Language of document : ECLI:EU:C:2022:603

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

1. August 2022(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsame Politik im Bereich Asyl – Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist – Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (Dublin III) – Antrag auf internationalen Schutz, der von einem Minderjährigen in seinem Geburtsmitgliedstaat gestellt wird – Eltern dieses Minderjährigen, denen zuvor in einem anderen Mitgliedstaat die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde – Art. 3 Abs. 2 – Art. 9 – Art. 20 Abs. 3 – Richtlinie 2013/32/EU – Art. 33 Abs. 2 Buchst. a – Zulässigkeit des Antrags auf internationalen Schutz und Zuständigkeit für die Prüfung dieses Antrags“

In der Rechtssache C‑720/20

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Verwaltungsgericht Cottbus (Deutschland) mit Entscheidung vom 14. Dezember 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 24. Dezember 2020, in dem Verfahren

RO, gesetzlich vertreten,

gegen

Bundesrepublik Deutschland

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentinnen A. Prechal und K. Jürimäe, des Kammerpräsidenten S. Rodin, der Kammerpräsidentin I. Ziemele sowie des Kammerpräsidenten J. Passer (Berichterstatter), der Richter M. Ilešič, M. Safjan und D. Gratsias, der Richterin M. L. Arastey Sahún, der Richter M. Gavalec und Z. Csehi sowie der Richterin O. Spineanu-Matei,

Generalanwalt: J. Richard de la Tour,

Kanzler: D. Dittert, Referatsleiter,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 14. Dezember 2021,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der gesetzlich vertretenen RO, vertreten durch Rechtsanwalt V. Gerloff,

–        der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und R. Kanitz als Bevollmächtigte,

–        der belgischen Regierung, vertreten durch M. Jacobs und M. Van Regemorter als Bevollmächtigte,

–        der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von W. Ferrante, Avvocato dello Stato,

–        der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman, A. Hanje, J. Langer und M. A. M. de Ree als Bevollmächtigte,

–        der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Cattabriga, L. Grønfeldt und C. Ladenburger als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 24. März 2022

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. 2013, L 180, S. 31, im Folgenden: Dublin‑III‑Verordnung), insbesondere von Art. 20 Abs. 3 dieser Verordnung, und der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. 2013, L 180, S. 60, im Folgenden: Verfahrensrichtlinie), insbesondere von Art. 33 Abs. 2 Buchst. a dieser Richtlinie.

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits, den RO, eine gesetzlich vertretene Minderjährige, gegen die Bundesrepublik Deutschland führt, weil diese den Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abgelehnt hat, den die Minderjährige gestellt hatte, die in diesem Mitgliedstaat geboren worden ist und deren Eltern und fünf Geschwistern vor der Geburt der Minderjährigen in einem anderen Mitgliedstaat internationaler Schutz zuerkannt worden war.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

 Verordnung (EG) Nr. 343/2003

3        Art. 16 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (ABl. 2003, L 50, S. 1), bestimmte:

„Der Mitgliedstaat, der nach der vorliegenden Verordnung zur Prüfung des Asylantrags zuständig ist, ist gehalten … einen Antragsteller, der sich während der Prüfung seines Antrags unerlaubt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhält, nach Maßgabe des Artikels 20 wieder aufzunehmen“.

4        Die Verordnung Nr. 343/2003 wurde durch die Dublin‑III‑Verordnung aufgehoben und ersetzt.

 DublinIIIVerordnung

5        In den Erwägungsgründen 4, 5 und 14 der Dublin‑III‑Verordnung heißt es:

„(4)      Entsprechend den Schlussfolgerungen von Tampere sollte das [Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS)] auf kurze Sicht eine klare und praktikable Formel für die Bestimmung des für die Prüfung eines Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats umfassen.

(5)      Eine solche Formel sollte auf objektiven und für die Mitgliedstaaten und die Betroffenen gerechten Kriterien basieren. Sie sollte insbesondere eine rasche Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats ermöglichen, um den effektiven Zugang zu den Verfahren zur Gewährung des internationalen Schutzes zu gewährleisten und das Ziel einer zügigen Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz nicht zu gefährden.

(14)      Im Einklang mit der [am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten] Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten und mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sollte die Achtung des Familienlebens eine vorrangige Erwägung der Mitgliedstaaten sein, wenn sie diese Verordnung anwenden.“

6        Die Dublin‑III‑Verordnung legt nach Art. 1 „die Kriterien und Verfahren fest, die bei der Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, zur Anwendung gelangen“.

7        Art. 2 der Dublin‑III‑Verordnung sieht vor:

„Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck

c)      ‚Antragsteller‘ einen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, über den noch nicht endgültig entschieden wurde;

f)      ‚Begünstigter internationalen Schutzes‘ einen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, dem internationaler Schutz im Sinne von Artikel 2 Buchstabe a der Richtlinie [2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9)] zuerkannt wurde;

g)      ‚Familienangehörige‘ die folgenden Mitglieder der Familie des Antragstellers, die sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten aufhalten, sofern die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat:

bei einem minderjährigen und unverheirateten Antragsteller, der Vater, die Mutter oder ein anderer Erwachsener, der entweder nach dem Recht oder nach den Gepflogenheiten des Mitgliedstaats, in dem der Erwachsene sich aufhält, für den Minderjährigen verantwortlich ist,

…“

8        Kapitel II („Allgemeine Grundsätze und Schutzgarantien“) der Dublin‑III‑Verordnung enthält u. a. Art. 3 („Verfahren zur Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz“), dessen Abs. 1 und Abs. 2 Unterabs. 1 bestimmen:

„(1)      Die Mitgliedstaaten prüfen jeden Antrag auf internationalen Schutz, den ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats … stellt. Der Antrag wird von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III als zuständiger Staat bestimmt wird.

(2)      Lässt sich anhand der Kriterien dieser Verordnung der zuständige Mitgliedstaat nicht bestimmen, so ist der erste Mitgliedstaat, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, für dessen Prüfung zuständig.

…“

9        Kapitel III („Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats“) der Dublin‑III‑Verordnung enthält u. a. deren Art. 7, 9 und 10.

10      Art. 7 („Rangfolge der Kriterien“) Abs. 1 der Dublin‑III‑Verordnung sieht vor:

„Die Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats finden in der in diesem Kapitel genannten Rangfolge Anwendung.“

11      Art. 9 („Familienangehörige, die Begünstigte internationalen Schutzes sind)“ der Dublin‑III‑Verordnung bestimmt:

„Hat der Antragsteller einen Familienangehörigen – ungeachtet der Frage, ob die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat –, der in seiner Eigenschaft als Begünstigter internationalen Schutzes in einem Mitgliedstaat aufenthaltsberechtigt ist, so ist dieser Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig, sofern die betreffenden Personen diesen Wunsch schriftlich kundtun.“

12      Art. 10 („Familienangehörige, die internationalen Schutz beantragt haben“) der Dublin‑III‑Verordnung lautet:

„Hat ein Antragsteller in einem Mitgliedstaat einen Familienangehörigen, über dessen Antrag auf internationalen Schutz noch keine Erstentscheidung in der Sache ergangen ist, so ist dieser Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig, sofern die betreffenden Personen diesen Wunsch schriftlich kundtun.“

13      Kapitel IV („Abhängige Personen und Ermessensklauseln“) der Dublin‑III‑Verordnung enthält u. a. Art. 17 („Ermessensklauseln“), dessen Abs. 2 vorsieht:

„Der Mitgliedstaat, in dem ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt worden ist und der das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats durchführt, oder der zuständige Mitgliedstaat kann, bevor eine Erstentscheidung in der Sache ergangen ist, jederzeit einen anderen Mitgliedstaat ersuchen, den Antragsteller aufzunehmen, aus humanitären Gründen, die sich insbesondere aus dem familiären oder kulturellen Kontext ergeben, um Personen jeder verwandtschaftlichen Beziehung zusammenzuführen, auch wenn der andere Mitgliedstaat nach den Kriterien in den Artikeln 8 bis 11 und 16 nicht zuständig ist. Die betroffenen Personen müssen dem schriftlich zustimmen.

…“

14      Kapitel VI („Aufnahme- und Wiederaufnahmeverfahren“) der Dublin‑III‑Verordnung enthält in Abschnitt I („Einleitung des Verfahrens“) Art. 20, dessen Überschrift die gleiche wie die dieses Abschnitts ist; dieser Artikel bestimmt:

„(1)      Das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats wird eingeleitet, sobald in einem Mitgliedstaat erstmals ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wird.

(2)      Ein Antrag auf internationalen Schutz gilt als gestellt, wenn den zuständigen Behörden des betreffenden Mitgliedstaats ein vom Antragsteller eingereichtes Formblatt oder ein behördliches Protokoll zugegangen ist. Bei einem nicht in schriftlicher Form gestellten Antrag sollte die Frist zwischen der Abgabe der Willenserklärung und der Erstellung eines Protokolls so kurz wie möglich sein.

(3)      Für die Zwecke dieser Verordnung ist die Situation eines mit dem Antragsteller einreisenden Minderjährigen, der der Definition des Familienangehörigen entspricht, untrennbar mit der Situation seines Familienangehörigen verbunden und fällt in die Zuständigkeit des Mitgliedstaats, der für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz dieses Familienangehörigen zuständig ist, auch wenn der Minderjährige selbst kein Antragsteller ist, sofern dies dem Wohl des Minderjährigen dient. Ebenso wird bei Kindern verfahren, die nach der Ankunft des Antragstellers im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten geboren werden, ohne dass ein neues Zuständigkeitsverfahren für diese eingeleitet werden muss.

…“

15      Kapitel VI Abschnitt II („Aufnahmeverfahren“) enthält u. a. Art. 21 („Aufnahmegesuch“), der in Abs. 1 Unterabs. 1 vorsieht:

„Hält der Mitgliedstaat, in dem ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, einen anderen Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags für zuständig, so kann er so bald wie möglich, auf jeden Fall aber innerhalb von drei Monaten nach Antragstellung im Sinne von Artikel 20 Absatz 2, diesen anderen Mitgliedstaat ersuchen, den Antragsteller aufzunehmen.“

 Verfahrensrichtlinie

16      Der 43. Erwägungsgrund der Verfahrensrichtlinie lautet:

„Die Mitgliedstaaten sollten alle Anträge in der Sache prüfen, d. h. beurteilen, ob der betreffende Antragsteller gemäß der Richtlinie [2011/95] als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anerkannt werden kann, sofern die vorliegende Richtlinie nichts anderes vorsieht, insbesondere dann, wenn vernünftigerweise davon ausgegangen werden kann, dass ein anderer Staat den Antrag prüfen oder für einen ausreichenden Schutz sorgen würde. Die Mitgliedstaaten sollten insbesondere nicht verpflichtet sein, einen Antrag auf internationalen Schutz in der Sache zu prüfen, wenn der erste Asylstaat dem Antragsteller die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hat oder ihm anderweitig ausreichenden Schutz gewährt und die Rückübernahme des Antragstellers in diesen Staat gewährleistet ist.“

17      In Art. 33 („Unzulässige Anträge“) der Verfahrensrichtlinie heißt es:

„(1)      Zusätzlich zu den Fällen, in denen nach Maßgabe der [Dublin‑III‑Verordnung] ein Antrag nicht geprüft wird, müssen die Mitgliedstaaten nicht prüfen, ob dem Antragsteller der internationale Schutz im Sinne der Richtlinie [2011/95] zuzuerkennen ist, wenn ein Antrag auf der Grundlage des vorliegenden Artikels als unzulässig betrachtet wird.

(2)      Die Mitgliedstaaten können einen Antrag auf internationalen Schutz nur dann als unzulässig betrachten, wenn

a)      ein anderer Mitgliedstaat internationalen Schutz gewährt hat;

…“

 Deutsches Recht

18      § 29 („Unzulässige Anträge“) Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a des Asylgesetzes vom 26. Juni 1992 (BGBl. 1992 I S. 1126) in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 (BGBl. 2008 I S. 1798) bestimmt:

„(1)      Ein Asylantrag ist unzulässig, wenn

1.      ein anderer Staat

a)      nach Maßgabe [der Dublin‑III‑Verordnung] …

für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist,

…“

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

19      Am 19. März 2012 wurde den Eltern und fünf Geschwistern der Klägerin des Ausgangsverfahrens, die Staatsangehörige der Russischen Föderation sind, in Polen die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt.

20      Im Dezember 2012 verließen sie das Hoheitsgebiet Polens und reisten nach Deutschland, wo sie Anträge auf internationalen Schutz stellten.

21      Am 25. April 2013 ersuchte die Bundesrepublik Deutschland die Republik Polen auf der Grundlage von Art. 16 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 343/2003 um Wiederaufnahme dieser Personen.

22      Am 3. Mai 2013 lehnte die Republik Polen es ab, diesem Ersuchen stattzugeben, weil die genannten Personen bereits in Polen internationalen Schutz genössen.

23      Mit Bescheid vom 2. Oktober 2013 lehnte die Bundesrepublik Deutschland die Anträge dieser Personen auf internationalen Schutz als unzulässig ab, weil ihnen bereits in Polen die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden sei, und wies sie unter Androhung der Abschiebung an, das deutsche Hoheitsgebiet zu verlassen.

24      Am 7. November 2014 wurde dieser Bescheid nur in Bezug auf die Androhung der Abschiebung aufgehoben.

25      Am 7. März 2018 beantragte die Klägerin des Ausgangsverfahrens, die am 21. Dezember 2015 in Deutschland geboren worden ist und wie ihre Eltern und fünf Geschwister Staatsangehörige der Russischen Föderation ist, bei den deutschen Behörden internationalen Schutz.

26      Mit zwei Bescheiden des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Deutschland) vom 14. Februar 2019 und 19. März 2019 wurden die Eltern und Geschwister der Klägerin des Ausgangsverfahrens unter Androhung der Abschiebung erneut angewiesen, das deutsche Hoheitsgebiet zu verlassen, weil sie bereits in Polen internationalen Schutz genössen. Die Klage gegen diese Bescheide ist noch anhängig.

27      Mit Bescheid vom 20. März 2019 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Antrag der Klägerin des Ausgangsverfahrens auf internationalen Schutz auf der Grundlage von § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a des Asylgesetzes in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 Satz 2 der Dublin‑III‑Verordnung als unzulässig ab.

28      Gegen diesen ablehnenden Bescheid erhob die Klägerin des Ausgangsverfahrens Klage vor dem vorlegenden Gericht. Nach dessen Angaben ist in Bezug auf den Antrag der Klägerin des Ausgangsverfahrens auf internationalen Schutz kein Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats gemäß der Dublin‑III‑Verordnung eingeleitet worden. Daher möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Bundesrepublik Deutschland nach der Dublin‑III‑Verordnung der Mitgliedstaat ist, der für die Prüfung des Antrags der Klägerin des Ausgangsverfahrens auf internationalen Schutz zuständig ist, und falls ja, ob dieser Mitgliedstaat diesen Antrag gleichwohl als unzulässig ablehnen darf.

29      In diesem Kontext hat das Verwaltungsgericht Cottbus (Deutschland) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist mit Blick auf das unionsrechtliche Anliegen, Sekundärmigration zu vermeiden, sowie den in der Dublin‑III‑Verordnung zum Ausdruck kommenden allgemeinen Grundsatz der Familieneinheit eine analoge Anwendung von Art. 20 Abs. 3 dieser Verordnung in einer Konstellation geboten, in der ein minderjähriges Kind und seine Eltern in demselben Mitgliedstaat Anträge auf internationalen Schutz stellen, die Eltern jedoch bereits internationalen Schutz in einem anderen Mitgliedstaat genießen, während das Kind erst in dem Mitgliedstaat geboren wurde, in dem es den Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat?

2.      Sind, falls die Frage zu bejahen ist, der Asylantrag des minderjährigen Kindes nach Maßgabe der Dublin‑III‑Verordnung nicht zu prüfen und eine Überstellungsentscheidung gemäß Art. 26 der Verordnung zu erlassen mit Blick darauf, dass etwa der Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags des minderjährigen Kindes auf internationalen Schutz zuständig ist, in dem seine Eltern internationalen Schutz genießen?

3.      Ist, falls die vorstehende Frage zu bejahen ist, Art. 20 Abs. 3 der Dublin‑III‑Verordnung auch insoweit analog anwendbar, als in seinem Satz 2 die Durchführung eines eigenen Zuständigkeitsverfahrens für das nachgeborene Kind für entbehrlich erklärt wird, obwohl dann die Gefahr besteht, dass der Aufnahmemitgliedstaat keine Kenntnis von einer möglichen Aufnahmesituation für das minderjährige Kind hat bzw. nach seiner Verwaltungspraxis eine analoge Anwendung des Art. 20 Abs. 3 dieser Verordnung ablehnt und damit für das minderjährige Kind die Gefahr besteht, ein „refugee in orbit“ zu werden?

4.      Kann, falls die Fragen 2 und 3 zu verneinen sind, gegenüber einem minderjährigen Kind, das in einem Mitgliedstaat einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, eine Unzulässigkeitsentscheidung gemäß Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrensrichtlinie in analoger Anwendung auch dann ergehen, wenn zwar nicht das Kind selbst, wohl aber seine Eltern in einem anderen Mitgliedstaat internationalen Schutz genießen?

 Zu den Vorlagefragen

 Zur ersten Frage

30      Mit der ersten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob im Hinblick auf das Anliegen der Dublin‑III‑Verordnung, die Sekundärmigration zu vermeiden sowie das Grundrecht auf Achtung des Familienlebens der Antragsteller auf internationalen Schutz und insbesondere die Familieneinheit zu wahren, Art. 20 Abs. 3 dieser Verordnung dahin auszulegen ist, dass er analog auf die Situation anwendbar ist, in der ein Minderjähriger und seine Eltern Anträge auf internationalen Schutz in dem Mitgliedstaat stellen, in dem der Minderjährige geboren wurde, seine Eltern jedoch bereits in einem anderen Mitgliedstaat internationalen Schutz genießen.

31      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Art. 20 („Einleitung des Verfahrens“) der Dublin‑III‑Verordnung, der zu Kapitel VI („Aufnahme- und Wiederaufnahmeverfahren“) gehört, in Abs. 3 Satz 1 bestimmt, dass für die Zwecke der Verordnung die Situation eines mit dem Antragsteller einreisenden Minderjährigen, der der Definition des Familienangehörigen entspricht, untrennbar mit der Situation seines Familienangehörigen verbunden ist und in die Zuständigkeit des Mitgliedstaats fällt, der für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz dieses Familienangehörigen zuständig ist, auch wenn der Minderjährige selbst kein Antragsteller ist, sofern dies dem Wohl des Minderjährigen dient. Nach Art. 20 Abs. 3 Satz 2 der Verordnung wird ebenso bei Kindern verfahren, die nach der Ankunft des Antragstellers im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten geboren werden, ohne dass ein neues Zuständigkeitsverfahren für diese eingeleitet werden muss.

32      Aus dem klaren Wortlaut von Art. 20 Abs. 3 der Dublin‑III‑Verordnung ergibt sich, dass er voraussetzt, dass die Familienangehörigen des Minderjährigen die Eigenschaft eines „Antragstellers“ im Sinne von Art. 2 Buchst. c der Verordnung noch haben, und er folglich nicht die Situation eines Minderjährigen regelt, der geboren wird, nachdem seinen Familienangehörigen internationaler Schutz in einem anderen Mitgliedstaat als dem Mitgliedstaat zuerkannt worden ist, in dem der Minderjährige geboren wird und mit seiner Familie wohnt.

33      Zudem ist es entgegen dem Vorbringen der deutschen Regierung insoweit unerheblich, ob diese Familienangehörigen im zuletzt genannten Mitgliedstaat einen neuen Antrag auf internationalen Schutz gestellt haben und ob dieser Mitgliedstaat solche Anträge vor oder nach der Geburt des betreffenden Minderjährigen als unzulässig abgelehnt hat. Denn ein Mitgliedstaat kann einen anderen Mitgliedstaat im Rahmen der durch die Dublin‑III‑Verordnung festgelegten Verfahren nicht wirksam darum ersuchen, einen Angehörigen eines Drittstaats aufzunehmen oder wieder aufzunehmen, der im ersten Mitgliedstaat einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, nachdem ihm im zweiten Mitgliedstaat internationaler Schutz gewährt worden ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. März 2019, Ibrahim u. a., C‑297/17, C‑318/17, C‑319/17 und C‑438/17, EU:C:2019:219, Rn. 78).

34      Zur Frage, ob Art. 20 Abs. 3 der Dublin‑III‑Verordnung auf eine Situation wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende gleichwohl analog angewendet werden kann, ist – wie der Generalanwalt in Nr. 28 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat – darauf hinzuweisen, dass die Situation eines Minderjährigen, dessen Familienangehörige internationalen Schutz beantragt haben, und die Situation eines Minderjährigen, dessen Familienangehörige bereits Begünstigte internationalen Schutzes sind, im Rahmen der durch die Dublin‑III‑Verordnung geschaffenen Regelung nicht vergleichbar sind, da sich die in Art. 2 Buchst. c und f der Verordnung definierten Begriffe „Antragsteller“ und „Begünstigter internationalen Schutzes“ nämlich auf unterschiedliche Rechtspositionen beziehen, die durch verschiedene Bestimmungen der Verordnung geregelt sind.

35      In dieser Hinsicht hat der Unionsgesetzgeber – wie der Generalanwalt in Nr. 28 seiner Schlussanträge ausgeführt hat – somit insbesondere zwischen der in Art. 9 der Dublin‑III‑Verordnung genannten Situation des Minderjährigen, dessen Familienangehörige bereits in einem Mitgliedstaat Begünstigte internationalen Schutzes sind, und der in Art. 10 und Art. 20 Abs. 3 der Verordnung beschriebenen Situation des Minderjährigen, dessen Familienangehörige internationalen Schutz beantragt haben, unterschieden.

36      In der ersten Situation, die der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entspricht, würde durch eine analoge Anwendung von Art. 20 Abs. 3 der Dublin‑III‑Verordnung auf den betreffenden Minderjährigen sowohl dem betreffenden Minderjährigen als auch dem Mitgliedstaat, der den Familienangehörigen des Minderjährigen internationalen Schutz gewährt hat, die Anwendung der in der Verordnung vorgesehenen Verfahren vorenthalten.

37      Insbesondere hätte die analoge Anwendung von Art. 20 Abs. 3 Satz 2 der Dublin‑III‑Verordnung auf einen solchen Minderjährigen zur Folge, dass eine Überstellungsentscheidung gegen ihn ergehen könnte, ohne dass ein Zuständigkeitsverfahren in Bezug auf ihn eingeleitet würde. Die in Art. 20 Abs. 3 Satz 2 der Dublin‑III‑Verordnung vorgesehene Befreiung von der Pflicht zur Einleitung eines Zuständigkeitsverfahrens in Bezug auf den Minderjährigen, der nach Ankunft des Antragstellers im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten geboren wird, setzt aber voraus, dass der Minderjährige in das in Bezug auf seine Familienangehörigen eingeleitete Verfahren einbezogen wird, und folglich, dass es sich dabei um ein laufendes Verfahren handelt, was gerade dann nicht der Fall ist, wenn diesen Familienangehörigen bereits in einem anderen Mitgliedstaat internationaler Schutz gewährt worden ist.

38      Zudem würde der Umstand, dass es dem Geburtsmitgliedstaat des Minderjährigen durch eine analoge Anwendung von Art. 20 Abs. 3 Satz 2 der Dublin‑III‑Verordnung ermöglicht würde, eine Überstellungsentscheidung ohne Einleitung eines Zuständigkeitsverfahrens zu erlassen, insbesondere dazu führen, dass die hierfür in Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 der Verordnung vorgesehene Frist umgangen würde und sich der Mitgliedstaat, der den Familienangehörigen vor der Geburt des Minderjährigen internationalen Schutz gewährt hat, mit dieser Überstellungsentscheidung konfrontiert sähe, obwohl er nicht über sie informiert worden ist und auch nicht in der Lage gewesen ist, seine Zuständigkeit für die Prüfung des Antrags dieses Minderjährigen auf internationalen Schutz anzuerkennen.

39      Ferner ist festzustellen, dass der Unionsgesetzgeber besondere Vorschriften für den Fall vorgesehen hat, in dem das in Bezug auf die Familienangehörigen des Minderjährigen eingeleitete Verfahren abgeschlossen ist und diese Familienangehörigen daher nicht mehr Antragsteller im Sinne von Art. 2 Buchst. c der Dublin‑III‑Verordnung sind, sondern als Begünstigte internationalen Schutzes in einem Mitgliedstaat aufenthaltsberechtigt sind. Diese Situation ist insbesondere in Art. 9 der Dublin‑III‑Verordnung geregelt.

40      Art. 9 der Dublin‑III‑Verordnung bestimmt nämlich, dass, falls der Antragsteller einen Familienangehörigen hat – ungeachtet der Frage, ob die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat –, der in seiner Eigenschaft als Begünstigter internationalen Schutzes in einem Mitgliedstaat aufenthaltsberechtigt ist, dieser Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, sofern die betreffenden Personen diesen Wunsch schriftlich kundtun.

41      Zwar wird durch den Umstand, dass die Anwendung des in Art. 9 der Dublin‑III‑Verordnung enthaltenen Kriteriums zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats ausdrücklich von der Voraussetzung, dass die betreffenden Personen den Wunsch schriftlich kundtun, abhängig gemacht wird, die Anwendung dieses Kriteriums dann ausgeschlossen, wenn dieser Wunsch nicht kundgetan wird, wie einige Verfahrensbeteiligte in der mündlichen Verhandlung vorgetragen haben. Diese Situation kann insbesondere dann eintreten, wenn der betreffende Minderjährige den Antrag auf internationalen Schutz stellt, nachdem eine irreguläre Sekundärmigration seiner Familie von einem ersten Mitgliedstaat in den Mitgliedstaat, in dem dieser Antrag gestellt wird, stattgefunden hat. Dieser Umstand ändert jedoch nichts daran, dass der Unionsgesetzgeber mit Art. 9 der Dublin‑III‑Verordnung eine Bestimmung vorgesehen hat, die gerade eine Situation wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende erfasst, in der die Familienangehörigen eines Antragstellers selbst keine Antragsteller mehr sind, sondern bereits von einem Mitgliedstaat internationalen Schutz gewährt bekommen haben.

42      Zudem kann in Anbetracht des eindeutigen Wortlauts von Art. 9 der Dublin‑III‑Verordnung von der in ihm enthaltenen Anforderung einer schriftlichen Kundgabe des Wunsches der betreffenden Personen nicht abgewichen werden. Daher vermag die Verhinderung von Sekundärmigration, die, wie der Gerichtshof festgestellt hat (Urteil vom 2. April 2019, H. und R., C‑582/17 und C‑583/17, EU:C:2019:280, Rn. 77), eines der mit der Dublin‑III‑Verordnung verfolgten Ziele darstellt, keine andere Auslegung dieses Artikels zu rechtfertigen.

43      Das Gleiche gilt für das in Art. 17 Abs. 2 der Dublin‑III‑Verordnung vorgesehene Verfahren, wonach der Mitgliedstaat, in dem ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt worden ist, jederzeit – bevor eine Erstentscheidung in der Sache ergangen ist – einen anderen Mitgliedstaat ersuchen kann, die Person, die internationalen Schutz beantragt hat, aus humanitären Gründen aufzunehmen, um Personen jeder verwandtschaftlichen Beziehung zusammenzuführen, sofern die betroffenen Personen dem schriftlich zustimmen.

44      Unter diesen Umständen wird in einer Situation, in der die betroffenen Personen nicht schriftlich ihren Wunsch kundgetan haben, dass der für die Prüfung des Antrags eines Minderjährigen auf internationalen Schutz zuständige Mitgliedstaat derjenige ist, in dem die Familienangehörigen des Minderjährigen als Begünstigte internationalen Schutzes aufenthaltsberechtigt sind, der zuständige Mitgliedstaat nach Art. 3 Abs. 2 der Dublin‑III‑Verordnung bestimmt. Nach dieser subsidiär anzuwendenden Bestimmung ist somit dann, wenn sich der zuständige Mitgliedstaat nicht anhand der Kriterien der Verordnung bestimmen lässt, der erste Mitgliedstaat, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, für dessen Prüfung zuständig.

45      Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 20 Abs. 3 der Dublin‑III‑Verordnung dahin auszulegen ist, dass er nicht analog auf die Situation anwendbar ist, in der ein Minderjähriger und seine Eltern Anträge auf internationalen Schutz in dem Mitgliedstaat stellen, in dem der Minderjährige geboren wurde, seine Eltern jedoch bereits in einem anderen Mitgliedstaat internationalen Schutz genießen.

 Zur zweiten und zur dritten Frage

46      Aufgrund der Antwort auf die erste Frage erübrigt sich eine Prüfung der zweiten und der dritten Frage.

 Zur vierten Frage

47      Mit der vierten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrensrichtlinie dahin auszulegen ist, dass er es durch eine analoge Anwendung gestattet, einen Antrag eines Minderjährigen auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen, wenn nicht der Minderjährige selbst, sondern seine Eltern in einem anderen Mitgliedstaat internationalen Schutz genießen.

48      Nach Art. 33 Abs. 1 der Verfahrensrichtlinie müssen die Mitgliedstaaten nicht prüfen, ob dem Antragsteller der internationale Schutz im Sinne der Richtlinie 2011/95 zuzuerkennen ist, wenn ein Antrag auf der Grundlage dieses Artikels als unzulässig betrachtet wird. Insoweit zählt Art. 33 Abs. 2 abschließend die Situationen auf, in denen die Mitgliedstaaten einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig betrachten können (Urteile vom 19. März 2019, Ibrahim u. a., C‑297/17, C‑318/17, C‑319/17 und C‑438/17, EU:C:2019:219, Rn. 76, sowie vom 22. Februar 2022, Commissaire général aux réfugiés et aux apatrides [Familienverband – bereits gewährter Schutz], C‑483/20, EU:C:2022:103, Rn. 23).

49      Dieser abschließende Charakter beruht sowohl auf dem Wortlaut der genannten Bestimmung, insbesondere auf der Wendung „nur dann“, die der Aufzählung der Unzulässigkeitsgründe vorausgeht, als auch auf dem Zweck dieser Bestimmung, der, wie der Gerichtshof bereits festgestellt hat, gerade darin besteht, die Pflicht des zuständigen Mitgliedstaats, einen Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, dadurch zu lockern, dass Fälle definiert werden, in denen ein solcher Antrag als unzulässig zu betrachten ist (Urteil vom 19. März 2020, Bevándorlási és Menekültügyi Hivatal [Tompa], C‑564/18, EU:C:2020:218, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung). Zudem ist unter Berücksichtigung dieses Zwecks festzustellen, dass Art. 33 Abs. 2 der Verfahrensrichtlinie in seiner Gesamtheit eine Ausnahme von der Pflicht der Mitgliedstaaten darstellt, alle Anträge auf internationalen Schutz in der Sache zu prüfen.

50      Nach Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrensrichtlinie können die Mitgliedstaaten einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig betrachten, wenn ein anderer Mitgliedstaat internationalen Schutz gewährt hat. Diese Möglichkeit erklärt sich unter anderem durch die Bedeutung des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens im Unionsrecht, insbesondere in dem durch die Union gebildeten Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, und dieser Grundsatz kommt im Rahmen des mit dieser Richtlinie eingerichteten gemeinsamen Asylverfahrens in dieser Bestimmung zum Ausdruck (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Februar 2022, Commissaire général aux réfugiés et aux apatrides [Familienverband – bereits gewährter Schutz], C‑483/20, EU:C:2022:103, Rn. 28 und 29).

51      Allerdings folgt aus dem abschließenden Charakter der Aufzählung in Art. 33 Abs. 2 der Verfahrensrichtlinie und dem Ausnahmecharakter der in dieser Aufzählung enthaltenen Unzulässigkeitsgründe, dass Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie eng auszulegen ist und daher nicht auf eine Situation angewendet werden kann, die nicht seinem Wortlaut entspricht.

52      Der persönliche Anwendungsbereich dieser Bestimmung kann sich daher nicht auf eine Person erstrecken, die internationalen Schutz beantragt hat und selbst keinen solchen Schutz nach der genannten Bestimmung genießt. Diese Auslegung wird durch den 43. Erwägungsgrund der Verfahrensrichtlinie bestätigt, der – wie der Generalanwalt in Nr. 40 seiner Schlussanträge ausgeführt hat – die Tragweite dieses Unzulässigkeitsgrundes dadurch klarstellt, dass die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet sein sollten, einen Antrag auf internationalen Schutz in der Sache zu prüfen, wenn der erste Asylstaat „dem Antragsteller“ die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hat oder ihm anderweitig ausreichenden Schutz gewährt.

53      Daher ist festzustellen, dass in einem Fall wie dem des Ausgangsrechtsstreits, in dem der Antragsteller ein Minderjähriger ist, dessen Familienangehörige in einem anderen Mitgliedstaat internationalen Schutz genießen, der aber selbst keinen solchen Schutz genießt, dieser Antragsteller nicht in den Anwendungsbereich der Ausnahme nach Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrensrichtlinie fällt. Sein Antrag kann daher nicht auf dieser Grundlage für unzulässig erklärt werden.

54      Darüber hinaus kann diese Bestimmung nicht analog angewendet werden, um darauf in dieser Situation eine Unzulässigkeitsentscheidung zu stützen. Denn eine solche Anwendung würde nicht nur den abschließenden Charakter der Aufzählung in Art. 33 Abs. 2 der Verfahrensrichtlinie, sondern auch den Umstand verkennen, dass die Situation eines solchen Minderjährigen nicht mit der einer Person vergleichbar ist, die internationalen Schutz beantragt hat und der bereits in einem anderen Mitgliedstaat ein solcher Schutz gewährt worden ist, was jede Analogie ausschließt.

55      Nach alledem ist auf die vierte Frage zu antworten, dass Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrensrichtlinie dahin auszulegen ist, dass er auf einen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrag eines Minderjährigen auf internationalen Schutz nicht analog anwendbar ist, wenn nicht der Minderjährige selbst, sondern seine Eltern in einem anderen Mitgliedstaat internationalen Schutz genießen.

 Kosten

56      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

Art. 20 Abs. 3 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist,ist dahin auszulegen, dasser nicht analog auf die Situation anwendbar ist, in der ein Minderjähriger und seine Eltern Anträge auf internationalen Schutz in dem Mitgliedstaat stellen, in dem der Minderjährige geboren wurde, seine Eltern jedoch bereits in einem anderen Mitgliedstaat internationalen Schutz genießen.Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzesist dahin auszulegen, dasser auf einen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrag eines Minderjährigen auf internationalen Schutz nicht analog anwendbar ist, wenn nicht der Minderjährige selbst, sondern seine Eltern in einem anderen Mitgliedstaat internationalen Schutz genießen.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Deutsch.