Language of document : ECLI:EU:C:2011:251

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

14. April 2011(*)

„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Richtlinie 79/409/EWG – Erhaltung der wildlebenden Vogelarten – Besondere Schutzgebiete – Zahlen- und flächenmäßig unzureichende Ausweisung – Fehlerhaftes Vorverfahren – Unzulässigkeit der Klage“

In der Rechtssache C‑522/09

betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV, eingereicht am 15. Dezember 2009,

Europäische Kommission, vertreten durch D. Recchia und L. Bouyon als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Klägerin,

gegen

Rumänien, zunächst vertreten durch A. Popescu, L.‑E. Batagoi, M.‑L. Colonescu, A.‑R. Arşinel und J. S. Smaranda, dann durch die vier Letztgenannten, als Bevollmächtigte,

Beklagter,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.‑C. Bonichot, der Richter K. Schiemann und L. Bay Larsen (Berichterstatter), der Richterin C. Toader sowie des Richters A. Prechal,

Generalanwältin: J. Kokott,

Kanzler: R. Şereş, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 13. Januar 2011,

aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Mit ihrer Klage beantragt die Kommission beim Gerichtshof die Feststellung, dass Rumänien dadurch gegen Art. 4 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 79/409/EWG des Rates vom 2. April 1979 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten (ABl. L 103, S. 1, im Folgenden: Vogelschutzrichtlinie) verstoßen hat, dass es zahlen- und flächenmäßig nicht hinreichend Gebiete als besondere Schutzgebiete ausgewiesen hat, um einen angemessenen Schutz aller in Anhang I dieser Richtlinie aufgeführten Vogelarten sowie der in dem genannten Anhang nicht aufgeführten Zugvogelarten sicherzustellen.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

2        Art. 4 Abs. 1 und 2 der Vogelschutzrichtlinie bestimmt:

„(1)      Auf die in Anhang I aufgeführten Arten sind besondere Schutzmaßnahmen hinsichtlich ihrer Lebensräume anzuwenden, um ihr Überleben und ihre Vermehrung in ihrem Verbreitungsgebiet sicherzustellen.

In diesem Zusammenhang ist Folgendes zu berücksichtigen:

a)      vom Aussterben bedrohte Arten,

b)      gegen bestimmte Veränderungen ihrer Lebensräume empfindliche Arten,

c)      Arten, die wegen ihres geringen Bestands oder ihrer beschränkten örtlichen Verbreitung als selten gelten,

d)      andere Arten, die aufgrund des spezifischen Charakters ihres Lebensraums einer besonderen Aufmerksamkeit bedürfen.

Bei den Bewertungen werden Tendenzen und Schwankungen der Bestände der Vogelarten berücksichtigt.

Die Mitgliedstaaten erklären insbesondere die für die Erhaltung dieser Arten zahlen‑ und flächenmäßig geeignetsten Gebiete zu [besonderen] Schutzgebieten, wobei die Erfordernisse des Schutzes dieser Arten in dem geografischen Meeres‑ und Landgebiet, in dem diese Richtlinie Anwendung findet, zu berücksichtigen sind.

(2)      Die Mitgliedstaaten treffen unter Berücksichtigung der Schutzerfordernisse in dem geografischen Meeres‑ und Landgebiet, in dem diese Richtlinie Anwendung findet, entsprechende Maßnahmen für die nicht in Anhang I aufgeführten, regelmäßig auftretenden Zugvogelarten hinsichtlich ihrer Vermehrungs‑, Mauser- und Überwinterungsgebiete sowie der Rastplätze in ihren Wanderungsgebieten. Zu diesem Zweck messen die Mitgliedstaaten dem Schutz der Feuchtgebiete und ganz besonders der international bedeutsamen Feuchtgebiete besondere Bedeutung bei.“

3        Der Vertrag über den Beitritt der Republik Bulgarien und Rumäniens zur Europäischen Union (ABl. 2005, L 157, S. 11) ist am 1. Januar 2007 in Kraft getreten. Nach Art. 53 der Akte über die Bedingungen des Beitritts der Republik Bulgarien und Rumäniens und die Anpassungen der Verträge, auf denen die Europäische Union beruht (ABl. 2005, L 157, S. 203), setzt Rumänien die erforderlichen Maßnahmen in Kraft, um den Richtlinien im Sinne von Art. 249 EG am Tag seines Beitritts nachzukommen, sofern in dieser Akte nicht eine andere Frist vorgesehen ist. In dem genannten Artikel ist außerdem vorgesehen, dass Rumänien der Kommission diese Maßnahmen spätestens bis zum Tag seines Beitritts oder gegebenenfalls innerhalb der in dieser Akte festgelegten Frist mitteilt.

4        Da diese Beitrittsakte weder eine Übergangszeit für die Ausweisung von besonderen Schutzgebieten nach Art. 4 Abs. 1 und 2 der Vogelschutzrichtlinie noch eine spezielle Frist für die Mitteilung der Maßnahmen zur Umsetzung dieser Richtlinie vorsah, musste Rumänien die Maßnahmen zur Durchführung der Richtlinie und insbesondere ihres Art. 4 Abs. 1 und 2 spätestens am Tag seines Beitritts erlassen und mitgeteilt haben.

 Vorverfahren

5        Da Rumänien das nach Art. 4 Abs. 1 und 2 der Vogelschutzrichtlinie erforderliche nationale Verzeichnis der besonderen Schutzgebiete nicht mitgeteilt hatte, war die Kommission der Ansicht, dass Rumänien dadurch gegen die von diesen Bestimmungen vorgesehene Verpflichtung verstoßen habe, dass es die geeigneten besonderen Schutzgebiete nicht ausgewiesen habe, und sandte ihm daher am 23. Oktober 2007 ein Mahnschreiben zu.

6        In diesem Mahnschreiben heißt es hierzu:

„Die rumänische Regierung hat der Kommission jedoch bis heute nicht das nationale Verzeichnis der Schutzgebiete mitgeteilt. Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass Rumänien seine Verpflichtung, die in Art. 4 Abs. 1 und 2 der Vogelschutzrichtlinie vorgesehenen Maßnahmen zu ergreifen, nicht erfüllt hat, da es die Ausweisung der einschlägigen besonderen Schutzgebiete nicht vorgenommen hat.

Die Kommission … ist daher der Auffassung, dass Rumänien, da es keine Ausweisung der zahlen- und flächenmäßig geeignetsten Gebiete als besondere Schutzgebiete für die in Anhang I der [Vogelschutzrichtlinie] aufgeführten Arten sowie anderer auf seinem Hoheitsgebiet regelmäßig auftretenden Zugvogelarten vorgenommen hat, die in Art. 4 Abs. 1 und 2 dieser Richtlinie vorgesehenen Verpflichtungen nicht erfüllt hat.“

7        In seiner Antwort vom 21. Dezember 2007 führte Rumänien aus, dass ein Regierungsbeschluss über die Ausweisung von besonderen Schutzgebieten gefasst und dieser Beschluss mit seinen Anhängen, die das Verzeichnis der besonderen Schutzgebiete enthielten, im Monitorul Oficial al României vom 31. Oktober 2007 veröffentlicht worden sei.

8        Da die Kommission der Ansicht war, dass die ausgewiesenen besonderen Schutzgebiete im Hinblick auf das Ziel, die in Anhang I der Vogelschutzrichtlinie aufgeführten Vogelarten sowie Zugvögel zu schützen, zahlen- und flächenmäßig nicht ausreichend seien, erließ sie am 23. September 2008 eine mit Gründen versehene Stellungnahme, mit der sie Rumänien aufforderte, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um dieser Stellungnahme nachzukommen.

9        Mit Schreiben vom 25. November 2008 antworteten die rumänischen Behörden auf die mit Gründen versehene Stellungnahme und machten u. a. geltend, dass die Kommission den Verfahrensgegenstand geändert habe, da im Mahnschreiben die Nichtübermittlung des Verzeichnisses der besonderen Schutzgebiete gerügt worden sei, während es in der mit Gründen versehenen Stellungnahme um die zahlen- und flächenmäßige unzureichende Ausweisung besonderer Schutzgebiete gegangen sei. Sie begründeten außerdem unter Vorlage von Dokumenten, weshalb bestimmte Flächen im jeweiligen Fall ganz oder teilweise nicht als besondere Schutzgebiete ausgewiesen worden seien.

10      Da die Kommission der Ansicht war, dass die Rumänien vorgeworfene Verletzung seiner Verpflichtungen fortdauere, hat sie am 15. Dezember 2009 die vorliegende Klage erhoben.

 Zur Klage

 Vorbringen der Verfahrensbeteiligten

11      Rumänien erhebt gegen die Klage eine Einrede der Unzulässigkeit, die es damit begründet, dass die Kommission den Streitgegenstand verändert habe. Denn die Kommission habe Rumänien in ihrem Mahnschreiben vorgeworfen, das Verzeichnis der besonderen Schutzgebiete nicht mitgeteilt zu haben, während sie sich in der mit Gründen versehenen Stellungnahme auf die zahlen- und flächenmäßig unzureichende Ausweisung besonderer Schutzgebiete bezogen habe. Nach gefestigter Rechtsprechung des Gerichtshofs müssten aber der mit Gründen versehenen Stellungnahme dieselben Rügen zugrunde liegen wie die, die in dem Mahnschreiben erhoben worden seien.

12      Die Kommission habe zum ersten Mal in der mit Gründen versehenen Stellungnahme geltend gemacht, dass die ausgewiesenen besonderen Schutzgebiete zahlen- und flächenmäßig unzureichend seien, so dass die rumänischen Behörden weder einen Grund noch die Möglichkeit gehabt hätten, in ihrer Antwort auf das Mahnschreiben darzutun, dass die Ausweisung der Schutzgebiete ausreichend sei. Zudem sei Rumänien in der Zeit zwischen der Antwort auf das Mahnschreiben und der mit Gründen versehenen Stellungnahme im Ungewissen darüber gelassen worden, dass die erfolgte Ausweisung unzureichend sei, so dass es nicht in der Lage gewesen sei, ab Beginn des Vorverfahrens eine angemessene Verteidigung vorzubereiten.

13      Die Kommission entgegnet, sie habe in ihrem Mahnschreiben Rumänien dafür gerügt, dass es ihr das nach Art. 4 Abs. 1 und 2 der Vogelschutzrichtlinie erforderliche nationale Verzeichnis der besonderen Schutzgebiete nicht mitgeteilt und dadurch gegen die von diesen Bestimmungen vorgesehene Verpflichtung verstoßen habe, dass es keine geeigneten besonderen Schutzgebiete ausgewiesen habe. In der mit Gründen versehenen Stellungnahme habe sie, nachdem sie die nationalen Umsetzungsmaßnahmen bewertet habe, klargestellt, dass die als besondere Schutzgebiete ausgewiesenen Gebiete gemessen an den in Rede stehenden Bestimmungen zahlen- und flächenmäßig unzureichend seien. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs und insbesondere dem Urteil vom 30. November 2006, Kommission/Luxemburg (C‑32/05, Slg. 2006, I‑11323, Randnr. 56), sei die Rüge einer unvollständigen Umsetzung zwangsläufig in der des Fehlens jeglicher Umsetzung enthalten und gegenüber dieser subsidiär.

14      Außerdem müssten dem Mahnschreiben und der mit Gründen versehenen Stellungnahme zwar dieselben Rügen zugrunde liegen; dieses Verfahrenserfordernis könne aber nicht so weit gehen, dass eine vollständige Übereinstimmung verlangt werde, wenn der Streitgegenstand nicht erweitert oder geändert, sondern im Gegenteil eingeschränkt worden sei. Die Verteidigungsrechte Rumäniens seien somit nicht verletzt worden.

 Würdigung durch den Gerichtshof

15      Nach ständiger Rechtsprechung soll das Vorverfahren dem betroffenen Mitgliedstaat Gelegenheit geben, zum einen seinen unionsrechtlichen Verpflichtungen nachzukommen und sich zum anderen gegenüber den Rügen der Kommission wirksam zu verteidigen (vgl. u. a. Urteil vom 7. Juli 2005, Kommission/Österreich, C‑147/03, Slg. 2005, I-5969, Randnr. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung).

16      Die Gelegenheit zur Äußerung ist nämlich für den betroffenen Mitgliedstaat – selbst wenn er meint, von ihr keinen Gebrauch machen zu sollen – eine vom AEU-Vertrag gewollte wesentliche Garantie, und ihre Beachtung ist eine wesentliche Formvoraussetzung der Ordnungsmäßigkeit des Verfahrens auf Feststellung einer Pflichtverletzung eines Mitgliedstaats. (vgl. u. a. Urteil vom 15. Dezember 1982, Kommission/Dänemark, 211/81, Slg. 1982, 4547, Randnr. 9).

17      Im vorliegenden Fall hat die Kommission in ihrem Mahnschreiben Rumänien im Wesentlichen dafür gerügt, dass es ihr nicht das nationale Verzeichnis der Schutzgebiete mitgeteilt habe, und sich auf diese Rüge gestützt, um daraus die sehr allgemein gehaltene Schlussfolgerung abzuleiten, dass Rumänien seiner Verpflichtung zur Ausweisung geeigneter besonderer Schutzgebiete im Sinne von Art. 4 Abs. 1 und 2 der Vogelschutzrichtlinie nicht nachgekommen sei.

18      Rumänien hat der Kommission am 21. Dezember 2007, weniger als zwei Monate nach dem Erhalt des Mahnschreibens, das nationale Verzeichnis der von ihm zwischenzeitlich ausgewiesenen besonderen Schutzgebiete übermittelt, aus dem hervorgeht, dass es eine erhebliche Zahl besonderer Schutzgebiete nach Art. 4 Abs. 1 und 2 der Vogelschutzrichtlinie ausgewiesen hatte. Trotzdem hat die Kommission in einer am 23. September 2008 erlassenen mit Gründen versehenen Stellungnahme Rumänien unter ausführlicher Darlegung der Argumente eine gemessen an Art. 4 Abs. 1 und 2 der Vogelschutzrichtlinie zahlen- und flächenmäßig unzureichende Ausweisung besonderer Schutzgebiete vorgeworfen, ohne diesem Mitgliedstaat zuvor Gelegenheit gegeben zu haben, sich zu diesem Vorwurf zu äußern.

19      Die vorliegende Fallgestaltung unterscheidet sich somit klar von der von der Kommission angeführten, zu der das erwähnte Urteil Kommission/Luxemburg ergangen ist. Denn in der letztgenannten Rechtssache hatten die luxemburgischen Behörden im Verlauf des Vorverfahrens keine Maßnahme zur Umsetzung der in Rede stehenden Richtlinie erwähnt und lediglich zu verstehen gegeben, dass die zur Umsetzung erforderlichen Maßnahmen gerade erlassen würden. Erst nachdem die Kommission den Gerichtshof angerufen hatte, trug dieser Mitgliedstaat in seiner Klagebeantwortung vor, dass ein Gesetz erlassen worden sei, das eine ordnungsgemäße Umsetzung der in Rede stehenden Richtlinie gewährleiste. Unter diesen Umständen hat der Gerichtshof entschieden, dass der betroffene Mitgliedstaat, wenn das Vorverfahren sein Ziel, dessen Rechte zu schützen, erreicht hat, gegenüber der Kommission nicht den Vorwurf erheben kann, dass sie den durch dieses Vorverfahren eingegrenzten Streitgegenstand erweitert oder verändert habe; der Gerichtshof hat zur Begründung ausgeführt, dass die Kommission, nachdem sie dem Mitgliedstaat vorgeworfen hatte, eine Richtlinie mangelhaft umgesetzt zu haben, diese Rüge in ihrer Erwiderung dahin präzisiert hatte, dass die von dem betroffenen Mitgliedstaat in seiner Klagebeantwortung erstmals behauptete Umsetzung in Bezug auf einige Bestimmungen der in Rede stehenden Richtlinie nicht angemessen oder unzulänglich sei (Urteil Kommission/Luxemburg, Randnrn. 54 bis 56).

20      In Anbetracht der vorstehend genannten Gesichtspunkte ist daher festzustellen, dass das Mahnschreiben die Pflichtverletzung, die Rumänien anschließend in der mit Gründen versehenen Stellungnahme vorgeworfen wurde, nicht hinreichend beschrieben und das Vorverfahren seinen Zweck nicht erreicht hat, das Recht des betroffenen Mitgliedstaats, sich zu den von der Kommission erhobenen Rügen zu äußern, zu gewährleisten, so dass die Klage für unzulässig zu erklären ist.

 Kosten

21      Nach Art. 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da Rumänien die Verurteilung der Kommission beantragt hat und diese unterlegen ist, sind ihr die Kosten aufzuerlegen.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt und entschieden:

1.      Die Klage wird als unzulässig abgewiesen.

2.      Die Europäische Kommission trägt die Kosten.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Rumänisch.