Language of document : ECLI:EU:C:2024:192

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

29. Februar 2024(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Asylpolitik – Richtlinie 2011/95/EU – Voraussetzungen für einen Anspruch auf internationalen Schutz – Inhalt des zu gewährenden Schutzes – Art. 5 – Aus Nachfluchtgründen entstehender Bedarf an internationalem Schutz – Folgeantrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft – Art. 5 Abs. 3 – Begriff der Umstände, die der Antragsteller nach Verlassen des Herkunftslands selbst geschaffen hat – Missbrauchsabsicht und Absicht, das anwendbare Verfahren zu instrumentalisieren – Aktivitäten im Aufnahmemitgliedstaat, die nicht Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind – Religionswechsel“

In der Rechtssache C‑222/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Verwaltungsgerichtshof (Österreich) mit Beschluss vom 16. März 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 29. März 2022, in dem Verfahren

Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl

gegen

JF

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin K. Jürimäe sowie der Richter N. Piçarra (Berichterstatter) und N. Jääskinen,

Generalanwalt: J. Richard de la Tour,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von JF, vertreten durch Rechtsanwalt C. Schmaus,

–        der österreichischen Regierung, vertreten durch A. Posch, J. Schmoll und V.‑S. Strasser als Bevollmächtigte,

–        der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und A. Hoesch als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Azéma und L. Hohenecker als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 15. Juni 2023

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9, berichtigt in ABl. 2017, L 167, S. 58).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Österreich) (im Folgenden: BFA) und JF, einem Drittstaatsangehörigen, über die Rechtmäßigkeit einer Entscheidung, mit der JF nach einem Folgeantrag auf internationalen Schutz die Anerkennung als Flüchtling verweigert wurde.

 Rechtlicher Rahmen

 Völkerrecht

3        Art. 1 Abschnitt A des am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichneten Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (United Nations Treaty Series, Bd. 189, S. 150, Nr. 2545 [1954]), das am 22. April 1954 in Kraft trat und durch das am 31. Januar 1967 in New York abgeschlossene Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, das am 4. Oktober 1967 in Kraft trat, ergänzt wurde (im Folgenden: Genfer Flüchtlingskonvention), sieht vor:

„Im Sinne dieses Abkommens findet der Ausdruck ‚Flüchtling‘ auf jede Person Anwendung:

2.      die … aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will; oder die sich als staatenlose … außerhalb des Landes befindet, in welchem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen der erwähnten Befürchtungen nicht dorthin zurückkehren will.

…“

4        Art. 2 („Allgemeine Verpflichtungen“) dieser Konvention bestimmt:

„Jeder Flüchtling hat gegenüber dem Land, in dem er sich befindet, Pflichten, zu denen insbesondere [die] Verpflichtung gehört, die Gesetze und sonstigen Rechtsvorschriften sowie die zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung getroffenen Maßnahmen zu beachten.“

5        Art. 33 („Verbot der Ausweisung und Zurückweisung“) Ziff. 1 der Konvention sieht vor, dass „[k]einer der vertragschließenden Staaten … einen Flüchtling auf irgendeine Weise über die Grenzen von Gebieten ausweisen oder zurückweisen [wird], in denen sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde“.

6        Nach Art. 42 Ziff. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention kann „[i]m Zeitpunkt der Unterzeichnung, der Ratifikation oder des Beitritts … jeder Staat zu den Artikeln [dieses] Abkommens, mit Ausnahme der Artikel 1, 3, 4, 16 (1), 33, 36 bis 46 einschließlich, Vorbehalte machen“.

 Unionsrecht

 Richtlinie 2011/95

7        In den Erwägungsgründen 4, 12, 24 und 25 der Richtlinie 2011/95 heißt es:

„(4)      Die Genfer Flüchtlingskonvention und das Protokoll stellen einen wesentlichen Bestandteil des internationalen Rechtsrahmens für den Schutz von Flüchtlingen dar.

(12)      Das wesentliche Ziel dieser Richtlinie besteht darin, einerseits zu gewährleisten, dass die Mitgliedstaaten gemeinsame Kriterien zur Bestimmung der Personen anwenden, die tatsächlich [internationalen] Schutz benötigen, und andererseits sicherzustellen, dass diesen Personen in allen Mitgliedstaaten ein Mindestniveau von Leistungen geboten wird.

(24)      Es müssen gemeinsame Kriterien für die Anerkennung von Asylbewerbern als Flüchtlinge im Sinne von Artikel 1 der Genfer Flüchtlingskonvention eingeführt werden.

(25)      Insbesondere ist es erforderlich, gemeinsame Konzepte zu entwickeln zu: [dem Begriff] aus Nachfluchtgründen (‚sur place‘) entstehendem Schutzbedarf …“.

8        Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) dieser Richtlinie bestimmt:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

d)      ‚Flüchtling‘ einen Drittstaatsangehörigen, der aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will, oder einen Staatenlosen, der sich aus denselben vorgenannten Gründen außerhalb des Landes seines vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts befindet und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht dorthin zurückkehren will und auf den Artikel 12 keine Anwendung findet;

e)      ‚Flüchtlingseigenschaft‘ die Anerkennung eines Drittstaatsangehörigen oder eines Staatenlosen als Flüchtling durch einen Mitgliedstaat;

…“

9        Art. 4 („Prüfung der Tatsachen und Umstände“) Abs. 3 der Richtlinie 2011/95, der zu ihrem Kapitel II gehört, sieht vor:

„Die Anträge auf internationalen Schutz sind individuell zu prüfen, wobei Folgendes zu berücksichtigen ist:

b)      die maßgeblichen Angaben des Antragstellers und die von ihm vorgelegten Unterlagen, einschließlich Informationen zu der Frage, ob er verfolgt worden ist bzw. verfolgt werden könnte oder einen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. erleiden könnte;

c)      die individuelle Lage und die persönlichen Umstände des Antragstellers, einschließlich solcher Faktoren wie familiärer und sozialer Hintergrund, Geschlecht und Alter, um bewerten zu können, ob in Anbetracht seiner persönlichen Umstände die Handlungen, denen er ausgesetzt war oder ausgesetzt sein könnte, einer Verfolgung oder einem sonstigen ernsthaften Schaden gleichzusetzen sind;

d)      die Frage, ob die Aktivitäten des Antragstellers seit Verlassen des Herkunftslandes ausschließlich oder hauptsächlich aufgenommen wurden, um die für die Beantragung von internationalem Schutz erforderlichen Voraussetzungen zu schaffen, damit bewertet werden kann, ob der Antragsteller im Fall einer Rückkehr in dieses Land aufgrund dieser Aktivitäten verfolgt oder ernsthaften Schaden erleiden würde;

…“

10      Art. 5 („Aus Nachfluchtgründen entstehender Bedarf an internationalem Schutz“) dieser Richtlinie, der ebenfalls zu ihrem Kapitel II gehört, lautet:

„(1)      Die begründete Furcht vor Verfolgung oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, kann auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Antragsteller das Herkunftsland verlassen hat.

(2)      Die begründete Furcht vor Verfolgung oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, kann auf Aktivitäten des Antragstellers nach Verlassen des Herkunftslandes beruhen, insbesondere wenn die Aktivitäten, auf die er sich stützt, nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind.

(3)      Unbeschadet der Genfer Flüchtlingskonvention können die Mitgliedstaaten festlegen, dass ein Antragsteller, der einen Folgeantrag stellt, in der Regel nicht als Flüchtling anerkannt wird, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Antragsteller nach Verlassen des Herkunftslandes selbst geschaffen hat.“

11      Art. 10 („Verfolgungsgründe“) Abs. 1 der Richtlinie 2011/95, der zu ihrem Kapitel III gehört, bestimmt:

„Bei der Prüfung der Verfolgungsgründe berücksichtigen die Mitgliedstaaten Folgendes:

b)      der Begriff der Religion umfasst insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme bzw. Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind;

…“

12      Nach Art. 13 dieser Richtlinie „[erkennen d]ie Mitgliedstaaten einem Drittstaatsangehörigen oder einem Staatenlosen, der die Voraussetzungen der Kapitel II und III erfüllt, die Flüchtlingseigenschaft zu“.

 Richtlinie 2013/32/EU

13      Art. 2 Buchst. q der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. 2013, L 180, S. 60) definiert einen „Folgeantrag“ als „einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz, der nach Erlass einer bestandskräftigen Entscheidung über einen früheren Antrag gestellt wird …“.

 Österreichisches Recht

14      § 3 („Status des Asylberechtigten“) des Bundesgesetzes über die Gewährung von Asyl (Asylgesetz 2005) vom 16. August 2005 (BGBl. I 100/2005) in der für den Ausgangsrechtsstreit maßgeblichen Fassung (im Folgenden: AsylG 2005) sieht vor:

„(1)      Einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.

(2)      Die Verfolgung kann auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Fremde seinen Herkunftsstaat verlassen hat … oder auf Aktivitäten des Fremden beruhen, die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, die insbesondere Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind … Einem Fremden, der einen Folgeantrag … stellt, wird in der Regel nicht der Status des Asylberechtigten zuerkannt, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Fremde nach Verlassen seines Herkunftsstaates selbst geschaffen hat, es sei denn, es handelt sich um in Österreich erlaubte Aktivitäten, die nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind.

…“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

15      Am 3. Oktober 2015 stellte JF, ein iranischer Staatsangehöriger, beim BFA einen Antrag auf internationalen Schutz, in dem er zum einen geltend machte, dass er als Fahrschullehrer vom iranischen Geheimdienst befragt worden sei, und zum anderen, dass er als Student verfolgt worden sei, weil er einen islamischen Prediger kritisiert habe.

16      Da das BFA dieses Vorbringen für unglaubwürdig hielt, wies es den Antrag mit Bescheid vom 7. Juni 2017 ab und erließ eine Rückkehrentscheidung gegen JF. Mit Erkenntnis vom 3. Januar 2018, das in Rechtskraft erwuchs, wies das Bundesverwaltungsgericht (Österreich) die von JF gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde als unbegründet zurück.

17      Am 26. Juni 2019 stellte JF einen Folgeantrag im Sinne von Art. 2 Buchst. q der Richtlinie 2013/32, in dem er geltend machte, dass er zwischenzeitlich zum Christentum konvertiert sei und fürchte, aus diesem Grund in seinem Herkunftsland verfolgt zu werden. Mit Bescheid vom 24. Juni 2020 verweigerte ihm das BFA auf der Grundlage von § 3 Abs. 2 Satz 2 AsylG 2005 die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten, da die geltend gemachte Verfolgungsgefahr einen Nachfluchtgrund darstelle und vom Antragsteller selbst geschaffen worden sei. Das BFA stellte jedoch auch fest, dass JF glaubhaft gemacht habe, dass er aus „innerer Überzeugung“ in Österreich zum Christentum konvertiert sei, diese Religion aktiv lebe und aus diesem Grund im Falle der Rückkehr in den Iran der Gefahr einer individuellen Verfolgung ausgesetzt sei. Vor diesem Hintergrund erkannte das BFA JF den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu und erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung.

18      Mit Erkenntnis vom 29. September 2020 gab das Bundesverwaltungsgericht der von JF gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde statt. Es führte aus, dass im Rahmen der Prüfung eines Folgeantrags die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten „in der Regel“ zwar ausgeschlossen sei, wenn die Verfolgungsgefahr auf vom Antragsteller selbst geschaffenen Umständen beruhe; dieser Wendung sei jedoch zu entnehmen, dass eine Zuerkennung dieses Status in bestimmten Fällen möglich sei, und zwar ungeachtet der gemäß § 3 Abs. 2 Satz 2 AsylG 2005 bestehenden Verpflichtung der zuständigen Behörde, einen etwaigen Missbrauch seitens des Antragstellers zu prüfen. Der Bescheid des BFA vom 24. Juni 2020 enthalte keine Anhaltspunkte für ein missbräuchliches Verhalten seitens JF. Das Fehlen von Anhaltspunkten dafür, dass die Konversion von JF Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung gewesen sei, reiche nicht aus, um die Verweigerung der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten zu rechtfertigen.

19      Gegen dieses Erkenntnis erhob das BFA eine ordentliche Amtsrevision an das vorlegende Gericht, den Verwaltungsgerichtshof (Österreich), in der es geltend machte, dass der Wortlaut von § 3 Abs. 2 Satz 2 AsylG 2005 eine Auslegung dahin ausschließe, dass es im Fall eines Folgeantrags, der auf eine Verfolgungsgefahr gestützt werde, die auf Umständen beruhe, die der Antragsteller nach der Flucht selbst geschaffen habe, lediglich darauf ankomme, ob diese Umstände in Missbrauchsabsicht gesetzt worden seien. Diese Bestimmung lege als Regelfall nämlich fest, dass Antragstellern, die die Umstände, auf denen die Verfolgungsgefahr beruhe, im Aufnahmemitgliedstaat selbst geschaffen hätten, der Status des Asylberechtigten nicht zuerkannt werde. Von diesem Regelfall ausgenommen seien nur Fälle, in denen die in Rede stehenden Aktivitäten in Österreich erlaubt und nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung seien.

20      Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits von der Auslegung von Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 abhänge, da diese durch § 3 Abs. 2 Satz 2 AsylG 2005 in österreichisches Recht umgesetzt werde.

21      Was die Wendung „unbeschadet der Genfer Flüchtlingskonvention“ in dieser Bestimmung betreffe, so habe das deutsche Wort „unbeschadet“ zum einen mehrere Bedeutungen. Richte man sich nach seiner ersten Bedeutung, wäre die Genfer Flüchtlingskonvention uneingeschränkt zu beachten, und zwar auch in Fällen, die in den Anwendungsbereich von Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 fielen. Gemäß der zweiten Bedeutung könnten die Mitgliedstaaten hingegen in Bezug auf Folgeanträge, die auf „Umständen [beruhen], die der Antragsteller nach Verlassen des Herkunftslandes selbst geschaffen hat“, eine Missbrauchsvermutung einführen. Zum anderen handele es sich bei der Wendung „in der Regel“ um einen unbestimmten Begriff, dessen konkrete Bedeutung weder aus dem Text der Richtlinie noch aus ihren Erwägungsgründen erschließbar sei.

22      Vor diesem Hintergrund hat der Verwaltungsgerichtshof beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats, wonach einem Fremden, der einen Folgeantrag stellt, in der Regel nicht der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Fremde nach Verlassen seines Herkunftsstaates selbst geschaffen hat, es sei denn, es handelt sich um in Österreich erlaubte Aktivitäten, die nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind, entgegensteht?

 Zur Vorlagefrage

23      Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aufgrund eines Folgeantrags im Sinne von Art. 2 Buchst. q der Richtlinie 2013/32, der auf eine Verfolgungsgefahr gestützt wird, die auf Umständen beruht, die der Antragsteller nach Verlassen des Herkunftslands selbst geschaffen hat, von der doppelten Voraussetzung abhängig macht, dass es sich bei diesen Umständen einerseits um im betreffenden Mitgliedstaat erlaubte Aktivitäten handelt und sie andererseits Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung sind.

24      Nach Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 können die Mitgliedstaaten „[u]nbeschadet der Genfer Flüchtlingskonvention … festlegen, dass ein Antragsteller, der einen Folgeantrag stellt, in der Regel nicht als Flüchtling anerkannt wird, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Antragsteller nach Verlassen des Herkunftslandes selbst geschaffen hat“.

25      Sowohl die einheitliche Anwendung des Unionsrechts als auch der Gleichheitssatz verlangen, dass die Begriffe einer unionsrechtlichen Bestimmung, die für die Ermittlung ihres Sinns und ihrer Bedeutung nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Europäischen Union autonom und einheitlich auszulegen sind, wobei diese Auslegung unter Berücksichtigung nicht nur des Wortlauts der Bestimmung, sondern auch ihres Regelungszusammenhangs, des mit der fraglichen Regelung verfolgten Zwecks sowie gegebenenfalls ihrer Entstehungsgeschichte zu erfolgen hat (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 18. Januar 1984, Ekro, 327/82, EU:C:1984:11, Rn. 11, vom 19. Dezember 2019, Nederlands Uitgeversverbond und Groep Algemene Uitgevers, C‑263/18, EU:C:2019:1111, Rn. 38, sowie vom 25. Juni 2020, Ministerio Fiscal [Behörde, bei der ein Antrag auf internationalen Schutz wahrscheinlich gestellt wird], C‑36/20 PPU, EU:C:2020:495, Rn. 53).

26      Zunächst geht aus dem Wortlaut von Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 zum einen hervor, dass die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet sind, diese Bestimmung in ihr innerstaatliches Recht umzusetzen, sondern dies tun „können“ – es handelt sich also bloß um eine Befugnis. Zum anderen wird die Flüchtlingseigenschaft dem Antragsteller nur dann „in der Regel“ nicht zuerkannt, wenn die im Folgeantrag geltend gemachte Verfolgungsgefahr „auf Umständen beruht, die [er] nach Verlassen des Herkunftslandes selbst geschaffen hat“. Die Wendung „in der Regel“ schließt also nicht aus, dass auch bei Vorliegen solcher Umstände einem Antragsteller unter bestimmten Bedingungen die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt werden kann.

27      Was sodann den Regelungszusammenhang von Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 betrifft, geht u. a. aus dem vierten Erwägungsgrund dieser Richtlinie hervor, dass die Genfer Flüchtlingskonvention einen wesentlichen Bestandteil des internationalen Rechtsrahmens für den Schutz von Flüchtlingen darstellt. Die Bestimmungen dieser Richtlinie sind daher nicht nur im Licht der allgemeinen Systematik der Richtlinie, sondern auch unter Beachtung der Genfer Flüchtlingskonvention auszulegen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 13. Januar 2021, Bundesrepublik Deutschland [Flüchtlingseigenschaft eines Staatenlosen palästinensischer Herkunft], C‑507/19, EU:C:2021:3, Rn. 38 und 39, sowie vom 16. Januar 2024, Intervyuirasht organ na DAB pri MS [Frauen als Opfer häuslicher Gewalt], C‑621/21, EU:C:2024:47, Rn. 36 und 37).

28      Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass sich Art. 5 der Richtlinie 2011/95 gemäß seiner Überschrift auf den „[a]us Nachfluchtgründen entstehende[n] Bedarf an internationalem Schutz“ bezieht. Zu diesem Ausdruck ist, wie im 25. Erwägungsgrund dieser Richtlinie ausgeführt, ein gemeinsames Konzept zu entwickeln. Hierzu wird in den ersten beiden Absätzen von Art. 5, die im Gegensatz zu seinem dritten Absatz für alle Anträge auf internationalen Schutz gelten, klargestellt, dass die begründete Furcht vor Verfolgung nicht nur auf Ereignissen beruhen kann, die eingetreten sind, nachdem der Antragsteller sein Herkunftsland verlassen hat, sondern auch auf Aktivitäten, die der Antragsteller nach Verlassen des Herkunftslands gesetzt hat. Die Verwendung des Ausdrucks „insbesondere“ in Art. 5 Abs. 2 in Bezug auf Fälle, in denen diese Aktivitäten nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind, bedeutet, dass sich Antragsteller sowohl im Rahmen eines Erstantrags auf internationalen Schutz als auch im Rahmen eines Folgeantrags grundsätzlich auch auf Aktivitäten berufen können, die nicht Ausdruck und Verlängerung einer solchen Überzeugung oder Ausrichtung sind.

29      Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 im Verhältnis zu dem in den ersten beiden Absätzen dieses Artikels aufgestellten Grundsatz Ausnahmecharakter hat, da er zulässt, dass eine Verfolgungsgefahr, die einem Folgeantrag zugrunde liegt und auf Umständen beruht, die der Antragsteller nach Verlassen des Herkunftslands selbst geschaffen hat, „in der Regel“ zum Ausschluss der Anerkennung als Flüchtling führt. In Anbetracht dieses Ausnahmecharakters ist, wie im Wesentlichen vom Generalanwalt in Nr. 54 seiner Schlussanträge ausgeführt, die den Mitgliedstaaten durch Art. 5 Abs. 3 eingeräumte Befugnis eng zu fassen.

30      Bestätigt wird diese Auslegung durch die Definition des Begriffs „Flüchtling“ in Art. 1 Abschnitt A Ziff. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention, die sich auch in Art. 2 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 findet und keine Einschränkung im Hinblick darauf vorsieht, dass die begründete Furcht vor Verfolgung aus mindestens einem der dort genannten Verfolgungsgründe auf Aktivitäten des Antragstellers nach Verlassen des Herkunftslands beruhen kann, die weder Ausdruck noch Fortsetzung einer bereits dort bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind.

31      Auch die Entstehungsgeschichte von Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 untermauert diese Auslegung. Aus dem Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (KOM[2001] 510 endg.), der von der Europäischen Kommission am 30. Oktober 2001 vorgelegt wurde und zur Annahme der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2004, L 304, S. 12) führte, die durch die Richtlinie 2011/95 aufgehoben und ersetzt wurde, geht nämlich hervor, dass die Kommission durch die Verwendung des Verbs „schaffen“ in der Bestimmung der Richtlinie 2004/83, die Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 entspricht, den Fall regeln wollte, dass der Antragsteller die Furcht vor Verfolgung „durch eigenes Zutun erzeugt“ hat.

32      Aus dem Vorstehenden ergibt sich, wie im Wesentlichen vom Generalanwalt in den Nrn. 56 und 64 seiner Schlussanträge ausgeführt, dass die auf Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 gestützte Weigerung, aufgrund eines Folgeantrags auf internationalen Schutz die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, in Anbetracht der Vorsätzlichkeit, die in der Wendung „selbst geschaffene Umstände“ zum Ausdruck kommt, darauf abzielt, eine Missbrauchsabsicht des Antragstellers zu ahnden, der die Umstände, auf denen die Verfolgungsgefahr beruht, der er bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland ausgesetzt wäre, „durch eigenes Zutun erzeugt“ und damit das anwendbare Verfahren für die Zuerkennung internationalen Schutzes instrumentalisiert hat.

33      Diese Auslegung wird schließlich durch das wesentliche Ziel dieser Richtlinie gestützt, das – wie in ihrem zwölften Erwägungsgrund ausgeführt – darin besteht, einerseits zu gewährleisten, dass die Mitgliedstaaten gemeinsame Kriterien zur Bestimmung der Personen anwenden, die tatsächlich internationalen Schutz benötigen, und andererseits sicherzustellen, dass diesen Personen in allen Mitgliedstaaten ein Mindestniveau von Leistungen geboten wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Juli 2023, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Besonders schwere Straftat], C‑402/22, EU:C:2023:543, Rn. 36).

34      Die Frage, ob die in einem Folgeantrag geltend gemachten Umstände, mit denen das Vorliegen einer Verfolgungsgefahr aus einem der in Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 genannten Gründe dargetan werden soll, was zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft führen kann, von einer Missbrauchsabsicht und einer Absicht zeugen, das anwendbare Verfahren zu instrumentalisieren, erfordert eine individuelle Prüfung dieses Antrags anhand aller in Rede stehenden Umstände durch die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten gemäß Art. 4 Abs. 3 dieser Richtlinie, wobei alle relevanten Tatsachen zu berücksichtigen sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. September 2023, Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie [Politische Überzeugung im Aufnahmemitgliedstaat], C‑151/22, EU:C:2023:688, Rn. 42, und vom 16. Januar 2024, Intervyuirasht organ na DAB pri MS [Frauen als Opfer häuslicher Gewalt], C‑621/21, EU:C:2024:47, Rn. 60).

35      Insoweit ist hervorzuheben, dass die in Art. 4 Abs. 3 Buchst. d dieser Richtlinie genannte Frage, ob die Aktivitäten des Antragstellers seit Verlassen des Herkunftslands ausschließlich oder hauptsächlich aufgenommen wurden, um die für die Beantragung von internationalem Schutz erforderlichen Voraussetzungen zu schaffen, nur einen Aspekt darstellt, den die zuständigen nationalen Behörden bei dieser individuellen Prüfung zu berücksichtigen haben. Sie müssen nämlich eine umfassende Prüfung aller Umstände des konkreten Falls des Antragstellers vornehmen und dabei alle in Art. 4 Abs. 3 Buchst. a bis e genannten Punkte berücksichtigen.

36      Daraus folgt, dass Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 entgegen dem Vorbringen der österreichischen und der deutschen Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen nicht dahin ausgelegt werden kann, dass die fakultative Umsetzung dieser Bestimmung die Mitgliedstaaten davon befreit, die zuständigen nationalen Behörden zu verpflichten, jeden Folgeantrag auf internationalen Schutz individuell zu prüfen. Diese Bestimmung kann auch nicht dahin ausgelegt werden, dass eine solche Umsetzung es den Mitgliedstaaten erlaubt, eine vom Antragsteller zu widerlegende Vermutung aufzustellen, wonach jeder Folgeantrag, der auf Umständen beruht, die der Antragsteller nach Verlassen des Herkunftslands selbst geschaffen hat, a priori auf eine Missbrauchsabsicht und die Absicht zurückzuführen ist, das Verfahren für die Zuerkennung internationalen Schutzes zu instrumentalisieren.

37      Solche Auslegungen würden nämlich Art. 4 der Richtlinie 2011/95, der für alle Anträge auf internationalen Schutz gilt, und zwar unabhängig von den Verfolgungsgründen, auf die diese Anträge gestützt werden, die praktische Wirksamkeit nehmen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 25. Januar 2018, F, C‑473/16, EU:C:2018:36, Rn. 36, und vom 21. September 2023, Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie [Politische Überzeugung im Aufnahmemitgliedstaat], C‑151/22, EU:C:2023:688, Rn. 41). Insbesondere hat die zuständige nationale Behörde nach Art. 4 Abs. 3 eine vollständige Prüfung sämtlicher besonderer Umstände des konkreten Falls des Antragstellers vorzunehmen, was jeglichen Automatismus ausschließt (vgl. entsprechend Urteile vom 13. September 2018, Ahmed, C‑369/17, EU:C:2018:713, Rn. 48 und 49, sowie vom 22. September 2022, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a., C‑159/21, EU:C:2022:708, Rn. 72 und 73).

38      Im vorliegenden Fall hat das BFA nach einer gemäß Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 vorgenommenen individuellen Prüfung des Folgeantrags von JF festgestellt, dass der Betroffene glaubhaft gemacht habe, dass er „aus innerer Überzeugung“ in Österreich zum Christentum konvertiert sei und diese Religion aktiv lebe, weshalb er im Fall der Rückkehr in seinen Herkunftsstaat der Gefahr einer individuellen Verfolgung ausgesetzt sei. Wenn sich diese Feststellung als zutreffend erweist, was vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist, schließt sie aus, dass der Antragsteller eine Missbrauchsabsicht hegte oder beabsichtigte, das anwendbare Verfahren zu instrumentalisieren, was nach Art. 5 Abs. 3 dieser Richtlinie zur Verweigerung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft durch die zuständige nationale Behörde führen könnte.

39      Wenn ein solcher Antragsteller im Übrigen die Voraussetzungen des Kapitels III der Richtlinie 2011/95 erfüllt, um im Sinne von Art. 2 Buchst. d dieser Richtlinie als Flüchtling qualifiziert zu werden, ist der betreffende Mitgliedstaat nach Art. 13 der Richtlinie verpflichtet, ihm die Flüchtlingseigenschaft im Sinne von Art. 2 Buchst. e dieser Richtlinie zuzuerkennen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 24. Juni 2015, T., C‑373/13, EU:C:2015:413, Rn. 63, und vom 16. Januar 2024, Intervyuirasht organ na DAB pri MS [Frauen als Opfer häuslicher Gewalt], C‑621/21, EU:C:2024:47, Rn. 72).

40      In Fällen, in denen die im Rahmen von Folgeanträgen geltend gemachte Verfolgungsgefahr auf den in Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 beschriebenen Umständen beruht, in denen aber nach einer im Einklang mit Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie vorgenommenen individuellen Prüfung festgestellt wird, dass diese Umstände von einer Missbrauchsabsicht des Antragstellers sowie der Absicht zeugen, das anwendbare Verfahren zu instrumentalisieren, ermöglicht Art. 5 Abs. 3 es dem betreffenden Mitgliedstaat hingegen, vorzusehen, dass diesem Antragsteller die Flüchtlingseigenschaft im Sinne von Art. 2 Buchst. e der Richtlinie 2011/95 grundsätzlich nicht zuerkannt wird, obwohl seine Furcht, aufgrund dieser Umstände in seinem Herkunftsland verfolgt zu werden, begründet ist und er daher im Sinne von Art. 1 Abschnitt A der Genfer Flüchtlingskonvention und von Art. 2 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 als Flüchtling zu qualifizieren wäre. Die Eigenschaft als Flüchtling im Sinne dieser Bestimmungen hängt nämlich nicht von der förmlichen Anerkennung einer solchen Eigenschaft durch die Gewährung der „Flüchtlingseigenschaft“ im Sinne von Art. 2 Buchst. e dieser Richtlinie ab (Urteil vom 14. Mai 2019, M u. a. [Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft], C‑391/16, C‑77/17 und C‑78/17, EU:C:2019:403, Rn. 90).

41      Die Bedeutung und die Tragweite des Ausdrucks „unbeschadet der Genfer Flüchtlingskonvention“ in Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 sind vor diesem Hintergrund zu prüfen. Hierzu weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass der Begriff „unbeschadet“ in der deutschen Fassung dieser Bestimmung zwar „im Einklang mit“ bedeuten könne, aber auch „ohne Rücksicht auf“. Sollte die letztgenannte Bedeutung des Begriffs „unbeschadet“ maßgeblich sein, ließe dies die Annahme zu, dass Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 es den Mitgliedstaaten erlaube, in dem dort vorgesehenen Fall die Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention außer Acht zu lassen.

42      Die in einer der Sprachfassungen einer unionsrechtlichen Vorschrift verwendete Formulierung kann jedoch nicht als alleinige Grundlage für die Auslegung dieser Vorschrift herangezogen werden oder Vorrang vor den übrigen Sprachfassungen beanspruchen. Die in Rn. 25 des vorliegenden Urteils genannte Notwendigkeit einer einheitlichen Auslegung und Anwendung jeder Vorschrift des Unionsrechts schließt es aus, sie in einer ihrer Sprachfassungen isoliert zu betrachten, und gebietet es, sie anhand des Kontexts und des Zwecks der Regelung auszulegen, zu der sie gehört (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 12. November 1969, Stauder, 29/69, EU:C:1969:57, Rn. 2 und 3, sowie vom 15. September 2022, Minister for Justice and Equality [Drittstaatsangehöriger Cousin eines Unionsbürgers], C‑22/21, EU:C:2022:683, Rn. 20).

43      In der spanischen, der tschechischen, der englischen, der ungarischen, der portugiesischen, der finnischen und der schwedischen Fassung ist der für den deutschen Begriff „unbeschadet“ in Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 verwendete Ausdruck dahin zu verstehen, dass die Mitgliedstaaten, wenn sie die ihnen durch Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 eingeräumte Möglichkeit umsetzen, einem Antragsteller unter den in Rn. 32 des vorliegenden Urteils ausgeführten Umständen die Flüchtlingseigenschaft „in der Regel“ nicht zuzuerkennen, die Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention zu berücksichtigen haben. Daraus folgt, dass der Begriff „unbeschadet“ in der deutschen Fassung dieser Bestimmung sowohl nach der allgemeinen Systematik als auch nach dem Zweck der Richtlinie 2011/95, die oben in den Rn. 27 bzw. 33 dargelegt wurden, in diesem Sinne zu verstehen ist.

44      In allen Fällen, in denen die mit einem Folgeantrag befasste zuständige nationale Behörde feststellt, dass die vom Antragsteller geltend gemachten Umstände von einer Missbrauchsabsicht und einer Absicht zeugen, das anwendbare Verfahren zu instrumentalisieren, so dass ihm die Anerkennung als Flüchtling auf der Grundlage von Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 verweigert werden kann, gebietet der Ausdruck „unbeschadet der Genfer Flüchtlingskonvention“ folglich, dass der Antragsteller im betreffenden Mitgliedstaat trotzdem die durch die Genfer Flüchtlingskonvention gewährleisteten Rechte – die gemäß Art. 42 Abs. 1 der Konvention keinem Vorbehalt unterliegen dürfen – in Anspruch nehmen kann, falls die Behörde im Licht der genannten Umstände feststellt, dass der Antragsteller für den Fall der Rückkehr in sein Herkunftsland wahrscheinlich einer Verfolgung ausgesetzt ist. Zu diesen Rechten zählt das durch Art. 33 Abs. 1 dieser Konvention gewährleistete Recht, wonach kein vertragschließender Staat einen Flüchtling auf irgendeine Weise über die Grenzen von Gebieten ausweisen oder zurückweisen wird, in denen sein Leben oder seine Freiheit insbesondere wegen seiner Religion bedroht sein würde.

45       Soweit das vorlegende Gericht schließlich danach fragt, ob die in der Regelung, mit der Art. 5 Abs. 3 dieser Richtlinie in nationales Recht umgesetzt wurde, vorgesehene Voraussetzung, nach der die Aktivitäten, auf die der Antragsteller die Verfolgungsgefahr stützt, im Aufnahmemitgliedstaat erlaubt sein müssen, mit der Richtlinie 2011/95 vereinbar ist, genügt der Hinweis, dass nach Art. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention „[j]eder Flüchtling … gegenüber dem Land, in dem er sich befindet, Pflichten [hat], zu denen insbesondere [die] Verpflichtung gehört, die Gesetze und sonstigen Rechtsvorschriften sowie die zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung getroffenen Maßnahmen zu beachten“. Daraus folgt, dass die Wendung „unbeschadet der Genfer Flüchtlingskonvention“ in Art. 5 Abs. 3 nicht dahin ausgelegt werden kann, dass sie einer solchen im nationalen Recht vorgesehenen Voraussetzung entgegensteht.

46      Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aufgrund eines Folgeantrags im Sinne von Art. 2 Buchst. q der Richtlinie 2013/32, der auf eine Verfolgungsgefahr gestützt wird, die auf Umständen beruht, die der Antragsteller nach Verlassen des Herkunftslands selbst geschaffen hat, von der Voraussetzung abhängig macht, dass diese Umstände Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung des Antragstellers sind.

 Kosten

47      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes

ist dahin auszulegen, dass

er einer nationalen Regelung entgegensteht, die die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aufgrund eines Folgeantrags im Sinne von Art. 2 Buchst. q der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes, der auf eine Verfolgungsgefahr gestützt wird, die auf Umständen beruht, die der Antragsteller nach Verlassen des Herkunftslands selbst geschaffen hat, von der Voraussetzung abhängig macht, dass diese Umstände Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung des Antragstellers sind.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Deutsch.