Language of document : ECLI:EU:C:2012:447

Rechtssache C‑59/11

Association Kokopelli

gegen

Graines Baumaux SAS

(Vorabentscheidungsersuchen der Cour dʼappel de Nancy)

„Landwirtschaft – Richtlinien 98/95/EG, 2002/53/EG, 2002/55/EG und 2009/145/EG – Gültigkeit – Gemüse – Verkauf von Gemüsesaatgut, das im amtlichen gemeinsamen Sortenkatalog für Gemüsearten nicht aufgeführt ist, auf dem nationalen Saatgutmarkt – Nichtbeachtung der Regelung der vorherigen Zulassung für das Inverkehrbringen – Internationaler Vertrag über pflanzengenetische Ressourcen für Ernährung und Landwirtschaft – Grundsatz der Verhältnismäßigkeit – Unternehmerische Freiheit – Freier Warenverkehr – Gleichbehandlung“

Leitsätze des Urteils

1.        Vorabentscheidungsverfahren – Zulässigkeit – Beurteilung der Notwendigkeit der Fragen Sache des nationalen Gerichts – Allgemeine oder hypothetische Fragen – Unzulässigkeit

(Art. 267 AEUV)

2.        Europäische Union – Gerichtliche Kontrolle der Rechtmäßigkeit von Handlungen der Organe – Handlungen allgemeiner Geltung – Erfordernis für natürliche oder juristische Personen, eine Einrede der Rechtswidrigkeit zu erheben oder ein Vorabentscheidungsersuchen zur Prüfung der Gültigkeit zu veranlassen

(Art. 263 Abs. 4 AEUV und 277 AEUV)

3.        Landwirtschaft – Gemeinsame Agrarpolitik – Ziele – Ermessen der Organe – Gerichtliche Nachprüfung – Grenzen – Grundsatz der Verhältnismäßigkeit – Bedeutung – Berücksichtigung anderer vorhandener Interessen neben dem verfolgten Hauptziel – Richtlinien 2002/55 und 2009/145 über den Verkehr mit Saatgut – Wahrung des Grundsatzes – Verletzung des Rechts auf freie Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit – Ausschluss

(Art. 40 AEUV und 43 AEUV; Richtlinie 2002/55 des Rates; Richtlinie 2009/145 der Kommission)

4.        Recht der Europäischen Union – Grundsätze – Gleichbehandlung – Begriff – Richtlinien 2002/55 und 2009/145 über den Verkehr mit Saatgut – Unterschiedliche Behandlung von Saatgut der Erhaltungssorten und Standardsaatgut, das in die amtlichen Kataloge aufgenommen werden kann – Saatgut mit unterschiedlichen Eigenschaften – Zulässigkeit

(Richtlinie 2002/55 des Rates; Richtlinie 2009/145 der Kommission)

5.        Freier Warenverkehr – Mengenmäßige Beschränkungen – Maßnahmen gleicher Wirkung – Art. 34 AEUV – Geltungsbereich – Maßnahmen der Unionsorgane – Einbeziehung – Richtlinien 2002/55 und 2009/145 über den Verkehr mit Saatgut – Maßnahmen, die den freien Warenverkehr fördern

(Art. 34 AEUV; Richtlinie 2002/55 des Rates; Richtlinie 2009/145 der Kommission)

6.        Völkerrechtliche Verträge – Übereinkünfte der Union – Wirkungen eines Übereinkommens in der Rechtsordnung der Union bei Fehlen einer ausdrücklichen Bestimmung, die diese regelt – Prüfung der Gültigkeit eines Rechtsakts der Union anhand der Bestimmungen dieses Übereinkommens – Voraussetzungen – Verletzung des internationalen Vertrags über pflanzengenetische Ressourcen für Ernährung und Landwirtschaft durch die Richtlinien 2002/55 und 2009/145 – Ausschluss – Fehlen inhaltlich unbedingter und hinreichend genauer Bestimmungen dieses Vertrags, um die Gültigkeit dieser Richtlinien in Frage zu stellen

(Art. 216 Abs. 2 AEUV und 267 AEUV; Richtlinie 2002/55 des Rates; Richtlinie 2009/145 der Kommission)

1.        Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Randnrn. 28-29)

2.        Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Randnrn. 34-35)

3.        Der Unionsgesetzgeber verfügt auf dem Gebiet der gemeinsamen Agrarpolitik über ein weites Ermessen, das der politischen Verantwortung entspricht, die ihm die Art. 40 AEUV und 43 AEUV übertragen, so dass die Rechtmäßigkeit einer in diesem Bereich erlassenen Maßnahme nur dann beeinträchtigt sein kann, wenn diese Maßnahme zur Erreichung des Ziels, das das zuständige Organ verfolgt, offensichtlich ungeeignet ist.

Zwar kann die Bedeutung der angestrebten Ziele Einschränkungen rechtfertigen, die sogar beträchtliche negative Folgen für bestimmte Wirtschaftsteilnehmer haben können, doch ist zu ermitteln, ob der Unionsgesetzgeber bei der Prüfung der mit verschiedenen möglichen Maßnahmen verbundenen Belastungen neben dem verfolgten Hauptziel den betroffenen Interessen in vollem Umfang Rechnung getragen hat.

Dies ist bei der Richtlinie 2002/55 über den Verkehr mit Gemüsesaatgut und der Richtlinie 2009/145 der Kommission vom 26. November 2009 mit Ausnahmeregelungen für die Zulassung von Gemüselandsorten und anderen Sorten, die traditionell an besonderen Orten und in besonderen Regionen angebaut werden und von genetischer Erosion bedroht sind, sowie von Gemüsesorten, die an sich ohne Wert für den Anbau zu kommerziellen Zwecken sind, aber für den Anbau unter besonderen Bedingungen gezüchtet werden, sowie für das Inverkehrbringen von Saatgut dieser Landsorten und anderen Sorten der Fall. Hierzu geht aus den Erwägungsgründen 2 bis 4 der Richtlinie 2002/55 hervor, dass das Hauptziel der Bestimmungen über die Zulassung des Saatguts von Gemüsesorten in der Steigerung der Produktivität beim Gemüseanbau in der Union besteht. Die Aufstellung eines gemeinsamen Gemüsesortenkatalogs auf der Grundlage nationaler Kataloge im Rahmen vereinheitlichter und bei der Auswahl der zum Verkehr zugelassenen Sorten möglichst strenger Regeln erweist sich als geeignet, dieses Ziel zu gewährleisten.

Die Richtlinie 2002/55 dient auch der Errichtung des Binnenmarkts für Gemüsesaatgut, indem sie dessen freien Verkehr innerhalb der Union gewährleistet. Im vorliegenden Fall ist die in dieser Richtlinie vorgesehene Zulassungsregelung geeignet, zur Verwirklichung dieses Ziels beizutragen, da eine solche Regelung garantiert, dass Saatgut, das in den verschiedenen Mitgliedstaaten in den Verkehr gebracht wird, den gleichen Anforderungen entspricht.

Wie schließlich aus Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2002/55 hervorgeht, dient sie auch der Erhaltung der pflanzengenetischen Ressourcen. Da die Mitgliedstaaten von den in der Richtlinie 2009/145, die auf einige Kategorien von Saatgut anwendbar ist, aufgestellten Zulassungskriterien abweichen können, erweist sich eine solche Regelung als geeignet, auch dieses Ziel zu gewährleisten.

Eine weniger einschneidende Maßnahme wie die Etikettierung würde nämlich kein ebenso wirksames Mittel darstellen, da sie den Verkauf und infolgedessen die Aussaat von Saatgut ermöglichen würde, das möglicherweise schädlich ist oder keine bestmögliche landwirtschaftliche Erzeugung erlaubt. Somit können diese Vorschriften nicht als im Hinblick auf diese Ziele offensichtlich ungeeignet betrachtet werden.

Das Hemmnis für die freie Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit, das die in dieser Regelung vorgesehenen Maßnahmen darstellen, kann in Anbetracht der verfolgten Ziele nicht als unverhältnismäßiger Eingriff in das Recht auf die Ausübung dieser Freiheit angesehen werden.

(vgl. Randnrn. 39-40, 43-44, 47-49, 60, 79)

4.        Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Randnrn. 70, 72-76)

5.        Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Randnrn. 80-81)

6.        Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Randnrn. 84-89)