Language of document : ECLI:EU:C:2024:524

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

18. Juni 2024(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Gemeinsame Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes – Richtlinie 2013/32/EU – Art. 33 Abs. 2 Buchst. a – Unmöglichkeit für die Behörden eines Mitgliedstaats, einen Asylantrag als unzulässig abzulehnen, weil die Flüchtlingseigenschaft zuvor in einem anderen Mitgliedstaat zuerkannt wurde – Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Gefahr, in diesem anderen Mitgliedstaat einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu werden – Prüfung des Asylantrags durch diese Behörden trotz Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in dem anderen Mitgliedstaat – Richtlinie 2011/95/EU – Art. 4 – Individuelle Prüfung“

In der Rechtssache C‑753/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesverwaltungsgericht (Deutschland) mit Beschluss vom 7. September 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 12. Dezember 2022, in dem Verfahren

QY

gegen

Bundesrepublik Deutschland

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentin K. Jürimäe (Berichterstatterin), der Kammerpräsidenten E. Regan, T. von Danwitz und Z. Csehi, der Kammerpräsidentin O. Spineanu-Matei, der Richter M. Ilešič, J.‑C. Bonichot, S. Rodin, I. Jarukaitis und A. Kumin, der Richterin M. L. Arastey Sahún und des Richters M. Gavalec,

Generalanwältin: L. Medina,

Kanzler: K. Hötzel, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 26. September 2023,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von QY, vertreten durch Rechtsanwalt S. Kellmann,

–        der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller, A. Hoesch und R. Kanitz als Bevollmächtigte,

–        der belgischen Regierung, vertreten durch M. Jacobs, A. Van Baelen und M. Van Regemorter als Bevollmächtigte,

–        der tschechischen Regierung, vertreten durch A. Edelmannová, M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,

–        Irlands, vertreten durch M. Browne, Chief State Solicitor, A. Joyce und D. O’Reilly als Bevollmächtigte im Beistand von A. McMahon, BL,

–        der griechischen Regierung, vertreten durch G. Karipsiadis und T. Papadopoulou als Bevollmächtigte,

–        der französischen Regierung, vertreten durch R. Bénard, O. Duprat-Mazaré, B. Fodda und J. Illouz als Bevollmächtigte,

–        der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von W. Ferrante, Avvocato dello Stato,

–        der luxemburgischen Regierung, vertreten durch A. Germeaux, J. Reckinger und T. Schell als Bevollmächtigte,

–        der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und H. S. Gijzen als Bevollmächtigte,

–        der österreichischen Regierung, vertreten durch A. Posch, J. Schmoll und M. Kopetzki als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Azéma, J. Hottiaux und H. Leupold als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 25. Januar 2024

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. 2013, L 180, S. 31), Art. 4 Abs. 1 Satz 2 und Art. 13 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9) sowie Art. 10 Abs. 2 und 3 und Art. 33 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. 2013, L 180, S. 60).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen QY, einer syrischen Staatsangehörigen, der in Griechenland die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde, und der Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Deutschland) (im Folgenden: Bundesamt), wegen dessen Entscheidung, den Antrag von QY auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft abzulehnen.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

 Verordnung Nr. 604/2013

3        Der sechste Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 604/2013 lautet:

„Die erste Phase auf dem Weg zu einem [Gemeinsamen Europäischen Asylsystem], das auf längere Sicht zu einem gemeinsamen Verfahren und einem unionsweit geltenden einheitlichen Status für die Personen, denen internationaler Schutz gewährt wird, führen soll, ist nun abgeschlossen. …“

4        Art. 1 der Verordnung definiert ihren Gegenstand wie folgt:

„Diese Verordnung legt die Kriterien und Verfahren fest, die bei der Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, zur Anwendung gelangen (im Folgenden ‚zuständiger Mitgliedstaat‘).“

5        Art. 3 Abs. 1 der Verordnung bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten prüfen jeden Antrag auf internationalen Schutz, den ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einschließlich an der Grenze oder in den Transitzonen stellt. Der Antrag wird von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III als zuständiger Staat bestimmt wird.“

 Richtlinie 2011/95

6        Die Erwägungsgründe 7 und 9 bis 13 der Richtlinie 2011/95 lauten:

„(7)      Die erste Phase auf dem Weg zum Gemeinsamen Europäischen Asylsystem ist nun abgeschlossen. …

(9)      Im Programm von Stockholm hat der Europäische Rat wiederholt sein Ziel betont, bis spätestens 2012 auf der Grundlage eines gemeinsamen Asylverfahrens und eines einheitlichen Status gemäß Artikel 78 … AEUV … für Personen, denen internationaler Schutz gewährt wurde, einen gemeinsamen Raum des Schutzes und der Solidarität zu errichten.

(10)      Angesichts der Bewertungsergebnisse empfiehlt es sich in dieser Phase, die der Richtlinie 2004/83/EG [des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2004, L 304, S. 12)] zugrunde liegenden Prinzipien zu bestätigen sowie eine stärkere Angleichung der Vorschriften zur Zuerkennung und zum Inhalt des internationalen Schutzes auf der Grundlage höherer Standards anzustreben.

(11)      Die Bemühungen der Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der für die zweite Phase des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems vorgegebenen Standards, insbesondere die Bemühungen der Mitgliedstaaten, deren Asylsystem vor allem aufgrund ihrer geografischen oder demografischen Lage einem besonderen und unverhältnismäßigen Druck ausgesetzt ist, sollten mit Mitteln des Europäischen Flüchtlingsfonds und des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen [(EASO)] in geeigneter Weise unterstützt werden.

(12)      Das wesentliche Ziel dieser Richtlinie besteht darin, einerseits zu gewährleisten, dass die Mitgliedstaaten gemeinsame Kriterien zur Bestimmung der Personen anwenden, die tatsächlich Schutz benötigen, und andererseits sicherzustellen, dass diesen Personen in allen Mitgliedstaaten ein Mindestniveau von Leistungen geboten wird.

(13)      Die Angleichung der Rechtsvorschriften über die Zuerkennung und den Inhalt der Flüchtlingseigenschaft und des subsidiären Schutzes sollte dazu beitragen, die Sekundärmigration von Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, zwischen Mitgliedstaaten einzudämmen, soweit sie ausschließlich auf unterschiedlichen Rechtsvorschriften beruht.“

7        Art. 1 der Richtlinie 2011/95 definiert ihren Zweck wie folgt:

„Zweck dieser Richtlinie ist es, Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen, die Anspruch auf subsidiären Schutz haben, sowie für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes festzulegen.“

8        Art. 3 („Günstigere Normen“) der Richtlinie lautet:

„Die Mitgliedstaaten können günstigere Normen zur Entscheidung darüber, wer als Flüchtling oder Person gilt, die Anspruch auf subsidiären Schutz hat, und zur Bestimmung des Inhalts des internationalen Schutzes erlassen oder beibehalten, sofern sie mit dieser Richtlinie vereinbar sind.“

9        Kapitel II („Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz“) der Richtlinie umfasst die Art. 4 bis 8. In Art. 4 („Prüfung der Tatsachen und Umstände“) der Richtlinie heißt es:

„(1)      Die Mitgliedstaaten können es als Pflicht des Antragstellers betrachten, so schnell wie möglich alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte darzulegen. Es ist Pflicht des Mitgliedstaats, unter Mitwirkung des Antragstellers die für den Antrag maßgeblichen Anhaltspunkte zuprüfen.

(3)      Die Anträge auf internationalen Schutz sind individuell zu prüfen, wobei Folgendes zu berücksichtigen ist:

a)      alle mit dem Herkunftsland verbundenen Tatsachen, die zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag relevant sind, einschließlich der Rechts- und Verwaltungsvorschriften des Herkunftslandes und der Weise, in der sie angewandt werden;

b)      die maßgeblichen Angaben des Antragstellers und die von ihm vorgelegten Unterlagen, einschließlich Informationen zu der Frage, ob er verfolgt worden ist bzw. verfolgt werden könnte oder einen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. erleiden könnte;

c)      die individuelle Lage und die persönlichen Umstände des Antragstellers, einschließlich solcher Faktoren wie familiärer und sozialer Hintergrund, Geschlecht und Alter, um bewerten zu können, ob in Anbetracht seiner persönlichen Umstände die Handlungen, denen er ausgesetzt war oder ausgesetzt sein könnte, einer Verfolgung oder einem sonstigen ernsthaften Schaden gleichzusetzen sind;

d)      die Frage, ob die Aktivitäten des Antragstellers seit Verlassen des Herkunftslandes ausschließlich oder hauptsächlich aufgenommen wurden, um die für die Beantragung von internationalem Schutz erforderlichen Voraussetzungen zu schaffen, damit bewertet werden kann, ob der Antragsteller im Fall einer Rückkehr in dieses Land aufgrund dieser Aktivitäten verfolgt oder ernsthaften Schaden erleiden würde;

e)      die Frage, ob vom Antragsteller vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er den Schutz eines anderen Staates in Anspruch nimmt, dessen Staatsangehörigkeit er für sich geltend machen könnte.

…“

10      Kapitel III („Anerkennung als Flüchtling“) der Richtlinie 2011/95 umfasst die Art. 9 bis 12. In den Art. 11 und 12 der Richtlinie ist geregelt, in welchen Fällen ein Drittstaatsangehöriger oder ein Staatenloser nicht mehr Flüchtling ist bzw. von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen ist.

11      Die Art. 13 und 14 der Richtlinie sind in deren Kapitel IV („Flüchtlingseigenschaft“) enthalten.

12      Art. 13 der Richtlinie lautet:

„Die Mitgliedstaaten erkennen einem Drittstaatsangehörigen oder einem Staatenlosen, der die Voraussetzungen der Kapitel II und III erfüllt, die Flüchtlingseigenschaft zu.“

13      In Art. 14 („Aberkennung, Beendigung oder Ablehnung der Verlängerung der Flüchtlingseigenschaft“) der Richtlinie heißt es:

„(1)      Bei Anträgen auf internationalen Schutz, die nach Inkrafttreten der Richtlinie [2004/83] gestellt wurden, erkennen die Mitgliedstaaten einem Drittstaatsangehörigen oder einem Staatenlosen die von einer Regierungs- oder Verwaltungsbehörde, einem Gericht oder einer gerichtsähnlichen Behörde zuerkannte Flüchtlingseigenschaft ab, beenden diese oder lehnen ihre Verlängerung ab, wenn er gemäß Artikel 11 nicht länger Flüchtling ist.

(2)      Unbeschadet der Pflicht des Flüchtlings, gemäß Artikel 4 Absatz 1 alle maßgeblichen Tatsachen offen zu legen und alle maßgeblichen, ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen vorzulegen, weist der Mitgliedstaat, der ihm die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hat, in jedem Einzelfall nach, dass die betreffende Person gemäß Absatz 1 dieses Artikels nicht länger Flüchtling ist oder es nie gewesen ist.

(3)      Die Mitgliedstaaten erkennen einem Drittstaatsangehörigen oder einem Staatenlosen die Flüchtlingseigenschaft ab, beenden diese oder lehnen ihre Verlängerung ab, falls der betreffende Mitgliedstaat nach Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft feststellt, dass

a)      die Person gemäß Artikel 12 von der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft hätte ausgeschlossen werden müssen oder ausgeschlossen ist;

…“

14      Kapitel VII („Inhalt des internationalen Schutzes“) der Richtlinie 2011/95 umfasst die Art. 20 bis 35. Art. 29 („Sozialhilfeleistungen“) Abs. 1 der Richtlinie lautet:

„Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt worden ist, in dem Mitgliedstaat, der diesen Schutz gewährt hat, die notwendige Sozialhilfe wie Staatsangehörige dieses Mitgliedstaats erhalten.“

15      Art. 36 Abs. 2 der Richtlinie bestimmt:

„In Abstimmung mit der [Europäischen] Kommission treffen die Mitgliedstaaten die geeigneten Maßnahmen, um eine unmittelbare Zusammenarbeit und einen Informationsaustausch zwischen den zuständigen Behörden herzustellen.“

 Richtlinie 2013/32

16      Die Erwägungsgründe 4, 12, 13 und 43 der Richtlinie 2013/32 lauten:

„(4)      Nach den Schlussfolgerungen von Tampere sollte ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem auf kurze Sicht gemeinsame Standards für ein gerechtes und wirksames Asylverfahren in den Mitgliedstaaten umfassen; auf längere Sicht sollten die Regeln der Union zu einem gemeinsamen Asylverfahren in der Union führen.

(12)      Hauptziel dieser Richtlinie ist die Weiterentwicklung der Normen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung internationalen Schutzes im Hinblick auf die Einführung eines gemeinsamen Asylverfahrens in der Union.

(13)      Die Angleichung der Rechtsvorschriften über die Verfahren zur Zuerkennung und Aberkennung internationalen Schutzes soll dazu beitragen, die Sekundärmigration von Antragstellern zwischen Mitgliedstaaten, soweit sie auf rechtliche Unterschiede zurückzuführen ist, einzudämmen, und gleiche Bedingungen für die Anwendung der Richtlinie [2011/95] in den Mitgliedstaaten zu schaffen.

(43)      Die Mitgliedstaaten sollten alle Anträge in der Sache prüfen, d. h. beurteilen, ob der betreffende Antragsteller gemäß der Richtlinie [2011/95] als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anerkannt werden kann, sofern die vorliegende Richtlinie nichts anderes vorsieht, insbesondere dann, wenn vernünftigerweise davon ausgegangen werden kann, dass ein anderer Staat den Antrag prüfen oder für einen ausreichenden Schutz sorgen würde. Die Mitgliedstaaten sollten insbesondere nicht verpflichtet sein, einen Antrag auf internationalen Schutz in der Sache zu prüfen, wenn der erste Asylstaat dem Antragsteller die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hat oder ihm anderweitig ausreichenden Schutz gewährt und die Rückübernahme des Antragstellers in diesen Staat gewährleistet ist.“

17      Der Zweck der Richtlinie 2013/32 wird in ihrem Art. 1 wie folgt definiert:

„Mit dieser Richtlinie werden gemeinsame Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes gemäß der Richtlinie [2011/95] eingeführt.“

18      Art. 5 („Günstigere Bestimmungen“) der Richtlinie 2013/32 lautet:

„Die Mitgliedstaaten können bei den Verfahren zur Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes günstigere Bestimmungen einführen oder beibehalten, soweit diese Bestimmungen mit dieser Richtlinie vereinbar sind.“

19      Art. 10 Abs. 2 und 3 der Richtlinie bestimmt:

„(2)      Bei der Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz stellt die Asylbehörde zuerst fest, ob der Antragsteller die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling erfüllt; ist dies nicht der Fall, wird festgestellt, ob der Antragsteller Anspruch auf subsidiären Schutz hat.

(3)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Asylbehörde ihre Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz nach angemessener Prüfung trifft. Zu diesem Zweck stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass

a)      die Anträge einzeln, objektiv und unparteiisch geprüft und entschieden werden;

b)      genaue und aktuelle Informationen aus verschiedenen Quellen, wie etwa EASO und [dem Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR)] sowie einschlägigen internationalen Menschenrechtsorganisationen, eingeholt werden, die Aufschluss geben über die allgemeine Lage in den Herkunftsstaaten der Antragsteller und gegebenenfalls in den Staaten, durch die sie gereist sind, und diese Informationen den für die Prüfung und Entscheidung der Anträge zuständigen Bediensteten zur Verfügung stehen;

c)      die für die Prüfung und Entscheidung der Anträge zuständigen Bediensteten die anzuwendenden Standards im Bereich Asyl- und Flüchtlingsrecht kennen;

d)      die für die Prüfung und Entscheidung der Anträge zuständigen Bediensteten die Möglichkeit erhalten, in bestimmten, unter anderem medizinischen, kulturellen, religiösen, kinder- oder geschlechtsspezifischen Fragen, den Rat von Sachverständigen einzuholen, wann immer dies erforderlich ist.“

20      In Art. 33 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie heißt es:

„(1)      Zusätzlich zu den Fällen, in denen nach Maßgabe der Verordnung … Nr. 604/2013 ein Antrag nicht geprüft wird, müssen die Mitgliedstaaten nicht prüfen, ob dem Antragsteller der internationale Schutz im Sinne der Richtlinie [2011/95] zuzuerkennen ist, wenn ein Antrag auf der Grundlage des vorliegenden Artikels als unzulässig betrachtet wird.

(2)      Die Mitgliedstaaten können einen Antrag auf internationalen Schutz nur dann als unzulässig betrachten, wenn

a)      ein anderer Mitgliedstaat internationalen Schutz gewährt hat …“

21      In den Art. 44 und 45 der Richtlinie 2013/32 werden die Verfahren zur Aberkennung des internationalen Schutzes festgelegt.

22      Art. 49 Abs. 2 der Richtlinie lautet:

„Die Mitgliedstaaten treffen in Abstimmung mit der Kommission alle zweckdienlichen Vorkehrungen für eine direkte Zusammenarbeit und einen Informationsaustausch zwischen den zuständigen Behörden.“

 Deutsches Recht

23      In § 1 Abs. 1 Nr. 2 des Asylgesetzes (AsylG) vom 26. Juni 1992 (BGBl. 1992 I S. 1126) in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 (BGBl. 2008 I S. 1798), zuletzt geändert durch Art. 9 des Gesetzes zur Weiterentwicklung des Ausländerzentralregisters vom 9. Juli 2021 (BGBl. 2021 I S. 2467) (im Folgenden: AsylG), heißt es:

„(1)      Dieses Gesetz gilt für Ausländer, die Folgendes beantragen:

2.      internationalen Schutz nach der Richtlinie [2011/95].“

24      § 29 („Unzulässige Anträge“) Abs. 1 Nr. 2 AsylG bestimmt:

„Ein Asylantrag ist unzulässig, wenn …

2.      ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Absatz 1 Nummer 2 gewährt hat …“

25      § 60 Abs. 1 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz – AufenthG) vom 30. Juli 2004 (BGBl. 2004 I S. 1950) in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl. 2008 I S. 162), zuletzt geändert durch Art. 4a des Gesetzes zur Regelung eines Sofortzuschlages und einer Einmalzahlung in den sozialen Mindestsicherungssystemen sowie zur Änderung des Finanzausgleichsgesetzes und weiterer Gesetze vom 23. Mai 2022 (BGBl. 2022 I S. 760) (im Folgenden: AufenthG), bestimmt:

„In Anwendung des Abkommens … über die Rechtsstellung der Flüchtlinge[, das am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichnet wurde und am 22. April 1954 in Kraft getreten ist (United Nations Treaty Series, Bd. 189, S. 150, Nr. 2545 [1954])] (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

26      QY, einer syrischen Staatsangehörigen, wurde 2018 in Griechenland die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt.

27      Zu einem vom vorlegenden Gericht nicht angegebenen Zeitpunkt stellte sie in Deutschland einen Antrag auf internationalen Schutz.

28      Nach einer rechtskräftigen Entscheidung eines deutschen Verwaltungsgerichts, die in dem Vorabentscheidungsersuchen ohne Datum angeführt wird, würde QY in Griechenland die ernsthafte Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) drohen, so dass sie nicht dorthin zurückkehren könne.

29      Das Bundesamt lehnte ihren Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft mit Bescheid vom 1. Oktober 2019 ab, gewährte ihr aber subsidiären Schutz.

30      Die von QY gegen diesen Bescheid erhobene Klage wurde von dem angerufenen Verwaltungsgericht abgewiesen. Nach dessen Auffassung war der Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unbegründet, weil QY in Syrien keine Verfolgung drohe.

31      QY legte daraufhin eine vom Verwaltungsgericht zugelassene Sprungrevision beim Bundesverwaltungsgericht (Deutschland), dem vorlegenden Gericht, ein. Zu deren Begründung macht sie geltend, dass das Bundesamt an die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft durch die griechischen Behörden gebunden sei.

32      Das vorlegende Gericht erläutert, dass das Verwaltungsgericht zu einer Sachentscheidung über den Antrag von QY auf internationalen Schutz verpflichtet gewesen sei. Der Antrag könne nämlich nicht wegen der vorherigen Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in Griechenland für unzulässig erklärt werden, da QY dort die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta drohe.

33      In der Sache steht dem vorlegenden Gericht zufolge fest, dass QY die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht erfülle. Außerdem bestehe gemäß § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG die Rechtswirkung der Entscheidung der griechischen Behörden über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft allein darin, dass der betreffende Flüchtling nicht in den Staat abgeschoben werden dürfe, aus dem er geflohen sei. Dagegen begründe eine solche Entscheidung nach deutschem Recht keinen Anspruch auf eine neuerliche Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Auch entfalte diese Entscheidung über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach deutschem Recht keine Bindungswirkung, die dazu führen würde, dass die deutschen Behörden, die ausnahmsweise zur erneuten Durchführung eines Asylverfahrens verpflichtet seien, dem Betroffenen die Flüchtlingseigenschaft in diesem Verfahren zuerkennen müssten.

34      Unter diesen Umständen ist nach Auffassung des vorlegenden Gerichts zu klären, ob das Unionsrecht es dem Bundesamt verwehrt, eine eigenständige neue Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz vorzunehmen, und verlangt, dass die in einem anderen Mitgliedstaat ergangene Entscheidung über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft eine Bindungswirkung für das Bundesamt entfaltet.

35      Insoweit führt das vorlegende Gericht erstens aus, dass das Primärrecht der Union, insbesondere Art. 78 AEUV, eine solche Wirkung nicht rechtfertigen könne. Aus dem Primärrecht der Union ergebe sich kein Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung von Entscheidungen über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Folglich sei, da es bislang keinen einheitlichen internationalen Schutzstatus gebe, die Prüfung der materiellen Voraussetzungen eines Antrags auf internationalen Schutz Sache des damit befassten Mitgliedstaats.

36      Auch der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens könne die gegenseitige Anerkennung solcher Entscheidungen nicht rechtfertigen. Im Übrigen sei dieses Vertrauen vorliegend wegen der ernsthaften Gefahr für die Betroffene, in dem Mitgliedstaat, der ihr internationalen Schutz gewährt habe, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta ausgesetzt zu werden, erschüttert worden.

37      Zweitens weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass das Sekundärrecht der Union keine Vorschrift enthalte, die ausdrücklich vorsähe, dass die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft durch einen Mitgliedstaat Bindungswirkung für das Asylverfahren in einem anderen Mitgliedstaat entfalte.

38      Gleichwohl stelle sich die Frage, ob der in Art. 3 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung Nr. 604/2013 genannte Grundsatz einer einzigen Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz oder auch die Bestimmungen von Art. 4 Abs. 1 Satz 2 und Art. 13 der Richtlinie 2011/95 bedeuten könnten, dass die von einem Mitgliedstaat zuerkannte Flüchtlingseigenschaft in allen anderen Mitgliedstaaten ohne erneute Prüfung anzuerkennen sei.

39      In diesem Kontext sei unklar, welche Rechtsfolgen sich daraus ergäben, wenn im Fall einer ernsthaften Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 4 der Charta in dem Mitgliedstaat, der internationalen Schutz gewährt habe, bei einem anderen Mitgliedstaat, der mit einem neuen Antrag auf internationalen Schutz befasst sei, die Befugnis wegfalle, diesen Antrag gemäß Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32 als unzulässig abzulehnen. Dieser andere Mitgliedstaat müsse den Antragsteller wie eine Person behandeln, die erstmals einen Antrag stelle, und eine erneute Prüfung vornehmen, ohne an die Feststellungen der von dem ersten Mitgliedstaat zuvor getroffenen Entscheidung, mit der die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden sei, gebunden zu sein.

40      Ein solcher Ansatz könne jedoch bedeuten, dass die speziellen Regeln für das Erlöschen, den Ausschluss und die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß den Art. 11, 12 und 14 der Richtlinie 2011/95 umgangen würden. Allerdings drohe vorliegend keine Verschlechterung der Rechtsstellung der Betroffenen, die jedenfalls nicht in ihren Herkunftsstaat abgeschoben werden könne, da das Bundesamt ihr subsidiären Schutz gewährt habe.

41      Drittens sei fraglich, wie Rn. 42 des Beschlusses vom 13. November 2019, Hamed und Omar (C‑540/17 und C‑541/17, EU:C:2019:964), zu verstehen sei. Dass dort von einem „neuen“ Asylverfahren die Rede sei, könne für eine erneute Prüfung sprechen, während die Ausführungen zu den mit der Flüchtlingseigenschaft verbundenen Rechten eine Anerkennung des bereits von einem anderen Mitgliedstaat zuerkannten Status implizieren könnten.

42      Unter diesen Umständen hat das Bundesverwaltungsgericht beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Sind in einem Fall, in dem ein Mitgliedstaat von der durch Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32 eingeräumten Befugnis, einen Antrag auf internationalen Schutz im Hinblick auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in einem anderen Mitgliedstaat als unzulässig abzulehnen, keinen Gebrauch machen darf, weil die Lebensverhältnisse in diesem Mitgliedstaat den Antragsteller der ernsthaften Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta aussetzen würden, Art. 3 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung Nr. 604/2013, Art. 4 Abs. 1 Satz 2 und Art. 13 der Richtlinie 2011/95 sowie Art. 10 Abs. 2 und 3, Art. 33 Abs. 1 und 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32 dahin auszulegen, dass die bereits erfolgte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft den Mitgliedstaat daran hindert, den bei ihm gestellten Antrag auf internationalen Schutz ergebnisoffen zu prüfen, und ihn dazu verpflichtet, ohne Untersuchung der materiellen Voraussetzungen dieses Schutzes dem Antragsteller die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen?

 Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens

43      Irland macht geltend, das Vorabentscheidungsersuchen sei unzulässig, da die ersuchte Auslegung unter die sogenannte „Lehre vom acte clair“ falle. Das Unionsrecht enthalte nach seinem derzeitigen Stand keine Vorschrift, wonach die Mitgliedstaaten ihre Entscheidungen über die Gewährung von internationalem Schutz gegenseitig anerkennen.

44      Nach ständiger Rechtsprechung spricht eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen des nationalen Gerichts, die es zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festlegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. Der Gerichtshof kann die Entscheidung über ein Vorabentscheidungsersuchen eines nationalen Gerichts nur dann ablehnen, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn er nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 8. November 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Von Amts wegen erfolgende Prüfung der Haft], C‑704/20 und C‑39/21, EU:C:2022:858, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung).

45      Vorliegend geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen eindeutig hervor, dass die Vorlagefrage durchaus die Auslegung unionsrechtlicher Vorschriften betrifft, die für den Ausgangsrechtsstreit maßgeblich sind. Ob die ersuchte Auslegung, wie von Irland geltend gemacht, offenkundig ist, ist im Zuge der Beantwortung der Vorlage zu prüfen, so dass, selbst wenn dies zu bejahen wäre, die Vermutung der Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage dadurch nicht widerlegt würde.

46      Abgesehen davon ist es einem nationalen Gericht keineswegs untersagt, dem Gerichtshof eine Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen, deren Beantwortung keinen Raum für vernünftige Zweifel lässt. Daher ist ein Vorabentscheidungsersuchen mit einer solchen Frage, selbst wenn dem so sein sollte, nicht schon deshalb unzulässig (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. März 2023, Vapo Atlantic, C‑604/21, EU:C:2023:175, Rn. 33).

47      Folglich ist das Vorabentscheidungsersuchen zulässig.

 Zur Vorlagefrage

48      Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 604/2013, Art. 4 Abs. 1 und Art. 13 der Richtlinie 2011/95 sowie Art. 10 Abs. 2 und 3 und Art. 33 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32 dahin auszulegen sind, dass die zuständige Behörde eines Mitgliedstaats, wenn sie von der durch die letztere Bestimmung eingeräumten Befugnis, einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen, keinen Gebrauch machen kann, weil der Antragsteller in einem anderen Mitgliedstaat, der ihm bereits einen solchen Schutz zuerkannt hat, der ernsthaften Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta ausgesetzt wäre, verpflichtet ist, dem Antragsteller die Flüchtlingseigenschaft allein deshalb zuzuerkennen, weil ihm diese Eigenschaft bereits von dem anderen Mitgliedstaat zuerkannt worden ist, oder ob sie eine neue eigenständige Prüfung dieses Antrags in der Sache vornehmen darf.

49      Einleitend ist darauf hinzuweisen, dass gemäß Art. 33 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 die Mitgliedstaaten zusätzlich zu den Fällen, in denen nach Maßgabe der Verordnung Nr. 604/2013 ein Antrag nicht geprüft wird, nicht prüfen müssen, ob dem Antragsteller der internationale Schutz im Sinne der Richtlinie 2011/95 zuzuerkennen ist, wenn ein Antrag auf der Grundlage dieses Artikels als unzulässig betrachtet wird. Art. 33 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 zählt abschließend die Situationen auf, in denen die Mitgliedstaaten einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig betrachten können (Urteile vom 19. März 2019, Ibrahim u. a., C‑297/17, C‑318/17, C‑319/17 und C‑438/17, EU:C:2019:219, Rn. 76, und vom 22. Februar 2022, Commissaire général aux réfugiés et aux apatrides [Familienverband – bereits gewährter Schutz], C‑483/20, EU:C:2022:103, Rn. 23).

50      Insoweit besteht der Zweck von Art. 33 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32, wie sich aus ihrem 43. Erwägungsgrund ergibt, darin, die Pflicht der Mitgliedstaaten, jeden Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, dadurch zu lockern, dass Situationen definiert werden, in denen ein solcher Antrag als unzulässig zu betrachten ist. Unter Berücksichtigung dieses Zwecks stellt diese Bestimmung in ihrer Gesamtheit eine Ausnahme von der besagten Pflicht dar (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. August 2022, Bundesrepublik Deutschland [Außerhalb des Aufnahmestaats geborenes Kind von Flüchtlingen], C‑720/20, EU:C:2022:603, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).

51      Zu diesen Situationen gehört der in Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32 genannte Fall, dass ein anderer Mitgliedstaat bereits internationalen Schutz gewährt hat. Wenden die Mitgliedstaaten diesen Unzulässigkeitsgrund in einer solchen Situation an, sind sie daher von der in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils genannten Verpflichtung befreit (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Februar 2022, Commissaire général aux réfugiés et aux apatrides [Familienverband – bereits gewährter Schutz], C‑483/20, EU:C:2022:103, Rn. 23 und 24).

52      Der Gerichtshof hat allerdings entschieden, dass die Behörden eines Mitgliedstaats ausnahmsweise von der ihnen durch Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32 eingeräumten Befugnis, einen Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft als unzulässig abzulehnen, weil dem Antragsteller in einem anderen Mitgliedstaat bereits internationaler Schutz gewährt worden ist, keinen Gebrauch machen dürfen, wenn sie zu dem Ergebnis gelangt sind, dass der Antragsteller einer ernsthaften Gefahr ausgesetzt wäre, aufgrund der Lebensumstände, die ihn in dem anderen Mitgliedstaat als international Schutzberechtigten erwarten würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta zu erfahren (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. März 2019, Ibrahim u. a., C‑297/17, C‑318/17, C‑319/17 und C‑438/17, EU:C:2019:219, Rn. 92, Beschluss vom 13. November 2019, Hamed und Omar, C‑540/17 und C‑541/17, EU:C:2019:964, Rn. 35, und Urteil vom 22. Februar 2022, Commissaire général aux réfugiés et aux apatrides [Familienverband – bereits gewährter Schutz], C‑483/20, EU:C:2022:103, Rn. 32 und 34).

53      Da nämlich die in Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32 vorgesehene Befugnis im Rahmen des durch diese Richtlinie errichteten gemeinsamen Asylverfahrens eine Ausprägung des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens darstellt, der die Mitgliedstaaten im Kontext des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems zu der Vermutung berechtigt und verpflichtet, dass die Behandlung der Personen, die internationalen Schutz beantragen, in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta steht, insbesondere ihren Art. 1 und 4, in denen einer der Grundwerte der Union und ihrer Mitgliedstaaten verankert ist, wären diese Vermutung und die Ausübung der daraus folgenden Befugnis nicht gerechtfertigt, wenn erwiesen wäre, dass dies in Wirklichkeit in einem bestimmten Mitgliedstaat nicht der Fall ist (Urteil vom 19. März 2019, Ibrahim u. a., C‑297/17, C‑318/17, C‑319/17 und C‑438/17, EU:C:2019:219, Rn. 83 bis 86, und Beschluss vom 13. November 2019, Hamed und Omar, C‑540/17 und C‑541/17, EU:C:2019:964, Rn. 41).

54      Insoweit ist festzustellen, dass die in Rn. 52 des vorliegenden Urteils genannten Schwachstellen eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen müssen, die von sämtlichen Umständen des Falls abhängt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. März 2019, Ibrahim u. a., C‑297/17, C‑318/17, C‑319/17 und C‑438/17, EU:C:2019:219, Rn. 89 bis 91).

55      In Anbetracht dieser Rechtsprechung ist das vorlegende Gericht unsicher, ob die Behörde eines Mitgliedstaats, wenn es ihr nicht möglich ist, einen bei ihr gestellten Antrag auf internationalen Schutz gemäß Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32 für unzulässig zu erklären, die Begründetheit dieses Antrags prüfen kann, ohne daran gebunden zu sein, dass ein anderer Mitgliedstaat dem Antragsteller bereits internationalen Schutz gewährt hat.

56      Zur Beantwortung der Vorlagefrage ist als Erstes festzustellen, dass das Unionsrecht im Bereich des internationalen Schutzes die Mitgliedstaaten nach derzeitigen Stand nicht ausdrücklich verpflichtet, die von einem anderen Mitgliedstaat erlassenen Entscheidungen über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft automatisch anzuerkennen.

57      Nach Art. 78 Abs. 1 AEUV soll mit der von der Union entwickelten gemeinsamen Asylpolitik jedem Drittstaatsangehörigen, der internationalen Schutz benötigt, ein angemessener Status angeboten und die Einhaltung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung gewährleistet werden. Die verschiedenen Aspekte des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems sind in Art. 78 Abs. 2 Buchst. a bis g AEUV aufgezählt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. September 2017, Slowakei und Ungarn/Rat, C‑643/15 und C‑647/15, EU:C:2017:631, Rn. 75).

58      Insbesondere sieht Art. 78 Abs. 2 Buchst. a AEUV vor, dass das Europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union Maßnahmen in Bezug auf ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem erlassen, das „einen in der ganzen Union gültigen einheitlichen Asylstatus für Drittstaatsangehörige“ umfasst.

59      Zwar bietet diese Bestimmung somit eine Rechtsgrundlage dafür, dass der Unionsgesetzgeber Rechtsakte der Union erlässt, die einen solchen einheitlichen Status umfassen, doch ist, wie die Generalanwältin in Nr. 48 ihrer Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, das Tätigwerden des Unionsgesetzgebers erforderlich, um sämtliche Rechte, die mit diesem Status verbunden sind, der von einem Mitgliedstaat gewährt und von allen anderen anerkannt wird sowie in der gesamten Union wirksam sein soll, konkret auszugestalten.

60      Insoweit ergibt sich aus den Erwägungsgründen der auf der Grundlage von Art. 78 Abs. 2 AEUV erlassenen Rechtsakte, insbesondere aus dem sechsten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 604/2013, den Erwägungsgründen 7 und 9 bis 11 der Richtlinie 2011/95 sowie den Erwägungsgründen 4 und 12 der Richtlinie 2013/32, dass der Unionsgesetzgeber in aufeinanderfolgenden Phasen schrittweise das Gemeinsame Europäische Asylsystem erschaffen möchte, das letztlich zu einem gemeinsamen Verfahren und einem unionsweit geltenden einheitlichen Flüchtlingsstatus führen soll.

61      So soll zunächst mit der auf der Grundlage von Art. 78 Abs. 2 Buchst. a und b AEUV erlassenen Richtlinie 2011/95, wie sich aus ihrem Art. 1 in Verbindung mit ihrem zwölften Erwägungsgrund ergibt, gewährleistet werden, dass die Mitgliedstaaten gemeinsame Kriterien zur Bestimmung der Personen anwenden, die tatsächlich internationalen Schutz benötigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. September 2018, Ahmed, C‑369/17, EU:C:2018:713, Rn. 37).

62      Was insbesondere die vom vorlegenden Gericht angeführten Bestimmungen der Richtlinie 2011/95 betrifft, legt Art. 4 der Richtlinie solche gemeinsamen Kriterien für die Prüfung der Tatsachen und Umstände im Rahmen der Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz fest und präzisiert in Abs. 1 Satz 2, dass es Pflicht des Mitgliedstaats ist, unter Mitwirkung des Antragstellers die für den Antrag maßgeblichen Anhaltspunkte zuprüfen. Nach Art. 13 der Richtlinie müssen die Mitgliedstaaten einem Drittstaatsangehörigen oder einem Staatenlosen, der die Voraussetzungen der Kapitel II und III erfüllt, die Flüchtlingseigenschaft zuerkennen.

63      Jedoch sind die Mitgliedstaaten weder nach diesen noch nach anderen Bestimmungen der Richtlinie 2011/95 verpflichtet, die von einem anderen Mitgliedstaat erlassenen Entscheidungen über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft automatisch anzuerkennen. Vielmehr beschränken einige Vorschriften dieser Richtlinie, wie der Sozialhilfeleistungen betreffende Art. 29 Abs. 1, bestimmte mit der Flüchtlingseigenschaft verbundene Rechte auf den Mitgliedstaat, der diesen Status zuerkannt hat.

64      Sodann werden mit der auf der Grundlage von Art. 78 Abs. 2 Buchst. d AEUV erlassenen Richtlinie 2013/32 nach ihrem Art. 1 „gemeinsame Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes gemäß der Richtlinie [2011/95] eingeführt“.

65      Der vom vorlegenden Gericht angeführte Art. 10 der Richtlinie 2013/32 legt die Anforderungen an die Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz fest, und nach seinem Abs. 2 stellt die Asylbehörde zuerst fest, ob der Antragsteller die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling erfüllt; ist dies nicht der Fall, wird festgestellt, ob der Antragsteller Anspruch auf subsidiären Schutz hat. Gemäß Art. 10 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 muss die Asylbehörde ihre Entscheidung nach angemessener Prüfung und unter Einhaltung der in dieser Bestimmung genannten Vorgaben treffen. Dagegen ist die Asylbehörde weder nach Art. 10 noch nach Art. 33 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32, dessen Inhalt in den Rn. 49 bis 51 des vorliegenden Urteils wiedergegeben ist, verpflichtet, die von einem anderen Mitgliedstaat erlassenen Entscheidungen über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft automatisch anzuerkennen.

66      Schließlich besteht der Gegenstand der auf der Grundlage von Art. 78 Abs. 2 Buchst. e AEUV erlassenen Verordnung Nr. 604/2013 nach ihrem Art. 1 darin, die Kriterien und Verfahren festzulegen, die bei der Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, zur Anwendung gelangen.

67      Zwar wird nach Art. 3 Abs. 1 dieser Verordnung ein Asylantrag, den ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats stellt, grundsätzlich allein von dem nach den Kriterien des Kapitels III der Verordnung als zuständiger Staat bestimmten Mitgliedstaat geprüft (Urteil vom 16. Februar 2017, C. K. u. a., C‑578/16 PPU, EU:C:2017:127, Rn. 56), doch folgt daraus nicht, dass die Entscheidung des so bestimmten Mitgliedstaats automatisch von den anderen Mitgliedstaaten anerkannt werden müsste, da es an einer entsprechenden Vorschrift fehlt.

68      Aus den in den Rn. 57 bis 67 des vorliegenden Urteils dargelegten Gründen ergibt sich, dass der Unionsgesetzgeber beim gegenwärtigen Stand des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems das mit Art. 78 Abs. 2 Buchst. a AEUV verfolgte Ziel eines in der ganzen Union gültigen einheitlichen Asylstatus für Drittstaatsangehörige noch nicht vollständig verwirklicht hat. Insbesondere hat er bislang weder den Grundsatz aufgestellt, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet wären, die von einem anderen Mitgliedstaat erlassenen Entscheidungen über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft automatisch anzuerkennen, noch die Einzelheiten zur Umsetzung eines solchen Grundsatzes festgelegt.

69      Somit steht es den Mitgliedstaaten beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts zwar frei, die Anerkennung sämtlicher mit der Flüchtlingseigenschaft verbundenen Rechte in ihrem Hoheitsgebiet davon abhängig zu machen, dass ihre zuständigen Behörden eine neue Entscheidung über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erlassen, sie können aber vorsehen, dass solche Entscheidungen, die ein anderer Mitgliedstaat nach günstigeren Bestimmungen im Sinne von Art. 3 der Richtlinie 2011/95 und Art. 5 der Richtlinie 2013/32 erlassen hat, automatisch anerkannt werden. Es steht jedoch fest, dass die Bundesrepublik Deutschland von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch gemacht hat.

70      Unter diesen Umständen ist als Zweites zu bestimmen, in welchem Umfang die zuständige Behörde eines Mitgliedstaats einen Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen hat, der von einem Antragsteller gestellt wurde, dem ein anderer Mitgliedstaat bereits die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hat.

71      Wie in Rn. 62 des vorliegenden Urteils ausgeführt, erkennen die Mitgliedstaaten nach Art. 13 der Richtlinie 2011/95 einem Drittstaatsangehörigen oder einem Staatenlosen, der die Voraussetzungen der Kapitel II und III dieser Richtlinie erfüllt, die Flüchtlingseigenschaft zu, ohne in dieser Hinsicht über ein Ermessen zu verfügen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 24. Juni 2015, T., C‑373/13, EU:C:2015:413, Rn. 63, vom 14. Mai 2019, M u. a. [Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft], C‑391/16, C‑77/17 und C‑78/17, EU:C:2019:403, Rn. 89, sowie vom 16. Januar 2024, Intervyuirasht organ na DAB pri MS [Frauen als Opfer häuslicher Gewalt], C‑621/21, EU:C:2024:47, Rn. 72 und die dort angeführte Rechtsprechung). Dagegen sieht die Richtlinie 2011/95, abgesehen von der in ihrem Art. 3 vorgesehenen Möglichkeit, günstigere nationale Normen anzuwenden, nicht vor, dass anderen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als denjenigen, die diese Voraussetzungen erfüllen, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 13. September 2018, Ahmed, C‑369/17, EU:C:2018:713, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 9. November 2021, Bundesrepublik Deutschland [Wahrung des Familienverbands], C‑91/20, EU:C:2021:898, Rn. 39 und 40 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

72      Um festzustellen, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, müssen die Mitgliedstaaten gemäß Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 jeden Antrag auf internationalen Schutz individuell prüfen, wobei alle mit dem Herkunftsland des Antragstellers verbundenen Tatsachen, die zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag relevant sind, die maßgeblichen Angaben des Antragstellers und die von ihm vorgelegten Unterlagen sowie seine individuelle Lage und persönlichen Umstände zu berücksichtigen sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 25. Januar 2018, F, C‑473/16, EU:C:2018:36, Rn. 41, und vom 19. März 2019, Ibrahim u. a., C‑297/17, C‑318/17, C‑319/17 und C‑438/17, EU:C:2019:219, Rn. 98).

73      In diesem Sinne ergibt sich aus Art. 10 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 im Wesentlichen, dass Anträge auf internationalen Schutz einzeln, objektiv und unparteiisch anhand genauer und aktueller Informationen geprüft werden müssen.

74      Die zuständige Behörde eines Mitgliedstaats muss daher, wenn es ihr nach der in Rn. 52 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung nicht möglich sein sollte, einen bei ihr gestellten Antrag auf internationalen Schutz gemäß Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32 für unzulässig zu erklären, eine individuelle, vollständige und aktualisierte Prüfung der Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vornehmen.

75      Erfüllt der Antragsteller die Voraussetzungen der Kapitel II und III der Richtlinie 2011/95 für die Anerkennung als Flüchtling, muss diese Behörde ihm die Flüchtlingseigenschaft zuerkennen, ohne hierbei über ein Ermessen zu verfügen.

76      Insoweit ist diese Behörde zwar nicht verpflichtet, dem Antragsteller die Flüchtlingseigenschaft allein deshalb zuzuerkennen, weil dieser zuvor durch eine Entscheidung eines anderen Mitgliedstaats als Flüchtling anerkannt worden war, sie muss jedoch diese Entscheidung und die ihr zugrunde liegenden Anhaltspunkte in vollem Umfang berücksichtigen.

77      Das Gemeinsame Europäische Asylsystem, zu dem gemäß dem zwölften Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95 gemeinsame Kriterien zur Bestimmung der Personen gehören, die tatsächlich Schutz benötigen, beruht nämlich auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens, wonach die Behandlung der Personen, die internationalen Schutz beantragen, in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen des Unionsrechts einschließlich derjenigen der Charta, des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten stehen muss (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. Dezember 2011, N. S. u. a., C‑411/10 und C‑493/10, EU:C:2011:865, Rn. 78 bis 80, und vom 19. März 2019, Ibrahim u. a., C‑297/17, C‑318/17, C‑319/17 und C‑438/17, EU:C:2019:219, Rn. 84 und 85).

78      Des Weiteren ist angesichts des in Art. 4 Abs. 3 Unterabs. 1 EUV verankerten Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit, der besagt, dass sich die Union und die Mitgliedstaaten gegenseitig achten und bei der Erfüllung der Aufgaben, die sich aus den Verträgen ergeben, gegenseitig unterstützen (Urteil vom 6. September 2016, Petruhhin, C‑182/15, EU:C:2016:630, Rn. 42), und der seine konkrete Ausprägung in Art. 36 der Richtlinie 2011/95 und in Art. 49 der Richtlinie 2013/32 findet, und um so weit wie möglich sicherzustellen, dass die von den zuständigen Behörden zweier Mitgliedstaaten getroffenen Entscheidungen darüber, ob ein und derselbe Drittstaatsangehörige oder Staatenlose internationalen Schutz benötigt, kohärent sind, festzustellen, dass die zuständige Behörde des Mitgliedstaats, die über den neuen Antrag zu entscheiden hat, unverzüglich einen Informationsaustausch mit der zuständigen Behörde des Mitgliedstaats einleiten muss, die den Antragsteller zuvor als Flüchtling anerkannt hat. Hierbei muss sie die andere Behörde über den neuen Antrag informieren, ihr ihre Stellungnahme zu dem neuen Antrag übermitteln und sie bitten, ihr innerhalb einer angemessenen Frist die ihr vorliegenden Informationen, die zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, zu übermitteln.

79      Dieser Informationsaustausch soll die Behörde des mit dem neuen Antrag befassten Mitgliedstaats in die Lage versetzen, die ihr im Rahmen des Verfahrens zur Gewährung internationalen Schutzes obliegenden Überprüfungen in voller Kenntnis der Sachlage vorzunehmen.

80      Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 604/2013, Art. 4 Abs. 1 und Art. 13 der Richtlinie 2011/95 sowie Art. 10 Abs. 2 und 3 und Art. 33 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32 dahin auszulegen sind, dass die zuständige Behörde eines Mitgliedstaats, wenn sie von der durch die letztere Bestimmung eingeräumten Befugnis, einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen, keinen Gebrauch machen kann, weil der Antragsteller in einem anderen Mitgliedstaat, der ihm bereits einen solchen Schutz zuerkannt hat, der ernsthaften Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta ausgesetzt wäre, im Rahmen eines neuen Verfahrens zur Gewährung internationalen Schutzes, das gemäß den Richtlinien 2011/95 und 2013/32 geführt wird, eine neue individuelle, vollständige und aktualisierte Prüfung dieses Antrags vornehmen muss. Dabei muss sie allerdings die Entscheidung des anderen Mitgliedstaats, diesem Antragsteller internationalen Schutz zu gewähren, und die Anhaltspunkte, auf denen diese Entscheidung beruht, in vollem Umfang berücksichtigen.

 Kosten

81      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

Art. 3 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, Art. 4 Abs. 1 und Art. 13 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes sowie Art. 10 Abs. 2 und 3 und Art. 33 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes

sind dahin auszulegen,

dass die zuständige Behörde eines Mitgliedstaats, wenn sie von der durch die letztere Bestimmung eingeräumten Befugnis, einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen, keinen Gebrauch machen kann, weil der Antragsteller in einem anderen Mitgliedstaat, der ihm bereits einen solchen Schutz zuerkannt hat, der ernsthaften Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta ausgesetzt wäre, im Rahmen eines neuen Verfahrens zur Gewährung internationalen Schutzes, das gemäß den Richtlinien 2011/95 und 2013/32 geführt wird, eine neue individuelle, vollständige und aktualisierte Prüfung dieses Antrags vornehmen muss. Dabei muss sie jedoch die Entscheidung des anderen Mitgliedstaats, diesem Antragsteller internationalen Schutz zu gewähren, und die Anhaltspunkte, auf denen diese Entscheidung beruht, in vollem Umfang berücksichtigen.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Deutsch.