Language of document : ECLI:EU:F:2007:103

Rechtssache C19/21

I
und
S

gegen

Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid

(Vorabentscheidungsersuchen, eingereicht von der Rechtbank Den Haag, zittingsplaats Haarlem)

 Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 1. August 2022

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Verordnung (EU) Nr. 604/2013 – Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist – Art. 8 Abs. 2 und Art. 27 Abs. 1 – Unbegleiteter Minderjähriger mit einem sich rechtmäßig in einem anderen Mitgliedstaat aufhaltenden Verwandten – Ablehnung des Aufnahmegesuchs für diesen Minderjährigen durch diesen Mitgliedstaat – Recht dieses Minderjährigen oder seines Verwandten auf einen wirksamen Rechtsbehelf gegen die ablehnende Entscheidung – Art. 7, 24 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Kindeswohl“

Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Asylpolitik – Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist – Verordnung Nr. 604/2013 – Unbegleiteter Minderjähriger – Sich rechtmäßig in einem anderen Mitgliedstaat aufhaltender Verwandter – Ablehnung des Aufnahmegesuchs für diesen Minderjährigen durch diesen Mitgliedstaat – Verpflichtung dieses Mitgliedstaats, dem unbegleiteten Minderjährigen das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf gegen diese ablehnende Entscheidung einzuräumen – Verpflichtung, dem Verwandten dieses Minderjährigen ein solches Recht einzuräumen – Fehlen

(Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 7, 24 und 47; Verordnung Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 2 Buchst. h und j, Art. 8 Abs. 2 und Art. 27 Abs. 1)

(vgl. Rn. 35, 38-46, 49, 50, 55 und Tenor)

Zusammenfassung

Als er noch minderjährig war, stellte der ägyptische Staatsangehörige I in Griechenland einen Antrag auf internationalen Schutz, in dem er den Wunsch nach einer Zusammenführung mit seinem Onkel S äußerte, der ebenfalls ägyptischer Staatsangehöriger sei und sich rechtmäßig in den Niederlanden aufhalte. Angesichts dieser Umstände richteten die griechischen Behörden ein Gesuch auf Aufnahme von I an die niederländischen Behörden und stützten sich dabei auf die Bestimmung der Dublin‑III-Verordnung(1), nach der, sofern dies dem Wohl des unbegleiteten Minderjährigen dient, derjenige Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, in dem sich ein Verwandter des Betroffenen, der für diesen sorgen kann, rechtmäßig aufhält. Der Staatssekretär(2) lehnte jedoch sowohl dieses Gesuch als auch das Ersuchen um eine neuerliche Prüfung ab.

I und S legten ihrerseits auch einen Rechtsbehelf beim Staatssekretär ein. Dieser wies ihren Rechtsbehelf als offensichtlich unzulässig zurück und führte zur Begründung aus, dass die Dublin‑III-Verordnung für die um internationalen Schutz ersuchenden Antragsteller keine Möglichkeit vorsehe, gegen die Ablehnung eines Aufnahmegesuchs vorzugehen. Daher fochten I und S bei der Rechtbank Den Haag, zittingplaats Haarlem (Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort Haarlem, Niederlande), diese Entscheidung an und machten geltend, dass einem jeden von ihnen gemäß Art. 27 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung(3) ein solcher gerichtlicher Rechtsbehelf zustehe.

In diesem Zusammenhang unterbreitet das Bezirksgericht Den Haag dem Gerichtshof die Frage, welche Rechtsmittel einem internationalen Schutz beantragenden unbegleiteten Minderjähriger und seinem Verwandten gegen eine Entscheidung zur Verfügung stehen, mit der ein Aufnahmegesuch abgelehnt wird.

Der Gerichtshof (Große Kammer) hat entschieden, dass nach Art. 27 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung in Verbindung mit den Art. 7, 24 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union(4) der Mitgliedstaat, an den ein Aufnahmegesuch(5) gerichtet wurde, dem internationalen Schutz begehrenden unbegleiteten Minderjährigen ein Recht auf einen gerichtlichen Rechtsbehelf gegen seine ablehnende Entscheidung einräumen muss, nicht aber dem Verwandten dieses Minderjährigen.

Würdigung durch den Gerichtshof

Zunächst weist der Gerichtshof darauf hin, dass der internationalen Schutz beantragenden Person Art. 27 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung bei wörtlicher Auslegung nur ein Rechtsmittel gegen eine Überstellungsentscheidung zu gewähren scheint, dass jedoch der Wortlaut der Vorschrift es nicht ausschließt, dass dem unbegleiteten minderjährigen Antragsteller auch ein Rechtsmittel zur Anfechtung einer Ablehnung eines auf Art. 8 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung gestützten Gesuchs um Aufnahme verliehen wird.

Bei der Frage, ob es nach Art. 27 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung im Licht der Art. 7, 24 und 47 der Charta erforderlich ist, dass gegen eine solche die Aufnahme ablehnende Entscheidung ein Rechtsbehelf eingelegt werden kann, ist diese Bestimmung nicht nur anhand ihres Wortlauts auszulegen, sondern auch anhand ihrer Ziele, ihrer allgemeinen Systematik und ihres Kontexts sowie insbesondere ihrer Entwicklung in dem System, in das sie sich einfügt.

Insoweit weist der Gerichtshof darauf hin, dass nach Art. 47 Abs. 1 der Charta jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, das Recht hat, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen. Diesem Recht entspricht die Pflicht der Mitgliedstaaten nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, die erforderlichen Rechtsbehelfe zu schaffen, damit ein wirksamer gerichtlicher Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist.

Was die Bestimmung des für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats und die Einhaltung des verbindlichen Zuständigkeitskriteriums aus Art. 8 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung angeht, so stellt der Gerichtshof fest, dass beim gerichtlichen Schutz eines unbegleiteten minderjährigen Antragstellers nicht danach unterschieden werden darf, ob der ersuchende Mitgliedstaat eine Entscheidung zur Überstellung des Antragstellers getroffen hat oder ob der ersuchte Mitgliedstaat ein Gesuch auf Aufnahme des Antragstellers ablehnt. Durch beide Entscheidungen kann nämlich das Recht des unbegleiteten Minderjährigen verletzt werden, das dieser aus Art. 8 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung herleitet und das auf Zusammenführung mit einem Verwandten gerichtet ist, der bei der Prüfung des Antrags des Minderjährigen auf internationalen Schutz für ihn sorgen kann. Demnach muss es dem betreffenden Minderjährigen in beiden Fällen gemäß Art. 47 Abs. 1 der Charta möglich sein, die Verletzung dieses Rechts mit einem Rechtsbehelf zu rügen.

I wäre im vorliegenden Fall, hätte er sich nach seiner Ankunft in Griechenland in die Niederlande begeben und dort seinen Antrag auf internationalen Schutz gestellt und hätten die Behörden Griechenlands als Mitgliedstaat der Erstankunft seiner Aufnahme zugestimmt, gemäß Art. 27 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung berechtigt gewesen, einen gerichtlichen Rechtsbehelf gegen die Überstellungsentscheidung der niederländischen Behörden einzulegen und diesen auf den Umstand zu stützen, dass einer seiner Verwandten in den Niederlanden wohne. In einem solchen Fall könnte er mithin mit Erfolg die Verletzung des Rechts geltend machen, das ihm als unbegleitetem Minderjährigen Art. 8 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung zuweist. Dagegen hätte bei einer wörtlichen Auslegung von Art. 27 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung der Antragsteller, der im Mitgliedstaat der Einreise bleibt und seinen Antrag auf internationalen Schutz dort stellt, diese Möglichkeit nicht, weil in einem solchen Fall keine Überstellungsentscheidung ergeht.

Der Gerichtshof kommt zu dem Ergebnis, dass ein unbegleiteter minderjähriger Antragsteller, um eine Verletzung seines Rechts aus Art. 8 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung geltend machen zu können, nach Art. 27 Abs. 1 dieser Verordnung nicht nur dann die Möglichkeit zum Einlegen eines gerichtlichen Rechtsbehelfs haben muss, wenn der ersuchende Mitgliedstaat eine Überstellungsentscheidung erlässt, sondern auch dann, wenn der ersuchte Mitgliedstaat die Aufnahme des Betroffenen ablehnt. Dies ist umso mehr geboten, als dieser Art. 8 Abs. 2 die uneingeschränkte Einhaltung der in den Art. 7 und 24 der Charta verankerten Grundrechte unbegleiteter Minderjähriger gewährleisten soll.

Dagegen gewährt Art. 27 Abs. 1 dieser Verordnung dem im ersuchten Mitgliedstaat wohnenden Verwandten des Antragstellers keinen Rechtsbehelf gegen eine solche Ablehnung. Da ihm außerdem weder Art. 7 und Art. 24 Abs. 2 der Charta noch Art. 8 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung Rechte verleihen, auf die er sich vor Gericht berufen könnte, kann dieser Verwandte ein Recht auf einen Rechtsbehelf gegen eine solche Entscheidung auch nicht allein aus Art. 47 der Charta herleiten.


1      Art. 8 Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. 2013, L 180, S. 108).


2      Der Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Staatssekretär für Sicherheit und Justiz, Niederlande).


3      Diese Bestimmung sieht vor, dass der Antragsteller das Recht auf ein wirksames Rechtsmittel gegen eine Überstellungsentscheidung in Form einer auf Sach- und Rechtsfragen gerichteten Überprüfung durch ein Gericht hat.


4      Im Folgenden: Charta.


5      Gestützt auf Art. 8 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung.