Language of document : ECLI:EU:C:2015:436

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

2. Juli 2015(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 49 AEUV, 102 AEUV und 106 AEUV – Niederlassungsfreiheit – Diskriminierungsverbot – Missbrauch einer beherrschenden Stellung – Art. 15 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Unzulässigkeit“

In der Rechtssache C‑497/12

betreffend ein Ersuchen um Vorabentscheidung nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunale amministrativo regionale per la Sicilia (Italien) mit Entscheidung vom 9. Oktober 2012, beim Gerichtshof eingegangen am 7. November 2012, in dem Verfahren

Davide Gullotta,

Farmacia di Gullotta Davide & C. Sas

gegen

Ministero della Salute,

Azienda Sanitaria Provinciale di Catania

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten L. Bay Larsen, der Richterin K. Jürimäe, der Richter J. Malenovský (Berichterstatter) und M. Safjan sowie der Richterin A. Prechal,

Generalanwalt: N. Wahl,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von Herrn Gullotta und der Farmacia di Gullotta Davide & C. Sas, vertreten durch G. Spadaro und G. F. Licata, avvocati,

–        der Federfarma – Federazione Nazionale Unitaria dei Titolari di Farmacia Italiani, vertreten durch M. Luciani, A. Arena, G. M. Roberti und I. Perego, avvocati,

–        der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von F. Urbani Neri, avvocato dello Stato,

–        der griechischen Regierung, vertreten durch E. Skandalou als Bevollmächtigte,

–        der spanischen Regierung, vertreten durch S. Centeno Huerta als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch E. Montaguti und H. Tserepa-Lacombe als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 12. März 2015

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 49 AEUV, 102 AEUV und 106 AEUV sowie von Art. 15 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Gullotta sowie der Farmacia di Gullotta Davide & C. Sas auf der einen und dem Ministero della Salute sowie der Azienda Sanitaria Provinciale di Catania auf der anderen Seite wegen der Weigerung, Herrn Gullotta die Erlaubnis zu erteilen, in einer seiner Verkaufsstellen für parapharmazeutische Produkte Arzneimittel zu verkaufen, die verschreibungspflichtig sind, aber vom Nationalen Gesundheitsdienst nicht erstattet werden.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Der 26. Erwägungsgrund der Richtlinie 2005/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. September 2005 über die Anerkennung von Berufsqualifikationen (ABl. L 255, S. 22) lautet:

„Diese Richtlinie gewährleistet nicht die Koordinierung aller Bedingungen für die Aufnahme und die Ausübung der Tätigkeiten des Apothekers. Insbesondere sollten die geografische Verteilung der Apotheken und das Abgabemonopol für Arzneimittel weiterhin in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen. Diese Richtlinie berührt keine Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten, die Gesellschaften die Ausübung bestimmter Tätigkeiten des Apothekers verbieten oder ihnen für die Ausübung solcher Tätigkeiten bestimmte Auflagen machen.“

 Italienisches Recht

4        Nach dem Gesetz Nr. 468 vom 22. Mai 1913 galt die Arzneimittelversorgung als eine „primäre Tätigkeit des Staates“, die ausschließlich über kommunale Apotheken oder durch private Apotheken ausgeübt werden konnte, die eine von der Regierung ausgestellte Lizenz besaßen.

5        Um eine geordnete Verteilung der Apotheken im gesamten nationalen Hoheitsgebiet zu gewährleisten und zu verhindern, dass sie sich allein auf die wirtschaftlich gesehen attraktivsten Zonen konzentrieren, wurde ein administratives Instrument zur Beschränkung des Angebots eingeführt, die „pianta organica“, wonach sich die Apotheken auf das Hoheitsgebiet bis zu einer Höchstzahl verteilen, von der anzunehmen ist, dass sie der Nachfrage der betroffenen Personen entspricht, damit den Apotheken jeweils ein Marktanteil gesichert und der Arzneimittelbedarf im gesamten nationalen Hoheitsgebiet gedeckt ist.

6        Der Verkauf von Arzneimitteln war gemäß Art. 122 des Königlichen Dekrets Nr. 1265 vom 27. Juli 1934 allein Apotheken vorbehalten.

7        Später erfolgte mit dem Gesetz Nr. 537 vom 24. Dezember 1993 eine Neuklassifizierung von Arzneimitteln nach folgenden Klassen: Klasse A für wesentliche Arzneimittel und Arzneimittel für chronische Krankheiten; Klasse B für Arzneimittel von erheblichem therapeutischem Nutzen, die nicht in Klasse A einzuordnen sind, sowie Klasse C für sonstige Arzneimittel, die nicht in Klasse A oder Klasse B einzuordnen sind. Die Kosten von Arzneimitteln der Klassen A und B sind gemäß Art. 8 Abs. 14 des Gesetzes Nr. 537 vom 24. Dezember 1993 vollständig vom Nationalen Gesundheitsdienst, die der Klasse C vollständig vom Käufer zu tragen.

8        Anschließend wurde die Klasse B durch Art. 85 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 388 vom 23. Dezember 2000 gestrichen, und durch Art. 1 des Gesetzes Nr. 311 vom 30. Dezember 2004 wurde eine neue Klasse C‑bis für Arzneimittel geschaffen, die nicht verschreibungspflichtig sind und für die – im Gegensatz zu den Produkten, die in die anderen Klassen fallen – öffentlich geworben werden darf. Die Kosten von Arzneimitteln der Klasse C‑bis gehen ebenso wie bei Arzneimitteln der Klasse C zulasten des Käufers.

9        Durch das Gesetzesdekret Nr. 223 vom 4. Juli 2006 (später umgewandelt in das Gesetz Nr. 248 vom 4. August 2006) wurde die Eröffnung parapharmazeutischer Verkaufsstellen zugelassen, deren Inhaber zum Verkauf von Arzneimitteln der Klasse C‑bis berechtigt sind. In jüngerer Zeit wurde das Sortiment der Arzneimittel, die von solchen Verkaufsstellen abgegeben werden dürfen, durch das Gesetzesdekret Nr. 201 vom 6. Dezember 2011 (inzwischen umgewandelt in das Gesetz Nr. 214 vom 22. Dezember 2011) erweitert. Seither dürfen diese Verkaufsstellen auch einige nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel der Klasse C öffentlich vertreiben.

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

10      Der Kläger des Ausgangsverfahrens, der zugelassener Apotheker und bei der Apothekerkammer von Catania (Italien) eingetragen ist, ist Inhaber mehrerer parapharmazeutischer Verkaufsstellen. Er beantragte beim Ministero della Salute die Erlaubnis, in einer von ihnen Arzneimittel zu verkaufen, die verschreibungspflichtig sind, deren Kosten aber vollständig vom Käufer getragen werden.

11      Das Ministero della Salute lehnte diesen Antrag mit der Begründung ab, dass nach der geltenden Regelung solche Arzneimittel nur in Apotheken verkauft werden dürften.

12      Der Kläger des Ausgangsverfahrens erhob gegen diese Ablehnung Klage zum vorlegenden Gericht, weil er der Ansicht ist, die betreffende Regelung verstoße gegen das Unionsrecht.

13      Unter diesen Umständen hat das Tribunale amministrativo regionale per la Sicilia beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Stehen die in den Art. 49 ff. AEUV niedergelegten Grundsätze der Niederlassungsfreiheit, der Nichtdiskriminierung und des Schutzes des Wettbewerbs einer nationalen Regelung entgegen, die es einem zugelassenen und bei der entsprechenden Berufskammer eingetragenen Apotheker, der aber nicht Inhaber eines in der „Pianta organica“ aufgenommenen Handelsbetriebs ist, nicht erlaubt, in einer Verkaufsstelle für parapharmazeutische Produkte, deren Inhaber er ist, auch die Arzneimittel im Einzelhandel zu vertreiben, für die ein ärztliches „weißes Rezept“ erforderlich ist, d. h. solche, die nicht zulasten des Nationalen Gesundheitsdiensts, sondern in vollem Umfang zulasten des Käufers gehen, und die damit auch in diesem Sektor ein Verbot des Verkaufs bestimmter Klassen von pharmazeutischen Erzeugnissen und eine zahlenmäßige Kontingentierung der Handelsbetriebe, die sich im nationalen Hoheitsgebiet niederlassen dürfen, begründet?

2.      Ist Art. 15 der Charta dahin auszulegen, dass der dort niedergelegte Grundsatz uneingeschränkt auch auf den Beruf des Apothekers anzuwenden ist, ohne dass die öffentlich-rechtliche Bedeutung dieses Berufs die unterschiedlichen Regelungen für die Inhaber von Apotheken und die Inhaber von Verkaufsstellen für parapharmazeutische Produkte in Bezug auf den Verkauf der in Frage 1 genannten Arzneimittel rechtfertigt?

3.      Sind die Art. 102 AEUV und 106 [Abs. 1] AEUV dahin auszulegen, dass das Verbot des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung uneingeschränkt auf den Beruf des Apothekers anzuwenden ist, soweit ein Apotheker, der Inhaber einer traditionellen Apotheke ist und aufgrund eines Vertrags mit dem Nationalen Gesundheitsdienst Arzneimittel verkauft, sich das für die Inhaber von Verkaufsstellen für parapharmazeutische Produkte geltende Verbot, Arzneimittel der Klasse C zu verkaufen, zunutze macht, ohne dass dies durch die im Hinblick auf das Allgemeininteresse des Schutzes der Gesundheit der Bürger zweifellos bestehenden Besonderheiten des Apothekerberufs gerechtfertigt ist?

14      Mit Schreiben vom 16. Dezember 2013 hat die Kanzlei des Gerichtshofs dem vorlegenden Gericht das Urteil Venturini u. a. (C‑159/12 bis C‑161/12, EU:C:2013:791) übersandt und es gebeten, ihr mitzuteilen, ob es in Anbetracht dieses Urteils sein Vorabentscheidungsersuchen aufrechterhalten wolle.

15      Mit Entscheidung vom 10. Juli 2014, die am 1. August 2014 beim Gerichtshof eingegangen ist, hat das vorlegende Gericht dem Gerichtshof mitgeteilt, dass es seine zweite und seine dritte Vorlagefrage aufrechterhalte.

 Zu den Vorlagefragen

 Zur zweiten Frage

16      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 15 der Charta dahin auszulegen ist, dass er uneingeschränkt auch auf den Beruf des Apothekers anzuwenden ist, ohne dass die öffentlich-rechtliche Bedeutung dieses Berufs die unterschiedlichen Regelungen für die Inhaber von Apotheken und die Inhaber von Verkaufsstellen für parapharmazeutische Produkte in Bezug auf den Verkauf von Arzneimitteln rechtfertigt, für die ein „weißes Rezept“ erforderlich ist, d. h., die nicht zulasten des Nationalen Gesundheitsdiensts, sondern in vollem Umfang zulasten des Käufers gehen.

17      Um es dem Gerichtshof zu ermöglichen, zu einer dem nationalen Gericht dienlichen Auslegung des Unionsrechts zu gelangen, müssen nach Art. 94 Buchst. c der Verfahrensordnung des Gerichtshofs im Vorabentscheidungsersuchen eine Darstellung der Gründe, aus denen das vorlegende Gericht Zweifel bezüglich der Auslegung oder der Gültigkeit bestimmter Vorschriften des Unionsrechts hat, sowie der Zusammenhang, den es zwischen diesen Vorschriften und dem auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren nationalen Recht herstellt, enthalten sein.

18      Was die zweite Frage betrifft, entspricht die Vorlageentscheidung aber nicht diesen Anforderungen.

19      Wie der Generalanwalt in den Nrn. 68 bis 74 seiner Schlussanträge festgestellt hat, ermöglicht die Vorlageentscheidung nämlich nicht, die Gründe nachzuvollziehen, aus denen das vorlegende Gericht Zweifel hinsichtlich der Vereinbarkeit der im Ausgangsverfahren streitigen Rechtsvorschriften mit Art. 15 der Charta hegt, und enthält keine Angaben, die es dem Gerichtshof ermöglichen würden, dem vorlegenden Gericht Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts zu geben, damit dieses die Rechtsfrage, mit der es befasst ist, lösen kann.

20      Nach ständiger Rechtsprechung kann der Gerichtshof die Entscheidung über eine Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur ablehnen, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn er nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (vgl. in diesem Sinne Urteil OTP Bank, C‑672/13, EU:C:2015:185, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

21      Da der Gerichtshof nicht über die für eine zweckdienliche Antwort erforderlichen Angaben verfügt, ist die zweite Frage für unzulässig zu erklären.

 Zur dritten Frage

22      Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Art. 102 AEUV und 106 Abs. 1 AEUV dahin auszulegen sind, dass das Verbot des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung uneingeschränkt auf den Beruf des Apothekers anzuwenden ist, soweit ein Apotheker, der Inhaber einer traditionellen Apotheke ist und aufgrund eines Vertrags mit dem Nationalen Gesundheitsdienst Arzneimittel verkauft, sich das für die Inhaber von Verkaufsstellen für parapharmazeutische Produkte geltende Verbot, Arzneimittel der Klasse C zu verkaufen, zunutze macht, ohne dass dies durch die im Hinblick auf das Allgemeininteresse des Schutzes der Gesundheit der Bürger zweifellos bestehenden Besonderheiten des Apothekerberufs gerechtfertigt ist.

23      Nach ständiger Rechtsprechung ist die bloße Schaffung einer beherrschenden Stellung durch die Gewährung besonderer oder ausschließlicher Rechte im Sinne von Art. 106 Abs. 1 AEUV als solche noch nicht mit Art. 102 AEUV unvereinbar. Ein Mitgliedstaat verstößt nämlich nur dann gegen die in diesen beiden Bestimmungen enthaltenen Verbote, wenn das betreffende Unternehmen bereits durch die Ausübung der ihm übertragenen besonderen oder ausschließlichen Rechte seine beherrschende Stellung missbräuchlich ausnutzen oder wenn durch diese Rechte eine Lage geschaffen werden könnte, in der dieses Unternehmen einen solchen Missbrauch begeht (Urteil Servizi Ausiliari Dottori Commercialisti, C‑451/03, EU:C:2006:208, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).

24      Folglich ist nicht nur zu klären, ob die im Ausgangsverfahren streitige nationale Regelung bewirkt hat, dass den Apotheken besondere oder ausschließliche Rechte im Sinne von Art. 106 Abs. 1 AEUV verliehen worden sind, sondern auch, ob eine solche Regelung zum Missbrauch einer beherrschenden Stellung führen konnte (vgl. in diesem Sinne Urteil Servizi Ausiliari Dottori Commercialisti, C‑451/03, EU:C:2006:208, Rn. 24).

25      Die Vorlageentscheidung enthält jedoch – wie der Generalanwalt in den Nrn. 79 und 82 seiner Schlussanträge festgestellt hat – keine Erläuterung der Gründe, aus denen das vorlegende Gericht annimmt, dass die im Ausgangsverfahren streitigen Rechtsvorschriften nicht mit den Art. 102 AEUV und 106 AEUV vereinbar seien. Es wird insbesondere nicht ausgeführt, inwiefern diese Regelung Apotheker zum Missbrauch ihrer Stellung verleiten könnte.

26      Nach der in Rn. 20 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ist die Vorlagefrage eines nationalen Gerichts unzulässig, wenn das nationale Gericht dem Gerichtshof nicht die erforderlichen tatsächlichen und rechtlichen Angaben macht, um diesem eine zweckdienliche Antwort zu ermöglichen.

27      Da der Gerichtshof nicht über die für eine zweckdienliche Antwort erforderlichen Angaben verfügt, ist festzustellen, dass die dritte Frage unzulässig ist.

 Kosten

28      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:

Die vom Tribunale amministrativo regionale per la Sicilia (Italien) mit Entscheidung vom 9. Oktober 2012 gestellten und von ihm aufrechterhaltenen Vorlagefragen sind unzulässig.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Italienisch.