Language of document : ECLI:EU:T:2021:669

Rechtssachen T351/18 und T584/18

Ukrselhosprom PCF LLC
und
Versobank AS

gegen

Europäische Zentralbank

 Urteil des Gerichts (Neunte erweiterte Kammer) vom 6. Oktober 2021

„Wirtschafts- und Währungspolitik – Aufsicht über Kreditinstitute – Der EZB übertragene besondere Aufsichtsaufgaben – Beschluss, mit dem einem Kreditinstitut die Zulassung entzogen wird – Verstoß gegen die Rechtsvorschriften auf dem Gebiet der Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung – Zulässigkeit – Befugnisse der zuständigen nationalen Behörden der teilnehmenden Mitgliedstaaten und der EZB im Rahmen des einheitlichen Aufsichtsmechanismus – Gleichbehandlung – Verhältnismäßigkeit – Schutz des berechtigten Vertrauens – Rechtssicherheit – Ermessensmissbrauch – Verteidigungsrechte – Begründungspflicht“

1.      Nichtigkeitsklage – Natürliche und juristische Personen – Rechtsschutzinteresse – Klage gegen einen Beschluss der Europäischen Zentralbank (EZB), mit dem die Zulassung eines Kreditinstituts entzogen wird – Beschluss, der aufgehoben und durch einen im Rahmen des Überprüfungsverfahrens erlassenen Beschluss identischen Inhalts ersetzt wird – Wegfall des Rechtsschutzinteresses – Erledigung der Hauptsache

(Art. 263 Abs. 4 AEUV; Verfahrensordnung des Gerichts, Art. 131)

(Rn. 70-72, 87-92, 95)

2.      Wirtschafts- und Währungspolitik – Wirtschaftspolitik – Aufsicht über den Finanzsektor der Union – Einheitlicher Aufsichtsmechanismus – Direkte Aufsicht der nationalen Behörden über weniger bedeutende Unternehmen – Dezentralisierte Umsetzung einer ausschließlichen Zuständigkeit der Europäischen Zentralbank (EZB) durch diese Behörden – Modalitäten zur Unterstützung der EZB bei der Wahrnehmung ihrer Aufsichtsaufgaben – Entzug der Zulassung eines Kreditinstituts – Erklärung des Ausfalls oder des wahrscheinlichen Ausfalls – Beschluss, der die Abwicklung eines Kreditinstituts betrifft – Unterschiedliche Handlungen

(Verordnung Nr. 806/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates, Erwägungsgrund 26 sowie Art. 18 Abs. 1 und 4 Buchst. a; Verordnung Nr. 1024/2013 des Rates, Erwägungsgründe 15, 28 und 37 bis 40 sowie Art. 4 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 2 bis 7; Richtlinie 2013/36 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 18)

(Rn. 134-139, 148, 150, 152)

3.      Wirtschafts- und Währungspolitik – Wirtschaftspolitik – Aufsicht über den Finanzsektor der Union – Einheitlicher Aufsichtsmechanismus – Direkte Aufsicht der nationalen Behörden über weniger bedeutende Unternehmen – Prüfungen und Unterstützung der Europäischen Zentralbank (EZB) bei der Ausarbeitung und Umsetzung von Maßnahmen im Zusammenhang mit dem Entzug der Zulassung – Befugnisse der nationalen Behörden – Entzug der Zulassung eines Kreditinstituts – Ausschließliche Zuständigkeit der EZB

(Verordnung Nr. 806/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 83; Verordnung Nr. 1024/2013 des Rates, Art. 4 Abs. 1 Buchst. a und Art. 14 Abs. 5)

(Rn. 162-166, 171-174, 179, 180)

4.      Wirtschafts- und Währungspolitik – Wirtschaftspolitik – Aufsicht über den Finanzsektor der Union – Einheitlicher Aufsichtsmechanismus – Direkte Aufsicht der nationalen Behörden über weniger bedeutende Unternehmen – Feststellung der Tatsachen, die Verstöße gegen die Rechtsvorschriften auf dem Gebiet der Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung begründen – Befugnisse der nationalen Behörden – Entzug der Zulassung eines Kreditinstituts wegen Verstoßes gegen diese Rechtsvorschriften – Ausschließliche Zuständigkeit der Europäischen Zentralbank (EZB)

(Verordnung Nr. 806/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 83; Verordnung Nr. 1024/2013 des Rates, Art. 4 Abs. 1 Buchst. a und Art. 14 Abs. 5; Richtlinie 2005/60 des Europäischen Parlaments und des Rates, Erwägungsgründe 1 und 2; Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates, 2013/36, Art. 67)

(Rn. 185-187, 190, 197)

5.      Wirtschafts- und Währungspolitik – Wirtschaftspolitik – Aufsicht über den Finanzsektor der Union – Einheitlicher Aufsichtsmechanismus – Beaufsichtigung von Kreditinstituten – Kreditinstitut, das eine Zweigstelle in einem anderen Mitgliedstaat errichten möchte – Verfahren der Anzeige an die zuständige Behörde des Herkunftsmitgliedstaats – Verbindlichkeit

(Richtlinie 2013/36 des Europäischen Parlaments und des Rates, Erwägungsgrund 19 und Art. 35 bis 39)

(Rn. 250-256)

Zusammenfassung

Die Versobank AS ist ein in Estland niedergelassenes Kreditinstitut, deren Hauptaktionärin die Ukrselhosprom PCF LLC ist.

Als weniger bedeutendes Kreditinstitut wurde Versobank von der Finantsinspektsioon (FSA, Estland) als nationale zuständige Behörde (National Competent Authority, im Folgenden: NCA) beaufsichtigt(1). Diese Behörde war auch für die Überwachung der Einhaltung der Vorschriften zur Bekämpfung der Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung (Anti-Money Laundering/Countering Financing of Terrorism, im Folgenden: AML/CFT) zuständig.

Seit 2015 stellte die FSA wiederholt Verstöße von Versobank fest, die zum einen mit der Ineffizienz ihrer AML/CFT‑Regelung beim Management des Risikos aufgrund ihres Unternehmensmodells und zum anderen mit der Ungeeignetheit ihrer auf diesem Gebiet eingeführten Regelungen zur Unternehmensführung und ‑kontrolle zusammenhingen. Nachdem die FSA eine Prüfung vor Ort durchgeführt und mehrere Aufforderungen an die Versobank gerichtet hatte, den regulatorischen Anforderungen nachzukommen, erließ sie eine Anordnung an Versobank, die bei dieser Prüfung festgestellten Mängel unverzüglich zu beheben und bestimmte Maßnahmen zu ergreifen.

Nach weiteren Prüfungen vor Ort stellte die FSA fest, dass Versobank immer noch nicht allen in der fraglichen Anordnung vorgesehenen Verpflichtungen nachgekommen war, und hielt es für notwendig, eine eingehende Untersuchung durchzuführen. Dabei stellte sie schwere und umfangreiche Verstöße gegen die Rechtsvorschriften auf dem Gebiet AML/CFT fest.

Am 8. Februar 2018 erhielt die Europäische Zentralbank (EZB) von der FSA einen Vorschlag für den Entzug der Zulassung von Versobank(2). Am 26. März 2018 erließ die EZB ihren Beschluss, mit dem Versobank die Zulassung entzogen wurde, und gab ihn dieser bekannt(3).

Auf Antrag der Ukrselhosprom PCF auf Überprüfung des Beschlusses der EZB vom 26. März 2018 erließ der EZB-Rat den Beschluss vom 17. Juli 2018(4), durch den der Beschluss vom 26. März aufgehoben und ersetzt wurde.

Das Gericht in der Besetzung als erweiterte Kammer hat in der Rechtssache T‑351/18 die Erledigung der Klage festgestellt. In der Rechtssache T‑584/18 hat es die von der Ukrselhosprom PCF und von Versobank erhobene Klage der in vollem Umfang abgewiesen.

Würdigung durch das Gericht

Zum einen hat das Gericht festgestellt, dass die Klage in der Rechtssache T‑351/18 auf Nichtigerklärung des Beschlusses vom 26. März 2018 in der Hauptsache erledigt ist.

Hierzu hat das Gericht, nachdem es die Tragweite und den Ablauf des Verfahrens der administrativen Überprüfung von Beschlüssen der EZB(5) in Erinnerung gerufen hat, darauf hingewiesen, dass der nach dieser Überprüfung erlassene Beschluss unabhängig vom Ergebnis der Überprüfung auf den Zeitpunkt des Wirksamwerdens des ursprünglichen Beschlusses zurückwirkt. Die Ersetzung des ursprünglichen Beschlusses durch einen identischen oder geänderten Beschluss am Ende des Überprüfungsverfahrens führt somit dazu, dass der ursprüngliche Beschluss endgültig aus der Rechtsordnung verschwindet.

Der Beschluss vom 17. Juli 2018 wurde nach Abschluss der administrativen Überprüfung des Beschlusses vom 26. März 2018 erlassen und hat denselben Inhalt wie dieser. Mit ihrem Beschluss vom 17. Juli 2018 hat die EZB daher den Beschluss vom 26. März 2018 rückwirkend zum Zeitpunkt seines Wirksamwerdens ersetzt und nicht bloß für die Zukunft aufgehoben. Folglich haben die Ukrselhosprom PCF und Versobank kein Interesse mehr an der Nichtigerklärung des Beschlusses vom 26. März 2018, so dass die Klage gegen diesen Rechtsakt gegenstandslos geworden ist.

Zum anderen hat das Gericht in seiner Entscheidung über die von der Ukrselhosprom PCF und von Versobank erhobene Klage in der Rechtssache T‑584/18 erstens die Zuständigkeit der EZB für den Entzug der Zulassung, insbesondere für den Erlass des Beschlusses vom 17. Juli 2018 bestätigt. So hat es klargestellt, dass ein Beschluss wie der von der FSA in ihrer Funktion als nationale Abwicklungsbehörde erlassene, mit dem festgestellt wird, dass die Abwicklung eines Kreditinstituts nicht im öffentlichen Interesse ist, der EZB keineswegs verbietet, später einen Beschluss über den Entzug der Zulassung zu erlassen. Das Nebeneinanderbestehen des einheitlichen Aufsichtsmechanismus (SSM) und des einheitlichen Abwicklungsmechanismus (SRM), die dieselbe Aufgabe zum Schutz der Stabilität und Sicherheit des Finanzsystems der Union haben, kann nicht dahin verstanden werden, dass es die Möglichkeit der für die Aufsicht zuständigen Behörde, d. h. der EZB, ausschließt, die Zulassung zu entziehen, wenn die Voraussetzungen für den Erlass einer Abwicklungsmaßnahme fehlen, d. h., wenn das betreffende Kreditinstitut nicht Gefahr läuft, seine Existenzfähigkeit zu verlieren.

Zweitens hat das Gericht die Zuständigkeit der EZB für den Erlass eines Beschlusses über den Entzug der Zulassung wegen Verstoßes gegen die Bestimmungen auf dem Gebiet AML/CFT unter Hinweis darauf bestätigt, dass der Entzug der Zulassung auch für den Fall vorgesehen ist, dass das Kreditinstitut seinen Verpflichtungen auf diesem Gebiet nicht nachkommt(6). Daher wurde die Zuständigkeitsverteilung zwischen den NCAs der teilnehmenden Mitgliedstaaten und der EZB innerhalb des SSM nicht missachtet, indem die Tatsachen, die die Verstöße gegen die Rechtsvorschriften auf dem Gebiet AML/CFT begründen, von der FSA festgestellt, während die rechtliche Beurteilung, ob diese Tatsachen einen Entzug der Zulassung rechtfertigten, sowie die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit hingegen der EZB vorbehalten wurden.

Drittens hat das Gericht festgestellt, dass das Anzeigeverfahren, das sogenannte „EU-Pass-Verfahren“, zwingend ist(7). Ein Kreditinstitut, das eine Zweigstelle im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats errichten möchte, zeigt dies den zuständigen Behörden seines Herkunftsmitgliedstaats an(8). Außerdem ergibt sich aus der Befugnis der zuständigen Behörde des Herkunftsmitgliedstaats, die Übermittlung dieser Angaben an die zuständige nationale Behörde des Aufnahmestaats abzulehnen, und dem Spielraum, über den die zuständige Behörde des Herkunftsmitgliedstaats bei der Beurteilung der Angaben verfügt, dass das Anzeigeverfahren nicht rein formalen Charakter hat.

Viertens hat das Gericht zu der Verletzung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ausgeführt, dass der Entzug der Zulassung hier nicht über das hinausging, was zur Erreichung der Ziele angemessen und erforderlich war, die von Versobank begangenen Verstöße abzustellen. Zudem hat es u. a. präzisiert, dass die Optionen der Selbstliquidation und des Verkaufs an einen anderen Investor keine hinreichenden Alternativmaßnahmen zum Entzug der Zulassung darstellten, um die von der EZB rechtmäßig verfolgten Ziele zu erreichen.

Fünftens hat das Gericht das Vorbringen zurückgewiesen, mit dem eine Verletzung des Grundsatzes der Gleichbehandlung und des Diskriminierungsverbots mit der Begründung geltend gemacht wurde, dass eine vergleichende Untersuchung zwischen den Versobank vorgeworfenen Verstößen und den von anderen Kreditinstituten begangenen Verstößen fehle. Nach Auffassung des Gerichts ist nämlich eine solche Untersuchung nicht erforderlich, um einen Rechtsverstoß einer natürlichen oder juristischen Person zu beanstanden.

Sechstens schließlich hat das Gericht das Vorbringen zurückgewiesen, mit dem eine Verletzung des Rechts der Ukrselhosprom PCF auf Akteneinsicht geltend gemacht wurde. Zum ersten Antrag auf Akteneinsicht hat es festgestellt, dass die EZB keinen Fehler begangen hat, als sie ihn nicht gewährte, da die Ukrselhosprom PCF zum Zeitpunkt der Stellung dieses Antrags keine betroffene Partei(9) war. Zum zweiten Antrag auf Akteneinsicht, der im Rahmen des Überprüfungsverfahrens gestellt wurde, hat das Gericht darauf hingewiesen, dass der administrative Überprüfungsausschuss dem in der Eigenschaft als Antragstellerin hinsichtlich des Antrags auf Überprüfung gestellten Antrag stattgab(10).


1      Verordnung (EU) Nr. 1024/2013 des Rates vom 15. Oktober 2013 zur Übertragung besonderer Aufgaben im Zusammenhang mit der Aufsicht über Kreditinstitute auf die Europäische Zentralbank (ABl. 2013, L 287, S. 63), Art. 2 Nr. 2 und Art. 6 (im Folgenden: SSM-Grundverordnung).


2      Verordnung (EU) Nr. 468/2014 der EZB vom 16. April 2014 zur Einrichtung eines Rahmenwerks für die Zusammenarbeit zwischen der EZB und den nationalen zuständigen Behörden und den nationalen benannten Behörden innerhalb des einheitlichen Aufsichtsmechanismus (SSM-Rahmenverordnung) (ABl. 2014, L 141, S. 1), Art. 80.


3      Beschluss ECB/SSM/2018–EE‑1 WHD-2017-0012 der Europäischen Zentralbank vom 26. März 2018, mit dem die Bankzulassung der Versobank AS entzogen wurde (im Folgenden: Beschluss vom 26. März 2018).


4      Beschluss ECB/SSM/2018-EE‑2 WHD-2017-0012 der Europäischen Zentralbank (EZB) vom 17. Juli 2018 zur Ersetzung des Beschlusses der EZB vom 26. März 2018, mit dem die Bankzulassung der Versobank entzogen wurde (im Folgenden: Beschluss vom 17. Juli 2018).


5      Wie in Art. 24 Abs. 1 und 7 der SSM-Grundverordnung beschrieben.


6      Richtlinie 2013/36/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 über den Zugang zur Tätigkeit von Kreditinstituten und die Beaufsichtigung von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen, zur Änderung der Richtlinie 2002/87/EG und zur Aufhebung der Richtlinien 2006/48/EG und 2006/49/EG (ABl. 2013, L 176, S. 338), Art. 67.


7      Richtlinie 2013/36, Art. 39.


8      Richtlinie 2013/36, Art. 35.


9      SSM-Grundverordnung, Art. 22 Abs. 2; SSM-Rahmenverordnung Art. 26 und 32.


10      Beschluss 2014/360/EU vom 14. April 2014 zur Einrichtung eines administrativen Überprüfungsausschusses und zur Festlegung der Vorschriften für seine Arbeitsweise (ABl. 2014, L 175, S. 47), Art. 20.