Language of document : ECLI:EU:C:2020:265

Rechtssache C228/18

Gazdasági Versenyhivatal

gegen

Budapest Bank Nyrt. u. a.

(Vorabentscheidungsersuchen der Kúria)

 Urteil des Gerichtshofs (Fünfte Kammer) vom 2. April 2020

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Wettbewerb – Kartelle – Art. 101 Abs. 1 AEUV – Kartenzahlungssysteme – Vereinbarung zwischen Banken über die Festlegung des Interbankenentgelts – Vereinbarung, die den Wettbewerb sowohl ihrem Zweck als auch ihrer Wirkung nach beschränkt – Begriff der ‚bezweckten‘ Wettbewerbsbeschränkung“

1.        Zur Vorabentscheidung vorgelegte Fragen – Zuständigkeit des Gerichtshofs – Grenzen – Allgemeine oder hypothetische Fragen – Überprüfung der eigenen Zuständigkeit durch den Gerichtshof

(Art. 101 Abs. 1 und Art. 267 AEUV)

(vgl. Rn. 29-31)

2.        Kartelle – Beeinträchtigung des Wettbewerbs – Beurteilungskriterien – Wettbewerbsfeindlichkeit – Hinreichende Feststellung – Prüfung der Auswirkungen – Zulässigkeit

(Art. 101 Abs. 1 AEUV)

(vgl. Rn. 39-44)

3.        Kartelle – Beeinträchtigung des Wettbewerbs – Beurteilungskriterien – Unterscheidung zwischen bezweckten und bewirkten Beschränkungen – Bezweckte Beschränkung – Hinreichende Beeinträchtigung – Beurteilung

(Art. 101 Abs. 1 AEUV)

(vgl. Rn. 59, 69, 75, 78, 79, 82, 83)

4.        Kartelle – Beeinträchtigung des Wettbewerbs – Vereinbarung zwischen Banken über die Vereinheitlichung des auf Kartenzahlungsvorgänge zu zahlenden Interbankenentgelts – Wettbewerbsfeindlichkeit – Beurteilungskriterien – Individuelle und konkrete Prüfung des Inhalts und des Ziels dieser Vereinbarungen sowie des wirtschaftlichen und rechtlichen Zusammenhangs durch das nationale Gericht

(Art. 101 Abs. 1 AEUV)

(vgl. Rn. 60-65, 69-86)

5.        Kartelle – Verbot – Zuwiderhandlungen – Preisfestsetzung – Begriff – Vereinbarung zwischen Banken über die Vereinheitlichung des auf Kartenzahlungsvorgänge zu zahlenden Interbankenentgelts – Mehrheit von Zwecken – Auswirkung

(Art. 101 Abs. 1 AEUV)

(vgl. Rn. 69-86)

Zusammenfassung

Im Urteil Budapest Bank u. a. (C‑228/18), das am 2. April 2020 verkündet wurde, hat der Gerichtshof die Kriterien für die Feststellung präzisiert, ob Vereinbarungen zwischen Finanzinstituten über Entgelte auf Kartenzahlungsvorgänge Verhaltensweisen oder Vereinbarungen darstellen, die eine Wettbewerbsbeschränkung bezwecken und nach Art. 101 AEUV verboten sind.

Die Kúria (Oberster Gerichtshof, Ungarn) hat dem Gerichtshof ein Vorabentscheidungsersuchen im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Gazdasági Versenyhivatal (Wettbewerbsbehörde, Ungarn) und zwei Anbietern von Kartenzahlungsdiensten, Visa und MasterCard, sowie sechs Kreditinstituten wegen einer Entscheidung dieser Wettbewerbsbehörde aus dem Jahr 2009 vorgelegt. In dieser Entscheidung stellte die Wettbewerbsbehörde u. a. das Vorliegen einer wettbewerbswidrigen Vereinbarung über die sogenannten Interbankenentgelte fest und verhängte folglich gegen sieben der Finanzinstitute, die Parteien dieser Vereinbarung waren, sowie gegen Visa und MasterCard Geldbußen in unterschiedlicher Höhe.

Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts handelt es sich bei den Interbankenentgelten um Beträge, die die Finanzinstitute, die den Wirtschaftsteilnehmern Zahlungsterminals zur Verfügung stellen (im Folgenden: Acquiring-Banken), an die Finanzinstitute, die Zahlungskarten ausgeben (im Folgenden: Issuing-Banken), als Mitglieder des von Visa oder MasterCard angebotenen Zahlungssystems zahlen müssen, wenn ein Kartenzahlungsvorgang durchgeführt wird. Im April 1996 einigten sich sieben Finanzinstitute, die einen überwiegenden Teil der relevanten nationalen Märkte ausmachten, um die Mindesthöhe der von verschiedenen Gruppen von Wirtschaftsteilnehmern jeweils zu entrichtenden Dienstleistungsentgelte festzulegen. Im Oktober 1996 wurde eine zweite Vereinbarung (im Folgenden: MIF‑Vereinbarung) geschlossen, die für Visa und MasterCard ausgehandelt wurde, um die Höhe der im Rahmen dieser beiden Zahlungssysteme geschuldeten Interbankenentgelte zu vereinheitlichen. Nach der Prüfung der MIF‑Vereinbarung stellte die Wettbewerbsbehörde für den Zeitraum ab dem Beitritt Ungarns zur Europäischen Union für sämtliche Finanzinstitute, die nacheinander der MIF‑Vereinbarung beigetreten waren, sowie in Bezug auf Visa und MasterCard eine Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV fest. Die Festlegung eines einheitlichen Niveaus und einer einheitlichen Struktur des anwendbaren Interbankenentgelts und, was Visa und MasterCard angehe, die Festlegung eines diesbezüglichen Rahmens in ihrer jeweiligen internen Regelung stellten eine Vereinbarung dar, die unter das Verbot des Art. 101 AEUV falle, da sie nicht nur eine Einschränkung des Wettbewerbs bezwecke, sondern darüber hinaus eine wettbewerbsbeschränkende Wirkung habe.

Der Gerichtshof hat zunächst entschieden, dass Art. 101 Abs. 1 AEUV der Annahme nicht entgegensteht, dass ein wettbewerbswidriges Verhalten eine Einschränkung des Wettbewerbs im Sinne dieser Bestimmung sowohl bezweckt als auch bewirkt. Zur Klarstellung des Verhältnisses zwischen diesen beiden Kategorien von Wettbewerbsbeschränkungen hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass eine Koordinierung zwischen Unternehmen eine „bezweckte“ Wettbewerbsbeschränkung beinhaltet, wenn sie als solche eine hinreichende Schädlichkeit aufweist, ohne dass ihre Auswirkungen auf den Wettbewerb geprüft zu werden brauchen. Wird jedoch davon ausgegangen, dass ein und dasselbe Verhalten eine Wettbewerbsbeschränkung sowohl bezweckt als auch bewirkt, obliegt es der zuständigen Behörde oder dem zuständigen Gericht, ihre diesbezüglichen Feststellungen mit den erforderlichen Beweisen zu untermauern und zu erläutern, inwieweit sich diese Beweise auf die eine oder die andere Art der auf diese Weise festgestellten Beschränkung beziehen.

Der Gerichtshof hat sich sodann mit der Frage der Einstufung der in Rede stehenden Vereinbarung im Hinblick auf Art. 101 Abs. 1 AEUV befasst, zuvor aber darauf hingewiesen, dass insoweit die endgültige Beurteilung Sache des nationalen Gerichts ist.

Der Gerichtshof hat zunächst zum Inhalt der MIF‑Vereinbarung festgestellt, dass diese die Höhe der Interbankenentgelte, die die Acquiring-Banken für die Kartenzahlungsgeschäfte eines Zahlungssystems an die Issuing-Banken zahlen mussten, vereinheitlicht und damit einen Wettbewerbsfaktor sowohl zwischen den beiden Zahlungssystemen als auch zwischen den Acquiring-Banken beeinträchtigt hatte. Der Gerichtshof hat jedoch darauf hingewiesen, dass, auch wenn die fragliche Vereinbarung die Dienstleistungsentgelte nicht unmittelbar bestimmt hat, gleichwohl eine „bezweckte“ Beschränkung vorliegen könnte, wenn eine solche Vereinbarung als mittelbare Festsetzung von Preisen im Sinne von Art. 101 Abs. 1 Buchst. a AEUV oder als Verhalten anzusehen wäre, das den Wettbewerb innerhalb des Binnenmarkts in gleicher Weise beeinträchtigt.

Der Gerichtshof hat indessen festgestellt, dass sich die Schädlichkeit, die für die Einstufung als „bezweckte“ Beschränkung verlangt wird, nicht notwendigerweise aus den ihm in Bezug auf den Inhalt der Vereinbarung unterbreiteten Angaben ergibt; sodann hat er die ihm im Hinblick auf die mit der MIF‑Vereinbarung verfolgten Ziele zur Verfügung gestellten Angaben geprüft. In Anbetracht dessen hat der Gerichtshof die Auffassung vertreten, dass nicht ausgeschlossen werden kann, dass das mit der MIF‑Vereinbarung verfolgte Ziel nicht darin bestand, eine Untergrenze für die Entgelte zu gewährleisten, sondern darin, ein gewisses Gleichgewicht zwischen den „Issuing-“ und den „Acquiring“-Tätigkeiten innerhalb jedes der im vorliegenden Fall betroffenen Kartenzahlungssysteme herzustellen. Hierbei hat der Gerichtshof den Umstand für relevant erachtet, dass zu den Parteien der Vereinbarung sowohl Issuing- als auch Acquiring-Banken gehörten. Wenn aber aus den insoweit vom nationalen Gericht anzustellenden Prüfungen hervorgehen sollte, dass die MIF‑Vereinbarung, indem sie den Wettbewerb zwischen den beiden betroffenen Kartenzahlungssystemen im Hinblick auf die Interbankenentgelte neutralisierte, zur Folge gehabt hatte, dass sich der Wettbewerb in Bezug auf andere Merkmale dieser Systeme verstärkte, würde dies nach Auffassung des Gerichtshofs bedeuten, dass eine Beurteilung des Wettbewerbs, der auf dem betreffenden Markt ohne die MIF‑Vereinbarung bestanden hätte, und damit eine Prüfung der Auswirkungen dieser Vereinbarung vorzunehmen wäre.

Der Gerichtshof hat daher festgestellt, dass ihm nicht genügend Informationen vorliegen, um feststellen zu können, ob die Beseitigung des Wettbewerbs im Hinblick auf die Interbankenentgelte für sich genommen eine hinreichende Beeinträchtigung durch die MIF‑Vereinbarung erkennen lässt, um von einer Prüfung ihrer Auswirkungen absehen zu können, und zwar sowohl im Hinblick auf den Wettbewerb zwischen den beiden Kartenzahlungssystemen als auch im Hinblick auf den Wettbewerb auf dem Acquiring-Markt. Der Gerichtshof hat hervorgehoben, dass eine Begrenzung des Erhöhungsdrucks für die Interbankenentgelte, der sich eingestellt hätte, wenn es keine Vereinbarung gegeben hätte, gleichwohl für die Prüfung des Vorliegens einer sich aus dieser Vereinbarung ergebenden Beschränkung relevant ist.

Der Gerichtshof hat daher entschieden, dass Art. 101 Abs. 1 AEUV dahin auszulegen ist, dass eine Vereinbarung zwischen Banken, mit der das Interbankenentgelt, das bei einem Kartenzahlungsvorgang den Banken zusteht, die diese Karte ausgeben, in einheitlicher Höhe festgelegt wird, nicht als Vereinbarung eingestuft werden kann, die im Sinne dieser Vorschrift eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs „bezweckt“, es sei denn, dass davon auszugehen ist, dass diese Vereinbarung im Hinblick auf ihren Inhalt, ihre Ziele und ihren Zusammenhang den Wettbewerb hinreichend beeinträchtigt, um derart eingestuft zu werden, was vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist.