Language of document : ECLI:EU:C:2023:818

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

GIOVANNI PITRUZZELLA

vom 26. Oktober 2023(1)

Rechtssache C437/22

R. M.,

E. M.,

Beteiligte:

Eesti Vabariik (Republik Estland, vertreten durch das Põllumajanduse Registrite ja Informatsiooni Amet)

(Vorabentscheidungsersuchen des Riigikohus [Oberstes Gericht, Estland])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Landwirtschaft – Gemeinsame Agrarpolitik – Unionsbeihilfen – Verwaltungsrechtliche Maßnahmen und Sanktionen – Durch die Vertreter einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung begangener Betrug – Wiedereinziehung zu Unrecht gezahlter Beträge“






1.        In einem Gerichtsverfahren eines Mitgliedstaats wird rechtskräftig festgestellt, dass die Vertreter einer Kapitalgesellschaft falsche Angaben gemacht haben, um eine landwirtschaftliche Beihilfe zu erlangen, die dann erlangt worden ist; während des nationalen Verfahrens ist die Gesellschaft aufgelöst worden, und die Rechte und Pflichten sind auf eine andere Gesellschaft ohne geeignete Mittel übertragen worden; kann der Mitgliedstaat die Rückzahlung der zu Unrecht ausgezahlten Beträge unmittelbar von den natürlichen Personen verlangen, die gesetzliche Vertreter und Gesellschafter der begünstigten Gesellschaft (und auch der übernehmenden Gesellschaft) sind und die rechtskräftig festgestellten betrügerischen Handlungen begangen haben?

I.      Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht

 Verordnung Nr. 2988/95(2)

2.        Die Erwägungsgründe 4 und 5 der Verordnung Nr. 2988/95 lauten:

„Um die Bekämpfung des Betrugs zum Nachteil der finanziellen Interessen der Gemeinschaften wirksam zu gestalten, muss ein allen Bereichen der Gemeinschaftspolitik gemeinsamer rechtlicher Rahmen festgelegt werden.

Die Verhaltensweisen, die Unregelmäßigkeiten darstellen, sowie die verwaltungsrechtlichen Maßnahmen und die entsprechenden Sanktionen sind im Einklang mit dieser Verordnung in sektorbezogenen Regelungen vorgesehen.“

3.        Art. 1 dieser Verordnung bestimmt:

„(1)      Zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften wird eine Rahmenregelung für einheitliche Kontrollen sowie für verwaltungsrechtliche Maßnahmen und Sanktionen bei Unregelmäßigkeiten in Bezug auf das Gemeinschaftsrecht getroffen.

(2)      Der Tatbestand der Unregelmäßigkeit ist bei jedem Verstoß gegen eine Gemeinschaftsbestimmung als Folge einer Handlung oder Unterlassung eines Wirtschaftsteilnehmers gegeben, die einen Schaden für den Gesamthaushaltsplan der Gemeinschaften oder die Haushalte, die von den Gemeinschaften verwaltet werden, bewirkt hat bzw. haben würde, sei es durch die Verminderung oder den Ausfall von Eigenmitteleinnahmen, die direkt für Rechnung der Gemeinschaften erhoben werden, sei es durch eine ungerechtfertigte Ausgabe.“

4.        Art. 2 dieser Verordnung sieht vor:

„(1)      Kontrollen und verwaltungsrechtliche Maßnahmen und Sanktionen werden eingeführt, soweit sie erforderlich sind, um die ordnungsgemäße Anwendung des Gemeinschaftsrechts sicherzustellen. Sie müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein, um einen angemessenen Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaften zu gewährleisten.

(3)      In den Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts werden Art und Tragweite der verwaltungsrechtlichen Maßnahmen und Sanktionen in dem für die ordnungsgemäße Anwendung der betreffenden Regelung erforderlichen Maß und entsprechend der Art und Schwere der Unregelmäßigkeit, dem gewährten oder erlangten Vorteil und dem Grad des Verschuldens festgelegt.

(4)      Vorbehaltlich des anwendbaren Gemeinschaftsrechts unterliegen die Verfahren für die Anwendung der gemeinschaftlichen Kontrollen, Maßnahmen und Sanktionen dem Recht der Mitgliedstaaten.“

5.        In Art. 4 dieser Verordnung heißt es:

„(1)      Jede Unregelmäßigkeit bewirkt in der Regel den Entzug des rechtswidrig erlangten Vorteils

–      durch Verpflichtung zur Zahlung des geschuldeten oder Rückerstattung des rechtswidrig erhaltenen Geldbetrags;

(4)      Die in diesem Artikel vorgesehenen Maßnahmen stellen keine Sanktionen dar.“

6.        Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2988/95 bestimmt:

„Unregelmäßigkeiten, die vorsätzlich begangen oder durch Fahrlässigkeit verursacht werden, können zu folgenden verwaltungsrechtlichen Sanktionen führen:

…“

7.        Art. 7 dieser Verordnung lautet:

„Verwaltungsrechtliche Maßnahmen oder Sanktionen der Gemeinschaft können gegen die in Artikel 1 genannten Wirtschaftsteilnehmer verhängt werden, d. h. gegen natürliche oder juristische Personen sowie sonstige nach dem einzelstaatlichen Recht anerkannte Rechtssubjekte, die eine Unregelmäßigkeit begangen haben. Sie können auch gegenüber Personen verhängt werden, die an der Begehung einer Unregelmäßigkeit mitgewirkt haben, die für eine Unregelmäßigkeit zu haften haben oder die dafür zu sorgen haben, dass sie nicht begangen wird.“

 Verordnung Nr. 1306/2013(3)

8.        Der 39. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1306/2013 lautet:

„Zum Schutz der finanziellen Interessen des Haushalts der Union sollten die Mitgliedstaaten Maßnahmen treffen, um sich davon zu überzeugen, dass die aus den Fonds finanzierten Maßnahmen tatsächlich und korrekt durchgeführt werden. Die Mitgliedstaaten sollten außerdem Unregelmäßigkeiten oder den Verstoß gegen Verpflichtungen seitens der Begünstigten verhindern, aufdecken bzw. wirksam bekämpfen. Zu diesem Zweck sollte die Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 des Rates Anwendung finden. Bei Verstößen gegen sektorbezogene Agrarvorschriften, für die i[n] Unionsrechtsakten keine ausführlichen Bestimmungen zu Verwaltungssanktionen festgelegt sind, sollten die Mitgliedstaaten nationale Sanktionen verhängen, die wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein sollten.“

9.        Art. 54 („Gemeinsame Bestimmungen“) der Verordnung Nr. 1306/2013 sieht vor:

„(1)      Die Mitgliedstaaten fordern Beträge, die infolge von Unregelmäßigkeiten oder Versäumnissen zu Unrecht gezahlt wurden, von dem Begünstigten innerhalb von 18 Monaten nach dem Zeitpunkt zurück, zu dem ein Kontrollbericht oder ähnliches Dokument, in dem festgestellt wird, dass eine Unregelmäßigkeit stattgefunden hat, gebilligt wurde und gegebenenfalls der Zahlstelle oder der für die Wiedereinziehung zuständigen Stelle zugegangen ist. Die betreffenden Beträge werden zeitgleich mit dem Wiedereinziehungsbescheid im Debitorenbuch der Zahlstelle verzeichnet.

(3)      In hinreichend begründeten Fällen können die Mitgliedstaaten beschließen, die Wiedereinziehung nicht fortzusetzen. Dieser Beschluss kann nur in folgenden Fällen getroffen werden:

b)      wenn die Wiedereinziehung wegen nach nationalem Recht des betreffenden Mitgliedstaats festgestellter Zahlungsunfähigkeit des Schuldners oder der für die Unregelmäßigkeit rechtlich verantwortlichen Personen unmöglich ist.

…“

10.      Art. 56 („Besondere Bestimmungen für den ELER“) Abs. 1 dieser Verordnung lautet:

„Werden Unregelmäßigkeiten und Versäumnisse bei den Vorhaben oder den Programmen zur Entwicklung des ländlichen Raums aufgedeckt, so nehmen die Mitgliedstaaten die finanziellen Berichtigungen vor, indem sie die betreffende finanzielle Beteiligung der Union ganz oder teilweise streichen. Die Mitgliedstaaten berücksichtigen die Art und Schwere der festgestellten Unregelmäßigkeiten sowie die Höhe des finanziellen Verlustes für den ELER.“

11.      Art. 58 („Schutz der finanziellen Interessen der Union“) dieser Verordnung sieht vor:

„(1)      Die Mitgliedstaaten erlassen im Rahmen der GAP alle Rechts- und Verwaltungsvorschriften sowie alle sonstigen Maßnahmen, um einen wirksamen Schutz der finanziellen Interessen der Union zu gewährleisten, insbesondere um

e)      zu Unrecht gezahlte Beträge zuzüglich Zinsen einzuziehen und wenn notwendig entsprechende rechtliche Schritte einzuleiten.

…“

 Delegierte Verordnung Nr. 640/2014(4)

12.      Art. 35 („Nichteinhaltung anderer Förderkriterien als Größe der Fläche bzw. Zahl der Tiere, von Verpflichtungen oder sonstigen Auflagen“) Abs. 6 sieht vor:

„Wird festgestellt, dass der Begünstigte falsche Nachweise vorgelegt hat, um die Förderung zu erhalten, oder hat er verabsäumt, die erforderlichen Informationen zu liefern, so wird die Förderung abgelehnt oder vollständig zurückgenommen. Darüber hinaus wird der Begünstigte im Kalenderjahr der Feststellung und dem darauf folgenden Kalenderjahr von derselben Maßnahme oder Vorhabenart ausgeschlossen.“

B.      Estnisches Recht

13.      Nach § 381 Abs. 2 des Kriminaalmenetluse seadustik (estnische Strafprozessordnung) kann eine Behörde im Rahmen eines Strafverfahrens eine Klage auf Zuerkennung einer öffentlich-rechtlichen Forderung erheben, wenn der diese Forderung begründende Tatbestand im Wesentlichen die Erfüllung derselben objektiven Tatbestandsmerkmale voraussetzt wie die verfahrensgegenständliche Straftat.

14.      § 111 („Wiedereinziehung von Finanzhilfen“) des Euroopa Liidu ühise põllumajanduspoliitika rakendamise seadus (Gesetz zur Umsetzung der Gemeinsamen Agrarpolitik der Europäischen Union) bestimmt:

„(1)      Stellt sich nach Auszahlung einer Finanzhilfe heraus, dass die Finanzhilfe aufgrund von Unregelmäßigkeiten oder Versäumnissen zu Unrecht gezahlt wurde, und insbesondere, dass sie nicht für den vorgesehenen Zweck verwendet wurde, so wird die gesamte oder ein Teil der Finanzhilfe gemäß den in den Verordnungen Nrn. 1303/2013 und 1306/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates sowie in sonstigen einschlägigen Unionsverordnungen festgelegten Voraussetzungen und Fristen vom Begünstigten der Finanzhilfe wieder eingezogen, insbesondere von demjenigen Begünstigten der Finanzhilfe, der in einem Auswahlverfahren ausgewählt worden ist.

…“

II.    Sachverhalt des Rechtsstreits

15.      Mit Urteil des Viru Maakohus (Gericht erster Instanz Viru, Estland) vom 15. März 2021 wurde R. M. wegen Subventionsbetrugs in drei Fällen verurteilt. Namentlich hatte er als Vertreter der Gesellschaft X OÜ (im Folgenden: X) beim Põllumajanduse Registrite ja Informatsiooni Amet (landwirtschaftliches Register- und Informationsamt, Estland) (im Folgenden: PRIA) vorsätzlich falsche Angaben gemacht. Infolgedessen zahlte das PRIA in den Jahren 2013 bis 2017 an X zu Unrecht landwirtschaftliche Beihilfen in Höhe von insgesamt 143 737, 38 Euro, die von der Europäischen Union zu finanzieren waren. In zwei der drei genannten Fälle von Subventionsbetrug wurde neben R. M. auch E. M. als Mittäterin verurteilt.

16.      Gleichzeitig gab das Viru Maakohus (Gericht erster Instanz Viru) der von der Geschädigten – der Republik Estland (vertreten durch das PRIA) – erhobenen Nebenklage statt und verurteilte die Angeklagten, dem Staat die infolge des Betrugs zu Unrecht an X ausgezahlten Beihilfebeträge wie folgt zu erstatten: R. M. in Höhe von 87 340, 00 Euro sowie R. M. und E. M. gesamtschuldnerisch in Höhe der übrigen 56 397, 38 Euro.

17.      Das Viru Maakohus (Gericht erster Instanz Viru) führte aus, dass, wenn sich nach Auszahlung einer Beihilfe herausstelle, dass die Fördermittel aufgrund von Unregelmäßigkeiten oder Versäumnissen zu Unrecht gezahlt worden seien, die Fördermittel von dem Begünstigten nach § 111 Abs. 1 des Gesetzes zur Umsetzung der gemeinsamen Agrarpolitik der Europäischen Union ganz oder teilweise gemäß den in den Unionsverordnungen festgelegten Voraussetzungen und Fristen wieder eingezogen würden.

18.      Daher sei die Geschädigte berechtigt, die Rückzahlung der zu Unrecht an X gezahlten Beihilfe auch von R. M. und E. M. zu fordern.

19.      Gegen das Urteil des Viru Maakohus (Gericht erster Instanz Viru) legten die Verteidiger von R. M. und E. M. sowohl hinsichtlich der strafrechtlichen Verurteilung der Angeklagten als auch hinsichtlich der Stattgabe der Nebenklage Berufung ein.

20.      Mit Urteil des Tartu Ringkonnakohus (Berufungsgericht Tartu, Estland) vom 15. September 2021 wurde das Urteil des Viru Maakohus (Gericht erster Instanz Viru) aufrechterhalten. Das Berufungsgericht folgte der Auffassung des Gerichts erster Instanz, dass X die Beihilfe durch Betrug erlangt habe, indem die Eigenbeitragspflicht nicht erfüllt worden sei und gefälschte Dokumente vorgelegt worden seien.

21.      Das Berufungsgericht teilte auch die Auffassung des Viru Maakohus (Gericht erster Instanz Viru), dass die Geschädigte gemäß Art. 7 der Verordnung Nr. 2988/95 berechtigt sei, die an X zu Unrecht gezahlte Beihilfe auch von R. M. und E. M. zurückzufordern.

22.      Gegen das Urteil des Berufungsgerichts legten die Verteidiger von R. M. und E. M. sowohl hinsichtlich der strafrechtlichen Verurteilung der Angeklagten als auch hinsichtlich der Stattgabe der Nebenklage Kassationsbeschwerde ein.

23.      Der Strafsenat des Riigikohus (Oberstes Gericht, Estland) erließ in der Strafsache im Ausgangsverfahren am 20. Mai 2022 ein Teilurteil, mit dem die Urteile des Tartu Ringkonnakohus (Berufungsgericht Tartu) und des Viru Maakohus (Gericht erster Instanz Viru) u. a. insoweit aufrechterhalten wurden, als R. M. und E. M. des oben genannten Subventionsbetrugs in mehreren Fällen schuldig befunden und bestraft wurden.

24.      Damit wurden die Schuldsprüche und Strafen der Angeklagten rechtskräftig. Zugleich beschloss das Riigikohus (Oberstes Gericht), das Kassationsverfahren fortzusetzen und die Sache später durch gesondertes Urteil zu entscheiden, soweit die Gerichte R. M. zur Zahlung von 87 340,00 Euro sowie R. M. und E. M. als Gesamtschuldner zur Zahlung von 56 397,38 Euro an den Staat als Ausgleich für die zu Unrecht an X ausgezahlte Beihilfe verurteilt hatten.

25.      Das vorlegende Gericht hat daher das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      Ergibt sich unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens aus Art. 7 der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 des Rates vom 18. Dezember 1995 in Verbindung mit Art. 56 Abs. 1 und Art. 54 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 1306/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Dezember 2013 sowie mit Art. 35 Abs. 6 der Delegierten Verordnung (EU) Nr. 640/2014 der Kommission vom 11. März 2014 eine Grundlage mit unmittelbarer Rechtswirkung dafür, eine durch Betrug erlangte, aus dem Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) finanzierte Beihilfe von den Vertretern einer begünstigten juristischen Person zurückzufordern, die vorsätzlich falsche Angaben gemacht haben, um die Beihilfe betrügerisch zu erlangen?

2.      Können unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens, wo eine aus dem ELER zu finanzierende Beihilfe infolge eines Betrugs festgesetzt und an eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung (estnische Gesellschaft) ausgezahlt wurde, als Begünstigte im Sinne von Art. 54 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 1306/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Dezember 2013 und Art. 35 Abs. 6 der Delegierten Verordnung (EU) Nr. 640/2014 der Kommission vom 11. März 2014 auch die Vertreter der begünstigten Gesellschaft angesehen werden, die den Betrug ausgeführt haben und die zur Zeit der betrügerischen Erlangung der Beihilfe zugleich wirtschaftlich Berechtigte dieser Gesellschaft waren?

III. Rechtliche Würdigung

26.      Dem Ersuchen des Gerichtshofs entsprechend werde ich mich bei meiner rechtlichen Würdigung auf die erste vom vorlegenden Gericht gestellte Frage konzentrieren.

27.      Ich weise darauf hin, dass die Beantwortung der zweiten Frage hinfällig sein könnte, da sie in der ersten Frage aufgeht, wenn die erste Frage in dem von mir vorgeschlagenen Sinne bejaht wird.

28.      Im Wesentlichen möchte das vorlegende Gericht geklärt wissen, ob Art. 54 und Art. 56 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1306/2013 sowie Art. 35 Abs. 6 Satz 1 der Verordnung Nr. 640/2014 in Verbindung mit Art. 7 der Verordnung Nr. 2988/95 dahin auszulegen sind, dass die Rückerstattung der infolge einer Unregelmäßigkeit zu Unrecht aus dem ELER erhaltenen Beihilfe nicht nur vom Begünstigten dieser Beihilfe gefordert werden kann, sondern auch von den Personen, die, obwohl sie rechtstechnisch nicht als Begünstigte anzusehen sind, an der Begehung der Unregelmäßigkeit mitgewirkt haben, die zur ungerechtfertigten Auszahlung der Beihilfe geführt hat.

A.      Allgemeine Erwägungen

29.      Die Gemeinsame Agrarpolitik wird in geteilter Mittelverwaltung zwischen den Mitgliedstaaten und der Union umgesetzt, und die Unionsmittel werden den Endempfängern über die Mitgliedstaaten ausgezahlt. Der Mitgliedstaat muss die finanziellen Interessen der Union wirksam schützen, indem er sicherstellt, dass nur Maßnahmen, die mit den Bestimmungen des Unionsrechts in Einklang stehen, aus Unionsmitteln finanziert werden. Art. 58 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1306/2013 erlegt den Mitgliedstaaten auf, alle Maßnahmen zu erlassen, um einen wirksamen Schutz der finanziellen Interessen der Union zu gewährleisten und zu Unrecht gezahlte Beträge wieder einzuziehen. Die Mitgliedstaaten sind nämlich am besten in der Lage, die infolge von Unregelmäßigkeiten oder Versäumnissen zu Unrecht gezahlten Beträge wieder einzuziehen und die geeignetsten Maßnahmen zu bestimmen, die in dieser Hinsicht zu ergreifen sind. Es ist daher Sache der nationalen Behörden, die Maßnahmen festzulegen, die sie hinsichtlich der Wiedereinziehung der betreffenden Beträge für am geeignetsten halten. Diese Artikel sind, soweit die Finanzierung der gemeinsamen Agrarpolitik betroffen ist, Ausdruck der allgemeinen Sorgfaltspflicht aus Art. 4 Abs. 3 EUV, der den Mitgliedstaaten auferlegt, die Wiedereinziehung und die Maßnahmen zur Behebung der Unregelmäßigkeiten unverzüglich durchzuführen(5). Die Beachtung der auf der Grundlage des nationalen Rechts einschlägigen Verfahren und Fristen für die Wiedereinziehung ist eine notwendige Mindestvoraussetzung, aber nicht ausreichend zum Beleg der Sorgfalt des Mitgliedstaats im Rahmen von Art. 58 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1306/2013(6).

30.      Aus diesem allgemeinen rechtlichen Kontext ergibt sich, dass die Wiedereinziehung der zu Unrecht ausgezahlten Beträge eine besondere Verpflichtung der Mitgliedstaaten ist, um einen wirksamen Schutz der finanziellen Interessen der Union zu gewährleisten.

31.      Wie die dänische Regierung in den von ihr eingereichten Erklärungen zutreffend ausführt(7), handelt es sich um eine Frage mit großer Bedeutung für die Fähigkeit der Mitgliedstaaten, wirksame Kontrollen zur Übereinstimmung der Beihilfen im Agrarsektor mit den Unionsvorschriften durchzuführen: Das Problem, aus dem sich die Vorlagefragen im vorliegenden Fall ergeben – also der Umstand, dass der Rechtsträger, der die Beihilfe erhalten hat und somit rechtlich „Begünstigter der Beihilfe“ ist (die Gesellschaft X), entweder rechtlich nicht mehr existiert oder nicht über hinreichende Mittel zur Rückerstattung verfügt –, stellt sich regelmäßig, wenn sich die nationalen Behörden dazu veranlasst sehen, die Rückerstattung zu Unrecht ausgezahlter landwirtschaftlicher Beihilfen zu fordern. Die effektive Erfüllung der Verpflichtung, zu Unrecht ausgezahlte Beihilfen zurückzufordern, setzt voraus, dass die Mitgliedstaaten in der Lage sind, diese Verfahren nicht nur gegenüber den unmittelbaren Begünstigten, sondern auch den Vertretern der (betroffenen) Unternehmen – soweit diese an der Unregelmäßigkeit mitgewirkt haben – oder ihren wirtschaftlichen Eigentümern gegenüber einzuleiten. Im Wesentlichen geht es darum, die praktische Wirksamkeit der Unionsvorschriften zu gewährleisten: Ein System, das aufgrund einer formalistischen Auslegung derartige Situationen zuließe, würde die ernsthafte Wirkungslosigkeit der Möglichkeit zur Wiedereinziehung der zu Unrecht ausgezahlten Beträge riskieren und rechtswidrige Verhaltensweisen fördern.

32.      Das nationale Gericht legt dem Gerichtshof die Frage zur Vorabentscheidung vor und nimmt auch auf die etwaige unmittelbare Rechtswirkung der Unionsvorschriften Bezug, die in Verbindung miteinander die Rechtsgrundlage für die Wiedereinziehung der Beihilfe bilden könnten, die zu Unrecht an die natürlichen Personen ausgezahlt wurden, die den Betrug begangen haben.

33.      Ich bin der gleichen Ansicht wie die Kommission, wonach die Frage nicht ist, ob Art. 7 der Verordnung Nr. 2988/95 eine unmittelbare Rechtswirkung besitzt, sondern ob diese Norm in Verbindung mit den sektorbezogenen Vorschriften für sich allein ausreicht, um die Rückerstattung der Beihilfe von den natürlichen Personen zu fordern, die Vertreter der begünstigten Gesellschaft und Täter der die Unregelmäßigkeiten begründenden Verhaltensweisen sind. Denn der Unionsgesetzgeber hat sektorbezogene Vorschriften erlassen, die die Rückerstattung vorsehen, aber nicht die Voraussetzungen für die Anwendung dieser Vorschriften auf diese Personenkategorie geregelt, und das Recht des Mitgliedstaats, in dem die Unregelmäßigkeit begangen wurde, sieht die Anwendung einer verwaltungsrechtlichen Maßnahme auf diese Personenkategorie nicht ausdrücklich vor.

34.      Die für eine sinnvolle Beantwortung der Vorlagefrage zu lösenden Rechtsfragen sind deshalb meiner Ansicht nach die folgenden: a) das zwischen der Verordnung Nr. 2988/95 und den sektorbezogenen Verordnungen bestehende Verhältnis (insbesondere, um zu verstehen, ob die allgemeinen Regelungen der Verordnung Nr. 2988/95 in Bezug auf die verwaltungsrechtlichen Maßnahmen und auf die Personen, denen gegenüber die Wiedereinziehung zu Unrecht ausgezahlter Beihilfen erfolgen darf, auch in spezifischen Sektoren, in denen sich diese Regelungen nicht wiederfinden, und in Abwesenheit nationaler Rechtsvorschriften zur Durchführung dieser Regelungen gelten); b) die jeweils unterschiedlichen Grundsätze (und Rechtsvorschriften), die für verwaltungsrechtliche Sanktionen und Maßnahmen gelten (und folglich die Nichtanwendbarkeit der vom Gerichtshof in einigen Präzedenzfällen für Sanktionen geregelten Grundsätze); c) die rechtliche Einordnung der Täter der rechtswidrigen Verhaltensweisen.

B.      Vorlagefrage

35.      Die Verordnung Nr. 2988/95 enthält verschiedene Bestimmungen allgemeiner Art, die Regelungen zum wirksamen Schutz der finanziellen Interessen der Union vorsehen.

36.      Die Verordnung regelt alle Umstände, in denen eine Unregelmäßigkeit vorliegt, also ein Verstoß gegen eine Unionsvorschrift infolge einer Handlung oder Unterlassung eines Wirtschaftsteilnehmers, die einen Schaden für den Haushalt bewirkt hat bzw. haben würde(8).

37.      Das Ziel der Verordnung Nr. 2988/95 ist, die finanziellen Interessen der Union in allen Bereichen zu schützen und einen allen Bereichen der Gemeinschaftspolitik gemeinsamen rechtlichen Rahmen festzulegen(9).

38.      Der fünfte Erwägungsgrund bestimmt, dass die sektorbezogenen Regelungen zu verwaltungsrechtlichen Maßnahmen und Sanktionen im Einklang mit der Verordnung Nr. 2988/95 stehen müssen. Derselbe Gedanke findet sich im 39. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1306/2013, wonach, da die Mitgliedstaaten Unregelmäßigkeiten oder den Verstoß gegen Verpflichtungen seitens der Begünstigten verhindern, aufdecken bzw. wirksam bekämpfen sollten, die Verordnung Nr. 2988/95 Anwendung finden sollte.

39.      Auch die Rechtsprechung (der Großen Kammer) des Gerichtshofs bestätigt, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber im Bereich der Kontrollen und Sanktionen der auf dem Gebiet des Gemeinschaftsrechts begangenen Unregelmäßigkeiten mit dem Erlass der Verordnung Nr. 2988/95 eine Reihe allgemeiner Grundsätze aufgestellt und vorgeschrieben hat, dass alle sektorbezogenen Verordnungen diese Grundsätze beachten müssen(10).

40.      Die Verordnung Nr. 2988/95 ist somit eine allgemeine Verordnung, die die Einführung spezieller oder sektorbezogener Vorschriften in den verschiedenen Handlungsbereichen der Union zwar nicht ausschließt, aber gebietet, dass diese Vorschriften im Einklang mit dem von der Verordnung Nr. 2988/95 vorgegebenen allgemeinen Rahmen auszulegen sind.

41.      Die allgemeinen Grundsätze, an denen sich die sektorbezogenen Bestimmungen auszurichten haben, sind, soweit sie vorliegend von Interesse sind, neben dem oben angeführten Art. 1 die Art. 4 und 7.

42.      Art. 4 Abs. 1 erster Gedankenstrich der Verordnung Nr. 2988/95 regelt, dass jede Unregelmäßigkeit „in der Regel den Entzug des rechtswidrig erlangten Vorteils … durch Verpflichtung zur … Rückerstattung des rechtswidrig erhaltenen Geldbetrags [bewirkt]“.

43.      Vom Wortlaut ausgehend ist offensichtlich, dass der Begriff „bewirkt“ auch mit dem begleitenden Einschub „in der Regel“ keinen Raum für Bewertungen oder Ermessen lässt: Der Sinn kann nur sein, dass die Mitgliedstaaten im Fall von Unregelmäßigkeiten in Erfüllung der oben angeführten Sorgfaltspflicht zur Rückforderung schreiten müssen unter Ausnahme der Fälle, in denen dies unmöglich ist. Ein Beispiel für eine Ausnahme findet sich in den sektorbezogenen Rechtsvorschriften, genauer in Art. 54 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 1306/2013(11) (auf diesen Artikel werde ich auch im Anschluss mit Blick auf die strukturelle Unterscheidung zwischen Sanktionen und anderen verwaltungsrechtlichen Maßnahmen eingehen).

44.      Art. 7 legt fest, dass verwaltungsrechtliche Maßnahmen oder Sanktionen nicht nur gegen die in Art. 1 genannten Wirtschaftsteilnehmer verhängt werden können, d. h. gegen natürliche oder juristische Personen sowie sonstige nach dem einzelstaatlichen Recht anerkannte Rechtssubjekte, die eine Unregelmäßigkeit begangen haben, sondern auch gegenüber Personen, die an der Begehung einer Unregelmäßigkeit mitgewirkt haben, die für eine Unregelmäßigkeit zu haften haben oder die dafür zu sorgen haben, dass sie nicht begangen wird.

45.      Art. 7 bestimmt daher den Adressatenkreis der Rückforderung, also den Kreis der Personen, von denen je nach den Umständen die Rückerstattung des zu Unrecht gezahlten Betrags gefordert werden kann. Damit soll das den Zielen der Verordnung entsprechende Verständnis ihrer Bestimmungen als Grundsätze bekräftigt werden. Dieses Verständnis muss zumindest hinsichtlich der Maßnahme der Wiedereinziehung darauf abzielen, eine wirksame Ausübung der Sorgfaltspflicht der Mitgliedstaaten zu ermöglichen, indem die Wiedereinziehung des Betrags auch bei den Personen erfolgen darf, die die Unregelmäßigkeit verursacht haben, ohne den möglichen und, um die Wahrheit zu sagen, allzu einfachen Umgehungen Vorschub zu leisten.

46.      Systematisch betrachtet ist Art. 7 verbunden mit und dient Art. 4 Abs. 1, der als allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts festlegt, dass jede Unregelmäßigkeit den Entzug des rechtswidrig erlangten Vorteils durch Verpflichtung zur Rückerstattung des rechtswidrig erhaltenen Geldbetrags bewirkt.

47.      Die Art. 54 und 56 der Verordnung Nr. 1306/2013 und Art. 35 der Verordnung Nr. 640/2014 wiederholen diese Bestimmungen weder hinsichtlich der Wiedereinziehungspflicht noch hinsichtlich des Kreises der Personen, an die die Rückerstattungsforderung zu richten ist. Diese Bestimmungen beziehen sich ausschließlich auf die „Begünstigten“, die als diejenigen natürlichen oder juristischen Personen definiert sind, die die Beihilfe erhalten haben.

48.      Hieraus ergeben sich die Zweifel des vorlegenden Gerichts, das trotz der Überzeugung, dass sich die Wiedereinziehung gegen die Personen richten muss, die mit aufeinanderfolgenden Handlungen (Gründung der Gesellschaft, Erhalt der Beihilfe durch falsche Belege, Auflösung der Gesellschaft, Gründung einer anderen offenkundig vermögenslosen Gesellschaft) die eigentlichen Verursacher der zu Unrecht erfolgten Unionsfinanzierung waren, anzweifelt, ob in Ermangelung spezifischer Vorschriften in den sektorbezogenen Verordnungen und in den Bestimmungen des nationalen Rechts die Bestimmungen der Art. 4 und 7 der Verordnung Nr. 2988/95 als geeignete Rechtsgrundlage der Wiedereinziehung ausreichen.

49.      Die Zweifel ergeben sich vor allem aus dem Umstand, dass der Gerichtshof im Urteil SGS Belgium u. a.(12) festgestellt hat, dass die Verordnung Nr. 2988/95 für sich genommen nicht als geeignete Rechtsgrundlage ausreicht, um Sanktionen im Sinne von Art. 5 dieser Verordnung zu verhängen. Nach Ansicht des Gerichtshofs kann es vorkommen, dass manche Bestimmungen einer Verordnung zu ihrer Durchführung des Erlasses von Durchführungsmaßnahmen durch die Mitgliedstaaten oder durch den Unionsgesetzgeber selbst bedürfen (Rn. 33) und dass dies auch für die verwaltungsrechtlichen Sanktionen gilt, die gegen die in der Verordnung Nr. 2988/95 bezeichneten verschiedenen Kategorien von Handelnden verhängt werden (Rn. 34). Damit eine Sanktion verhängt werden kann, müssen somit sektorbezogene Regelungen der Union oder in Ermangelung solcher Regelungen nationale Rechtsvorschriften die Verhängung einer verwaltungsrechtlichen Sanktion gegen diese Kategorie von Handelnden vorsehen (Rn. 43 bis 62). Dies gilt aufgrund des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit(13).

50.      Die Zweifel des vorlegenden Gerichts können allerdings durch den Nachweis des strukturellen Unterschieds zwischen verwaltungsrechtlichen Maßnahmen und Sanktionen und eine grammatikalische, systematische und teleologische Auslegung der einschlägigen Bestimmungen des Unionsrechts zerstreut werden.

51.      Bereits die grammatikalische Auslegung würde genügen, um den deutlichen Unterschied zwischen Sanktionen und anderen verwaltungsrechtlichen Maßnahmen wie der Wiedereinziehung der zu Unrecht ausgezahlten Beträge zu verdeutlichen: Art. 4 der Verordnung Nr. 2988/95 bestimmt hinsichtlich der verwaltungsrechtlichen Maßnahmen, dass jede Unregelmäßigkeit in der Regel den Entzug des rechtswidrig erlangten Vorteils bewirkt. Art. 5 dieser Verordnung regelt hinsichtlich der Sanktionen, dass Unregelmäßigkeiten, die vorsätzlich begangen oder durch Fahrlässigkeit verursacht werden, zu den angeführten verwaltungsrechtlichen Sanktionen „führen können“. Die Unterschiede der gewählten Regelungen sind offensichtlich: Die Wiedereinziehung der Beträge vorbehaltlich ausdrücklicher Ausnahmen bedeutet den automatischen Entzug des zu Unrecht erlangten Vorteils, ohne dass weitere Durchführungsmaßnahmen oder Konkretisierungen erforderlich wären(14). Die Verhängung von Sanktionen ist bedingt („können … führen“), da sie von der Feststellung des subjektiven Tatbestandsmerkmals (Vorsatz oder Fahrlässigkeit) abhängt, die Durchführungskriterien für dessen Bewertung erfordert; Durchführungskriterien erfordert zudem auch die Wahl zwischen den verschiedenen von Art. 5 vorgesehenen Maßnahmen, der somit Raum für Ermessen bei der Durchführung lässt.

52.      Nichts von alledem lässt sich für die verwaltungsrechtliche Maßnahme des Entzugs (und die damit verbundene Forderung der Rückerstattung der Beihilfe) sagen, die keiner Konkretisierung oder Durchführungsmaßnahme bedarf und keinen Raum für Ermessen lässt: Der Feststellung der Unregelmäßigkeit folgt die Verpflichtung zur Wiedereinziehung der Beträge von den Personen, die die Unregelmäßigkeit begangen haben und in Art. 7 der Verordnung Nr. 2988/95 klar und unmissverständlich bezeichnet sind(15). In erster Linie richtet sich die Rückerstattungsforderung selbstverständlich gegen die für die Unregelmäßigkeit unmittelbar verantwortliche natürliche oder juristische Person (den im rechtstechnischen Sinn Begünstigten), in den Fällen, in denen das aufgrund konkreter Umstände wie denen unseres vorliegenden Falls nicht möglich ist, gegen die Personen, die an der Begehung einer Unregelmäßigkeit mitgewirkt haben, die für eine Unregelmäßigkeit zu haften haben oder die dafür zu sorgen haben, dass sie nicht begangen wird.

53.      Art. 4 Abs. 4 der Verordnung Nr. 2988/95 ist dann sehr deutlich, indem er feststellt, dass die in diesem Artikel vorgesehenen Maßnahmen keine Sanktionen darstellen.

54.      Die systematische Auslegung bestätigt diesen Ansatz: Wie die dänische Regierung zutreffend ausführt, wären zudem die oben angeführten Bestimmungen von Art. 54 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 1306/2013 bedeutungslos, wenn sie nicht in dem Sinne interpretiert würden, dass andere Personen als der Begünstigte für die Unregelmäßigkeit haften und folglich zur Rückerstattung verpflichtet werden können.

55.      Art. 2 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2988/95 bestätigt mit der Regelung, dass „[eine] verwaltungsrechtliche Sanktion … nur verhängt werden [kann], wenn sie in einem Rechtsakt der Gemeinschaften vor dem Zeitpunkt der Unregelmäßigkeit vorgesehen wurde“, was sich aus den Grundsätzen ergibt, dass also für die Verhängung von Sanktionen (strafrechtlichen oder verwaltungsrechtlichen mit Strafcharakter) durchgehend der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit einzuhalten ist(16). Dass die verwaltungsrechtlichen Maßnahmen in dieser Bestimmung nicht angeführt werden, bestätigt, dass auf diese nur die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes angewandt werden können. Den Grundsatz der Rechtssicherheit halte ich in der vorgeschlagenen Auslegung für vollumfänglich eingehalten, da Art. 7 der Verordnung Nr. 2988/95 die Folgen der Feststellung der Unregelmäßigkeit einer den Unionshaushalt belastenden Beihilfe unzweifelhaft klarstellt: die Verpflichtung des Mitgliedstaats zur Wiedereinziehung der Beträge von den Personen, die an der Begehung einer Unregelmäßigkeit mitgewirkt haben. Der Grundsatz des Vertrauensschutzes kann nicht ohne Weiteres geltend gemacht werden, wenn der gute Glaube gänzlich fehlt und sogar Verhaltensweisen vorliegen, die eine Falschdarstellung von Tatsachen und die Vermeidung von deren Folgen bezwecken.

56.      Wie die Kommission nachvollziehbar ausführt(17), hat der Gerichtshof festgestellt, dass auch in Ermangelung einer Bestimmung in der sektorbezogenen Regelung oder in der nationalen Regelung, die die Anwendung einer Sanktion vorsieht, die nationale Behörde verpflichtet ist, eine verwaltungsrechtliche Maßnahme im Sinne von Art. 4 Abs. 1 erster Gedankenstrich der Verordnung Nr. 2988/95 anzuwenden, die darin besteht, die Rückerstattung aller zu Unrecht ausgezahlten Beihilfen zu verlangen, soweit erwiesen ist – was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist –, dass diese Beihilfen zu Unrecht ausgezahlt worden sind(18).

57.      Hinsichtlich der Normzwecke kann ich nur das bereits oben in den allgemeinen Erwägungen Gesagte wiederholen: Der absolut wichtigste Zweck der Verordnung Nr. 2988/95 ist der wirksame Schutz der finanziellen Interessen der Union. Ein solcher wäre in dem Fall nicht möglich, in dem eine formalistische Auslegung des Unionsrechts es den Mitgliedstaaten übermäßig erschwert, bei Feststellung von rechtswidrigen Verhaltensweisen die zu Unrecht ausgezahlten Beträge von den Tätern wieder einzuziehen.

58.      Es ist somit offensichtlich, dass die vom Gerichtshof im Urteil SGS Belgium aufgestellten Grundsätze nicht auf den Fall erstreckt werden können, in dem ausschließlich die Wiedereinziehung der zu Unrecht ausgezahlten Beträge erfolgen muss. Der Umstand, dass die Personen keine unmittelbar Begünstigten sind, ändert an diesem Ergebnis nichts, da die vom vorlegenden Gericht angeführten Bestimmungen in Verbindung miteinander eine geeignete Rechtsgrundlage für die Wiedereinziehung der zu Unrecht ausgezahlten Beträge bilden.

59.      Eine letzte Anmerkung zu einem von den Kassationsbeschwerdeführern im Ausgangsverfahren vorgebrachten verfahrensrechtlichen Punkt, sprich zum Erfordernis, dass der Mitgliedstaat die Forderung auf Rückerstattung der zu Unrecht ausgezahlten Beträge zunächst gegen die neu gegründete Gesellschaft richtet, selbst wenn diese vermögenslos ist. Im Licht des bisher Gesagten scheint mir das eine rein formale Frage zu sein: In dem Fall nämlich, in dem das nationale Gericht die tatsächliche Unfähigkeit der von den Kassationsbeschwerdeführern neu gegründeten Gesellschaft festgestellt hat, die beträchtliche Verbindlichkeit zu begleichen, erscheint mir eine Rückerstattungsforderung, der keine geeigneten Vollstreckungshandlungen folgen können, keinen sinnvollen Zweck erfüllen zu können. Im zweiten Schritt muss das vorlegende Gericht die etwaigen Verfahren oder Regelungen des nationalen Rechts ermitteln, die die Rechtsverhältnisse zwischen Gesellschaftern, Geschäftsführern und Gesellschaft festlegen. Auf der Grundlage des Gesagten weise ich darauf hin, dass im Unionsrecht die Personen, die an der Begehung einer Unregelmäßigkeit mitgewirkt haben, eigenständig auf Rückerstattung der zu Unrecht als landwirtschaftliche Beihilfe ausgezahlten Beträge haften, sobald die Unmöglichkeit der Wiedereinziehung beim im rechtstechnischen Sinn Begünstigten der Beihilfe festgestellt ist.

60.      Eine weitere vom nationalen Gericht zu treffende Feststellung ist, ob das nationale Recht erlaubt, natürliche Personen als diejenigen einzustufen, die alternativ „an der Begehung einer Unregelmäßigkeit mitgewirkt haben“ oder „für eine Unregelmäßigkeit zu haften haben“ oder „dafür zu sorgen haben, dass sie nicht begangen wird“.

61.      Eine andere Auslegung von Art. 7 der Verordnung Nr. 2988/95 in Verbindung mit den sektorbezogenen Regelungen würde riskieren, in der Folge den eigentlichen Täter des Betrugs von der Haftung zu befreien, und den Schutz der finanziellen Interessen der Union ernsthaft gefährden; auch deshalb, weil, wie von der Kommission zutreffend angemerkt, Individuen Betrugstaten begehen, nicht juristische Personen(19).

IV.    Ergebnis

62.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefrage wie folgt zu beantworten:

Die Art. 4 und 7 der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 des Rates in Verbindung mit den Art. 54 und 56 der Verordnung (EU) Nr. 1306/2013 und Art. 35 Abs. 6 der Delegierten Verordnung (EU) Nr. 640/2014 der Kommission sind dahin auszulegen, dass:

die vorgenannten Bestimmungen in Verbindung miteinander eine Rechtsgrundlage dafür bilden, eine durch Betrug erlangte, aus dem Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) finanzierte Beihilfe von den Vertretern einer begünstigten juristischen Person zurückzufordern, die vorsätzlich falsche Angaben gemacht haben, um die Beihilfe zu erlangen;

es Sache des nationalen Gerichts ist, festzustellen, ob die begünstigte Gesellschaft oder die ihr in Rechten und Pflichten nachfolgende Gesellschaft zur Rückerstattung der zu Unrecht ausgezahlten Beihilfe nicht in der Lage ist und ob nach nationalem Recht die Person, von der die Rückerstattung gefordert wird, als Person anzusehen ist, die „an der Begehung einer Unregelmäßigkeit mitgewirkt [hat]“ oder „für eine Unregelmäßigkeit zu haften [hat]“ oder „dafür zu sorgen [hat], dass sie nicht begangen wird“.


1      Originalsprache: Italienisch.


2      Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 des Rates vom 18. Dezember 1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (ABl. 1995, L 312, S. 1).


3      Verordnung (EU) Nr. 1306/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Dezember 2013 über die Finanzierung, die Verwaltung und das Kontrollsystem der Gemeinsamen Agrarpolitik und zur Aufhebung der Verordnungen (EWG) Nr. 352/78, (EG) Nr. 165/94, (EG) Nr. 2799/98, (EG) Nr. 814/2000, (EG) Nr. 1290/2005 und (EG) Nr. 485/2008 des Rates (ABl. 2013, L 347, S. 549).


4      Delegierte Verordnung (UE) Nr. 640/2014 der Kommission vom 11. März 2014, zur Ergänzung der Verordnung (EU) Nr. 1306/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates in Bezug auf das integrierte Verwaltungs- und Kontrollsystem und die Bedingungen für die Ablehnung oder Rücknahme von Zahlungen sowie für Verwaltungssanktionen im Rahmen von Direktzahlungen, Entwicklungsmaßnahmen für den ländlichen Raum und der Cross-Compliance (ABl. 2014, L 181, S. 48).


5      Erklärungen der Kommission, Rn. 4.


6      Vgl. Urteil vom 30. Januar 2020, Portugal/Kommission (T‑292/18, EU:T:2020:18, Rn. 60 bis 67).


7      Erklärungen der dänischen Regierung, Rn. 7 bis 14.


8      Art. 1 der Verordnung Nr. 2988/95.


9      Erwägungsgründe 3 und 4 der Verordnung Nr. 2988/95.


10      Vgl. Urteil vom 11. März 2008, Jager (C‑420/06, EU:C:2008:152, Rn. 61).


11      Dort heißt es, dass die Mitgliedstaaten in hinreichend begründeten Fällen beschließen können, die Wiedereinziehung nicht fortzusetzen, wenn die Wiedereinziehung wegen nach nationalem Recht des betreffenden Mitgliedstaats festgestellter Zahlungsunfähigkeit des Schuldners oder der für die Unregelmäßigkeit rechtlich verantwortlichen Personen unmöglich ist.


12      Vgl. Urteil vom 28. Oktober 2010, SGS Belgium u. a. (C‑367/09, EU:C:2010:648).


13      Wie die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen (Rn. 32) ausführt, zieht die Generalanwältin Kokott in ihren Schlussanträgen einen Vergleich der von der Verordnung Nr. 2988/95 vorgesehenen verwaltungsrechtlichen Sanktionen mit den geltenden strafrechtlichen Vorschriften, insbesondere den Erfordernissen der Klarheit und Eindeutigkeit, wenn ihre Anwendung auf die in Art. 7 Satz 2 dieser Verordnung genannten Personen in das Ermessen der nationalen Verwaltungsbehörden gelegt wird. Aus diesen Grundsätzen ergibt sich, dass eine Person, die strafrechtlich haftbar gemacht werden soll, aufgrund des Wortlauts der einschlägigen Bestimmungen wissen muss, durch welche Handlungen oder Unterlassungen sie sich strafbar macht. Die Generalanwältin kommt zu dem Schluss, dass das in Art. 7 Satz 2 der Verordnung Nr. 2988/95 vorgesehene Ermessen erst noch durch den Unionsgesetzgeber oder in dessen Auftrag durch einen Mitgliedstaat ausgefüllt werden muss, damit ein unmittelbar anwendbarer Sanktionstatbestand entsteht; vgl. Schlussanträge der Generalanwältin Kokott in der Rechtssache SGS Belgium u. a. (C‑367/09, EU:C:2010:440, Nrn. 70 bis 72).


14      Vorbehalten bleibt freilich die konkrete Art und Weise der Einziehung, die sich selbstverständlich nach dem nationalen Recht richtet.


15      Zum fehlenden Ermessen der Mitgliedstaaten vgl. Urteil vom 13. Dezember 2012, FranceAgriMer (C‑670/11, EU:C:2012:807, Rn. 66): Die Ausübung eines Ermessens seitens des Mitgliedstaats hinsichtlich der Frage, ob die Rückforderung der zu Unrecht oder vorschriftswidrig gewährten Beihilfen zweckmäßig ist, wäre mit den Verpflichtungen zur Wiedereinziehung von zu Unrecht oder vorschriftswidrig ausgezahlten Beihilfen unvereinbar, die den nationalen Behörden durch die in diesen Bereichen einschlägige Unionsregelung auferlegt werden.


16      In der Rechtsprechung des Gerichtshofs heißt es zudem, dass auch ohne ausdrückliche Rechtsgrundlage in sektorbezogenen Regelungen oder im nationalen Recht die Pflicht, einen durch eine regelwidrige Praxis zu Unrecht erlangten Vorteil zurückzugewähren, dem Legalitätsgrundsatz nicht zuwiderläuft; vgl. Urteil vom 13. Dezember 2012, FranceAgriMer (C‑670/11, EU:C:2012:807, Rn. 65).


17      Erklärungen der Kommission, Rn. 34.


18      Vgl. Urteil vom 13. Dezember 2012, FranceAgriMer (C‑670/11, EU:C:2012:807, Rn. 72).


19      Erklärungen der Kommission, Rn. 41.