten Vorlagefrage wirft das Landesarbeitsgericht Düsseldorf ein Problem der Auslegung von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 auf, insbesondere des Ausdrucks „nach Maßgabe der Bedingungen für die Inanspruchnahme und die Gewährung …, die in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder nach den einzelstaatlichen Gepflogenheiten vorgesehen sind“. In rechtlicher Hinsicht betrifft dieses Auslegungsproblem die Frage, ob bzw. inwieweit die Mitgliedstaaten über die Kompetenz verfügen, die gesetzlichen Voraussetzungen für ein Erlöschen des Anspruchs auf bezahlten Mindestjahresurlaub festzulegen.
32. Was die Verteilung der Rechtsetzungskompetenzen zwischen der Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten im Rahmen der Gewährleistung des Rechts auf bezahlten Jahresurlaub anbelangt, so ist zunächst darauf hinzuweisen, dass mit der Annahme der Richtlinie 2003/88 der Gemeinschaftsgesetzgeber sich eines Rechtsinstruments bedient hat, das zwar gemäß Art. 249 Abs. 3 EG den innerstaatlichen Stellen einen gewissen Spielraum hinsichtlich der Wahl der Mittel und der Form der Umsetzung überlässt, ihnen gleichzeitig aber insofern Schranken setzt, als die Richtlinie für jeden Mitgliedstaat hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich ist(5). Die nationalen Rechtsordnungen erhalten somit im Bereich der Umsetzung des Rechts auf bezahlten Jahresurlaub große, wenn auch nicht unbegrenzte Gestaltungsmöglichkeiten(6). Bei der Erfüllung des normativen Umsetzungsauftrags des Art. 7 haben die Mitgliedstaaten daher stets den Zielen der Richtlinie 2003/88 Rechnung zu tragen.
2. Der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub als soziales Grundrecht
33. Um dem vorlegenden Gericht in angemessener Weise antworten zu können, ist es meiner Auffassung nach notwendig, weit auszuholen und den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub sowohl in seiner sekundärrechtlichen Ausprägung innerhalb der Gemeinschaftsrechtsordnung als auch in dem größeren Zusammenhang der sozialen Grundrechte zu betrachten.
34. Bezüglich des Ziels der Richtlinie 2003/88 ergibt sich sowohl aus Art. 137 EG, der die Rechtsgrundlage dieser Richtlinie darstellt, als auch aus deren erstem, viertem, siebtem und achtem Erwägungsgrund sowie aus dem Wortlaut des Art. 1 Abs. 1, dass durch die Richtlinie Mindestvorschriften festgelegt werden sollen, die dazu bestimmt sind, die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer durch eine Angleichung namentlich der innerstaatlichen Arbeitszeitvorschriften zu verbessern(7). Die gemeinschaftsweite Harmonisierung der Arbeitszeitgestaltung soll einen besseren Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer durch die Gewährung von täglichen, wöchentlichen und jährlichen Mindestruhezeiten und angemessenen Ruhepausen sowie die Festlegung einer wöchentlichen Höchstarbeitszeit gewährleisten(8).
35. Bei der Auslegung von Art. 7 der Richtlinie 2003/88 ist indes zu berücksichtigen, dass der Anspruch auf bezahlten Mindestjahresurlaub nicht erst mit der Richtlinie über Arbeitszeiten festgelegt worden ist, sondern eigentlich unabhängig von der Dauer der gewährleisteten Urlaubszeit seit Langem zu den völkerrechtlich anerkannten sozialen Grundrechten gezählt wird(9). Auf internationaler Ebene findet dieses Grundrecht etwa in Art. 24 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte(10) Erwähnung, der jedem „das Recht auf Erholung und Freizeit und insbesondere auf eine vernünftige Begrenzung der Arbeitszeit und regelmäßigen bezahlten Urlaub“ zuerkennt. Es wird ebenfalls in Art. 2 Abs. 3 der Sozialcharta des Europarates(11) sowie in Art. 7 Buchst. d des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte(12) als Ausdruck des Rechts eines jeden auf gerechte und billige Arbeitsbedingungen anerkannt.
36. Im Rahmen der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) als Sonderorganisation der Vereinten Nationen ist das Recht auf bezahlten Mindestjahresurlaub bisher Gegenstand zweier multilateraler Abkommen gewesen, wobei das am 30. Juni 1973 in Kraft getretene Abkommen Nr. 132(13) das bis dahin geltende Abkommen Nr. 52(14) geändert hat. Sie enthalten zwingende Vorgaben an die Abkommensstaaten im Hinblick auf die Verwirklichung dieses sozialen Grundrechts innerhalb ihrer nationalen Rechtsordnungen.
37. Diese vielfältigen internationalen Akte unterscheiden sich allerdings sowohl in ihrem Regelungsgehalt als auch in ihrer normativen Tragweite, da es sich in einigen Fällen um völkerrechtliche Verträge, in anderen hingegen lediglich um feierliche Erklärungen ohne rechtliche Bindungswirkung handelt(15). Auch ist der persönliche Geltungsbereich unterschiedlich ausgestaltet, so dass der Kreis der Berechtigten keinesfalls identisch ist. Dazu ist den Unterzeichnerstaaten als Adressaten dieser Akte in der Regel ein weiter Umsetzungsspielraum eingeräumt, so dass die begünstigten Individuen sich nicht unmittelbar auf dieses Recht berufen können. Dennoch ist es bezeichnend, dass der Anspruch auf bezahlten Urlaub von all diesen internationalen Akten in eindeutigen Worten zu den Grundrechten der Arbeitnehmer gezählt wird.
38. Umso bedeutsamer ist aus meiner Sicht die Tatsache, dass dieser Anspruch durch die Aufnahme in die Charta der Grundrechte der Europäischen Union(16) wohl die qualifizierteste und endgültige Bestätigung für dessen Grundrechtscharakter erfahren hat(17). Art. 31 Abs. 2 der Charta bestimmt nämlich, dass „jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer das Recht auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit, auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten sowie auf bezahlten Jahresurlaub hat“. Entstehungsgeschichtlich ist diese Bestimmung an Art. 2 Abs. 3 der Sozialcharta des Europarats, sowie an Nr. 8 der Gemeinschaftscharta der sozialen Rechte der Arbeitnehmer(18) angelehnt, wobei die Richtlinie 93/104 als Vorgängerrichtlinie der heutigen Richtlinie 2003/88 ausweislich der Erläuterungen des Sekretariats des Konventspräsidiums maßgeblich berücksichtigt wurde(19).
39. Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte schreibt somit den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub als jedermann zustehendes Menschenrecht fest(20). Zwar ist der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ebenso wie auch einigen der zuvor genannten internationalen Rechtsinstrumente keine authentische normative Tragweite zuerkannt worden, so dass in ihr in erster Linie eine politische Erklärung zu erkennen ist. Dennoch bin ich der Auffassung, dass es verfehlt wäre, der Charta jegliche Bedeutung bei der Auslegung des Gemeinschaftsrechts abzusprechen(21). Ungeachtet der in Zukunft noch zu klärenden Frage betreffend den endgültigen rechtlichen Status der Charta innerhalb der Rechtsordnung der Europäischen Union stellt sie bereits heute eine Konkretisierung gemeinsamer europäischer Grundwerte dar(22).
40. Darüber hinaus spiegelt sie zu einem beträchtlichen Teil auch die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten wider. Soweit ich es überblicken kann, lässt sich diese Schlussfolgerung in Bezug auf das Recht auf bezahlten Mindestjahresurlaub durchaus ziehen, da Art. 31 Abs. 2 der Charta Vorbilder in den Verfassungen zahlreicher Mitgliedstaaten hat(23). Es ist somit durchaus vertretbar, in einem Rechtsstreit über die Natur und Tragweite eines Grundrechts wie dem vorliegenden den Grundgedanken des Art. 31 Abs. 2 der Charta bei der Auslegung von Art. 7 der Richtlinie 2003/88 heranzuziehen(24).
3. Der Anspruch auf bezahlten Mindestjahresurlaub im Gemeinschaftsrecht
a) Die Umsetzungskompetenz der Mitgliedstaaten
41. Der Gerichtshof hat die Tragweite des Rechts auf bezahlten Jahresurlaub anerkannt und festgestellt, dass „der Anspruch jedes Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub als ein besonders bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der Gemeinschaft anzusehen ist, von dem nicht abgewichen werden darf und den die zuständigen nationalen Stellen nur in den in der Richtlinie 93/104 ausdrücklich genannten Grenzen umsetzen dürfen“(25). Die Bestimmungen in Art. 7 der Richtlinie 2003/88 sind als Regel verfasst, die vorschreibt, dass ein Arbeitnehmer über eine tatsächliche Ruhezeit verfügen können muss, damit ein wirksamer Schutz seiner Sicherheit und seiner Gesundheit sichergestellt wird(26).
42. Um die Richtlinienziele erreichen zu können, ist mit der Rechtsprechung von einem weiten zeitlichen Schutzbereich des Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 auszugehen, so dass die folgenden Ausführungen ebenfalls für den Urlaub gelten, der nicht im laufenden Jahr, sondern zu einem späteren Zeitpunkt genommen wird. Der Gerichtshof hat nämlich hierzu festgestellt, dass die positive Wirkung des Jahresurlaubs für die Sicherheit und die Gesundheit des Arbeitnehmers sich zwar dann vollständig entfaltet, wenn der Urlaub in dem hierfür vorgesehenen, also dem laufenden Jahr genommen wird, allerdings diese Ruhezeit ihre Bedeutung insoweit nicht verliert, wenn sie zu einer späteren Zeit genommen wird. Da der Urlaub auch dann zur Sicherheit und zur Gesundheit des Arbeitnehmers beitragen kann, wenn er in einem späteren Jahr genommen wird, unterfällt er auch in diesem Fall dem Anwendungsbereich der Richtlinie(27).
43. Gemäß der Rechtsprechung kommt den Mitgliedstaaten bei der Verwirklichung dieses Rechts eine maßgebliche Rolle zu, da ihnen in Erfüllung des Umsetzungsauftrags des Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 die Pflicht obliegt, die notwendigen innerstaatlichen Durchführungsmodalitäten festzulegen(28). Dies schließt die Festlegung der Voraussetzungen für die Ausübung und die Umsetzung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub ein, wobei es den Mitgliedstaaten freisteht, die konkreten Umstände zu bezeichnen, unter denen die Arbeitnehmer von diesem Recht, das ihnen für die Gesamtheit der zurückgelegten Beschäftigungszeiten zusteht, Gebrauch machen können(29).
44. Die in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 enthaltene Verweisung auf die nationalen Rechtsvorschriften dient insbesondere dem Zweck, den Mitgliedstaaten zu ermöglichen, einen rechtlichen Rahmen festzulegen, der organisatorische und verfahrensmäßige Aspekte bei der Inanspruchnahme von Urlaub regelt, wie z. B. die Planung der Urlaubszeiten, die eventuelle Verpflichtung des Arbeitnehmers, dem Arbeitgeber vorher mitzuteilen, wann er seinen Urlaub nehmen will, das Erfordernis der Ableistung einer Mindestarbeitszeit, bevor der Urlaub genommen werden kann, die Kriterien für die anteilsmäßige Berechnung des Jahresurlaubsanspruchs, wenn das Arbeitsverhältnis weniger als ein Jahr andauert, usw.(30). Es handelt sich aber immer um Maßnahmen zur Bestimmung der Bedingungen für die Inanspruchnahme und die Gewährung des Urlaubsanspruchs, die als solche von der Richtlinie 2003/88 zugelassen sind.
45. Aus dem Grundsatz der Gemeinschaftstreue nach Art. 10 EG leitet sich umgekehrt die gemeinschaftsrechtliche Pflicht der Mitgliedstaaten ab, bei der Umsetzung von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 in nationales Recht alles zu unterlassen, was diesem Ziel im Wege stehen könnte(31). Dies betrifft insbesondere die Ergreifung von Maßnahmen, welche die Existenz des Rechts auf bezahlten Mindestjahresurlaub selbst gefährden könnten(32). Folgerichtig hat der Gerichtshof im Urteil BECTU(33) eine mitgliedstaatliche Regelung, die eine Voraussetzung für den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub aufstellt, die für bestimmte Arbeitnehmer bereits die Entstehung dieses Anspruchs verhindern kann, für nicht mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar erklärt mit der Begründung, dass sie nicht nur ein durch die Richtlinie 93/104 ausdrücklich eingeräumtes individuelles Recht seines Inhalts beraubt, sondern auch im Widerspruch zum Ziel dieser Richtlinie steht.
46. Wie ich meine, hat der Gerichtshof in dem besagten Urteil den Gedanken der praktischen Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts angewandt und dabei zu Recht erkannt, dass ein Mitgliedstaat, der über die Entstehung eines Anspruchs entscheiden darf, diesen auch dadurch unterlaufen oder gar zunichte machen kann, dass er dessen Inanspruchnahme von schwer zu erfüllenden Voraussetzungen abhängig macht. Ich bin der Ansicht, dass dieser Anspruch in gleicher Weise unterlaufen werden kann, wenn ein Mitgliedstaat die Voraussetzungen für das Erlöschen eines Anspruchs festlegen darf, da es in beiden Fällen um das Bestehen dieses Rechts selbst geht.
47. Es besteht nämlich dieselbe Gefahr für die Verwirklichung des Rechts auf bezahlten Jahresurlaub, wenn einem Mitgliedstaat die Befugnis eingeräumt wird, festzulegen, unter welchen Umständen ein Arbeitnehmer nach Ablauf einer bestimmten Frist diesen Anspruch verliert. Hierbei handelt es sich nicht mehr um die Entscheidung hinsichtlich der Art und Weise der Durchführung des bezahlten Jahresurlaubs(34), d. h. der konkreten Umsetzung dieses Rechts, sondern um die Definition der Tragweite einer Gemeinschaftsvorschrift, nämlich Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88.
48. Eine Auslegung dieser Bestimmung dahin gehend, dass der Jahresurlaub nach Ablauf einer bestimmten Frist verfällt, obwohl Arbeitnehmer infolge krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit diesen nicht in Anspruch nehmen konnten, läuft nämlich darauf hinaus, bestimmte Arbeitnehmer durch die Einschränkung des persönlichen Schutzbereichs von diesem Anspruch auszuschließen(35).
49. Infolge der Harmonisierung in diesem Bereich des sozialen Arbeitsschutzrechts, die laut Art. 137 Abs. 2 Buchst. b EG als Rechtsgrundlage der Richtlinie 2003/88 angestrebt wird, steht die Kompetenz, die Tragweite dieses Anspruchs zu bestimmen, jedoch nunmehr der Gemeinschaft zu(36). Stünde sie nämlich zur Disposition der Mitgliedstaaten, wäre es praktisch unmöglich, gemeinschaftsweit ein vergleichbares Schutzniveau und damit den Zweck der Harmonisierung zu gewährleisten. Aus diesem Grund ist das Vorbringen der deutschen Regierung zurückzuweisen, das Erlöschen des Urlaubsanspruchs zähle zu den Modalitäten der Urlaubsgewährung und unterliege der Regelungsbefugnis der Mitgliedstaaten.
b) Das gemeinschaftsrechtlich gewährleistete Schutzniveau
50. Ferner halte ich es für wichtig, daran zu erinnern, dass die Freiheit der Mitgliedstaaten bei der Festlegung von innerstaatlichen Durchführungsmaßnahmen durch den Umstand beschränkt ist, dass Art. 137 Abs. 2 Buchst. b EG mit dem Erlass von Mindestvorschriften ein bestimmtes gemeinschaftsrechtlich festgelegtes Schutzniveau gewährleisten will, welches von den Mitgliedstaaten nicht unterschritten werden darf. Wie der Gerichtshof im Urteil Vereinigtes Königreich/Rat(37) in Bezug auf den Begriff der „Mindestvorschriften“ im Sinne der früheren Rechtsgrundlage in Art. 118a EG-Vertrag ausgeführt hat, beschränkt diese Bestimmung das Tätigwerden der Gemeinschaft nicht auf den kleinsten gemeinsamen Nenner, nämlich auf das niedrigste in einem Mitgliedstaat erreichte Schutzniveau. Vielmehr ist dieser Begriff so zu verstehen, dass die Mitgliedstaaten über den gegebenenfalls hohen Schutz hinausgehen können, der sich aus dem Gemeinschaftsrecht ergibt.
51. Diese Auslegung wird durch den Wortlaut des Art. 136 EG bestätigt, der als Ziel der Sozialpolitik eine „Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen“ vorschreibt. Dieses Ziel soll ausdrücklich durch eine Angleichung „im Wege des Fortschritts“ erreicht werden(38). Um diese primärrechtliche Zielsetzung zu erreichen, ermächtigt Art. 15 der Richtlinie 2003/88 die Mitgliedstaaten, für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer günstigere Maßnahmen anzuwenden oder zu fördern. Entsprechend heißt es in Art. 23 der Richtlinie 2003/88 im Hinblick auf das Niveau des Arbeitnehmerschutzes, dass unbeschadet des Rechts der Mitgliedstaaten, unterschiedliche Vorschriften zu entwickeln, sofern die Mindestvorschriften der Richtlinie eingehalten würden, die Durchführung der Richtlinie keine wirksame Rechtfertigung für eine Zurücknahme des allgemeinen Arbeitnehmerschutzes darstelle(39).
52. Welches Mindestschutzniveau der Gemeinschaftsgesetzgeber für den Bereich des Urlaubsrechts festgelegt hat, lässt sich anhand der Richtlinie 2003/88 bestimmen. Hierzu ist festzustellen, dass Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 keine Einschränkung des Anspruchs auf Urlaub enthält. Die Bedingung, dass der Arbeitnehmer bis zu einem bestimmten Zeitpunkt, d. h. bis zum Ende des Urlaubsjahrs bzw. des Übertragungszeitraums, den Urlaub rechtzeitig verlangen und tatsächlich nehmen muss, ist in der Richtlinie ebenso wenig vorgesehen wie das Erlöschen des Anspruchs. Auch gehört Art. 7 Abs. 1 nicht zu den Vorschriften, von denen Art. 17 der Richtlinie 2003/88 Abweichungen ausdrücklich zulässt(40).
53. Damit strebt der Gemeinschaftsgesetzgeber bewusst ein höheres Mindestschutzniveau als das IAO-Abkommen Nr. 132 an(41). Während Art. 9 des IAO-Abkommens Nr. 132 für die Gewährung und die Inanspruchnahme des Jahresurlaubs eine zeitliche Grenze von einem Jahr bzw. 18 Monaten nach Ablauf des Jahres, für das der Urlaubsanspruch erworben wurde, vorsieht(42), fehlt eine entsprechende Regelung in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 gänzlich. Dies lässt die Schlussfolgerung zu, dass der Schutz, den das Gemeinschaftsrecht den Arbeitnehmern garantieren will, weitreichender als der der arbeitsrechtlichen Normen des Völkervertragsrechts ist(43).
54. Eine Auslegung von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 dahin gehend, dass der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nach einer bestimmten Zeit erlischt, wenn er nicht rechtzeitig genommen wird, ist somit weder mit dem Ziel des Gemeinschaftsgesetzgebers, ein höheres Schutzniveau als das IAO-Abkommen Nr. 132 zu gewährleisten, vereinbar, noch findet sie eine Grundlage im Wortlaut dieser Vorschrift.
c) Anknüpfung des Urlaubsanspruchs an die Arbeitsfähigkeit
i) Übertragbarkeit der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze
55. Entgegen der Ansicht der britischen und der niederländischen Regierung bestehen auch keine Anhaltspunkte dafür, dass Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 den Anspruch auf bezahlten Mindestjahresurlaub an die Arbeitsfähigkeit des Arbeitnehmers im Urlaubsjahr oder im Übertragungszeitraum anknüpft. Zwar könnte im Prinzip eingewandt werden, dass ein Arbeitnehmer, der krankheitsbedingt abwesend war und nicht gearbeitet hat, keine entsprechende Ruhezeit benötigt. Wie die Kommission jedoch zu Recht ausführt, ist dieser Ansatz nicht mit dem des Gerichtshofs vereinbar, wie er in den Urteilen Merino Gómez(44) und FNV(45) zum Ausdruck kommt.
56. Der Gerichtshof hatte sich in der Rechtssache Merino Gómez mit dem gemeinschaftsrechtlichen Verhältnis von Jahresurlaub und Mutterschaftsurlaub zu befassen. Konkret ging es um die Frage, ob eine Arbeitnehmerin aufgrund von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88, Art. 11 Nr. 2 Buchst. a der Richtlinie 92/85/EWG(46) und Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 76/207/EWG(47) in Fällen, in denen die zwischen einem Unternehmen und den Arbeitnehmervertretern geschlossenen betrieblichen Kollektivvereinbarungen die Urlaubszeiten für die gesamte Belegschaft festlegen und diese Zeiten mit ihrem Mutterschaftsurlaub zusammenfallen, den Anspruch hat, ihren Jahresurlaub in einem anderen als dem vereinbarten Zeitraum zu nehmen, der nicht mit ihrem Mutterschaftsurlaub zusammenfällt. Der Gerichtshof hat dazu festgestellt, dass der Anspruch auf Jahresurlaub einem anderen Zweck dient als der Anspruch auf Mutterschaftsurlaub. Letzterer dient zum einen dem Schutz der körperlichen Verfassung der Frau während und nach der Schwangerschaft und zum anderen dem Schutz der besonderen Beziehung zwischen der Mutter und ihrem Kind während der Zeit, die an die Schwangerschaft und die Entbindung anschließt(48). Der Gerichtshof urteilte daher, dass eine Arbeitnehmerin ihren Jahresurlaub zu einer anderen Zeit als der ihres Mutterschaftsurlaubs nehmen können muss(49).
57. Diesen Grundsatz hat der Gerichtshof im Urteil FNV bestätigt und dahin gehend präzisiert, dass die Kumulierung mehrerer durch Gemeinschaftsrecht gewährleisteter Urlaubszeiten die Übertragung des Jahresurlaubs oder eines Teils davon auf das folgende Jahr unvermeidlich machen kann(50), weil ein durch Gemeinschaftsrecht gewährleisteter Urlaub einen anderen gemeinschaftsrechtlich gewährleisteten Urlaub nicht beeinträchtigen darf(51).
58. Obwohl eine Schwangerschaft gewiss nicht mit einem Krankheitszustand gleichgesetzt werden kann, lassen sich mehrere Gründe für eine entsprechende Anwendung dieser Rechtsprechung auf das Verhältnis von Jahresurlaub und Urlaub wegen Krankheit anführen. Ähnlich dem Mutterschaftsurlaub bezweckt der Urlaub wegen Krankheit nämlich, die physische und psychische Integrität des Arbeitnehmers zu bewahren, indem ihm durch die Befreiung von der Arbeitspflicht und die Gewährung einer Ruhezeit die Möglichkeit gegeben wird, sich körperlich zu erholen und später in seine Arbeitsstelle wiedereinzugliedern. Anders als der Jahresurlaub, der dem Ausruhen, der Abstandgewinnung und der Erholung dient, bezweckt der Urlaub wegen Krankheit somit ausschließlich die Genesung und die Heilung, d. h. die Überwindung eines pathologischen Zustands, dessen Ursachen darüber hinaus außerhalb des Einflussbereichs des betroffenen Arbeitnehmers liegen(52).
59. Insofern ist, der Auffassung der italienischen Regierung folgend, zu sagen, dass es unter Berücksichtigung der vom Gerichtshof entwickelten Grundsätze nicht möglich ist, zu dem Ergebnis zu gelangen, dass der Anspruch des Klägers des Ausgangsverfahrens auf tatsächliche Gewährung des Urlaubs erlischt, sollen nicht die unterschiedlichen Zwecke des Erholungsurlaubs und des Krankheitsurlaubs in Frage gestellt werden. Dem Grundgedanken der oben genannten Rechtsprechung folgend, müsste sich die Gewährung von Urlaub wegen Krankheit zu lasten des bezahlten Jahresurlaubs verbieten, da es andernfalls zu einer Aushöhlung dieses grundrechtlich verbrieften Rechts kommen könnte.
ii) Verstoß gegen Sinn und Zweck von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88
– Gefahr der zweckentfremdenden Auslegung
60. Über die bereits angeführten Bedenken gegen eine Auslegung von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88, die einen Verlust des Urlaubsanspruchs nach Ablauf einer bestimmten Frist zulässt, hinaus lässt sich als zusätzliches Argument die Unvereinbarkeit einer solchen Regelung mit dem Ziel der Richtlinie 2003/88, die Verbesserung der Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer zu gewährleisten, vorbringen.
61. Der ursprüngliche Sinn und Zweck des arbeitsrechtlichen Verbots, nicht genommene Urlaubstage zu akkumulieren, wie es einige nationale Rechtsordnungen, darunter die deutsche, bisher vorgesehen haben, besteht anscheinend darin, die tatsächliche Inanspruchnahme von Urlaub innerhalb des laufenden Jahres sicherzustellen, indem dem Arbeitnehmer selbst die Verantwortung für die Durchsetzung seines Urlaubsanspruchs im Einzelfall auferlegt wird. Diesem Konzept zufolge scheint es offenbar konsequent, den Arbeitnehmer die Folgen seiner Passivität oder der verspäteten Geltendmachung durch den Verlust dieses Rechts tragen zu lassen(53).
62. Indes gilt zu bedenken, dass das ursprüngliche Ziel des sozialen Schutzes des Arbeitnehmers, das hinter dieser Regelung steht und als solches mit dem der Richtlinie 2003/88 identisch ist, gerade in sein Gegenteil verkehrt wird, wenn der Arbeitnehmer aus Gründen, die er nicht zu vertreten hat, seinen Anspruch auf Jahresurlaub nicht verwirklichen kann. Zu den vom Arbeitnehmer nicht zu vertretenden Umständen gehört zum einen die Möglichkeit der absichtlichen Nichterfüllung durch den Arbeitgeber, die durch eine solche Regelung zusätzlich belohnt wird. Dazu gehören aber auch natürliche, außerhalb des Einflussbereichs des Betroffenen liegende Umstände höherer Gewalt wie Krankheit.
63. In beiden Fällen wird durch den Verlust des Urlaubsanspruchs das angestrebte Ziel nicht nur verfehlt, sondern er wirkt sich letztlich als eine sachlich nicht zu rechtfertigende Sanktion des Arbeitnehmers aus. Eine solche Rechtsfolge ist offenkundig nicht mit dem Sinn und Zweck der Richtlinie 2003/88 vereinbar. Demzufolge darf Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 nicht dahin ausgelegt werden, dass die krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers zu einem Verlust des grundrechtlich garantierten Anspruchs auf den Mindestjahresurlaub führt.
– Auslegung orientiert an den Interessen der Parteien des Arbeitsverhältnisses
64. Entgegen dem Vorbringen der Beklagten des Ausgangsverfahrens ist eine Auslegung von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88, die den Interessen des Arbeitgebers Rechnung trägt und gleichzeitig das Grundrecht auf Mindestjahresurlaub weniger einschränkt als die streitige deutsche Regelung, durchaus möglich. Wie von der Kommission zutreffend dargelegt, erscheint es angemessen, wenn ein Mitgliedstaat Bedingungen festlegt, damit im Interesse der Gesundheit und der Sicherheit beispielsweise Urlaubsansprüche nur übertragen werden, soweit dies notwendig erscheint. Ebenfalls durchführbar wäre die Schaffung von Anreizen, um Arbeitnehmer dazu zu bewegen, ihren Jahresurlaub innerhalb eines vernünftigen Zeitraums im Folgejahr zu nehmen.
65. Die konkrete Umsetzung dieser Maßnahmen auf Unternehmensebene obliegt wiederum dem Arbeitgeber, der kraft seiner umfassenden Organisations- und Koordinierungsbefugnisse(54) in der Lage ist, das Recht der Arbeitnehmer auf Urlaub möglichst in Einklang mit den jeweiligen betrieblichen Bedürfnissen zu bringen.
iii) Vergleich mit den Regelungen im IAO-Abkommen Nr. 132
66. Gegen eine Anknüpfung des Urlaubsanspruchs an die Arbeitsfähigkeit des Arbeitnehmers spricht zudem, dass nach dem eindeutigen Wortlaut des Art. 5 Abs. 4 des IAO-Abkommens Nr. 132 „Arbeitsversäumnisse aus Gründen, die unabhängig vom Willen des beteiligten Arbeitnehmers bestehen, wie zum Beispiel Krankheit, Unfall oder Mutterschaft, als Dienstzeit anzurechnen [sind]“(55). Überdies schreibt Art. 6 Abs. 2 desselben Abkommens ausdrücklich vor, dass „Zeiten der Arbeitsunfähigkeit infolge von Krankheit oder Unfall in den vorgeschriebenen Mindestjahresurlaub nicht eingerechnet werden [dürfen]“.
67. Diese Bestimmungen sind somit entsprechend ihrer Zielrichtung dahin gehend zu verstehen, dass ein zuvor in Anspruch genommener Urlaub wegen Krankheit den Anspruch auf bezahlten Mindestjahresurlaub nicht beeinträchtigen darf(56). Zwar haben die Unterzeichnerstaaten, zu denen die meisten Mitgliedstaaten der Europäischen Union zählen(57), dies „unter Bedingungen sicherzustellen, die von der zuständigen Stelle oder durch geeignete Verfahren in jedem Land zu bestimmen sind“, dennoch beschränkt sich die Kompetenz der Mitgliedstaaten auch hier auf den Erlass von Durchführungsmaßnahmen, so dass es ihnen rechtlich verwehrt sein dürfte, jene Arbeitsversäumnisse nicht als Dienstzeit anzusehen.
68. Damit stimmen die Normen des IAO-Abkommens Nr. 132 und der Richtlinie 2003/88 in ihrer rechtlichen Grundaussage im Wesentlichen überein(58). Demzufolge sind die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, diese Normen so auszulegen und ihre nationalen Rechtsordnungen so zu gestalten, dass Arbeitsversäumnisse infolge von Krankheit den Anspruch auf den bezahlten Mindestjahresurlaub unberührt lassen.
B – Zur zweiten Frage
69. Gegenstand der zweiten Vorlagefrage ist die normative Tragweite des in Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2003/88 vorgesehenen Anspruchs auf Urlaubsabgeltung. Die Urlaubsabgeltung, also die Auszahlung des nicht genommenen Jahresurlaubs, tritt an die Stelle der Freizeitgewährung, wenn der Urlaub infolge der Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht mehr gewährt werden kann. Dieser Anspruch stellt die einzige Ausnahme zum grundsätzlichen Abgeltungsverbot der Richtlinie dar, welches es den Parteien eines Arbeitsverhältnisses sonst kategorisch untersagt, den Jahresurlaub – unabhängig davon, ob er im laufenden Jahr oder im Übertragungszeitraum genommen werden sollte – durch eine finanzielle Vergütung zu ersetzen.
70. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs soll dieses Verbot gewährleisten, dass der Arbeitnehmer normalerweise über eine tatsächliche Ruhezeit verfügen kann, damit ein wirksamer Schutz seiner Sicherheit und seiner Gesundheit sichergestellt ist(59). Verhindert werden soll dadurch ein missbräuchlicher „Abkauf“ des Urlaubsanspruchs durch den Arbeitgeber bzw. ein Verzicht des Arbeitnehmers darauf aus rein finanziellen Erwägungen(60).
71. Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2003/88 unterstreicht die Funktion der Fortzahlung des Arbeitsentgelts während des Urlaubszeitraums, die darin besteht, den Arbeitnehmer während dieser Zeit in eine Lage zu versetzen, die in Bezug auf das Entgelt mit den Zeiten geleisteter Arbeit vergleichbar ist(61). Mit anderen Worten, das Erfordernis der Zahlung dieses Urlaubsentgelts gewährleistet, dass der Arbeitnehmer wirtschaftlich in der Lage ist, seinen Jahresurlaub tatsächlich in Anspruch zu nehmen(62). Nichts anderes bezweckt die Urlaubsabgeltung. Die ersatzweise finanzielle Vergütung soll nämlich dem Arbeitnehmer grundsätzlich auch nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine Zeit bezahlter Erholung ermöglichen, bevor er in ein neues Arbeitsverhältnis eintritt(63). Ein Wegfall dieser Vergütung hätte daher zur Folge, dass das mit der Richtlinie 2003/88 verfolgte Ziel der Erholung des Arbeitnehmers nicht erreicht werden könnte.
72. Der Gerichtshof hat im Urteil Robinson-Steele(64) festgestellt, dass die Richtlinie 2003/88 den Anspruch auf Jahresurlaub und denjenigen auf Zahlung des Urlaubsentgelts als zwei Teile eines einzigen Anspruchs behandelt. Aus meiner Sicht spricht gerade diese Funktionsidentität von Lohn- und Urlaubsabgeltungsanspruch dafür, Letzteren ebenfalls als untrennbaren Teil des Anspruchs auf bezahlten Mindestjahresurlaub zu behandeln.
73. Insofern ergibt sich die Antwort auf die zweite Vorlagefrage bereits aus der Antwort auf die erste Frage. Wenn nämlich das automatische Erlöschen des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub nach Ablauf einer bestimmten Frist, wie bereits festgestellt, im Widerspruch zum Ziel der Richtlinie 2003/88 steht, dann muss dies in gleicher Weise für den an den Urlaubsanspruch anknüpfenden Urlaubsabgeltungsanspruch als Sekundäranspruch gelten.
74. Dagegen kann dem Vorbringen der Beklagten des Ausgangsrechtsstreits nicht gefolgt werden, wonach die Aussicht, die gegebenenfalls über mehrere Jahre angesammelten erheblichen Urlaubsansprüche bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses abgelten zu müssen, Arbeitgeber dazu bewegen könnte, sich früher von langfristig erkrankten Arbeitnehmern durch Kündigung zu trennen. Hiergegen lässt sich nämlich einwenden, dass gerade das Fehlen einer Pflicht des Arbeitgebers zur Abgeltung des nicht genommenen Urlaubs ihn dazu ermutigen könnte, Arbeitnehmer vor Gewährung des Jahresurlaubs zu entlassen, da er andernfalls verpflichtet wäre, den Anspruch der Arbeitnehmer auf bezahlten Mindestjahresurlaub nach Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 zu erfüllen. Will man einem missbräuchlichen Rückgriff auf das Kündigungsrecht zwecks Umgehung dieses gemeinschaftsrechtlich gewährleisteten Grundrechts vorbeugen, so muss dem Arbeitnehmer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses auf jeden Fall ein Anspruch auf finanzielle Vergütung als Ersatz für erworbenen und nicht genommenen Urlaub zugestanden werden.
75. Auch eine rechtsvergleichende Untersuchung der einschlägigen Bestimmungen des IAO-Abkommens Nr. 132 lässt keine abweichende Schlussfolgerung zu. Art. 11 des Abkommens stipuliert den grundsätzlichen Anspruch eines Arbeitnehmers auf eine Urlaubsabgeltung im Verhältnis zu der Dienstzeit, für die er keinen solchen Urlaub erhalten hat. Da der Urlaubsabgeltungsanspruch auch hier an den Anspruch auf den Mindestjahresurlaub als Primäranspruch anknüpft, ist Art. 5 Abs. 4 des Abkommens heranzuziehen, wonach Arbeitsversäumnisse aus Gründen, die unabhängig vom Willen des beteiligten Arbeitnehmers bestehen, wie z. B. Krankheit, Unfall oder Mutterschaft, als Dienstzeit anzurechnen sind(65). Demzufolge kann sich eine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit nicht zum Nachteil des Urlaubsabgeltungsanspruchs auswirken.
76. Vor diesem Hintergrund ist Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2003/88 dahin zu verstehen, dass Arbeitnehmern bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses auf jeden Fall ein Anspruch auf finanzielle Vergütung als Ersatz für erworbenen und nicht genommenen Urlaub zusteht.
C – Zur dritten Frage
77. Wie bereits festgestellt, folgt sowohl aus einer teleologischen Auslegung von Art. 7 der Richtlinie 2003/88(66) als auch aus dem Rechtsgedanken des Art. 5 Abs. 4 des IAO-Abkommens Nr. 132(67), dass die Krankheitszeit der Dienstzeit gleichzusetzen ist, da es sich um eine Abwesenheit aus Gründen, die vom Willen des Arbeitnehmers unabhängig sind, handelt, die daher gerechtfertigt ist.
78. Im selben Zeitraum entstehen deshalb alle Ansprüche des Arbeitnehmers, einschließlich des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub, der genommen werden kann, wenn die Arbeitsfähigkeit wiederhergestellt ist, oder der – bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses – auch bei eingetretener vollständiger Erwerbsunfähigkeit durch Zahlung einer Abgeltung ersetzt wird.
79. Die Entstehung des Anspruchs auf Jahresurlaub bzw. auf Abgeltung dem Grunde nach ist nicht an die Bedingung der vorherigen Erbringung einer effektiven Tätigkeit geknüpft, so dass diese Ansprüche dem Arbeitnehmer auch dann zustehen, wenn er im gesamten Urlaubsjahr aus Krankheitsgründen gefehlt hat.
80. Was die weitergehende Teilfrage, ob diese Ansprüche auch bei unentschuldigtem Fehlen im gesamten Urlaubsjahr entstehen, betrifft, möchte ich daran erinnern, dass nach ständiger Rechtsprechung das mit Art. 234 EG eingerichtete Verfahren der Vorabentscheidung ein Instrument der Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten ist, mit dem der Gerichtshof diesen Gerichten die Hinweise zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts gibt, die sie zur Entscheidung des bei ihnen anhängigen Rechtsstreits benötigen(68).
81. Im Rahmen dieser Zusammenarbeit ist es allein Sache des mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichts, in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof von ihm vorgelegten Fragen zu beurteilen. Betreffen daher die vorgelegten Fragen die Auslegung des Gemeinschaftsrechts, so ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, darüber zu befinden(69).
82. Der Gerichtshof hat jedoch auch entschieden, dass es ihm in Ausnahmefällen obliegt, zur Prüfung seiner eigenen Zuständigkeit die Umstände zu untersuchen, unter denen er von dem nationalen Gericht angerufen wird. Er kann die Entscheidung über die Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur ablehnen, wenn die erbetene Auslegung des Gemeinschaftsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn er nicht über die tatsächlichen oder rechtlichen Angaben verfügt, die für eine sachdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Frage erforderlich sind(70).
83. Der Geist der Zusammenarbeit, in dem das Vorlageverfahren durchzuführen ist, impliziert nämlich, dass das nationale Gericht seinerseits auf die dem Gerichtshof übertragene Aufgabe Rücksicht nimmt, die darin besteht, zur Rechtspflege in den Mitgliedstaaten beizutragen, nicht aber darin, Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen abzugeben(71).
84. Aus dem Vorlagebeschluss geht hervor, dass der Kläger des Ausgangsrechtsstreits ab dem 8. September 2004 fortlaufend bis zum 30. September 2005, also bis zum Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses, ärztlich krankgeschrieben war. Sein Fehlen war somit eindeutig entschuldigt, so dass der Gerichtshof zur Teilfrage, ob der Anspruch auf Jahresurlaub oder auf finanziellen Ersatz auch bei unentschuldigtem Fehlen entsteht, mangels Entscheidungserheblichkeit für die Lösung des Ausgangsrechtsstreits nicht Stellung zu nehmen braucht.
VII – Ergebnis
85. Im Hinblick auf die vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, auf das Vorabentscheidungsersuchen des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf wie folgt zu antworten:
1. Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG ist dahin zu verstehen, dass Arbeitnehmer auf jeden Fall einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen erhalten müssen. Insbesondere ist ein vom Arbeitnehmer wegen Krankheit im Urlaubsjahr nicht genommener Urlaub zu einer späteren Zeit zu gewähren.
2. Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2003/88/EG ist dahin zu verstehen, dass Arbeitnehmern bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses auf jeden Fall ein Anspruch auf finanzielle Vergütung als Ersatz für erworbenen und nicht genommenen Urlaub (Urlaubsabgeltung) zusteht.
3. Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG ist dahin zu verstehen, dass der Anspruch auf Jahresurlaub oder auf finanziellen Ersatz auch bei entschuldigtem Fehlen (wegen Krankheit) im gesamten Urlaubsjahr entsteht.