Language of document :

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

5. September 2024(*)

„ Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Richtlinie (EU) 2016/800 – Verfahrensgarantien in Strafverfahren für Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind – Anwendungsbereich – Art. 2 Abs. 3 – Personen, die zum Zeitpunkt der Einleitung eines Strafverfahrens gegen sie Kinder waren, aber während des Verfahrens das 18. Lebensjahr vollenden – Art. 4 – Auskunftsrecht – Art. 6 – Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand – Art. 18 – Recht auf Prozesskostenhilfe – Art. 19 – Rechtsbehelfe – Zulässigkeit von Beweisen, die unter Verletzung von Verfahrensrechten erlangt wurden “

In der Rechtssache C‑603/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sąd Rejonowy w Słupsku (Rayongericht Słupsk, Polen) mit Entscheidung vom 26. August 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 19. September 2022, in dem Strafverfahren gegen

M. S.,

J. W.,

M. P.,

Beteiligte:

Prokurator Rejonowy w Słupsku,

D. G. als Prozesspfleger von M. B. und B. B.,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin K. Jürimäe (Berichterstatterin), des Präsidenten des Gerichtshofs K. Lenaerts in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Dritten Kammer sowie der Richter N. Piçarra, N. Jääskinen und M. Gavalec,

Generalanwältin: T. Ćapeta,

Kanzler: N. Mundhenke, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 15. November 2023,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        des Prokurator Rejonowy w Słupsku, vertreten durch T. Rutkowska-Szmydyńska, Prokurator Regionalny w Gdańsku,

–        der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna, J. Sawicka und S. Żyrek als Bevollmächtigte,

–        der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, T. Suchá und J. Vláčil als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Grünheid, K. Herrmann, J. Hottiaux und M. Wasmeier als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 22. Februar 2024

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), von Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, der Richtlinie (EU) 2016/800 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2016 über Verfahrensgarantien in Strafverfahren für Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind (ABl. 2016, L 132, S. 1), von Art. 12 Abs. 2 und Art. 13 der Richtlinie 2013/48/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2013 über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls sowie über das Recht auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug und das Recht auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs (ABl. 2013, L 294, S. 1), von Art. 3 der Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren (ABl. 2012, L 142, S. 1), von Art. 7 Abs. 1 und 2 sowie Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren (ABl. 2016, L 65, S. 1) sowie der Grundsätze des Vorrangs, der unmittelbaren Wirkung und der Effektivität des Unionsrechts.

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen M. S., J. W. und M. P., drei Minderjährige, die angeklagt sind, unbefugt in die Gebäude einer ehemaligen, nicht mehr genutzten Ferienanlage eingedrungen zu sein, wodurch M. B. und B. B., vertreten durch den bestellten Prozesspfleger, D. G., geschädigt worden sein sollen.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

 Richtlinie 2012/13

3        In den Erwägungsgründen 19 und 26 der Richtlinie 2012/13 heißt es:

„(19)      Die zuständigen Behörden sollten Verdächtige oder beschuldigte Personen umgehend mündlich oder schriftlich gemäß dieser Richtlinie über die nach innerstaatlichem Recht vorgesehenen Verfahrensrechte, die für die Gewährleistung eines fairen Verfahrens wesentlich sind, belehren. Damit die betreffenden Rechte zweckmäßig und wirksam ausgeübt werden können, sollte diese Belehrung umgehend im Laufe des Verfahrens und spätestens vor der ersten offiziellen Vernehmung des Verdächtigen oder der beschuldigten Person durch die Polizei oder eine andere zuständige Behörde erfolgen.

(26)      Bei der Belehrung und Unterrichtung von Verdächtigen oder von beschuldigten Personen gemäß dieser Richtlinie sollten die zuständigen Behörden Personen, die zum Beispiel aufgrund ihres jugendlichen Alters oder aufgrund ihres geistigen oder körperlichen Zustands nicht in der Lage sind, den Inhalt oder die Bedeutung der Belehrung oder Unterrichtung zu verstehen, besondere Aufmerksamkeit zuteilwerden lassen.“

4        Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13 bestimmt:

„Diese Richtlinie gilt ab dem Zeitpunkt, zu dem Personen von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats davon in Kenntnis gesetzt werden, dass sie der Begehung einer Straftat verdächtig oder beschuldigt sind, bis zum Abschluss des Verfahrens, worunter die endgültige Klärung der Frage zu verstehen ist, ob der Verdächtige oder die beschuldigte Person die Straftat begangen hat, gegebenenfalls einschließlich der Festlegung des Strafmaßes und der abschließenden Entscheidung in einem Rechtsmittelverfahren.“

5        Art. 3 der Richtlinie 2012/13 sieht vor:

„(1)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen umgehend mindestens über folgende Verfahrensrechte in ihrer Ausgestaltung nach dem innerstaatlichen Recht belehrt werden, um die wirksame Ausübung dieser Rechte zu ermöglichen:

a)      das Recht auf Hinzuziehung eines Rechtsanwalts;

b)      den etwaigen Anspruch auf unentgeltliche Rechtsberatung und die Voraussetzungen für diese Rechtsberatung;

c)      das Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf gemäß Artikel 6;

d)      das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen;

e)      das Recht auf Aussageverweigerung.

(2)      Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass die in Absatz 1 vorgesehene Rechtsbelehrung entweder mündlich oder schriftlich in einfacher und verständlicher Sprache erfolgt, wobei etwaige besondere Bedürfnisse schutzbedürftiger Verdächtiger oder schutzbedürftiger beschuldigter Personen berücksichtigt werden.“

6        Art. 8 („Überprüfung und Rechtsbehelfe“) der Richtlinie 2012/13 lautet:

„(1)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass jegliche Belehrung oder Unterrichtung der Verdächtigen oder beschuldigten Personen, die gemäß den Artikeln 3 bis 6 erfolgt, gemäß dem Verfahren für Aufzeichnungen nach dem Recht des betreffenden Mitgliedstaats schriftlich festgehalten wird.

(2)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen oder ihre Rechtsanwälte das Recht haben, ein etwaiges Versäumnis oder die etwaige Verweigerung einer Belehrung oder Unterrichtung gemäß dieser Richtlinie durch die zuständigen Behörden nach den Verfahren des innerstaatlichen Rechts anzufechten.“

 Richtlinie 2013/48

7        In den Erwägungsgründen 15 und 50 der Richtlinie 2013/48 heißt es:

„(15)      Der Begriff ‚Rechtsbeistand‘ in dieser Richtlinie bezeichnet eine Person, die nach nationalem Recht befähigt und befugt ist – einschließlich durch Akkreditierung durch eine dazu befugte Stelle –, Verdächtige und beschuldigte Personen rechtlich zu beraten und zu unterstützen.

(50)      Die Mitgliedstaaten sollten gewährleisten, dass bei der Beurteilung von Aussagen von Verdächtigen oder beschuldigten Personen oder von Beweisen, die unter Missachtung ihres Rechts auf einen Rechtsbeistand erhoben wurden, oder in Fällen, in denen eine Abweichung von diesem Recht gemäß dieser Richtlinie genehmigt wurde, die Verteidigungsrechte und der Grundsatz des fairen Verfahrens beachtet werden. Diesbezüglich sollte die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte berücksichtigt werden, der zufolge die Verteidigungsrechte grundsätzlich irreparabel verletzt sind, wenn belastende Aussagen, die während einer polizeilichen Vernehmung unter Missachtung des Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand gemacht wurden, als Beweis für die Verurteilung verwendet werden. Dies gilt unbeschadet der Verwendung der Aussagen für andere nach nationalem Recht zulässige Zwecke, beispielsweise für dringende Ermittlungshandlungen zur Verhinderung anderer Straftaten oder zur Abwehr schwerwiegender, nachteiliger Auswirkungen für Personen oder im Zusammenhang mit dem dringenden Erfordernis, eine erhebliche Gefährdung eines Strafverfahrens abzuwenden, wenn der Zugang zu einem Rechtsbeistand oder die Verzögerung der Ermittlungsarbeit die laufenden Ermittlungen bezüglich einer schweren Straftat irreparabel beeinträchtigen würde. Ferner sollte dies die nationalen Vorschriften oder Regelungen bezüglich der Zulässigkeit von Beweisen unberührt lassen und die Mitgliedstaaten nicht daran hindern, eine Regelung beizubehalten, wonach einem Gericht alle vorhandenen Beweismittel vorgelegt werden können, ohne dass die Zulässigkeit dieser Beweismittel Gegenstand einer gesonderten oder vorherigen Beurteilung ist.“

8        Art. 3 („Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand im Strafverfahren“) der Richtlinie 2013/48 bestimmt:

„(1)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtigen und beschuldigten Personen das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand so rechtzeitig und in einer solchen Art und Weise zukommt, dass die betroffenen Personen ihre Verteidigungsrechte praktisch und wirksam wahrnehmen können.

(2)      Verdächtige oder beschuldigte Personen können unverzüglich Zugang zu einem Rechtsbeistand erhalten. In jedem Fall können Verdächtige oder beschuldigte Personen ab dem zuerst eintretenden der folgenden Zeitpunkte Zugang zu einem Rechtsbeistand erhalten:

a)      vor ihrer Befragung durch die Polizei oder andere Strafverfolgungs- oder Justizbehörden;

b)      ab der Durchführung von Ermittlungs- oder anderen Beweiserhebungshandlungen durch Ermittlungs- oder andere zuständige Behörden gemäß Absatz 3 Buchstabe c;

c)      unverzüglich nach dem Entzug der Freiheit;

d)      wenn der Verdächtige oder die beschuldigte Person vor ein in Strafsachen zuständiges Gericht geladen wurde, rechtzeitig bevor der Verdächtige oder die beschuldigte Person vor diesem Gericht erscheint.

(3)      Das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand umfasst Folgendes:

a)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen das Recht haben, mit dem Rechtsbeistand, der sie vertritt, unter vier Augen zusammenzutreffen und mit ihm zu kommunizieren, auch vor der Befragung durch die Polizei oder andere Strafverfolgungs- oder Justizbehörden.

b)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen ein Recht darauf haben, dass ihr Rechtsbeistand bei der Befragung zugegen ist und wirksam daran teilnimmt. Diese Teilnahme erfolgt gemäß den Verfahren des nationalen Rechts, sofern diese Verfahren die wirksame Ausübung und den Wesensgehalt des betreffenden Rechts nicht beeinträchtigen. Nimmt ein Rechtsbeistand während der Befragung teil, wird die Tatsache, dass diese Teilnahme stattgefunden hat[,] unter Verwendung des Verfahrens für Aufzeichnungen nach dem Recht des betreffenden Mitgliedstaats schriftlich festgehalten.

c)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen mindestens das Recht haben, dass ihr Rechtsbeistand den folgenden Ermittlungs- oder Beweiserhebungshandlungen beiwohnt, falls diese in den einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften vorgesehen sind und falls die Anwesenheit des Verdächtigen oder der beschuldigten Personen bei den betreffenden Handlungen vorgeschrieben oder zulässig ist:

i)      Identifizierungsgegenüberstellungen;

ii)      Vernehmungsgegenüberstellungen;

iii)      Tatortrekonstruktionen.

(5)      Unter außergewöhnlichen Umständen und nur im vorgerichtlichen Stadium können die Mitgliedstaaten vorübergehend von der Anwendung des Absatzes 2 Buchstabe c abweichen, wenn es aufgrund der geografischen Entfernung des Verdächtigen oder [der] beschuldigten Personen nicht möglich ist, das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand unverzüglich nach dem Entzug der Freiheit zu gewährleisten.

(6)      Unter außergewöhnlichen Umständen und nur im vorgerichtlichen Stadium können die Mitgliedstaaten vorübergehend von der Anwendung der nach Absatz 3 gewährten Rechte abweichen, wenn dies angesichts der besonderen Umstände des Falles durch einen der nachstehenden zwingenden Gründe gerechtfertigt ist:

a)      wenn dies zur Abwehr einer Gefahr für Leib oder Leben oder für die Freiheit einer Person dringend erforderlich ist;

b)      wenn ein sofortiges Handeln der Ermittlungsbehörden zwingend geboten ist, um eine erhebliche Gefährdung eines Strafverfahrens abzuwenden.“

9        Art. 12 („Rechtsbehelfe“) der Richtlinie 2013/48 sieht vor:

„(1)      Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass Verdächtigen oder beschuldigten Personen in Strafverfahren sowie gesuchten Personen in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls bei Verletzung ihrer Rechte nach dieser Richtlinie ein wirksamer Rechtsbehelf nach nationalem Recht zusteht.

(2)      Unbeschadet der nationalen Vorschriften und Regelungen über die Zulässigkeit von Beweismitteln sorgen die Mitgliedstaaten dafür, dass in Strafverfahren bei der Beurteilung von Aussagen von Verdächtigen oder beschuldigten Personen oder von Beweisen, die unter Missachtung ihres Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand erhoben wurden, oder in Fällen, in denen gemäß Artikel 3 Absatz 6 eine Abweichung von diesem Recht genehmigt wurde, die Verteidigungsrechte und die Einhaltung eines fairen Verfahrens beachtet werden.“

10      Art. 13 der Richtlinie 2013/48 lautet:

„Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass bei der Anwendung dieser Richtlinie die besonderen Bedürfnisse von schutzbedürftigen Verdächtigen und schutzbedürftigen beschuldigten Personen berücksichtigt werden.“

 Richtlinie 2016/343

11      In den Erwägungsgründen 31 und 44 der Richtlinie 2016/343 heißt es:

„(31)      Die Mitgliedstaaten sollten in Erwägung ziehen, sicherzustellen, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen, wenn sie gemäß Artikel 3 der Richtlinie [2012/13] über ihre Rechte belehrt werden, auch über das Recht belehrt werden, sich nicht selbst belasten zu müssen, wie es im Einklang mit der vorliegenden Richtlinie im nationalen Recht gilt.

(44)      Nach dem Grundsatz der praktischen Wirksamkeit des Unionsrechts sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, für den Fall der Verletzung eines durch Unionsrecht garantierten individuellen Rechts angemessene, wirksame Rechtsbehelfe vorzusehen. Ein wirksamer Rechtsbehelf bei einem Verstoß gegen ein in dieser Richtlinie festgelegtes Recht sollte die Verdächtigen oder beschuldigten Personen so weit wie möglich in die Lage versetzen, in der sie sich ohne den Verstoß befinden würden, damit das Recht auf ein faires Verfahren und das Recht auf Verteidigung gewahrt werden.“

12      Art. 2 der Richtlinie 2016/343 lautet:

„Diese Richtlinie gilt für natürliche Personen, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind. Sie gilt für alle Abschnitte des Strafverfahrens ab dem Zeitpunkt, zu dem eine Person verdächtigt oder beschuldigt wird, eine Straftat oder eine mutmaßliche Straftat begangen zu haben, bis die Entscheidung über die endgültige Feststellung, ob diese Person die betreffende Straftat begangen hat, Rechtskraft erlangt hat.“

13      Art. 7 („Recht, die Aussage zu verweigern, und Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen“) Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2016/343 sieht vor:

„(1)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige und beschuldigte Personen das Recht haben, in Bezug auf die Straftat, deren sie verdächtigt oder beschuldigt werden, die Aussage zu verweigern.

(2)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige und beschuldigte Personen das Recht haben, sich nicht selbst belasten zu müssen.“

14      Art. 10 („Rechtsbehelfe“) der Richtlinie 2016/343 bestimmt:

„(1)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige und beschuldigte Personen im Falle einer Verletzung ihrer in dieser Richtlinie festgelegten Rechte über einen wirksamen Rechtsbehelf verfügen.

(2)      Unbeschadet der nationalen Vorschriften und Regelungen über die Zulässigkeit von Beweismitteln sorgen die Mitgliedstaaten dafür, dass bei der Würdigung von Aussagen von Verdächtigen oder beschuldigten Personen oder von Beweisen, die unter Missachtung des Aussageverweigerungsrechts oder des Rechts, sich nicht selbst belasten zu müssen, erlangt wurden, die Verteidigungsrechte und das Recht auf ein faires Verfahren beachtet werden.“

 Richtlinie 2016/800

15      In den Erwägungsgründen 1, 11, 16, 18, 19, 22, 25 bis 27 und 29 bis 32 der Richtlinie 2016/800 heißt es:

„(1)      Mit dieser Richtlinie sollen Verfahrensgarantien festgelegt werden, um zu gewährleisten, dass Kinder, das heißt Personen unter 18 Jahren, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind, diese Verfahren verstehen, ihnen folgen und ihr Recht auf ein faires Verfahren ausüben können, um zu verhindern, dass Kinder erneut straffällig werden[,] und um ihre soziale Integration zu fördern.

(11)      Diese Richtlinie oder bestimmte Vorschriften dieser Richtlinie sollten auch für Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren und für gesuchte Personen gelten, die bei Verfahrensbeginn Kinder waren, im Verlauf des Verfahrens jedoch das 18. Lebensjahr vollendet haben, wenn die Anwendung dieser Richtlinie unter Berücksichtigung aller Umstände des Falles, einschließlich des Reifegrads und der Schutzbedürftigkeit der betroffenen Person, angemessen ist.

(16)      In einigen Mitgliedstaaten gelten bestimmte geringfügige Zuwiderhandlungen, insbesondere geringfügige Straßenverkehrsübertretungen, geringfügige Zuwiderhandlungen gegen allgemeine Gemeindeverordnungen und geringfügige Zuwiderhandlungen gegen die öffentliche Ordnung, als Straftaten. In solchen Situationen wäre es unangemessen, die zuständigen Behörden zu verpflichten, alle Rechte nach dieser Richtlinie zu gewährleisten. In Fällen, in denen nach dem Recht eines Mitgliedstaats bei geringfügigen Zuwiderhandlungen kein Freiheitsentzug als Sanktion verhängt werden kann, sollte diese Richtlinie daher nur auf das Verfahren vor einem in Strafsachen zuständigen Gericht Anwendung finden.

(18)      Bei der Umsetzung dieser Richtlinie sollten die Bestimmungen der Richtlinien [2012/13] und [2013/48] berücksichtigt werden. Um den besonderen Bedürfnissen und Schutzbedürftigkeiten von Kindern Rechnung zu tragen, sieht die vorliegende Richtlinie weitere ergänzende Garantien in Bezug auf die Kindern und dem Träger der elterlichen Verantwortung mitzuteilenden Informationen vor.

(19)      Kinder sollten über allgemeine Aspekte der Durchführung des Verfahrens unterrichtet werden. Zu diesem Zweck sollten sie insbesondere eine kurze Erläuterung der nächsten Verfahrensschritte, soweit dies im Hinblick auf die Belange des Strafverfahrens möglich ist, und über die Rolle der beteiligten Behörden erhalten. Die mitzuteilenden Informationen sollten von den Umständen des Falles abhängen.

(22)      Die Mitgliedstaaten sollten auch den Träger der elterlichen Verantwortung schriftlich, mündlich oder in beiden Formen über die geltenden Verfahrensrechte unterrichten. Diese Unterrichtung sollte so rasch wie möglich und so detailliert wie nötig erfolgen, um ein faires Verfahren und eine wirksame Ausübung der Rechte des Kindes zu gewährleisten.

(25)      Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Personen werden, haben das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand gemäß der Richtlinie [2013/48]. Da Kinder schutzbedürftig und nicht immer in der Lage sind, ein Strafverfahren vollständig zu verstehen und ihm zu folgen, sollten sie in den in dieser Richtlinie bestimmten Situationen von einem Rechtsbeistand unterstützt werden. In diesen Situationen sollten die Mitgliedstaaten dafür sorgen, dass das Kind von einem Rechtsbeistand unterstützt wird, sofern ein solcher Rechtsbeistand nicht von dem Kind selbst oder einem Träger der elterlichen Verantwortung bestellt worden ist. Die Mitgliedstaaten sollten Prozesskostenhilfe bereitstellen, soweit dies notwendig ist, um die wirksame Unterstützung des Kindes durch einen Rechtsbeistand zu gewährleisten.

(26)      Unterstützung durch einen Rechtsbeistand gemäß dieser Richtlinie setzt voraus, dass das Kind Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand gemäß der Richtlinie [2013/48] hat. Würde die Anwendung einer Bestimmung der Richtlinie [2013/48] dazu führen, dass ein Kind gemäß der vorliegenden Richtlinie nicht von einem Rechtsbeistand unterstützt werden könnte, sollte diese Bestimmung daher keine Anwendung auf das Recht eines Kindes auf Zugang zu einem Rechtsbeistand gemäß der Richtlinie [2013/48] finden. Andererseits sollten Ausnahme- und Sonderregelungen in Bezug auf die Unterstützung durch einen Rechtsbeistand gemäß der vorliegenden Richtlinie sich nicht auf das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand gemäß der Richtlinie [2013/48] oder das Recht auf Prozesskostenhilfe gemäß der Charta und der [am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK)] sowie gemäß nationalem Recht und anderem Unionsrecht auswirken.

(27)      Die Bestimmungen dieser Richtlinie über die Unterstützung durch einen Rechtsbeistand sollten unverzüglich Anwendung finden, wenn Kinder davon in Kenntnis gesetzt werden, dass sie Verdächtige oder beschuldigte Personen sind. Für die Zwecke dieser Richtlinie bedeutet Unterstützung durch einen Rechtsbeistand, dass das Kind von dem Rechtsbeistand juristische Unterstützung erhält und von ihm während des Strafverfahrens vertreten wird. Wenn die vorliegende Richtlinie die Unterstützung durch einen Rechtsbeistand während der Befragung vorsieht, so sollte ein Rechtsbeistand anwesend sein. Unbeschadet des Rechts des Kindes auf Zugang zu einem Rechtsbeistand gemäß der Richtlinie [2013/48] bedeutet Unterstützung durch einen Rechtsbeistand nicht, dass während jeder Ermittlungs- oder Beweiserhebungshandlung ein Rechtsbeistand anwesend sein muss.

(29)      Wenn ein Kind, das anfänglich nicht Verdächtiger oder beschuldigte Person ist, wie beispielsweise ein Zeuge, zum Verdächtigen oder zur beschuldigten Person wird, sollte es das Recht haben, sich nicht selbst belasten zu müssen und die Aussage zu verweigern, entsprechend dem Unionsrecht und der EMRK und der Auslegung durch den [Gerichtshof] und den Europäischen [Gerichtshof] für Menschenrechte. Diese Richtlinie nimmt daher ausdrücklich auf den konkreten Fall Bezug, in dem ein Kind im Laufe der Befragung durch die Polizei oder eine andere Strafverfolgungsbehörde im Zusammenhang mit einem Strafverfahren selbst zum Verdächtigen oder zur beschuldigten Person wird. Wird ein Kind, das nicht Verdächtiger oder beschuldigte Person ist, im Laufe dieser Befragung zum Verdächtigen oder zur beschuldigten Person, sollte die Befragung ausgesetzt werden, bis das Kind davon in Kenntnis gesetzt wurde, dass es Verdächtiger oder beschuldigte Person ist, und es gemäß dieser Richtlinie durch einen Rechtsbeistand unterstützt wird.

(30)      Sofern dies mit dem Recht auf ein faires Verfahren vereinbar ist, sollte es den Mitgliedstaaten möglich sein, von der Verpflichtung, Unterstützung durch einen Rechtsbeistand vorzusehen, abzuweichen, wenn diese unter Berücksichtigung der Umstände des Falles nicht verhältnismäßig ist, wobei das Kindeswohl immer eine vorrangige Erwägung sein sollte. Auf jeden Fall sollten Kinder durch einen Rechtsbeistand unterstützt werden, wenn sie einem zuständigen Gericht zur Entscheidung über eine Haft in jeder Verfahrensphase im Anwendungsbereich dieser Richtlinie vorgeführt werden sowie während einer Haft. Ferner sollte Freiheitsentzug nicht als Strafe verhängt werden, wenn das Kind nicht derart durch einen Rechtsbeistand unterstützt worden ist, dass es seine Verteidigungsrechte effektiv wahrnehmen konnte; und in jedem Fall während der Hauptverhandlungen. Die Mitgliedstaaten sollten die Möglichkeit haben, praktische Regelungen hierfür festzulegen.

(31)      Den Mitgliedstaaten sollte es möglich sein, aus zwingenden Gründen vorübergehend von der Verpflichtung, Unterstützung durch einen Rechtsbeistand vorzusehen, im vorgerichtlichen Stadium abzuweichen, nämlich wenn schwerwiegende, nachteilige Auswirkungen für das Leben, die Freiheit oder die körperliche Unversehrtheit einer Person abgewendet werden müssen oder wenn ein sofortiges Handeln der Ermittlungsbehörden zwingend geboten ist, um eine erhebliche Gefährdung eines Strafverfahrens in Bezug auf eine schwere Straftat abzuwenden, unter anderem um Informationen bezüglich mutmaßlicher Mittäter einer schweren Straftat einzuholen oder um den Verlust wichtiger Beweise in Bezug auf eine schwere Straftat zu verhindern. Bei einer vorübergehenden Abweichung aus einem dieser zwingenden Gründe sollte es den zuständigen Behörden möglich sein, Kinder zu befragen, ohne dass der Rechtsbeistand zugegen ist, vorausgesetzt, dass sie über ihr Recht, die Aussage zu verweigern, unterrichtet wurden und dieses Recht in Anspruch nehmen können, und die Befragung die Verteidigungsrechte, einschließlich des Rechts, sich nicht selbst belasten zu müssen, nicht beeinträchtigt. Es sollte möglich sein, Befragungen soweit notwendig zum ausschließlichen Zweck der Erlangung notwendiger Informationen zur Abwehr schwerwiegender, nachteiliger Auswirkungen auf das Leben, die Freiheit oder die körperliche Unversehrtheit einer Person oder zur Abwendung einer erheblichen Gefährdung des Strafverfahrens und in dem dafür erforderlichen Umfang durchzuführen. Ein Missbrauch dieser Ausnahmeregelung würde die Verteidigungsrechte grundsätzlich irreparabel beeinträchtigen.

(32)      Die Mitgliedstaaten sollten die Gründe und die Kriterien für diese vorübergehenden Abweichungen in ihrem nationalen Recht klar festlegen und sie sollten sie restriktiv nutzen. Jede vorübergehende Abweichung sollte verhältnismäßig, zeitlich streng begrenzt und nicht ausschließlich durch die Art oder die Schwere der mutmaßlichen Straftat begründet sein und sollte ein faires Verfahren insgesamt nicht beeinträchtigen. Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass bei Genehmigung einer vorübergehenden Abweichung nach dieser Richtlinie durch eine zuständige Behörde, die kein Gericht ist, die Entscheidung über die Genehmigung der vorübergehenden Abweichung von einem Gericht überprüft werden kann, zumindest in der Phase des Gerichtsverfahrens.“

16      Art. 1 Buchst. a der Richtlinie 2016/800 bestimmt:

„Mit dieser Richtlinie werden gemeinsame Mindestvorschriften für bestimmte Rechte von Kindern festgelegt,

a)      die Verdächtige oder beschuldigte Personen in einem Strafverfahren sind“.

17      In Art. 2 der Richtlinie 2016/800, der ihren Anwendungsbereich festlegt, heißt es:

„(1)      Diese Richtlinie gilt für Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in einem Strafverfahren sind. Die Richtlinie gilt bis zur endgültigen Klärung der Frage, ob der Verdächtige oder die beschuldigte Person eine Straftat begangen hat, gegebenenfalls einschließlich einer Verurteilung und einer Entscheidung in einem Rechtsmittelverfahren.

(2)      Diese Richtlinie gilt für Kinder, die gesuchte Personen sind, ab dem Zeitpunkt ihrer Festnahme im Vollstreckungsmitgliedstaat gemäß Artikel 17.

(3)      Mit Ausnahme des Artikels 5, des Artikels 8 Absatz 3 Buchstabe b und des Artikels 15 – soweit diese Vorschriften sich auf einen Träger der elterlichen Verantwortung beziehen – gelten diese Richtlinie oder bestimmte Vorschriften dieser Richtlinie für Personen nach [Absatz] 1 und 2 des vorliegenden Artikels, sofern diese Personen bei Verfahrensbeginn Kinder waren, im Verlauf des Verfahrens jedoch das 18. Lebensjahr vollendet haben, und die Anwendung dieser Richtlinie oder bestimmter Vorschriften dieser Richtlinie unter den Umständen des Einzelfalles, einschließlich des Reifegrads und der Schutzbedürftigkeit der betroffenen Person, angemessen ist. Die Mitgliedstaaten können beschließen, diese Richtlinie nicht anzuwenden, wenn die betroffene Person das 21. Lebensjahr vollendet hat.

…“

18      Art. 3 Nr. 1 der Richtlinie 2016/800 definiert „Kind“ als „eine Person im Alter von unter achtzehn Jahren“.

19      Art. 4 („Auskunftsrecht“) der Richtlinie 2016/800 sieht vor:

„(1)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Kinder im Einklang mit der Richtlinie [2012/13] umgehend über ihre Rechte und über allgemeine Aspekte der Durchführung des Verfahrens unterrichtet werden, wenn sie davon in Kenntnis gesetzt werden, dass sie Verdächtige oder beschuldigte Personen in einem Strafverfahren sind.

Die Mitgliedstaaten stellen außerdem sicher, dass Kinder über die in dieser Richtlinie festgelegten Rechte unterrichtet werden. Dies erfolgt wie folgt:

a)      umgehend, wenn Kinder davon in Kenntnis gesetzt werden, dass sie Verdächtige oder beschuldigt[e] Personen sind, in Bezug auf:

i)      das Recht auf Unterrichtung des Trägers der elterlichen Verantwortung gemäß Artikel 5,

ii)      das Recht auf Unterstützung durch einen Rechtsbeistand gemäß Artikel 6,

iii)      das Recht auf Schutz der Privatsphäre gemäß Artikel 14,

iv)      das Recht, vom Träger der elterlichen Verantwortung in anderen Phasen des Verfahrens als den Gerichtsverhandlungen begleitet zu werden, gemäß Artikel 15 Absatz 4,

v)      das Recht auf Prozesskostenhilfe gemäß Artikel 18;

b)      in der frühestmöglichen geeigneten Phase des Verfahrens, in Bezug auf:

i)      das Recht auf eine individuelle Begutachtung gemäß Artikel 7,

ii)      das Recht auf eine medizinische Untersuchung, einschließlich des Rechts auf medizinische Unterstützung, gemäß Artikel 8,

iii)      das Recht auf die Begrenzung des Freiheitsentzugs und auf die Anwendung alternativer Maßnahmen, einschließlich des Rechts auf regelmäßige Überprüfung der Haft, gemäß Artikel 10 und 11,

iv)      das Recht auf Begleitung durch den Träger der elterlichen Verantwortung bei Gerichtsverhandlungen gemäß Artikel 15 Absatz 1,

v)      das Recht, persönlich zu der Verhandlung zu erscheinen, gemäß Artikel 16,

vi)      das Recht auf wirksamen Rechtsbehelf gemäß Artikel 19;

c)      bei Freiheitsentzug in Bezug auf das Recht auf besondere Behandlung während des Freiheitsentzugs gemäß Artikel 12.

(2)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die in Absatz 1 vorgesehenen Informationen mündlich, schriftlich oder in beiden Formen in einfacher und verständlicher Sprache erteilt werden und die Tatsache, dass die Informationen erteilt wurden, im Einklang mit dem im nationalen Recht vorgesehenen Verfahren für Aufzeichnungen festgehalten wird.

(3)      Wird Kindern eine schriftliche Erklärung der Rechte gemäß der Richtlinie [2012/13] ausgehändigt, stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass diese Erklärung einen Hinweis auf die in dieser Richtlinie vorgesehenen Rechte enthält.“

20      Art. 5 („Recht des Kindes auf Information des Trägers der elterlichen Verantwortung“) Abs. 1 der Richtlinie 2016/800 lautet:

„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass einem Träger der elterlichen Verantwortung möglichst rasch die Informationen mitgeteilt werden, auf deren Erhalt das Kind gemäß Artikel 4 ein Recht hat.“

21      Art. 6 („Unterstützung durch einen Rechtsbeistand“) der Richtlinie 2016/800 bestimmt:

„(1)      Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Person in einem Strafverfahren sind, haben das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand gemäß der Richtlinie [2013/48]. Dieses Recht wird durch keine Bestimmung der vorliegenden Richtlinie, insbesondere nicht durch diesen Artikel, beeinträchtigt.

(2)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Kinder gemäß diesem Artikel durch einen Rechtsbeistand unterstützt werden, damit sie die Verteidigungsrechte wirksam wahrnehmen können.

(3)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Kinder unverzüglich von einem Rechtsbeistand unterstützt werden, wenn sie davon in Kenntnis gesetzt werden, dass sie Verdächtige oder beschuldigte Person sind. In jedem Fall werden Kinder ab dem zuerst eintretenden der folgenden Zeitpunkte von einem Rechtsbeistand unterstützt:

a)      vor ihrer Befragung durch die Polizei oder andere Strafverfolgungs- oder Justizbehörden;

b)      ab der Durchführung von Ermittlungs- oder anderen Beweiserhebungshandlungen durch Ermittlungs- oder andere zuständige Behörden gemäß Absatz 4 Buchstabe c;

c)      unverzüglich nach dem Entzug der Freiheit;

d)      wenn sie vor ein in Strafsachen zuständiges Gericht geladen wurden, rechtzeitig bevor sie vor diesem Gericht erscheinen.

(4)      Zur Unterstützung durch einen Rechtsbeistand gehört Folgendes:

a)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Kinder das Recht haben, mit dem Rechtsbeistand, der sie vertritt, unter vier Augen zusammenzutreffen und mit ihm zu kommunizieren, auch vor der Befragung durch die Polizei oder andere Strafverfolgungs- oder Justizbehörden.

b)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Kinder von einem Rechtsbeistand unterstützt werden, wenn sie befragt werden, und dass der Rechtsbeistand effektiv an der Befragung teilnehmen kann. Diese Teilnahme erfolgt gemäß den Verfahren des nationalen Rechts, sofern diese Verfahren die wirksame Ausübung oder den Wesensgehalt des betreffenden Rechts nicht beeinträchtigen. Ist ein Rechtsbeistand während der Befragung anwesend, wird die Tatsache, dass diese Teilnahme stattgefunden hat, unter Verwendung des Verfahrens für Aufzeichnungen nach dem nationalen Recht festgehalten.

c)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Kinder von einem Rechtsbeistand zumindest in den folgenden Ermittlungs- oder Beweiserhebungshandlungen unterstützt werden, falls diese im nationalen Recht vorgesehen sind und falls die Anwesenheit des Verdächtigen oder der beschuldigten Person bei den betreffenden Handlungen vorgeschrieben oder zulässig ist:

i)      Identifizierungsgegenüberstellungen;

ii)      Vernehmungsgegenüberstellungen;

iii)      Tatortrekonstruktionen.

(5)      Die Mitgliedstaaten beachten die Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen Kindern und ihrem Rechtsbeistand bei der Wahrnehmung des in dieser Richtlinie vorgesehenen Rechts auf Unterstützung durch einen Rechtsbeistand. Eine solche Kommunikation umfasst auch Treffen, Schriftverkehr, Telefongespräche und sonstige nach nationalem Recht zulässige Kommunikationsformen.

(6)      Die Mitgliedstaaten können – sofern dies mit dem Recht auf ein faires Verfahren vereinbar ist und das Kindeswohl immer eine vorrangige Erwägung ist – von den Verpflichtungen gemäß Absatz 3 abweichen, wenn die Unterstützung durch einen Rechtsbeistand unter Berücksichtigung der Umstände des Falles nicht verhältnismäßig ist, wobei der Schwere der mutmaßlichen Straftat, der Komplexität des Falles und der Maßnahmen, die in Bezug auf eine solche Straftat ergriffen werden können, Rechnung zu tragen [ist].

Die Mitgliedstaaten stellen in jedem Fall sicher, dass Kinder durch einen Rechtsbeistand unterstützt werden,

a)      wenn sie – in jeder Phase des Verfahrens im Anwendungsbereich dieser Richtlinie – einem zuständigen Gericht zur Entscheidung über eine Haft vorgeführt werden und

b)      wenn sie sich in Haft befinden.

Ferner stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass Freiheitsentzug nicht als Strafe verhängt wird, wenn das Kind nicht derart durch einen Rechtsbeistand unterstützt worden ist, dass es die Verteidigungsrechte effektiv wahrnehmen konnte, und in jedem Fall während der Hauptverhandlungen.

(7)      Hat das Kind gemäß diesem Artikel Unterstützung durch einen Rechtsbeistand zu erhalten, ist aber kein Rechtsbeistand anwesend, müssen die zuständigen Behörden die Befragung des Kindes oder andere in Absatz 4 Buchstabe c genannte Ermittlungs- oder Beweiserhebungshandlungen für eine angemessene Zeit verschieben, um das Eintreffen des Rechtsbeistands zu ermöglichen oder, wenn das Kind keinen Rechtsbeistand benannt hat, um einen Rechtsbeistand für das Kind zu bestellen.

(8)      Unter außergewöhnlichen Umständen und nur im vorgerichtlichen Stadium können die Mitgliedstaaten vorübergehend von der Anwendung der nach Absatz 3 gewährten Rechte abweichen, wenn dies unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Falles durch einen der nachstehenden zwingenden Gründe gerechtfertigt ist:

a)      wenn dies zur Abwehr schwerwiegender, nachteiliger Auswirkungen auf das Leben, die Freiheit oder die körperliche Unversehrtheit einer Person dringend erforderlich ist;

b)      wenn ein sofortiges Handeln der Ermittlungsbehörden zwingend geboten ist, um eine erhebliche Gefährdung eines sich auf eine schwere Straftat beziehenden Strafverfahrens abzuwenden.

Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die zuständigen Behörden bei der Anwendung dieses Absatzes das Kindeswohl berücksichtigen.

Eine Entscheidung, die Befragung ohne Rechtsbeistand gemäß diesem Absatz fortzusetzen, kann nur auf Einzelfallbasis entweder von einer Justizbehörde oder – unter der Bedingung, dass die Entscheidung einer richterlichen Kontrolle unterzogen werden kann – von einer anderen zuständigen Behörde getroffen werden.“

22      Art. 7 der Richtlinie 2016/800 betrifft das Recht auf individuelle Begutachtung.

23      Art. 13 Abs. 2 der Richtlinie 2016/800 lautet:

„Die Mitgliedstaaten ergreifen angemessene Maßnahmen, um sicherzustellen, dass Kinder immer auf eine Art und Weise behandelt werden, die ihre Würde schützt und die ihrem Alter, ihrem Reifegrad und ihrem Verständnis entspricht und jegliche besonderen [Bedürfnisse] einschließlich etwaiger Kommunikationsschwierigkeiten, die sie möglicherweise haben, berücksichtigt.“

24      Art. 15 („Recht des Kindes auf Begleitung durch den Träger der elterlichen Verantwortung während des Verfahrens“) Abs. 4 der Richtlinie 2016/800 bestimmt:

„Über das Recht gemäß Absatz 1 hinaus stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass Kinder das Recht haben, von dem Träger der elterlichen Verantwortung oder einem anderen geeigneten Erwachsenen gemäß Absatz 2 während anderer Phasen des Verfahrens als den Gerichtsverhandlungen begleitet zu werden, in denen das Kind anwesend ist, wenn die zuständige Behörde der Auffassung ist, dass

a)      es dem Kindeswohl dient, von dieser Person begleitet zu werden, und

b)      die Anwesenheit dieser Person das Strafverfahren nicht beeinträchtigt.“

25      Art. 18 der Richtlinie 2016/800 sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die nationalen Bestimmungen über die Prozesskostenhilfe die wirksame Ausübung des Rechts auf Unterstützung durch einen Rechtsbeistand gemäß Artikel 6 gewährleisten.“

26      In Art. 19 der Richtlinie 2016/800 heißt es:

„Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass Kindern, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind, und Kindern, die gesuchte Personen sind, bei Verletzung ihrer Rechte nach dieser Richtlinie ein wirksamer Rechtsbehelf nach nationalem Recht zusteht.“

 Polnisches Recht

27      Art. 6 der Ustawa – Kodeks postępowania karnego (Gesetz über die Strafprozessordnung) vom 6. Juni 1997 (Dz. U. 2022, Pos. 1375) in der auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: Strafprozessordnung) bestimmt:

„Einem Beschuldigten steht das Recht auf Verteidigung zu, insbesondere das Recht auf Inanspruchnahme des Beistands eines Verteidigers, worüber er zu belehren ist.“

28      Art. 79 der Strafprozessordnung sieht vor:

„§ 1.      In einem Strafverfahren muss der Beschuldigte einen Verteidiger haben, wenn:

1)      er das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat;

§ 2.      Der Beschuldigte muss auch dann einen Verteidiger haben, wenn das Gericht dies aufgrund anderer Umstände, die seine Verteidigung erschweren, für erforderlich hält.

§ 3.      In den Fällen der §§ 1 und 2 ist die Anwesenheit des Verteidigers bei der Hauptverhandlung und bei den Sitzungen, an denen der Beschuldigte teilnehmen muss, zwingend vorgeschrieben.

…“

29      Art. 168a der Strafprozessordnung lautet:

„Ein Beweis kann nicht allein deshalb für unzulässig erklärt werden, weil er unter Verstoß gegen die Verfahrensvorschriften oder durch eine verbotene Handlung im Sinne von Art. 1 § 1 des Strafgesetzbuchs erlangt wurde, es sei denn, der Beweis wurde von einem Amtsträger im Zusammenhang mit der Ausübung seines Amtes infolge einer Tötung, einer vorsätzlichen Körperverletzung oder einer Freiheitsberaubung erlangt.“

30      Art. 301 der Strafprozessordnung bestimmt:

„Auf Verlangen des Verdächtigen ist er in Anwesenheit des bestellten Verteidigers zu vernehmen. Dessen Nichterscheinen steht der Vernehmung nicht entgegen.“

31      Nach Art. 9 der Ustawa – Prawo o ustroju sądów powszechnych (Gesetz über die Verfassung der ordentlichen Gerichte) vom 27. Juli 2001 (Dz. U. 2001, Nr. 98, Pos. 1070) in der auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: Gesetz über die Verfassung der ordentlichen Gerichte) wird die Verwaltungsaufsicht über die Tätigkeit der Gerichte vom Justizminister ausgeübt.

32      Art. 130 dieses Gesetzes lautet:

„§ 1.      Wird ein Richter festgenommen, weil er bei der Begehung einer vorsätzlichen Straftat auf frischer Tat ergriffen wurde, oder verlangen die Autorität des Gerichts oder wesentliche dienstliche Interessen in Anbetracht der Art der von dem Richter begangenen Tat die sofortige Entbindung von der Ausübung seiner dienstlichen Pflichten, so kann der Gerichtspräsident oder der Justizminister eine sofortige Aussetzung der Amtsausübung des Richters von höchstens einem Monat bis zum Erlass eines Beschlusses des Disziplinargerichts anordnen.

§ 2.      Übt der in § 1 genannte Richter das Amt eines Gerichtspräsidenten aus, ist es Sache des Justizministers, die Aussetzung der Amtsausübung anzuordnen.

§ 3.      Innerhalb von drei Tagen ab dem Erlass der Anordnung nach § 1 setzt der Gerichtspräsident oder der Justizminister das Disziplinargericht davon in Kenntnis, das unverzüglich, vor Ablauf des Zeitraums, für den die Aussetzung angeordnet wurde, einen Beschluss über die Suspendierung des Richters vom Dienst oder über die Aufhebung der Anordnung über die Aussetzung der Amtsausübung erlässt. Das Disziplinargericht benachrichtigt den Richter von der Sitzung, wenn es dies für zweckdienlich hält.“

33      Im Vorabentscheidungsersuchen werden mehrere Bestimmungen der Ustawa – Prawo o prokuraturze (Gesetz über die Staatsanwaltschaft) vom 28. Januar 2016 (Dz. U. 2016, Pos. 177) in der auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung angeführt, die die Organisation und die Struktur der Staatsanwaltschaft sowie die Befugnisse der Staatsanwälte betreffen. Diese Bestimmungen sehen u. a. vor, dass das Amt des Prokurator Generalny (Generalstaatsanwalt) vom Justizminister ausgeübt wird. Im Übrigen üben die Staatsanwälte ihr Amt grundsätzlich in völliger Unabhängigkeit aus. Sie sind jedoch verpflichtet, die Anordnungen, Richtlinien und Weisungen des ihnen übergeordneten Staatsanwalts durchzuführen.

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

34      Der Sąd Rejonowy w Słupsku (Rayongericht Słupsk, Polen), das vorlegende Gericht in der vorliegenden Rechtssache, ist mit einem Strafverfahren gegen M. S., J. W. und M. P. (im Folgenden zusammen: minderjährige Verdächtige) befasst, denen zur Last gelegt wird, unbefugt in eine nicht mehr genutzte Ferienanlage in Ustka (Polen) eingedrungen zu sein (im Folgenden: streitige Taten) und dadurch M. B. und B. B., vertreten durch den bestellten Prozesspfleger, D. G., geschädigt zu haben. Dieses Eindringen stellt eine Straftat nach dem Kodeks karny (Strafgesetzbuch) dar, die mit bis zu einem Jahr Freiheitsentzug geahndet werden kann.

35      M. S. wird zur Last gelegt, in den Monaten Dezember 2021 und Januar 2022 mehrfach in die betreffende Anlage eingedrungen zu sein, während J. W. und M. P. zur Last gelegt wird, nur einmal dort eingedrungen zu sein. Zur Zeit der streitigen Taten waren M. S., J. W. und M. P. 17 Jahre alt.

36      M. S. wurde von der Polizei am 26. Januar 2022 vorgeladen, um als Verdächtiger vernommen zu werden. Dem Polizeibeamten, der ihn vernahm, war bekannt, dass M. S. zu diesem Zeitpunkt noch nicht 18 Jahre alt war. Seine Eltern wurden von dieser Vernehmung nicht vorab unterrichtet. In der Ladung wurde nicht darauf hingewiesen, dass M. S. einen Verteidiger bestellen könne. Zu der Polizeidienststelle wurde M. S. von seiner Mutter begleitet, die trotz ihrer Bitte nicht an der Vernehmung ihres Sohnes teilnehmen konnte, weil sich dieser nach den Angaben der Polizisten als Erwachsener für die streitigen Taten zu verantworten hatte. Außerdem wurde der Mutter jede Information über den Ablauf des Ermittlungsverfahrens verweigert, und M. S. wurde auch nicht über sein Recht belehrt, vor der Übermittlung der Anklageschrift an das Gericht die Verfahrensakte einzusehen.

37      Bei dieser ersten Vernehmung räumte M. S. ein, die streitigen Taten begangen zu haben, und schilderte den Geschehensablauf detailliert, wobei er Aussagen machte, die geeignet waren, ihn zu belasten. Infolge dieser Aussagen wurden die gegen ihn erhobenen Vorwürfe dahin geändert, dass ihm nicht ein einmaliges Eindringen in die betreffende Ferienanlage zur Last gelegt wurde, sondern ein mehrfaches Eindringen.

38      Der Beschluss über die Erhebung des Tatvorwurfs wurde M. S. vorgelesen und ausgehändigt. Er unterzeichnete diesen Beschluss. Das Dokument über allgemeine Informationen über die Rechte und Pflichten des Verdächtigen im Rahmen eines Strafverfahrens wurde ihm ebenfalls ausgehändigt, ohne dass sich darin ein spezifischer Hinweis auf die Rechte und Pflichten Minderjähriger findet. Die erteilten Informationen umfassten u. a. Informationen über das Recht, auszusagen oder zu schweigen oder die Beantwortung von Fragen zu verweigern, ohne dass dies begründet werden müsste, das Recht auf Unterstützung durch einen Verteidiger seiner Wahl und das Recht, die Bestellung eines Pflichtverteidigers zu beantragen, wenn er nicht über die finanziellen Mittel verfügt, um einen Verteidiger zu wählen, sowie das Recht, die Anwesenheit des bestellten Verteidigers während der Befragung zu verlangen, wobei dessen Nichterscheinen der Vernehmung nicht entgegensteht. Da dieses Dokument umfangreich und komplex ist, nahm M. S. seinen Inhalt nicht zur Kenntnis. Er unterschrieb jedoch, es erhalten zu haben.

39      M. S. wurde auch über sein Recht belehrt, eine mündliche Mitteilung der Grundlage der gegen ihn erhobenen Vorwürfe sowie eine – ihm oder seinem Verteidiger dann binnen 14 Tagen zuzustellende – schriftliche Begründung des Beschlusses über die Erhebung des Tatvorwurfs zu beantragen. Er hat weder auf dieses Recht verzichtet noch solche Anträge gestellt. Weder M. S. noch seine Eltern haben einen Verteidiger bestellt. Für M. S. wurde auch kein Pflichtverteidiger bestellt.

40      M. S. wurde zweimal vernommen. Keine dieser Vernehmungen wurde audiovisuell aufgezeichnet. Auf der Grundlage der von M. S. bei seinen Vernehmungen gemachten Angaben identifizierten die Polizeibeamten weitere Personen, die verdächtigt wurden, mit ihm rechtswidrig in die betreffende Ferienanlage eingedrungen zu sein, darunter die anderen minderjährigen Verdächtigen, J. W. und M. P.

41      Diese beiden Minderjährigen wurden bei der Polizeidienststelle Ustka vorgeladen, um dort als Verdächtige vernommen zu werden. Weder die Eltern von J. W. noch die Eltern von M. P. wurden über diese Vernehmung informiert, obwohl dem mit der Vernehmung beauftragten Polizeibeamten bekannt war, dass die beiden Verdächtigen jünger als 18 Jahre waren.

42      Der Ablauf der Vernehmungen von J. W. und M. P. entsprach der von M. S. Die Ladungen von J. W. und M. P. zu den Vernehmungen enthielten keine Information zu ihrem Recht auf die Bestellung eines Verteidigers oder den Beistand eines Pflichtverteidigers. Weder J. W. und M. P. noch ihren Eltern war bekannt – und sie waren auch nicht darüber informiert worden –, dass sie das Recht hatten, Informationen über den Ablauf des Verfahrens zu erhalten und, was die Eltern betrifft, ihre Söhne im vorgerichtlichen Verfahren zu begleiten. J. W. und M. P. wurde das gleiche – in Rn. 38 des vorliegenden Urteils angeführte – Dokument vorgelegt wie M. S., und sie nahmen wegen des Umfangs und der Komplexität der verwendeten Sprache wie dieser keine Kenntnis von seinem Inhalt.

43      Im vorgerichtlichen Ermittlungsverfahren wurde keine individuelle Begutachtung der minderjährigen Verdächtigen nach Art. 7 der Richtlinie 2016/800 vorgenommen.

44      Am 31. Mai 2022 unterzeichnete der Prokurator Prokuratury Rejonowej w Słupsku (Staatsanwalt der Rayonstaatsanwaltschaft Słupsk, Polen) die Anklageschrift gegen die minderjährigen Verdächtigen und übermittelte sie dem Sąd Rejonowy w Słupsku (Rayongericht Słupsk). Da die minderjährigen Verdächtigen keinen bestellten Verteidiger hatten, bestellte dieses Gericht für jeden von ihnen von Amts wegen einen Verteidiger.

45      In der Verhandlung vom 23. August 2022, in der sich die minderjährigen Verdächtigen für unschuldig erklärten, sagte M. S. aus, J. W. und M. P. dagegen verweigerten die Aussage und beantworteten nur die Fragen ihrer Verteidiger. Für jeden der minderjährigen Verdächtigen beantragten ihre Verteidiger, die Aussagen im vorgerichtlichen Verfahren nicht zu berücksichtigen, da diese Beweise unter Verletzung ihrer Verfahrensrechte erlangt worden seien, d. h. im Rahmen von Vernehmungen durch die Polizei in Abwesenheit eines Verteidigers, dessen Teilnahme am Verfahren zwingend gewesen wäre. Die Verteidiger machten geltend, dass die so erlangten Beweise nicht als Grundlage für die Tatsachenfeststellungen dienen könnten.

46      Der Sąd Rejonowy w Słupsku (Rayongericht Słupsk) wies den Antrag des Prokurator Prokuratury Rejonowej w Słupsku (Staatsanwalt der Rayonstaatsanwaltschaft Słupsk), aus den Aussagen der minderjährigen Verdächtigen im vorgerichtlichen Ermittlungsverfahren bei Vernehmungen in Abwesenheit eines Verteidigers gewonnene Beweise berücksichtigen zu können, als unzulässig zurück. Diese Aussagen wurden daher als Beweise aus den Akten entfernt.

47      In der Verhandlung vom 26. August 2022 stellte dieses Gericht von Amts wegen fest, dass M. P. das 18. Lebensjahr vollendet hatte und dass in Bezug auf M. P. die obligatorische Unterstützung durch einen Verteidiger gemäß Art. 79 § 1 Nr. 1 der Strafprozessordnung geendet hatte. Der Verteidiger von M. P. beantragte jedoch die Aufrechterhaltung seiner Bestellung von Amts wegen mit der Begründung, dass M. P. zum Zeitpunkt der Einleitung des Strafverfahrens minderjährig gewesen sei und sich aus den Umständen der Rechtssache ergebe, dass sein Reifegrad den Beistand eines Pflichtverteidigers erfordere. Das Gericht gab dem Antrag statt.

48      In seinem Vorabentscheidungsersuchen führt der Sąd Rejonowy w Słupsku (Rayongericht Słupsk) auch aus, dass der Prokurator Generalny (Generalstaatsanwalt), der auch der Justizminister sei, der Vorgesetzte des an dem Strafverfahren gegen die minderjährigen Verdächtigen beteiligten Prokurator Rejonowej w Słupsku (Rayonstaatsanwalt Słupsk) sei. Er leite die Tätigkeit der Staatsanwaltschaft persönlich oder über den Prokurator Krajowy (Nationaler Staatsanwalt) und andere Vertreter des Prokurator Generalny (Generalstaatsanwalt), indem er Anordnungen, Richtlinien und Weisungen erlasse.

49      Die im Ausgangsverfahren als Einzelrichterin entscheidende Richterin des Sąd Rejonowy w Słupsku (Rayongericht Słupsk) wurde durch Anordnung des Prokurator Generalny (Generalstaatsanwalt) gemäß Art. 130 § 1 des Gesetzes über die Verfassung der ordentlichen Gerichte für den Zeitraum vom 9. Februar 2022 bis zum 8. März 2022 von ihrem Amt suspendiert, weil sie im Rahmen eines anderen Verfahrens als des Ausgangsverfahrens eine Handlung vorgenommen habe, wegen der die Autorität des Sąd Rejonowy w Słupsku (Rayongericht Słupsk) und wesentliche dienstliche Interessen es erforderten, sie unverzüglich von ihrem Amt zu suspendieren.

50      In jener anderen Rechtssache hatte diese Richterin nämlich einen Beschluss erlassen, mit dem sie einem Antrag eines Beteiligten stattgegeben hatte, mit dem ein Richter, der nach einem Verfahren ernannt worden war, an dem die nach 2018 eingerichtete Krajowa Rada Sądownictwa (Landesjustizrat, Polen) beteiligt war, mit der Begründung abgelehnt wurde, dass diese Ernennung nicht mit dem Unionsrecht und der EMRK vereinbar sei.

51      Der Prokurator Rejonowy w Słupsku (Rayonstaatsanwalt Słupsk) hatte daraufhin den Prokurator Regionalny w Gdańsku (Regionalstaatsanwalt Gdańsk [Danzig], Polen) über diese Situation informiert, der diese Information an den Justizminister weitergeleitet hatte, entsprechend den Weisungen der Staatsanwaltschaft, die die Staatsanwälte verpflichten, den örtlich zuständigen Regionalstaatsanwalt unverzüglich über die Fälle zu informieren, in denen Richter den Status eines anderen Richters eines ordentlichen Gerichts oder den Status der dem Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) angehörenden Richter in Frage stellen. Diese Weisungen verpflichten im Wesentlichen dazu, alle Fälle mitzuteilen, in denen sich ein Richter unmittelbar auf Bestimmungen des Unionsrechts und die Rechtsprechung des Gerichtshofs beruft und das nationale Recht unangewendet lässt.

52      Vor diesem Hintergrund hat das vorlegende Gericht in mehrfacher Hinsicht Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts.

53      Erstens ist das vorlegende Gericht der Ansicht, dass den minderjährigen Verdächtigen durch die Umstände, unter denen das Strafverfahren durchgeführt worden sei, die Mindeststandards für den Schutz von „Kindern“ im Sinne von Art. 3 Nr. 1 der Richtlinie 2016/800, die Verdächtige oder beschuldigte Personen seien, sowie die Rechte, die allen Verdächtigen nach den Richtlinien 2013/48 und 2012/13 zustünden, vorenthalten worden seien, was eine unzureichende Umsetzung dieser Richtlinien in polnisches Recht belege.

54      Zweitens fragt sich das vorlegende Gericht, welche Konsequenzen – in Anbetracht der unmittelbaren Wirkung der Bestimmungen über das Auskunftsrecht und das Recht auf Unterstützung durch einen Rechtsbeistand – aus dem Fehlen einer ordnungsgemäßen Umsetzung des Unionsrechts zu ziehen sind. Die in Polen geltenden Verfahrensvorschriften enthielten Bestimmungen, die nicht nur nicht hinreichend genau seien, um die Rechte von Kindern nach der Richtlinie 2016/800 zu gewährleisten, sondern auch eine unionsrechtskonforme Auslegung dieser Bestimmungen unmöglich machten.

55      Drittens betreffen die Fragen des vorlegenden Gerichts die wirksamen Rechtsbehelfe, um verdächtigen oder beschuldigten Kindern zu gewährleisten, dass die Wirkungen der Verletzung ihrer Rechte aus der Richtlinie 2016/800 sowie aus den Richtlinien 2012/13 und 2013/48 im Licht des Grundsatzes des fairen Verfahrens neutralisiert würden. Art. 19 der Richtlinie 2016/800 sehe vor, dass verdächtigen oder beschuldigten Kindern bei Verletzung ihrer Rechte nach dieser Richtlinie ein wirksamer Rechtsbehelf nach nationalem Recht zustehe. Die letztgenannte Richtlinie lege jedoch nicht fest, um welche Rechtsbehelfe es sich handele, und gebe zu verstehen, dass ihre Festlegung im Ermessen der Mitgliedstaaten stehe.

56      Außerdem gehe aus den Richtlinien 2012/13 und 2013/48 hervor, dass es im Unionsrecht keine klaren Bestimmungen über die Möglichkeit gebe, Aussagen, die ein verdächtiges oder beschuldigtes Kind in Abwesenheit eines Verteidigers gemacht habe, als Beweis zu verwenden. Art. 12 der Richtlinie 2013/48 in Verbindung mit deren 50. Erwägungsgrund sehe jedoch eine Klausel über den Ausschluss von Beweisen vor, die unter Verletzung des Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand erlangt worden seien.

57      Außerdem regelten weder die EMRK noch die Charta die Modalitäten der Ausübung der Verteidigungsrechte oder die Folgen einer Verletzung dieser Rechte. Sie überließen den Mitgliedstaaten die Wahl der Mittel, um diese Rechte in ihren Rechtssystemen zu gewährleisten, allerdings unter der Bedingung, dass diese Mittel den Anforderungen an ein faires Verfahren entsprächen. In diesem Zusammenhang sei es erforderlich, die EMRK heranzuziehen, um den Mindestschutzstandard zu bestimmen, den die Rechtsbehelfe gewährleisten müssten. In seiner Rechtsprechung habe der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Bedeutung des Rechts auf Unterstützung durch einen Rechtsbeistand für die Beurteilung der Fairness der Verfahren bestimmt und über die Frage entschieden, ob im Rahmen des Strafverfahrens Beweise verwendet werden könnten, die unter Verletzung des Rechts des Verdächtigen auf Unterstützung durch einen Rechtsbeistand im Anfangsstadium des Strafverfahrens erlangt worden seien.

58      Viertens führt das vorlegende Gericht eine letzte Reihe von Erwägungen zum Status des Staatsanwalts im Rahmen der strafrechtlichen Ermittlungen und zur richterlichen Unabhängigkeit an. Der Grundsatz des effektiven Schutzes der durch das Unionsrecht verliehenen Rechte beruhe zwangsläufig auf der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit aller Behörden des betreffenden Mitgliedstaats. Ein Mechanismus, der es den Organen der Exekutive ermögliche, in den Entscheidungsprozess der Strafverfolgungsbehörden sowie in den der Gerichte einzugreifen, sei problematisch, da er es der Exekutive ermögliche, die vorgenommenen Würdigungen zu beeinflussen und die erlassenen Urteile in Frage zu stellen, indem sie sich in den Prozess der unmittelbaren Anwendung des Unionsrechts sowohl im Stadium des Ermittlungsverfahrens als auch im Stadium des Gerichtsverfahrens einmische.

59      Insbesondere äußert das vorlegende Gericht Bedenken hinsichtlich der Befugnis des Justizministers, gemäß Art. 130 § 1 des Gesetzes über die Verfassung der ordentlichen Gerichte die sofortige Suspendierung eines Richters vom Dienst anzuordnen, wenn er Entscheidungen unmittelbar auf der Grundlage des Unionsrechts oder Entscheidungen zur Gewährleistung der Unabhängigkeit und der Unparteilichkeit eines Gerichts treffe.

60      Unter diesen Umständen hat der Sąd Rejonowy w Słupsku (Rayongericht Słupsk) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Sind Art. 6 Abs. 1, 2, 3 Buchst. a und 7 sowie Art. 18 in Verbindung mit den Erwägungsgründen 25, 26 und 27 der Richtlinie 2016/800 dahin auszulegen, dass die handelnden Behörden ab dem Zeitpunkt, zu dem gegen einen Verdächtigen, der das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, ein Tatvorwurf erhoben wird, sicherstellen müssen, dass das Kind das Recht auf Unterstützung durch einen Pflichtverteidiger hat, wenn es keinen Wahlverteidiger hat (weil das Kind oder der Träger der elterlichen Verantwortung nicht von sich aus für einen solchen Beistand gesorgt hat), und dass an Handlungen im Ermittlungsverfahren wie der Vernehmung des Minderjährigen als Verdächtiger ein Verteidiger beteiligt ist, sowie dahin, dass sie einer Handlung in Form der Vernehmung eines Minderjährigen ohne Beteiligung eines Verteidigers entgegenstehen?

2.      Ist Art. 6 Abs. 6 und 8 in Verbindung mit den Erwägungsgründen 16, 30, 31 und 32 der Richtlinie 2016/800 dahin auszulegen, dass es in Sachen, die mit einer Freiheitsstrafe bedrohte Straftaten betreffen, in keinem Fall zulässig ist, von der unverzüglichen Unterstützung durch einen Verteidiger abzuweichen, und dass eine vorübergehende Abweichung von der Anwendung des Rechts auf Unterstützung durch einen Verteidiger im Sinne von Art. 6 Abs. 8 der Richtlinie nur im vorgerichtlichen Stadium des Verfahrens und nur unter den in Art. 6 Abs. 8 Buchst. a und b genau aufgeführten Umständen möglich ist, die in der grundsätzlich anfechtbaren Entscheidung über die Vernehmung in Abwesenheit eines Rechtsbeistands ausdrücklich anzugeben sind?

3.      Für den Fall, dass zumindest eine der Fragen 1 und 2 bejaht wird: Sind die genannten Bestimmungen der Richtlinie 2016/800 daher dahin auszulegen, dass sie nationalen Bestimmungen wie den folgenden entgegenstehen:

a)      Art. 301 Satz 2 der Strafprozessordnung, wonach der Verdächtige nur auf seinen Antrag hin unter Beteiligung eines bestellten Verteidigers vernommen wird und das Nichterscheinen des Verteidigers zur Vernehmung des Verdächtigen kein Hinderungsgrund für die Vernehmung ist;

b)      Art. 79 § 3 der Strafprozessordnung, wonach bei einer Person, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat (Art. 79 § 1 Nr. 1 der Strafprozessordnung), die Teilnahme des Verteidigers nur in der Hauptverhandlung und in den Sitzungen vorgeschrieben ist, in denen die Anwesenheit des Beschuldigten vorgeschrieben ist, d. h. im Gerichtsverfahren?

4.      Sind die in den Fragen 1 und 2 genannten Bestimmungen sowie der Grundsatz des Vorrangs und der Grundsatz der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien dahin auszulegen, dass sie ein nationales Gericht, das mit einer unter die Richtlinie 2016/800 fallenden Strafsache befasst ist, und jede staatliche Behörde berechtigen (oder verpflichten), mit der Richtlinie unvereinbare Bestimmungen des nationalen Rechts, wie die in Frage 3 genannten, außer Acht zu lassen und folglich – wegen des Ablaufs der Umsetzungsfrist – die nationale Norm durch die oben genannten unmittelbar wirksamen Bestimmungen der Richtlinie zu ersetzen?

5.      Sind Art. 6 Abs. 1, 2, 3 und 7 und Art. 18 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 und 3 sowie den Erwägungsgründen 11, 25 und 26 der Richtlinie 2016/800 und mit Art. 13 und dem 50. Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/48 dahin auszulegen, dass ein Mitgliedstaat Verdächtigen oder beschuldigten Personen in Strafverfahren, die bei Verfahrensbeginn Kinder waren, im Verlauf des Verfahrens aber das 18. Lebensjahr vollendet haben, Prozesskostenhilfe gewähren muss, die bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens verpflichtend ist?

6.      Für den Fall, dass Frage 5 bejaht wird: Sind daher die oben genannten Bestimmungen der Richtlinie 2016/800 dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Bestimmung wie Art. 79 § 1 Nr. 1 der Strafprozessordnung entgegenstehen, wonach der Beschuldigte in einem Strafverfahren nur bis zur Vollendung des 18. Lebensjahrs einen Verteidiger haben muss?

7.      Sind die in Frage 5 genannten Bestimmungen sowie der Grundsatz des Vorrangs und der Grundsatz der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien dahin auszulegen, dass sie ein nationales Gericht, das mit einer unter die Richtlinie 2016/800 fallenden Strafsache befasst ist, und jede staatliche Behörde berechtigen (oder verpflichten), mit der Richtlinie unvereinbare Bestimmungen des nationalen Rechts wie die in Frage [6] genannten außer Acht zu lassen und Bestimmungen des nationalen Rechts wie Art. 79 § 2 der Strafprozessordnung in einer richtlinienkonformen (unionsrechtsfreundlichen) Auslegung anzuwenden, d. h., die Bestellung eines Pflichtverteidigers für einen Beschuldigten, der bei Erhebung der Tatvorwürfe gegen ihn noch nicht 18 Jahre alt war, im Verlauf des Verfahrens aber das 18. Lebensjahr vollendet hat und gegen den das Strafverfahren noch anhängig ist, bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens aufrechtzuerhalten, wenn dies in Anbetracht von Umständen, die die Verteidigung erschweren, notwendig ist, oder – wegen Ablaufs der Umsetzungsfrist – die nationale Norm durch die oben genannten unmittelbar wirksamen Bestimmungen der Richtlinie zu ersetzen?

8.      Sind Art. 4 Abs. 1 bis 3 in Verbindung mit den Erwägungsgründen 18, 19 und 22 der Richtlinie 2016/800 und Art. 3 Abs. 2 in Verbindung mit den Erwägungsgründen 19 und 26 der Richtlinie 2012/13 dahin auszulegen, dass die zuständigen Behörden (Staatsanwaltschaft, Polizei) spätestens vor der ersten offiziellen Vernehmung eines Verdächtigen durch die Polizei oder eine andere zuständige Behörde sowohl den Verdächtigen als auch gleichzeitig den Träger der elterlichen Verantwortung unverzüglich über die Rechte, die für die Gewährleistung eines fairen Verfahrens wesentlich sind, und über die Verfahrensschritte informieren müssen, insbesondere über die Verpflichtung zur Bestellung eines Verteidigers für einen minderjährigen Verdächtigen und die Folgen der Nichtbestellung eines Wahlverteidigers für einen minderjährigen Beschuldigten (Bestellung eines Pflichtverteidigers), und müssen diese Informationen bei Kindern, die Verdächtige sind, in einer einfachen und verständlichen Sprache mitgeteilt werden, die dem Alter des Minderjährigen angemessen ist?

9.      Ist Art. 7 Abs. 1 und 2 in Verbindung mit dem 31. Erwägungsgrund der Richtlinie 2016/343 und mit Art. 3 Abs. 1 Buchst. e und Abs. 2 der Richtlinie 2012/13 dahin auszulegen, dass die Behörden eines Mitgliedstaats, die ein Strafverfahren durchführen, an dem ein Kind als Verdächtiger bzw. Beschuldigter beteiligt ist, verpflichtet sind, das Kind als Verdächtigen in einer verständlichen und seinem Alter angemessenen Weise über das Recht, die Aussage zu verweigern, und das Recht, sich nicht selbst zu belasten, zu belehren?

10.      Sind Art. 4 Abs. 1 bis 3 in Verbindung mit den Erwägungsgründen 18, 19 und 22 der Richtlinie 2016/800 und Art. 3 Abs. 2 in Verbindung mit den Erwägungsgründen 19 und 26 der Richtlinie 2012/13 dahin auszulegen, dass die in diesen Bestimmungen festgelegten Anforderungen nicht erfüllt sind, wenn einem minderjährigen Verdächtigen unmittelbar vor seiner Vernehmung eine allgemeine Belehrung ausgehändigt wird, ohne dass die spezifischen Rechte aus der Richtlinie 2016/800 berücksichtigt werden, und diese Belehrung nur dem Verdächtigen, der ohne Verteidiger handelt, und nicht dem Träger der elterlichen Verantwortung ausgehändigt wird und sie in einer dem Alter des Verdächtigen nicht angemessenen Sprache formuliert ist?

11.      Sind die Art. 18 und 19 in Verbindung mit dem 26. Erwägungsgrund der Richtlinie 2016/800 und Art. 12 Abs. 2 in Verbindung mit dem 50. Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/48 und mit Art. 7 Abs. 1 und 2, Art. 10 Abs. 2 und dem 44. Erwägungsgrund der Richtlinie 2016/343 dahin auszulegen, dass sie – in Bezug auf Aussagen eines Verdächtigen bei einer polizeilichen Vernehmung, die ohne Zugang zu einem Rechtsbeistand und ohne angemessene Belehrung des Verdächtigen über seine Rechte durchgeführt wurde, ohne dass der Träger der elterlichen Verantwortung über die Rechte und allgemeinen Aspekte der Durchführung des Verfahrens unterrichtet wurde, worauf das Kind nach Art. 4 der Richtlinie 2016/800 Anspruch hat – das nationale Gericht, das mit einem unter die genannten Richtlinien fallenden Strafverfahren befasst ist, und jede staatliche Behörde dazu verpflichten (oder berechtigen), sicherzustellen, dass der Verdächtige bzw. Beschuldigte in die Lage versetzt wird, in der er sich ohne die fraglichen Verstöße befinden würde, und somit dazu, einen solchen Beweis nicht zuzulassen, insbesondere wenn die bei einer solchen Vernehmung erlangten belastenden Informationen zur Verurteilung der betreffenden Person verwendet werden sollen?

12.      Sind daher die in Frage 11 genannten Bestimmungen sowie der Grundsatz des Vorrangs und der Grundsatz der unmittelbaren Wirkung dahin auszulegen, dass sie das nationale Gericht, das mit einem unter die genannten Richtlinien fallenden Strafverfahren befasst ist, und jede staatliche Behörde verpflichten, mit diesen Richtlinien unvereinbare Bestimmungen des nationalen Rechts außer Acht zu lassen, wie Art. 168a der Strafprozessordnung, wonach ein Beweis nicht allein deshalb für unzulässig erklärt werden kann, weil er unter Verstoß gegen die Verfahrensvorschriften oder durch eine verbotene Handlung im Sinne von Art. 1 § 1 des Strafgesetzbuchs erlangt wurde, es sei denn, der Beweis wurde von einem Amtsträger im Zusammenhang mit der Ausübung seines Amtes infolge einer Tötung, einer vorsätzlichen Körperverletzung oder einer Freiheitsberaubung erlangt?

13.      Sind Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2016/800 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und der unionsrechtliche Effektivitätsgrundsatz dahin auszulegen, dass der Staatsanwalt als Organ, das an der Ausübung der Rechtspflege beteiligt ist, über die Rechtsstaatlichkeit wacht und zugleich Herr des Ermittlungsverfahrens ist, verpflichtet ist, im Ermittlungsverfahren einen effektiven Rechtsschutz im Anwendungsbereich der genannten Richtlinie zu gewährleisten, und dass er bei der effektiven Anwendung des Unionsrechts seine Unabhängigkeit und Unparteilichkeit zu garantieren hat?

14.      Für den Fall, dass eine der Fragen 1 bis 12 bejaht wird, und insbesondere für den Fall der Bejahung von Frage 13: Sind Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV (Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes) in Verbindung mit Art. 2 EUV, insbesondere im Zusammenhang mit dem Grundsatz der Achtung der Rechtsstaatlichkeit in seiner Auslegung durch den Gerichtshof (Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034), und der in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und in Art. 47 der Charta verankerte Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit in seiner Auslegung durch den Gerichtshof (Urteil vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses, C‑64/16, EU:C:2018:117) dahin auszulegen, dass diese Grundsätze wegen der Möglichkeit, mittelbaren Druck auf die Richter auszuüben, und der Möglichkeit, dass der Prokurator Generalny (Generalstaatsanwalt) den nachgeordneten Staatsanwälten in diesem Bereich verbindliche Weisungen erteilt, einer nationalen Gesetzgebung entgegenstehen, die eine Abhängigkeit der Staatsanwaltschaft von einem Exekutivorgan wie dem Justizminister erkennen lässt, sowie einer nationalen Regelung, die die Unabhängigkeit der Gerichte und die Unabhängigkeit des Staatsanwalts bei der Anwendung des Unionsrechts einschränkt, insbesondere:

a)      Art. 130 § 1 des Gesetzes über die Verfassung der ordentlichen Gerichte, wonach der Justizminister – in Verbindung mit der Verpflichtung des Staatsanwalts, Fälle zu melden, in denen ein Richter unter Anwendung des Unionsrechts entscheidet – eine sofortige Unterbrechung der Amtsausübung des Richters von höchstens einem Monat bis zum Erlass einer Entscheidung des Disziplinargerichts anordnen kann, wenn der Justizminister aufgrund der Art der vom Richter begangenen und in der unmittelbaren Anwendung des Unionsrechts bestehenden Handlung der Auffassung ist, dass die Autorität des Gerichts oder wesentliche dienstliche Interessen dies erfordern;

b)      Art. 1 § 2, Art. 3 § 1 Nrn. 1 und 3, Art. 7 §§ 1 bis 6 und 8 sowie Art. 13 §§ 1 und 2 des Gesetzes vom 28. Januar 2016 über die Staatsanwaltschaft, aus denen in der Zusammenschau hervorgeht, dass der Justizminister, der zugleich der Generalstaatsanwalt und die oberste Anklagebehörde ist, Weisungen erteilen kann, die für nachgeordnete Staatsanwälte auch insoweit verbindlich sind, als sie die unmittelbare Anwendung des Unionsrechts einschränken oder behindern?

 Verfahren vor dem Gerichtshof

61      Das vorlegende Gericht hat beantragt, die vorliegende Vorlage zur Vorabentscheidung einem beschleunigten Verfahren nach Art. 105 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu unterwerfen. Zur Stützung seines Antrags macht das vorlegende Gericht erstens geltend, dass die gestellten Fragen angesichts der großen Zahl der von den polnischen Gerichten allmonatlich zu bearbeitenden Rechtssachen in Bezug auf verdächtige oder beschuldigte Minderjährige über den Rahmen des Ausgangsverfahrens hinausgingen und dass die rechtswidrigen Verfahrenshandlungen in irreparabler Weise gegen fundamentale Grundsätze des Strafverfahrens verstießen. Zweitens entschieden diese Gerichte auf der Grundlage von Bestimmungen über das polnische Strafverfahren, die, so die Ansicht des vorlegenden Gerichts, die sich aus dem Unionsrecht ergebenden Mindestschutzstandards nicht gewährleisteten. Drittens sei eine rasche Beantwortung der Vorlagefragen erforderlich, um Zweifel auszuräumen, ob ein Organ der Exekutive wie der Justizminister die Anwendung des Unionsrechts in Strafverfahren in Bezug auf verdächtige oder beschuldigte Minderjährige beeinflussen könne.

62      Nach Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung kann der Präsident des Gerichtshofs auf Antrag des vorlegenden Gerichts oder ausnahmsweise von Amts wegen, nach Anhörung des Berichterstatters und des Generalanwalts, entscheiden, eine Vorlage zur Vorabentscheidung einem beschleunigten Verfahren unter Abweichung von den Bestimmungen dieser Verfahrensordnung zu unterwerfen, wenn die Art der Rechtssache ihre rasche Erledigung erfordert.

63      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass ein solches beschleunigtes Verfahren ein Verfahrensinstrument ist, mit dem auf eine außerordentliche Dringlichkeitssituation reagiert werden soll (Urteil vom 9. Januar 2024, G. u. a. [Ernennung von Richtern der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Polen], C‑181/21 und C‑269/21, EU:C:2024:1, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung).

64      Im vorliegenden Fall hat der Präsident des Gerichtshofs am 21. Oktober 2022 nach Anhörung der Berichterstatterin und der Generalanwältin entschieden, dem in Rn. 61 des vorliegenden Urteils genannten Antrag nicht stattzugeben.

65      Nach ständiger Rechtsprechung kann nämlich die beträchtliche Zahl von Personen oder Rechtsverhältnissen, die möglicherweise von der Entscheidung betroffen sind, die ein vorlegendes Gericht zu treffen hat, nachdem es den Gerichtshof um Vorabentscheidung ersucht hat, als solche keinen außergewöhnlichen Umstand darstellen, der die Anwendung eines beschleunigten Verfahrens rechtfertigen könnte (Urteil vom 8. Dezember 2020, Staatsanwaltschaft Wien [Gefälschte Überweisungsaufträge], C‑584/19, EU:C:2020:1002, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung). Gleiches gilt für den Umstand, dass eine große Zahl von Rechtsunterworfenen potenziell von den Entscheidungen betroffen ist, die von polnischen Gerichten auf der Grundlage von Bestimmungen über das polnische Strafverfahren erlassen werden, deren Gültigkeit im Hinblick auf das Unionsrecht in Zweifel gezogen wird (vgl. entsprechend Urteil vom 9. Januar 2024, G. u. a. [Ernennung von Richtern der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Polen], C‑181/21 und C‑269/21, EU:C:2024:1, Rn. 55).

66      Außerdem kann weder der Umstand, dass das Vorabentscheidungsersuchen strafrechtliche Fragen aufwirft, noch das bloße – wenn auch legitime – Interesse der Rechtsuchenden daran, den Umfang der ihnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte möglichst schnell zu klären, das Vorliegen eines außergewöhnlichen Umstands belegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. April 2024, Sapira u. a., C‑114/23, C‑115/23, C‑132/23 und C‑160/23, EU:C:2024:290, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).

67      Was schließlich die Zweifel hinsichtlich der für ein Exekutivorgan wie den Justizminister bestehenden Möglichkeit betrifft, die Anwendung des Unionsrechts zu beeinflussen, enthält der in Rn. 61 des vorliegenden Urteils genannte Antrag keinen konkreten Anhaltspunkt dafür, dass eine solche Möglichkeit durch die Anwendung des beschleunigten Verfahrens vermieden werden könnte.

68      Der Präsident des Gerichtshofs hat jedoch entschieden, dass die vorliegende Rechtssache gemäß Art. 53 Abs. 3 der Verfahrensordnung mit Vorrang behandelt wird.

 Zu den Vorlagefragen

 Zur Zulässigkeit

69      Die polnische Regierung macht geltend, die Vorlagefragen seien unzulässig.

70      Zum einen seien die Fragen 1 bis 12 für die Entscheidung der Ausgangsrechtssache nicht erforderlich. Aus dem Vorabentscheidungsersuchen gehe nämlich hervor, dass das vorlegende Gericht die Anträge des Prokurator Prokuratury Rejonowej w Słupsku (Staatsanwalt der Rayonstaatsanwaltschaft Słupsk) auf Erhebung von Beweisen aus den von den minderjährigen Verdächtigen im Rahmen der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden strafrechtlichen Ermittlungen gemachten Aussagen nach nationalem Recht als unzulässig zurückgewiesen habe. Das Gericht habe dementsprechend die von den minderjährigen Verdächtigen während dieser strafrechtlichen Ermittlungen gemachten Aussagen aus den Akten entfernt. Außerdem hätten die minderjährigen Verdächtigen jeweils den Beistand eines Pflichtverteidigers erhalten, und bei einem von ihnen, der während des Verfahrens 18 Jahre alt geworden sei, habe das vorlegende Gericht die von Amts wegen vorgenommene Bestellung eines solchen Verteidigers mit der Begründung bestätigt, dass diese Bestellung aufgrund von Umständen, die seine Verteidigung erschwerten, erforderlich sei.

71      Zum anderen seien die Fragen 13 und 14 rein hypothetisch, da sie in keinem Zusammenhang mit dem Sachverhalt oder dem Gegenstand des Ausgangsverfahrens stünden.

72      Frage 13 sowie Frage 14 Buchst. b beträfen nämlich allgemein die Befugnis des Justizministers, der auch das Amt des Prokurator Generalny (Generalstaatsanwalt) ausübe, den untergeordneten Staatsanwälten verbindliche Weisungen zu erteilen, die auch die unmittelbare Anwendbarkeit des Unionsrechts einschränken oder behindern könnten. Insoweit habe das vorlegende Gericht nicht erläutert, wie die einschlägigen nationalen Vorschriften auf das Ausgangsverfahren angewandt worden seien.

73      Frage 14 Buchst. a betreffe die Möglichkeit, die für das Ausgangsverfahren zuständige Richterin vorübergehend vom Dienst zu suspendieren. Im vorliegenden Fall sei die in Rede stehende Suspendierung indessen am 9. Februar 2022 wirksam geworden und habe am 8. März 2022 geendet und bestehe daher nicht mehr. Außerdem sei sie im Rahmen eines Verfahrens erfolgt, das in keinem Zusammenhang mit dem Ausgangsverfahren stehe. Die in Rede stehende Suspendierung sei auf der Grundlage erfolgt, dass die betreffende Richterin das Bestehen des Dienstverhältnisses eines anderen Richters und die Gültigkeit seiner Ernennung unter Beteiligung der Krajowa Rada Sądownictwa (Landesjustizrat) in Abrede gestellt habe. Ein solche Fallgestaltung könne aber im Ausgangsverfahren nicht eintreten, da das vorlegende Gericht in Einzelrichterbesetzung entscheide. Jedenfalls enthalte die Begründung des Vorabentscheidungsersuchens keine Ausführungen zur Ernennung von Richtern in Polen.

74      Der Prokurator Regionalny w Gdańsku (Regionalstaatsanwalt Gdańsk) seinerseits hält die Fragen 11 bis 14 für unzulässig, da ihre Beantwortung durch den Gerichtshof für die Entscheidung der Ausgangsrechtssache nicht erforderlich sei.

75      Angesichts der vorstehend wiedergegebenen Ausführungen ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof wiederholt entschieden hat, dass das durch Art. 267 AEUV geschaffene Verfahren ein Instrument der Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten ist, mit dem der Gerichtshof diesen Gerichten Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts gibt, die sie zur Entscheidung der bei ihnen anhängigen Rechtsstreitigkeiten benötigen, und dass die Rechtfertigung des Vorabentscheidungsersuchens nicht in der Abgabe von Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen liegt, sondern darin, dass es für die tatsächliche Entscheidung eines Rechtsstreits erforderlich ist (Urteil vom 9. Januar 2024, G. u. a. [Ernennung von Richtern der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Polen], C‑181/21 und C‑269/21, EU:C:2024:1, Rn. 62 und die dort angeführte Rechtsprechung).

76      Nach dem Wortlaut von Art. 267 AEUV muss die beantragte Vorabentscheidung „erforderlich“ sein, um dem vorlegenden Gericht den „Erlass seines Urteils“ in der bei ihm anhängigen Rechtssache zu ermöglichen (Urteil vom 9. Januar 2024, G. u. a. [Ernennung von Richtern der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Polen], C‑181/21 und C‑269/21, EU:C:2024:1, Rn. 63 und die dort angeführte Rechtsprechung).

77      Sowohl aus dem Wortlaut als auch aus dem Aufbau von Art. 267 AEUV folgt nämlich, dass das Vorabentscheidungsverfahren insbesondere voraussetzt, dass bei den nationalen Gerichten tatsächlich ein Rechtsstreit anhängig ist, in dem sie eine Entscheidung erlassen müssen, bei der das im Vorabentscheidungsverfahren ergangene Urteil berücksichtigt werden kann (Urteil vom 9. Januar 2024, G. u. a. [Ernennung von Richtern der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Polen], C‑181/21 und C‑269/21, EU:C:2024:1, Rn. 64 und die dort angeführte Rechtsprechung).

78      In einem solchen Verfahren muss also ein Bezug zwischen dem fraglichen Rechtsstreit und den Bestimmungen des Unionsrechts, um deren Auslegung ersucht wird, bestehen, so dass diese Auslegung einem objektiven Erfordernis für die Entscheidung entspricht, die das nationale Gericht zu treffen hat (Urteil vom 9. Januar 2024, G. u. a. [Ernennung von Richtern der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Polen], C‑181/21 und C‑269/21, EU:C:2024:1, Rn. 65 und die dort angeführte Rechtsprechung).

79      Die Fragen 1 bis 12 betreffen im Wesentlichen die Auslegung mehrerer Bestimmungen der Richtlinie 2016/800 im Licht der Richtlinien 2012/13, 2013/48 und 2016/343, soweit diese Bestimmungen die Verfahrensrechte von Kindern regeln, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind.

80      Aus dem Vorabentscheidungsersuchen geht hervor, dass das vorlegende Gericht wissen möchte, ob die polnischen Rechtsvorschriften über das Strafverfahren mit diesen Bestimmungen vereinbar sind und welche Konsequenzen im Rahmen des Ausgangsverfahrens aus einer Unvereinbarkeit des nationalen Rechts mit dem Unionsrecht zu ziehen sind. Hierzu führt es aus, dass die Antwort auf die Fragen 1 bis 12 unerlässlich sei, damit es über die Zulässigkeit der Beweise entscheiden könne, die sich aus den von den minderjährigen Verdächtigen im vorgerichtlichen Ermittlungsverfahren in Abwesenheit eines Verteidigers gemachten Aussagen ergäben.

81      Das vorlegende Gericht gibt zwar an, dass es die Anträge des Prokurator Prokuratury Rejonowej w Słupsku (Staatsanwalt der Rayonstaatsanwaltschaft Słupsk) auf Erhebung der Beweise zurückgewiesen habe, die sich aus den von den minderjährigen Verdächtigen im vorgerichtlichen Ermittlungsverfahren in Abwesenheit eines Verteidigers gemachten belastenden Aussagen ergäben, und somit entschieden habe, diese Beweise außer Acht zu lassen. Außerdem habe es bei einem der minderjährigen Verdächtigen, der während des bei ihm anhängigen Verfahrens das 18. Lebensjahr vollendet habe, die von Amts wegen vorgenommene Bestellung des Verteidigers zugunsten dieses Verdächtigen verlängert.

82      Zum einen geht jedoch aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass dieses Gericht keine endgültige Entscheidung über die Zulässigkeit dieser Beweise getroffen hat. Somit wird die Antwort auf die Vorlagefragen einen Einfluss auf diese Entscheidung haben, um es dem vorlegenden Gericht zu ermöglichen, im Ausgangsverfahren in der Sache zu entscheiden. Was zum anderen die Entscheidung über die Verlängerung der von Amts wegen vorgenommenen Bestellung eines Verteidigers für einen der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verdächtigen betrifft, ist diese offenbar in einem späteren Stadium des Verfahrens ergangen und kann folglich etwaige Verstöße im vorgerichtlichen Ermittlungsverfahren nicht heilen.

83      Daraus folgt, dass im vorliegenden Fall eine Antwort des Gerichtshofs auf die Fragen 1 bis 12 erforderlich erscheint, um es dem vorlegenden Gericht zu ermöglichen, über Vorfragen zu entscheiden, bevor es im Ausgangsverfahren gegebenenfalls in der Sache entscheiden kann (vgl. entsprechend Urteil vom 6. Oktober 2021, W. Ż. [Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung], C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 94 und die dort angeführte Rechtsprechung).

84      Da die in den Rn. 76 bis 78 des vorliegenden Urteils genannten Voraussetzungen erfüllt sind, sind die Fragen 1 bis 12 somit zulässig.

85      Dagegen erfüllen die Fragen 13 und 14 diese Voraussetzungen nicht.

86      Erstens geht es in Frage 13 und in Frage 14 Buchst. b darum, ob der Staatsanwalt im vorgerichtlichen Ermittlungsverfahren die gegen das Unionsrecht verstoßenden nationalen Bestimmungen unangewendet lassen muss, um die Wirksamkeit der Rechte der minderjährigen Verdächtigen zu gewährleisten, und ob zu diesem Zweck seine Unabhängigkeit und Unparteilichkeit gegenüber etwaigen Eingriffen der Exekutive gewahrt werden müssen.

87      Im vorliegenden Fall ist in Anbetracht der in den Rn. 80 bis 83 des vorliegenden Urteils dargelegten Gesichtspunkte nicht ersichtlich, dass eine Antwort des Gerichtshofs auf diese Fragen erforderlich wäre, damit das vorlegende Gericht über vor ihm aufgeworfene Vorfragen entscheiden kann. Aus den Angaben des vorlegenden Gerichts geht nämlich hervor, dass im Ausgangsverfahren das vorgerichtliche Ermittlungsverfahren abgeschlossen ist und dass nunmehr diesem Gericht die Befugnis zukommt, Beweise, die unter Verletzung von Verfahrensrechten erlangt wurden, unberücksichtigt zu lassen oder über das Recht der verdächtigen Personen auf den Beistand eines Verteidigers zu entscheiden.

88      Unter diesen Umständen zielt die Frage, ob sich für den Staatsanwalt im vorgerichtlichen Ermittlungsverfahren aus dem Unionsrecht eine Verpflichtung ergibt, gegen das Unionsrecht verstoßende nationale Bestimmungen unangewendet zu lassen, um die Wirksamkeit der Rechte minderjähriger Verdächtiger zu gewährleisten, daher nicht darauf ab, das Unionsrecht für die objektiven Zwecke der Entscheidung des Ausgangsverfahrens auszulegen, sondern ist allgemein und hypothetisch.

89      Zweitens soll mit Frage 14 Buchst. a geklärt werden, ob Art. 2 EUV und Art. 19 Abs. 1 EUV sowie Art. 47 der Charta einer nationalen Regelung entgegenstehen, die es dem Justizminister erlaubt, die sofortige Suspendierung eines Richters vom Dienst anzuordnen.

90      Im vorliegenden Fall zeigt sich zwar, dass die für das Ausgangsverfahren zuständige Richterin in Anwendung dieser Regelung vom Dienst suspendiert wurde.

91      Aus den Angaben im Vorabentscheidungsersuchen geht jedoch klar hervor, dass diese Suspendierung, die im Übrigen nicht mehr fortbesteht, nicht im Ausgangsverfahren beschlossen wurde, sondern in einer anderen Rechtssache. Außerdem ist, wie die Generalanwältin in Nr. 56 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, die Befürchtung dieser Richterin, im Rahmen des Ausgangsverfahrens erneut einer solchen Suspendierung unterworfen zu werden, nur hypothetischer Natur.

92      Diese Frage entspricht somit keinem für die Entscheidung des Ausgangsverfahrens objektiv notwendigen Erfordernis, sondern zielt darauf ab, vom Gerichtshof eine von dieser Rechtssache losgelöste allgemeine Beurteilung der nationalen Regelung zu erhalten (vgl. entsprechend Urteil vom 9. Januar 2024, G. u. a. [Ernennung von Richtern der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Polen], C‑181/21 und C‑269/21, EU:C:2024:1, Rn. 78).

93      Mithin sind die Fragen 13 und 14 unzulässig.

 Zur Beantwortung der Fragen

94      In Anbetracht des Zusammenhangs aller Fragen des vorlegenden Gerichts sind in einem ersten Schritt die Fragen 1 bis 4, in einem zweiten Schritt die Fragen 5 bis 7, in einem dritten Schritt die Fragen 8 bis 10 und sodann in einem vierten Schritt die Fragen 11 und 12 zusammen zu prüfen, wobei diese Fragen ausschließlich anhand der Bestimmungen der Richtlinie 2016/800, die speziell Kinder betrifft, zu prüfen sind.

 Zu den Fragen 1 bis 4

95      Mit seinen Fragen 1 bis 4, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 6 Abs. 1 bis 3 der Richtlinie 2016/800 im Licht von Art. 18 dieser Richtlinie dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die zum einen nicht vorsieht, dass Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Personen sind, von einem – gegebenenfalls von Amts wegen bestellten – Rechtsbeistand unterstützt werden, bevor sie von der Polizei oder einer anderen Strafverfolgungs- oder Justizbehörde befragt werden, und zwar spätestens vor ihrer ersten Befragung, und es zum anderen erlaubt, dass die betreffenden Kinder in ihrer Eigenschaft als Verdächtige befragt werden, ohne dass ein solcher Rechtsbeistand während der Befragung anwesend ist. Außerdem möchte das vorlegende Gericht wissen, ob ein Gericht, bei dem ein Strafverfahren anhängig ist, im Fall der Bejahung dieser Fragen eine solche nationale Regelung unangewendet lassen muss.

96      Als Erstes haben nach Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2016/800 Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in einem Strafverfahren sind, erstens das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand gemäß der Richtlinie 2013/48, wobei der Begriff „Rechtsbeistand“ im Rahmen dieser Richtlinie nach ihrem 15. Erwägungsgrund eine Person bezeichnet, die nach nationalem Recht befähigt und befugt ist – einschließlich durch Akkreditierung durch eine dazu befugte Stelle –, Verdächtige und beschuldigte Personen rechtlich zu beraten und zu unterstützen.

97      Bei der Bestimmung des Umfangs des Rechts eines Kindes auf Unterstützung durch einen Rechtsbeistand ist der Umfang des Rechts zu berücksichtigen, das jedem Verdächtigen bzw. jeder beschuldigten Person nach Art. 3 der Richtlinie 2013/48 zusteht.

98      Wie sich nämlich aus den Erwägungsgründen 18 und 26 der Richtlinie 2016/800 ergibt, ist die Richtlinie 2013/48 bei der Auslegung der Bestimmungen der Richtlinie 2016/800 zu berücksichtigen. Diese letztgenannte Richtlinie sieht jedoch ergänzende Garantien vor, um den besonderen Bedürfnissen und Schutzbedürftigkeiten von Kindern Rechnung zu tragen.

99      Zweitens verpflichtet Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2016/800 die Mitgliedstaaten, sicherzustellen, dass Kinder gemäß den Bestimmungen dieses Artikels von einem Rechtsbeistand unterstützt werden, damit sie ihre Verteidigungsrechte wirksam wahrnehmen können.

100    Wie sich im Wesentlichen aus den Erwägungsgründen 1, 25 und 29 der Richtlinie 2016/800 ergibt, soll diese der besonderen Schutzbedürftigkeit von Kindern im Rahmen von Strafverfahren Rechnung tragen und sie somit ermutigen, insbesondere ihr in Art. 47 Abs. 2 der Charta verankertes Recht, sich beraten, verteidigen und vertreten zu lassen, sowie die durch Art. 48 Abs. 2 der Charta garantierten Verteidigungsrechte auszuüben (vgl. entsprechend Urteil vom 5. Juni 2018, Kolev u. a., C‑612/15, EU:C:2018:392, Rn. 104).

101    Drittens wird der fundamentale Grundsatz, dass Kinder das Recht auf Unterstützung durch einen Rechtsbeistand haben, in Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 2016/800 in Bezug auf den Zeitpunkt präzisiert, ab dem dieses Recht zu gewähren ist (vgl. entsprechend Urteil vom 12. März 2020, VW [Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand bei Nichterscheinen vor Gericht], C‑659/18, EU:C:2020:201, Rn. 31).

102    So müssen Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Personen sind, nach diesem Abs. 3 unverzüglich und in jedem Fall ab dem Eintritt des ersten der vier in den Buchst. a bis d dieses Absatzes genannten konkreten Ereignisse Zugang zu einem Rechtsbeistand haben.

103    Was insbesondere das vorgerichtliche Ermittlungsverfahren betrifft, werden Kinder gemäß Art. 6 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2016/800 „vor ihrer Befragung durch die Polizei oder andere Strafverfolgungs- oder Justizbehörden“ von einem Rechtsbeistand unterstützt, und nach Art. 6 Abs. 3 Buchst. b „ab der Durchführung von Ermittlungs- oder anderen Beweiserhebungshandlungen durch Ermittlungs- oder andere zuständige Behörden“.

104    Viertens präzisiert Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 2016/800 den Umfang des Rechts von Kindern auf Unterstützung durch einen Rechtsbeistand.

105    So ergibt sich aus Art. 6 Abs. 4 Buchst. a dieser Richtlinie, dass die betreffenden Kinder das Recht haben, mit dem Rechtsbeistand, der sie vertritt, unter vier Augen zusammenzutreffen und mit ihm zu kommunizieren, auch vor der Befragung durch die Polizei oder andere Strafverfolgungs- oder Justizbehörden. Art. 6 Abs. 4 Buchst. b sieht ferner vor, dass Kinder von einem Rechtsbeistand unterstützt werden, wenn sie befragt werden, und dass der Rechtsbeistand effektiv an der Befragung teilnehmen können muss.

106    Wie die Generalanwältin in Nr. 70 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, sieht die Richtlinie 2016/800 insoweit im Gegensatz zu Art. 9 der Richtlinie 2013/48, die Verdächtige oder beschuldigte Personen betrifft, die keine Kinder sind, für Kinder nicht die Möglichkeit vor, auf ihr Recht auf Unterstützung durch einen Rechtsbeistand zu verzichten.

107    Außerdem müssen die Mitgliedstaaten nach Art. 18 der Richtlinie 2016/800 sicherstellen, dass ihre nationalen Bestimmungen über die Prozesskostenhilfe die wirksame Ausübung des Rechts auf Unterstützung durch einen Rechtsbeistand gemäß Art. 6 dieser Richtlinie gewährleisten.

108    Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass Kindern, die Verdächtige oder beschuldigte Personen sind, nach nationalem Recht die konkrete und effektive Möglichkeit geboten werden muss, sich vor der ersten Befragung durch die Polizei oder eine andere Strafverfolgungs- oder Justizbehörde und spätestens ab dieser Befragung von einem Rechtsbeistand unterstützen zu lassen.

109    Haben ein Kind oder der Träger der elterlichen Verantwortung vor der Befragung durch die Polizei oder eine andere Strafverfolgungs- oder Justizbehörde keinen Rechtsbeistand benannt, so muss das Kind einen von Amts wegen bestellten Rechtsbeistand in Anspruch nehmen können, der es bei dieser Befragung unterstützt.

110    Als Zweites ergibt sich, wie die Generalanwältin in Nr. 68 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, aus dem zwingenden Charakter der Notwendigkeit, sicherzustellen, dass Kinder vor der ersten Befragung durch die Polizei oder eine andere für die Befragung zuständige Strafverfolgungs- oder Justizbehörde von einem Rechtsbeistand unterstützt werden, dass diese die Befragung nicht durchführen können, wenn das betreffende Kind nicht tatsächlich eine solche Unterstützung erhält.

111    Art. 6 Abs. 7 der Richtlinie 2016/800 bestimmt nämlich, dass die zuständigen Behörden, wenn das Kind gemäß Art. 6 dieser Richtlinie Unterstützung durch einen Rechtsbeistand zu erhalten hat, aber kein Rechtsbeistand anwesend ist, die Befragung des Kindes oder andere Ermittlungs- oder Beweiserhebungshandlungen für eine angemessene Zeit verschieben müssen, um das Eintreffen des Rechtsbeistands zu ermöglichen oder, wenn das Kind keinen Rechtsbeistand benannt hat, um einen Rechtsbeistand für das Kind zu bestellen.

112    Zwar sieht Art. 6 der Richtlinie 2016/800 in seinen Abs. 6 und 8 bestimmte Abweichungen von dem in dieser Richtlinie verankerten Recht auf Unterstützung durch einen Rechtsbeistand vor. Wie sich aus diesen Bestimmungen ergibt, müssen die zuständigen Behörden diese Abweichungen aber von Fall zu Fall beschließen, um festzustellen, ob die in Betracht gezogene Abweichung in Anbetracht der besonderen Umstände jedes Einzelfalls und unter Berücksichtigung des Kindeswohls gerechtfertigt ist, und zwar unter Beachtung der strengen Voraussetzungen dieser Bestimmungen.

113    Diese Bestimmungen können es daher nicht zulassen, dass im Rahmen einer nationalen Regelung allgemein und abstrakt vom Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand für Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Personen sind, in einem vorgerichtlichen Ermittlungsverfahren abgewichen wird.

114    Im vorliegenden Fall geht aus den Angaben des vorlegenden Gerichts hervor, dass die einschlägigen Bestimmungen des nationalen Rechts, insbesondere Art. 79 § 3 und Art. 301 der Strafprozessordnung, für Kinder, die Verdächtige sind, bei ihrer Befragung und allgemein im vorgerichtlichen Ermittlungsverfahren die Anwesenheit eines Rechtsbeistands nicht zwingend vorsehen. Nach diesen Bestimmungen erhalten diese Kinder nämlich, wenn sie nicht inhaftiert sind, bei ihrer Befragung nur dann Unterstützung durch einen Rechtsbeistand, wenn sie ausdrücklich eine solche Unterstützung beantragt haben. Außerdem steht das Nichterscheinen eines entsprechenden Rechtsbeistands einer Befragung der Kinder nicht entgegen.

115    Unter diesen Umständen zeigt sich – was vom vorlegenden Gericht zu überprüfen ist –, dass eine solche nationale Regelung nicht mit Art. 6 Abs. 1 bis 3 der Richtlinie 2016/800 vereinbar ist.

116    Dabei ist angesichts der Zweifel des vorlegenden Gerichts darauf hinzuweisen, dass der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts zur Gewährleistung der Wirksamkeit sämtlicher Bestimmungen des Unionsrechts u. a. den nationalen Gerichten auferlegt, ihr nationales Recht so weit wie möglich unionsrechtskonform auszulegen (Urteil vom 8. März 2022, Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld [Unmittelbare Wirkung], C‑205/20, EU:C:2022:168, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).

117    Die Verpflichtung zur unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts hat jedoch bestimmte Grenzen und darf insbesondere nicht als Grundlage für eine Auslegung contra legem des nationalen Rechts dienen (Urteil vom 8. März 2022, Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld [Unmittelbare Wirkung], C‑205/20, EU:C:2022:168, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).

118    Es ist auch darauf hinzuweisen, dass ein nationales Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden hat und eine nationale Regelung nicht im Einklang mit den Anforderungen des Unionsrechts auslegen kann, nach dem Grundsatz des Vorrangs verpflichtet ist, für die volle Wirksamkeit der Anforderungen des Unionsrechts in dem bei ihm anhängigen Rechtsstreit Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede – auch spätere – nationale Regelung oder Praxis, die einer Bestimmung des Unionsrechts mit unmittelbarer Wirkung entgegensteht, aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lässt, ohne dass es die vorherige Beseitigung dieser nationalen Regelung oder Praxis auf gesetzgeberischem Weg oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste (Urteil vom 8. März 2022, Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld [Unmittelbare Wirkung], C‑205/20, EU:C:2022:168, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).

119    Im vorliegenden Fall ist angesichts des klaren, genauen und unbedingten Wortlauts von Art. 6 Abs. 1 bis 3 der Richtlinie 2016/800 davon auszugehen, dass er unmittelbare Wirkung hat.

120    Es ist daher Sache des vorlegenden Gerichts, die u. a. in Rn. 114 des vorliegenden Urteils genannten nationalen Bestimmungen so weit wie möglich unionsrechtskonform auszulegen, um die volle Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten. Kann es eine solche Auslegung nicht vornehmen, so hat es die mit dem Unionsrecht unvereinbaren nationalen Bestimmungen aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet zu lassen.

121    Nach alledem ist auf die Fragen 1 bis 4 zu antworten, dass Art. 6 Abs. 1 bis 3 der Richtlinie 2016/800 im Licht von Art. 18 dieser Richtlinie dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die zum einen nicht vorsieht, dass Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Personen sind, von einem – gegebenenfalls von Amts wegen bestellten – Rechtsbeistand unterstützt werden, bevor sie von der Polizei oder einer anderen Strafverfolgungs- oder Justizbehörde befragt werden, und zwar spätestens vor ihrer ersten Befragung, und es zum anderen erlaubt, dass die betreffenden Kinder in ihrer Eigenschaft als Verdächtige befragt werden, ohne dass ein solcher Rechtsbeistand während der Befragung anwesend ist.

 Zu den Fragen 5 bis 7

122    Einleitend ist festzustellen, dass das vorlegende Gericht den Gerichtshof mit seinen Fragen 5 bis 7 um die Auslegung u. a. mehrerer Bestimmungen der Richtlinie 2016/800 ersucht, insbesondere von Art. 2 Abs. 1 und 3 sowie von Art. 6 Abs. 1 bis 3 und 7 in Verbindung mit Art. 18 dieser Richtlinie.

123    Aus dem Vorabentscheidungsersuchen geht hervor, dass sich das vorlegende Gericht fragt, ob das Recht auf Unterstützung durch einen von Amts wegen bestellten Rechtsbeistand, das Gegenstand der Fragen 1 bis 4 ist und Personen zusteht, die zu dem Zeitpunkt, zu dem gegen sie ein Strafverfahren eingeleitet wurde, Kinder waren, mit der Vollendung des 18. Lebensjahrs erlischt.

124    Somit lässt sich verstehen, dass sich die betreffenden Zweifel im Wesentlichen auf Art. 2 der Richtlinie 2016/800 beziehen, der den Anwendungsbereich dieser Richtlinie definiert, insbesondere auf die Abs. 1 und 3 dieses Artikels.

125    Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seinen Fragen 5 bis 7, die zusammen zu prüfen sind, wissen möchte, ob Art. 2 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2016/800 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der das Recht auf Unterstützung durch einen von Amts wegen bestellten Rechtsbeistand für Personen, die zu dem Zeitpunkt, zu dem gegen sie ein Strafverfahren eingeleitet wurde, Kinder waren, aber anschließend das 18. Lebensjahr vollendet haben, automatisch erlischt, da eine solche Regelung es nicht erlaubt, zu beurteilen, ob die Anwendung dieser Richtlinie oder einiger ihrer Bestimmungen und folglich der in ihr enthaltenen Rechte im Hinblick auf alle Umstände der Rechtssache, einschließlich des Reifegrads und der Schutzbedürftigkeit dieser Personen, angemessen ist. Für den Fall, dass diese Fragen bejaht werden, möchte das vorlegende Gericht außerdem wissen, ob ein Gericht, bei dem ein Strafverfahren anhängig ist, eine solche nationale Regelung unangewendet lassen muss.

126    Nach ihrem Art. 2 Abs. 1 gilt die Richtlinie 2016/800 für Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind, bis zur endgültigen Klärung der Frage, ob der Verdächtige oder die beschuldigte Person eine Straftat begangen hat, gegebenenfalls einschließlich einer Verurteilung und einer Entscheidung in einem Rechtsmittelverfahren. Art. 3 Nr. 1 dieser Richtlinie definiert insoweit den Begriff „Kind“ als eine Person im Alter von unter 18 Jahren.

127    In Bezug auf Personen, die zu dem Zeitpunkt, zu dem gegen sie ein Strafverfahren eingeleitet wurde, Kinder waren, aber anschließend das 18. Lebensjahr vollendet haben, bestimmt Art. 2 Abs. 3 Satz 1 der Richtlinie 2016/800, dass diese Richtlinie mit Ausnahme der in dieser Bestimmung genannten Artikel, die sich auf den Träger der elterlichen Verantwortung beziehen, auf diese Personen Anwendung findet, wenn ihre Anwendung unter den Umständen des Einzelfalls, einschließlich des Reifegrads und der Schutzbedürftigkeit der betreffenden Personen, angemessen ist.

128    Daraus folgt, dass Personen, die Kinder waren, als gegen sie ein Strafverfahren eingeleitet wurde, weiterhin die in der Richtlinie 2016/800 vorgesehenen Rechte, insbesondere das Recht auf Unterstützung durch einen Rechtsbeistand gemäß Art. 6 dieser Richtlinie, zustehen, wenn sie während dieses Verfahrens das 18. Lebensjahr vollendet haben und festgestellt wurde, dass die Anwendung dieser Richtlinie im Hinblick auf alle Umstände des Einzelfalls, einschließlich ihres Reifegrads und ihrer Schutzbedürftigkeit, angemessen ist.

129    Sollte im Rahmen eines Strafverfahrens festgestellt werden, dass die Anwendung der Richtlinie 2016/800 oder einiger ihrer Bestimmungen nicht angemessen ist, fällt die Person, die das 18. Lebensjahr vollendet hat, in den Anwendungsbereich der Richtlinien 2012/13, 2013/48 und 2016/343, die für Verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren unabhängig von ihrem Alter gelten. In diesem Fall stünden ihr die in diesen Richtlinien vorgesehenen Rechte unter den darin festgelegten Voraussetzungen zu.

130    Wie sich bereits aus dem Wortlaut von Art. 2 Abs. 3 Satz 1 der Richtlinie 2016/800 ergibt, hängt die Frage der Anwendung dieser Richtlinie oder einiger ihrer Bestimmungen auf Personen, die während des sie betreffenden Verfahrens das 18. Lebensjahr vollendet haben, von den Umständen des Einzelfalls ab und ist daher von Fall zu Fall zu beurteilen.

131    Unter diesen Umständen erlaubt das Erfordernis, dass sich die Anwendung der Richtlinie 2016/800 oder einiger ihrer Bestimmungen als angemessen erweisen muss, es einem Mitgliedstaat keinesfalls, allgemein und abstrakt alle Personen, die während des gegen sie eingeleiteten Verfahrens das 18. Lebensjahr vollendet haben, vom Genuss der in der Richtlinie 2016/800 festgelegten Rechte, insbesondere des Rechts auf Unterstützung durch einen Rechtsbeistand gemäß Art. 6 dieser Richtlinie, auszuschließen.

132    Diese Auslegung, dass die Mitgliedstaaten die absolute Altersgrenze für die Inanspruchnahme der durch diese Richtlinie verliehenen Rechte nicht durch allgemeine Vorschriften auf 18 Jahre festlegen dürfen, wird durch Art. 2 Abs. 3 Satz 2 der Richtlinie 2016/800 bestätigt, wonach die Mitgliedstaaten beschließen können, diese Richtlinie nicht auf Personen anzuwenden, die das 21. Lebensjahr vollendet haben.

133    Art. 2 Abs. 3 der Richtlinie 2016/800 steht folglich einer nationalen Regelung entgegen, die automatisch vorsieht, dass das Recht auf Unterstützung durch einen von Amts wegen bestellten Rechtsbeistand gemäß Art. 6 Abs. 1 bis 3 der Richtlinie 2016/800 im Licht von Art. 18 dieser Richtlinie für Personen erlischt, die während des gegen sie eingeleiteten Strafverfahrens das 18. Lebensjahr vollendet haben, aber zu dem Zeitpunkt, als das betreffende Verfahren gegen sie eingeleitet wurde, Kinder waren, da eine solche Regelung es nicht ermöglicht, zu ermitteln, ob die Anwendung dieser Richtlinie oder einiger ihrer Bestimmungen und folglich der in ihr enthaltenen Rechte im Hinblick auf alle Umstände der Rechtssache, einschließlich des Reifegrads und der Schutzbedürftigkeit dieser Personen, angemessen ist.

134    Im vorliegenden Fall geht indessen aus den Angaben des vorlegenden Gerichts hervor, dass die Bestimmungen des nationalen Rechts, insbesondere Art. 79 § 1 Nr. 1 der Strafprozessordnung, vorsehen, dass der Beschuldigte im Rahmen eines Strafverfahrens nur dann durch einen Rechtsbeistand unterstützt werden muss, wenn er das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat. In der Praxis gingen die polnischen Gerichte auf dieser Rechtsgrundlage davon aus, dass die Beteiligung eines Rechtsbeistands am Verfahren nicht mehr verpflichtend sei, sobald die beschuldigte oder verdächtige Person das 18. Lebensjahr vollendet habe, was zur Folge habe, dass der von Amts wegen bestellte Rechtsbeistand automatisch von seinem Mandat entbunden werde.

135    Nach der in den Rn. 116 bis 118 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ist es Sache des vorlegenden Gerichts, die nationalen Bestimmungen, die das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand regeln, so weit wie möglich unionsrechtskonform auszulegen, um die volle Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten. Kann es eine solche Auslegung nicht vornehmen, so hat es, da Art. 2 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2016/800 die in Rn. 119 des vorliegenden Urteils genannten Voraussetzungen erfüllt und unmittelbare Wirkung hat, die nationalen Bestimmungen, die sich als damit unvereinbar erweisen, aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet zu lassen.

136    Nach alledem ist auf die Fragen 5 bis 7 zu antworten, dass Art. 2 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2016/800 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der das Recht auf Unterstützung durch einen von Amts wegen bestellten Rechtsbeistand für Personen, die zu dem Zeitpunkt, zu dem gegen sie ein Strafverfahren eingeleitet wurde, Kinder waren, aber anschließend das 18. Lebensjahr vollendet haben, automatisch erlischt, da eine solche Regelung es nicht erlaubt, zu beurteilen, ob die Anwendung dieser Richtlinie oder einiger ihrer Bestimmungen und folglich der in ihr enthaltenen Rechte im Hinblick auf alle Umstände der Rechtssache, einschließlich des Reifegrads und der Schutzbedürftigkeit dieser Personen, angemessen ist.

 Zu den Fragen 8 bis 10

137    Mit seinen Fragen 8 bis 10, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2016/800 im Licht ihres Art. 5 Abs. 1 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die nicht vorsieht, dass Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind, zusammen mit dem Träger der elterlichen Verantwortung spätestens vor der ersten Befragung der betreffenden Kinder durch die Polizei oder eine andere Strafverfolgungs- oder Justizbehörde in einfacher und verständlicher Sprache, die den besonderen Bedürfnissen und Schutzbedürftigkeiten dieser Kinder Rechnung trägt, Informationen über ihre Rechte gemäß Art. 3 der Richtlinie 2012/13 sowie über die in der Richtlinie 2016/800 festgelegten Rechte erhalten.

138    Wie aus dem ersten Erwägungsgrund der Richtlinie 2016/800 hervorgeht, sollen mit ihr Verfahrensgarantien festgelegt werden, um zu gewährleisten, dass Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind, diese Verfahren verstehen und ihnen folgen können. Nach ihrem Art. 1 legt die Richtlinie dementsprechend gemeinsame Mindestvorschriften u. a. für das Auskunftsrecht fest, das speziell in den Bestimmungen ihres Art. 4 geregelt ist.

139    Erstens stellen die Mitgliedstaaten gemäß Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2016/800 sicher, dass Kinder im Einklang mit der Richtlinie 2012/13 umgehend über ihre Rechte und über allgemeine Aspekte der Durchführung des Verfahrens unterrichtet werden, wenn sie davon in Kenntnis gesetzt werden, dass sie Verdächtige oder beschuldigte Personen in einem Strafverfahren sind.

140    In Bezug auf das in Art. 1 der Richtlinie 2012/13 vorgesehene Recht auf Belehrung und Unterrichtung hat der Gerichtshof bereits festgestellt, dass sich aus Art. 3 dieser Richtlinie ergibt, dass dieses Recht u. a. das Recht von Verdächtigen oder beschuldigten Personen umfasst, zumindest über die verschiedenen dort aufgeführten Verfahrensrechte belehrt zu werden, die das Recht auf Hinzuziehung eines Rechtsanwalts, den etwaigen Anspruch auf unentgeltliche Rechtsberatung und die Voraussetzungen für diese Rechtsberatung, das Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf, das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen sowie das Recht auf Aussageverweigerung umfassen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. November 2023, BK [Neubeurteilung der Straftat], C‑175/22, EU:C:2023:844, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).

141    Wie sich aus dem 31. Erwägungsgrund der Richtlinie 2016/343 ergibt, erstreckt sich die Belehrung der beschuldigten Personen über ihre Verfahrensrechte nach Art. 3 der Richtlinie 2012/13 nicht nur auf das Recht, die Aussage zu verweigern, sondern auch auf das Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen, bei denen es sich um zwei Rechte handelt, die die Mitgliedstaaten diesen Personen nach Art. 7 der Richtlinie 2016/343 garantieren müssen.

142    Außerdem sieht Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2016/800 vor, dass Kinder über die in dieser Richtlinie speziell festgelegten Rechte und insbesondere über die in ihrem Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 2 Buchst. a angeführten Rechte unterrichtet werden müssen.

143    Diese Unterrichtung betrifft u. a. zum einen das Recht der Kinder auf Unterstützung durch einen – gegebenenfalls gemäß Art. 18 der Richtlinie von Amts wegen bestellten – Rechtsbeistand gemäß Art. 6 der Richtlinie.

144    Zum anderen betrifft diese Unterrichtung auch das Recht auf Unterrichtung des Trägers der elterlichen Verantwortung gemäß Art. 5 der Richtlinie 2016/800 sowie das Recht, vom Träger der elterlichen Verantwortung in anderen Phasen des Verfahrens als den Gerichtsverhandlungen begleitet zu werden, gemäß Art. 15 Abs. 4 dieser Richtlinie. Wie sich aus dem Wortlaut von Art. 5 Abs. 1 dieser Richtlinie ergibt, werden diesem Träger möglichst rasch die Informationen mitgeteilt, auf deren Erhalt das Kind gemäß Art. 4 ein Recht hat.

145    Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 und 2 der Richtlinie 2016/800 die Informationen, die Kinder nach dieser Bestimmung über ihre Rechte erhalten müssen, den Kindern „umgehend“ mitzuteilen sind, wenn sie davon in Kenntnis gesetzt werden, dass sie Verdächtige oder beschuldigte Personen sind.

146    Insoweit hat der Gerichtshof zur Richtlinie 2012/13, auf die Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 und 2 der Richtlinie 2016/800 verweist, entschieden, dass die Rechtsbelehrung, um Wirkung entfalten zu können, in einem frühen Verfahrensstadium erfolgen muss. Nach ihrem Art. 2 gilt die Richtlinie 2012/13 „ab dem Zeitpunkt, zu dem Personen von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats davon in Kenntnis gesetzt werden, dass sie der Begehung einer Straftat verdächtig oder beschuldigt sind“. Art. 3 der Richtlinie sieht dementsprechend vor, dass „[d]ie Mitgliedstaaten sicher[stellen], dass Verdächtige oder beschuldigte Personen umgehend … über … Verfahrensrechte … belehrt werden, um die wirksame Ausübung dieser Rechte zu ermöglichen“ (Urteil vom 19. September 2019, Rayonna prokuratura Lom, C‑467/18, EU:C:2019:765, Rn. 50).

147    Das Recht auf Rechtsbelehrung soll ab den ersten Verfahrensschritten für die Fairness des Strafverfahrens sorgen und die Wirksamkeit der Verteidigungsrechte gewährleisten. Im 19. Erwägungsgrund der Richtlinie 2012/13 wird insoweit hervorgehoben, dass das Recht auf Rechtsbelehrung „spätestens vor der ersten offiziellen Vernehmung des Verdächtigen oder der beschuldigten Person durch die Polizei oder eine andere zuständige Behörde“ umgesetzt werden muss. Außerdem besteht im Zeitraum unmittelbar nach Beginn des Freiheitsentzugs das größte Risiko dafür, dass missbräuchlich Geständnisse erlangt werden, so dass es „unerlässlich [ist], dass Verdächtige oder Beschuldigte unmittelbar, d. h. ohne Verzögerung nach ihrer Festnahme, und möglichst wirksam … über [ihre Rechte] belehrt werden“, wie aus Rn. 24 des der Richtlinie 2012/13 zugrunde liegenden Richtlinienvorschlags der Kommission vom 20. Juli 2010 (KOM[2010] 392 endgültig) hervorgeht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. September 2019, Rayonna prokuratura Lom, C‑467/18, EU:C:2019:765, Rn. 51 und 52).

148    Unter Berücksichtigung der Bezugnahme auf die Richtlinie 2012/13 in Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2016/800 ergibt sich aus dieser Bestimmung, dass Kinder so schnell wie möglich ab dem Zeitpunkt, zu dem sie davon in Kenntnis gesetzt werden, dass sie Verdächtige oder beschuldigte Personen in einem Strafverfahren sind, über ihre Rechte belehrt werden müssen. Die Belehrung über diese Rechte muss spätestens vor der ersten Befragung der Kinder durch die Polizei oder eine andere Strafverfolgungs- oder Justizbehörde erfolgen (vgl. entsprechend Urteil vom 19. September 2019, Rayonna prokuratura Lom, C‑467/18, EU:C:2019:765, Rn. 53).

149    Außerdem ist festzustellen, dass allein eine entsprechende Belehrung spätestens vor ihrer ersten Befragung die Wirksamkeit der Rechte, über die die Kinder belehrt werden müssen, insbesondere des Rechts auf Unterstützung durch einen Rechtsbeistand gemäß Art. 6 der Richtlinie 2016/800, gewährleisten und ihnen damit die wirksame Ausübung ihres Rechts auf Verteidigung ermöglichen kann, wie sich aus der Antwort auf die Fragen 1 bis 4 ergibt.

150    Drittens geht aus Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2016/800 hervor, dass ihnen die in ihrem Art. 4 Abs. 1 vorgesehenen Informationen schriftlich und/oder mündlich in „einfacher und verständlicher Sprache“ zu erteilen sind.

151    Insoweit hat der Unionsgesetzgeber, was Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2012/13 betrifft, den Mitgliedstaaten die Verpflichtung auferlegt, zu gewährleisten, dass die Rechtsbelehrung „entweder mündlich oder schriftlich in einfacher und verständlicher Sprache erfolgt, wobei etwaige besondere Bedürfnisse schutzbedürftiger Verdächtiger oder schutzbedürftiger beschuldigter Personen berücksichtigt werden“ (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. September 2019, Rayonna prokuratura Lom, C‑467/18, EU:C:2019:765, Rn. 47).

152    Aus dem 18. Erwägungsgrund der Richtlinie 2016/800 ergibt sich, dass die Kindern gemäß Art. 4 dieser Richtlinie zur Verfügung zu stellenden Informationen unter Berücksichtigung der besonderen Bedürfnisse und Schutzbedürftigkeiten der Kinder zu erteilen sind.

153    Daraus folgt, dass die betreffenden Kinder diese Informationen in einer hinreichend einfachen und verständlichen Sprache erhalten müssen, die es ihnen insbesondere unter Berücksichtigung ihrer besonderen Bedürfnisse und ihrer Schutzbedürftigkeit ermöglicht, vor ihrer Befragung durch die Polizei oder eine andere Strafverfolgungs- oder Justizbehörde tatsächlich zu verstehen, dass ihnen die in Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2016/800 genannten Rechte zustehen. Zu diesen Rechten gehören u. a. das Recht auf Unterstützung durch einen Rechtsbeistand gemäß Art. 6 dieser Richtlinie, das Recht darauf, dass der Träger der elterlichen Verantwortung gemäß Art. 5 der Richtlinie ebenfalls über diese Rechte belehrt wird, sowie das Recht des Trägers der elterlichen Verantwortung, die Kinder gemäß Art. 15 Abs. 4 der Richtlinie 2016/800 in anderen Phasen des Verfahrens als den Gerichtsverhandlungen zu begleiten.

154    Im vorliegenden Fall gibt das vorlegende Gericht an, dass minderjährige Verdächtige nach polnischem Recht vor ihrer Befragung ein für Erwachsene bestimmtes Belehrungsformular erhielten, das keine spezifischen Informationen für Kinder vorsehe. Außerdem sei nicht vorgesehen, dass dieses Formular den Trägern der elterlichen Verantwortung für die betreffenden Kinder übermittelt werde.

155    Aus den in Rn. 153 des vorliegenden Urteils genannten Anforderungen ergibt sich jedoch, dass, wenn das nationale Recht ein standardisiertes Dokument vorsieht, um Verdächtige oder beschuldigte Personen gemäß Art. 3 der Richtlinie 2012/13 schriftlich über ihre Rechte zu belehren, dieses Dokument nicht verwendet werden darf, um Kinder, die sich in der gleichen Situation befinden, gemäß Art. 4 der Richtlinie 2016/800 zu belehren.

156    Da ein solches Dokument für Erwachsene bestimmt ist, entspricht es zum einen nicht der Notwendigkeit, dass die Informationen über die Rechte, die diesen Kindern zustehen, schriftlich und/oder mündlich in einfacher und für sie verständlicher Sprache erteilt werden, und ist zum anderen nicht dazu bestimmt, die Kinder über die in der letztgenannten Richtlinie speziell festgelegten Rechte zu belehren.

157    Nach der in den Rn. 116 bis 118 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ist es Sache des vorlegenden Gerichts, die nationalen Bestimmungen, die die Belehrung von Verdächtigen oder beschuldigten Personen regeln, so weit wie möglich unionsrechtskonform auszulegen, um die volle Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten. Kann es eine solche Auslegung nicht vornehmen, so hat es, da Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2016/800 die in Rn. 119 des vorliegenden Urteils genannten Voraussetzungen erfüllt und unmittelbare Wirkung hat, die nationalen Bestimmungen, die sich als mit dieser Richtlinie unvereinbar erweisen, aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet zu lassen.

158    Nach alledem ist auf die Fragen 8 bis 10 zu antworten, dass Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2016/800 im Licht ihres Art. 5 Abs. 1 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die nicht vorsieht, dass Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind, zusammen mit dem Träger der elterlichen Verantwortung spätestens vor der ersten Befragung der betreffenden Kinder durch die Polizei oder eine andere Strafverfolgungs- oder Justizbehörde in einfacher und verständlicher Sprache, die den besonderen Bedürfnissen und Schutzbedürftigkeiten dieser Kinder Rechnung trägt, Informationen über ihre Rechte gemäß Art. 3 der Richtlinie 2012/13 sowie über die in der Richtlinie 2016/800 festgelegten Rechte erhalten.

 Zu den Fragen 11 und 12

159    Einleitend ist zum einen darauf hinzuweisen, dass die elfte Frage die Auslegung der Art. 18 und 19 der Richtlinie 2016/800 betrifft, um im Wesentlichen zu klären, ob diese Bestimmungen ein Gericht, bei dem ein Strafverfahren anhängig ist, verpflichten, die belastenden Aussagen nicht zu berücksichtigen, die Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Personen sind, während einer unter Verletzung ihrer Rechte aus dieser Richtlinie durchgeführten Befragung durch die Polizei gemacht haben.

160    Da Art. 18 der Richtlinie 2016/800 das Recht auf Prozesskostenhilfe betrifft und dieses, wie sich aus Rn. 107 des vorliegenden Urteils ergibt, mit der Ausübung des Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand zusammenhängt, ist davon auszugehen, dass diese Frage im Wesentlichen die Auslegung von Art. 19 dieser Richtlinie über Rechtsbehelfe betrifft.

161    Zum anderen geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass das vorlegende Gericht die aus den belastenden Aussagen, die die minderjährigen Verdächtigen im vorliegenden Fall im vorgerichtlichen Ermittlungsverfahren in Abwesenheit eines Rechtsbeistands gemacht haben, gewonnenen Beweise zurückgewiesen hat, obwohl die hierfür in Art. 168a der Strafprozessordnung vorgesehenen Voraussetzungen nicht erfüllt waren.

162    Folglich ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seinen Fragen 11 und 12, die zusammen zu prüfen sind, wissen möchte, ob Art. 19 der Richtlinie 2016/800 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die es einem Gericht im Rahmen eines Strafverfahrens nicht erlaubt, belastende Beweise, die aus Aussagen eines Kindes im Rahmen einer von der Polizei unter Verletzung des Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand nach Art. 6 der Richtlinie 2016/800 durchgeführten Befragung gewonnen wurden, für unzulässig zu erklären. Für den Fall, dass diese Fragen bejaht werden, möchte das vorlegende Gericht außerdem wissen, ob ein Gericht, bei dem ein Strafverfahren anhängig ist, eine solche Regelung unangewendet lassen muss.

163    Nach Art. 19 der Richtlinie 2016/800 sorgen die Mitgliedstaaten dafür, dass Kindern, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind, bei Verletzung ihrer Rechte nach dieser Richtlinie ein wirksamer Rechtsbehelf nach nationalem Recht zusteht.

164    In Anwendung dieses Artikels müssen Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Personen sind, gegen die Missachtung dieser Rechte, zu denen, wie sich aus den Antworten auf die Fragen 1 bis 10 ergibt, die in den Art. 4 bis 6 der Richtlinie 2016/800 garantierten Rechte gehören, wirksam vorgehen können.

165    Art. 19 dieser Richtlinie regelt jedoch nicht die etwaigen Konsequenzen, die der Tatrichter aus dieser Missachtung, wenn nicht dagegen vorgegangen wird, für die Zulässigkeit der unter Verletzung der durch die Richtlinie verliehenen Rechte erlangten Beweise zu ziehen hat.

166    Gleiches gilt für die Richtlinie 2012/13 – auf die Art. 4 der Richtlinie 2016/800 verweist – sowie für die Richtlinie 2013/48 – auf die Art. 6 der Richtlinie 2016/800 verweist –, die Bestimmungen enthalten, die denen von Art. 19 der Richtlinie 2016/800 entsprechen.

167    Zwar sieht Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2013/48 vor, dass die Mitgliedstaaten dafür sorgen, dass bei der Beurteilung von Aussagen von Verdächtigen oder beschuldigten Personen oder von Beweisen, die unter Missachtung ihres Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand erhoben wurden, oder in Fällen, in denen eine Abweichung von diesem Recht genehmigt wurde, die Verteidigungsrechte und die Einhaltung eines fairen Verfahrens beachtet werden. Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie 2016/343 enthält eine ähnliche Bestimmung für Aussagen und Beweise, die unter Missachtung des Aussageverweigerungsrechts oder des Rechts, sich nicht selbst belasten zu müssen, erlangt wurden.

168    Diese Bestimmungen sollen jedoch nicht die nationalen Vorschriften und Regelungen über die Zulässigkeit von Beweisen regeln, da sie, wie sich schon aus ihrem Wortlaut ergibt, „unbeschadet“ dieser nationalen Vorschriften und Regelungen gelten.

169    Daraus folgt, dass es beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts grundsätzlich allein Sache des nationalen Rechts ist, die Vorschriften für die Zulässigkeit von unter Verletzung der durch die Richtlinie 2016/800 verliehenen Rechte erlangten Beweisen im Rahmen eines Strafverfahrens festzulegen (Urteil vom 30. April 2024, M. N. [EncroChat], C‑670/22, EU:C:2024:372, Rn. 128).

170    Mangels einschlägiger unionsrechtlicher Vorschriften ist es nämlich nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung jedes Mitgliedstaats, die Verfahrensmodalitäten für Klagen, die den Schutz der den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, zu regeln, wobei sie jedoch nicht ungünstiger sein dürfen als diejenigen, die gleichartige, dem innerstaatlichen Recht unterliegende Sachverhalte regeln (Äquivalenzgrundsatz), und die Ausübung der durch das Unionsrecht verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren dürfen (Effektivitätsgrundsatz) (Urteil vom 30. April 2024, M. N. [EncroChat], C‑670/22, EU:C:2024:372, Rn. 129 und die dort angeführte Rechtsprechung).

171    Speziell zum Effektivitätsgrundsatz ist festzustellen, dass die nationalen Vorschriften über die Zulässigkeit und die Verwertung von Informationen und Beweisen darauf abzielen, nach Maßgabe der im nationalen Recht getroffenen Entscheidungen zu verhindern, dass einer Person, die im Verdacht steht, Straftaten begangen zu haben, durch rechtswidrig erlangte Informationen und Beweise unangemessene Nachteile entstehen. Dieses Ziel kann aber im nationalen Recht nicht nur durch ein Verbot der Verwertung solcher Informationen und Beweise erreicht werden, sondern auch durch nationale Vorschriften und Praktiken für die Würdigung und Gewichtung der Informationen und Beweise oder durch eine Berücksichtigung ihrer Rechtswidrigkeit im Rahmen der Strafzumessung (Urteil vom 2. März 2021, Prokuratuur [Voraussetzungen für den Zugang zu Daten über die elektronische Kommunikation], C‑746/18, EU:C:2021:152, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).

172    Ob es erforderlich ist, Informationen und Beweise auszuschließen, die unter Verstoß gegen unionsrechtliche Vorschriften erlangt wurden, ist insbesondere anhand der Gefahr zu beurteilen, die mit der Zulässigkeit solcher Informationen und Beweise für die Wahrung des Grundsatzes des kontradiktorischen Verfahrens und damit für das Recht auf ein faires Verfahren verbunden ist (Urteil vom 2. März 2021, Prokuratuur [Voraussetzungen für den Zugang zu Daten über die elektronische Kommunikation], C‑746/18, EU:C:2021:152, Rn. 44).

173    Insoweit ist indessen festzustellen, dass das in Art. 4 der Richtlinie 2016/800 vorgesehene Auskunftsrecht und das in Art. 6 dieser Richtlinie vorgesehene Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand gerade die Grundrechte auf ein faires Verfahren und auf Achtung der Verteidigungsrechte, wie sie insbesondere in Art. 47 und Art. 48 Abs. 2 der Charta verankert sind, konkretisieren (vgl. entsprechend Urteil vom 1. August 2022, TL [Keine Dolmetschleistungen und Übersetzungen], C‑242/22 PPU, EU:C:2022:611, Rn. 42).

174    Daraus folgt, dass das Unionsrecht den Mitgliedstaaten nicht vorschreibt, vorzusehen, dass ein Gericht belastende Beweise, die aus Aussagen gewonnen wurden, die ein Kind während einer von der Polizei unter Verletzung der in der Richtlinie 2016/800 vorgesehenen Rechte durchgeführten Befragung gemacht hat, für unzulässig erklären kann, allerdings unter der Voraussetzung, dass dieses Gericht im Rahmen des Strafverfahrens in der Lage ist, zum einen zu überprüfen, dass diese Rechte im Licht von Art. 47 und Art. 48 Abs. 2 der Charta gewahrt worden sind, und zum anderen alle Konsequenzen zu ziehen, die sich aus dieser Verletzung ergeben, insbesondere in Bezug auf den Beweiswert der unter diesen Umständen erlangten Beweise.

175    Nach der in den Rn. 116 bis 118 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ist es Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob die einschlägigen nationalen Bestimmungen den in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils genannten Anforderungen entsprechen, und diese Bestimmungen gegebenenfalls so weit wie möglich unionsrechtskonform auszulegen, um die volle Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten. Kann es eine solche Auslegung nicht vornehmen, so hat es in Anbetracht der Tatsache, dass Art. 6 Abs. 1 bis 3 der Richtlinie 2016/800 nach den Ausführungen in Rn. 119 des vorliegenden Urteils unmittelbare Wirkung hat, die nationalen Bestimmungen, die sich als damit unvereinbar erweisen, aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet zu lassen.

176    Nach alledem ist auf die Fragen 11 und 12 zu antworten, dass Art. 19 der Richtlinie 2016/800 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die es einem Gericht im Rahmen eines Strafverfahrens nicht erlaubt, belastende Beweise, die aus Aussagen eines Kindes im Rahmen einer von der Polizei unter Verletzung des Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand nach Art. 6 der Richtlinie 2016/800 durchgeführten Befragung gewonnen wurden, für unzulässig zu erklären, allerdings unter der Voraussetzung, dass dieses Gericht im Rahmen des Strafverfahrens in der Lage ist, zum einen zu überprüfen, dass dieses Recht im Licht von Art. 47 und Art. 48 Abs. 2 der Charta gewahrt worden ist, und zum anderen alle Konsequenzen zu ziehen, die sich aus dieser Verletzung ergeben, insbesondere in Bezug auf den Beweiswert der unter diesen Umständen erlangten Beweise.

 Kosten

177    Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 6 Abs. 1 bis 3 der Richtlinie (EU) 2016/800 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2016 über Verfahrensgarantien in Strafverfahren für Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind, ist im Licht von Art. 18 dieser Richtlinie

dahin auszulegen, dass

er einer nationalen Regelung entgegensteht, die zum einen nicht vorsieht, dass Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Personen sind, von einem – gegebenenfalls von Amts wegen bestellten – Rechtsbeistand unterstützt werden, bevor sie von der Polizei oder einer anderen Strafverfolgungs- oder Justizbehörde befragt werden, und zwar spätestens vor ihrer ersten Befragung, und es zum anderen erlaubt, dass die betreffenden Kinder in ihrer Eigenschaft als Verdächtige befragt werden, ohne dass ein solcher Rechtsbeistand während der Befragung anwesend ist.

2.      Art. 2 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2016/800

ist dahin auszulegen, dass

er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der das Recht auf Unterstützung durch einen von Amts wegen bestellten Rechtsbeistand für Personen, die zu dem Zeitpunkt, zu dem gegen sie ein Strafverfahren eingeleitet wurde, Kinder waren, aber anschließend das 18. Lebensjahr vollendet haben, automatisch erlischt, da eine solche Regelung es nicht erlaubt, zu beurteilen, ob die Anwendung dieser Richtlinie oder einiger ihrer Bestimmungen und folglich der in ihr enthaltenen Rechte im Hinblick auf alle Umstände der Rechtssache, einschließlich des Reifegrads und der Schutzbedürftigkeit dieser Personen, angemessen ist.

3.      Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2016/800 ist im Licht von Art. 5 Abs. 1 dieser Richtlinie

dahin auszulegen, dass

er einer nationalen Regelung entgegensteht, die nicht vorsieht, dass Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind, zusammen mit dem Träger der elterlichen Verantwortung spätestens vor der ersten Befragung der betreffenden Kinder durch die Polizei oder eine andere Strafverfolgungs- oder Justizbehörde in einfacher und verständlicher Sprache, die den besonderen Bedürfnissen und Schutzbedürftigkeiten dieser Kinder Rechnung trägt, Informationen über ihre Rechte gemäß Art. 3 der Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren sowie über die in der Richtlinie 2016/800 festgelegten Rechte erhalten.

4.      Art. 19 der Richtlinie 2016/800

ist dahin auszulegen, dass

er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die es einem Gericht im Rahmen eines Strafverfahrens nicht erlaubt, belastende Beweise, die aus Aussagen eines Kindes im Rahmen einer von der Polizei unter Verletzung des Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand nach Art. 6 der Richtlinie 2016/800 durchgeführten Befragung gewonnen wurden, für unzulässig zu erklären, allerdings unter der Voraussetzung, dass dieses Gericht im Rahmen des Strafverfahrens in der Lage ist, zum einen zu überprüfen, dass dieses Recht im Licht von Art. 47 und Art. 48 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union gewahrt worden ist, und zum anderen alle Konsequenzen zu ziehen, die sich aus dieser Verletzung ergeben, insbesondere in Bezug auf den Beweiswert der unter diesen Umständen erlangten Beweise.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Polnisch.