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URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

13. Juni 2024(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsame Politik im Bereich Asyl und subsidiärer Schutz – Richtlinie 2011/95/EU – Art. 12 – Ausschluss von der Anerkennung als Flüchtling – Beim Hilfswerk der Vereinten Nationen (für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten) (UNRWA) registrierte Person – Voraussetzungen dafür, dass diese Person ipso facto den Schutz der Richtlinie 2011/95/EU genießt – Wegfall des Schutzes oder des Beistands des UNRWA – Art. 4 – Allgemeine Lage, die in einem Operationsgebiet des UNRWA-Einsatzgebiets herrscht – Individuelle Prüfung aller maßgeblichen Elemente – Richtlinie 2013/32/EU – Art. 40 – Folgeantrag auf internationalen Schutz – Neue Elemente – Elemente, die bereits in der endgültigen Entscheidung über den früheren Antrag geprüft wurden“

In der Rechtssache C‑563/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Administrativen sad Sofia-grad (Verwaltungsgericht Sofia-Stadt, Bulgarien) mit Entscheidung vom 9. August 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 22. August 2022, in dem Verfahren

SN,

LN

gegen

Zamestnik-predsedatel na Darzhavna agentsia za bezhantsite

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Lycourgos, der Richterin O. Spineanu-Matei, der Richter J.‑C. Bonichot und S. Rodin sowie der Richterin L. S. Rossi (Berichterstatterin),

Generalanwalt: N. Emiliou,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der bulgarischen Regierung, vertreten durch T. Mitova als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Azéma, J. Hottiaux und I. Zaloguin als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 11. Januar 2024

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9), von Art. 40 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. 2013, L 180, S. 60) sowie von Art. 19 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen SN und LN und dem Zamestnik-predsedatel na Darzhavna agentsia za bezhantsite (stellvertretender Vorsitzender der Staatlichen Agentur für Flüchtlinge, Bulgarien) wegen dessen Ablehnung des Antrags von SN und LN auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder, hilfsweise, auf subsidiären Schutz.

 Rechtlicher Rahmen

 Völkerrecht

 Genfer Konvention

3        Das am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichnete Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (United Nations Treaty Series, Bd. 189, Nr. 2545 [1954], S. 150) trat am 22. April 1954 in Kraft. Es wurde ergänzt und geändert durch das am 31. Januar 1967 in New York geschlossene und am 4. Oktober 1967 in Kraft getretene Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (im Folgenden: Genfer Konvention).

4        Art. 1 Abschnitt D der Genfer Konvention bestimmt:

„Dieses Abkommen findet keine Anwendung auf Personen, die zurzeit den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Institution der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge [(im Folgenden: UNHCR)] genießen.

Ist dieser Schutz oder diese Unterstützung aus irgendeinem Grunde weggefallen, ohne dass das Schicksal dieser Personen endgültig gemäß den hierauf bezüglichen Entschließungen der Generalversammlung der Vereinten Nationen geregelt worden ist, so fallen diese Personen ipso facto unter die Bestimmungen dieses Abkommens.“

 Das UNRWA

5        Mit der Resolution Nr. 302 (IV) der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 8. Dezember 1949 über die Hilfe für Palästinaflüchtlinge wurde das Hilfswerk der Vereinten Nationen (für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten) (UNRWA) (United Nations Relief and Works Agency [for Palestine Refugees in the Near East]) errichtet.

6        Das Einsatzgebiet des UNRWA umfasst fünf Operationsgebiete, nämlich den Gazastreifen, das Westjordanland, Jordanien, den Libanon und Syrien.

7        In der Resolution Nr. 74/83 der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 13. Dezember 2019 über die Hilfe für Palästinaflüchtlinge heißt es:

„Die Generalversammlung,

in Anerkennung der unverzichtbaren Rolle, die das [UNRWA] in den mehr als 65 Jahren seines Bestehens übernommen hat, um die Not der Palästinaflüchtlinge durch die Bereitstellung von Bildungs‑, Gesundheits‑, Hilfs- und Sozialdiensten und die laufende Arbeit auf den Gebieten Lagerinfrastruktur, Mikrofinanzierung, Schutz und Nothilfe zu lindern,

sowie Kenntnis nehmend von dem Bericht des Generalkommissars vom 31. Mai 2019, vorgelegt gemäß Ziffer 57 des Berichts des Generalsekretärs, und mit dem Ausdruck ihrer Besorgnis über die schwere Finanzkrise des [UNRWA] und die nachteiligen Auswirkungen auf die weitere Durchführung der Kernprogramme für die Palästinaflüchtlinge in allen Einsatzgebieten,

mit dem Ausdruck ihrer ernsten Besorgnis über die besonders schwierige Lage der unter der Besatzung lebenden Palästinaflüchtlinge, namentlich im Hinblick auf ihre Sicherheit, ihr Wohlergehen und ihre sozioökonomischen Lebensbedingungen,

insbesondere mit dem Ausdruck ihrer ernsten Besorgnis über die ernste humanitäre und sozioökonomische Lage der Palästinaflüchtlinge im Gazastreifen und unterstreichend, wie wichtig Nothilfe und humanitäre Hilfe und dringende Wiederaufbaubemühungen sind,

1.      stellt mit Bedauern fest, dass die in Ziffer 11 der Resolution 194 (III) der Generalversammlung [der Vereinten Nationen vom 11. Dezember 1948 über die Grundsätze für eine endgültige Lösung und die Rückkehr palästinensischer Flüchtlinge in ihre Heimat] vorgesehene Repatriierung beziehungsweise Entschädigung der Flüchtlinge noch nicht stattgefunden hat und dass daher die Situation der Palästinaflüchtlinge auch weiterhin zu ernster Besorgnis Anlass gibt und die Palästinaflüchtlinge zur Deckung ihrer grundlegenden Bedürfnisse auf den Gebieten Gesundheit, Bildung und Sicherung des Lebensunterhalts nach wie vor Hilfe benötigen;

3.      bekräftigt, dass die Arbeit des [UNRWA] fortgesetzt werden muss und dass sein ungehinderter Betrieb und seine Erbringung von Diensten, einschließlich Nothilfe, für das Wohlergehen, den Schutz und die menschliche Entwicklung der Palästinaflüchtlinge und für die Stabilität der Region wichtig sind, solange es keine gerechte Lösung der Frage der Palästinaflüchtlinge gibt;

4.      ruft alle Geber auf, sich weiter verstärkt zu bemühen, den voraussichtlichen Bedarf des [UNRWA], auch im Hinblick auf den Anstieg der Ausgaben und des Bedarfs infolge der Konflikte und der Instabilität in der Region und der ernsten sozioökonomischen und humanitären Lage, insbesondere im besetzten palästinensischen Gebiet, sowie den Bedarf zu decken, der im Rahmen der jüngsten Appelle und Pläne betreffend Nothilfe, Wiederherstellung und Wiederaufbau für den Gazastreifen und der regionalen Krisenpläne zur Bewältigung der Situation der Palästinaflüchtlinge in der Arabischen Republik Syrien und der Palästinaflüchtlinge, die in Länder in der Region geflohen sind, genannt ist;

7.      beschließt unbeschadet der Bestimmungen in Ziffer 11 der Resolution 194 (III) der Generalversammlung [der Vereinten Nationen vom 11. Dezember 1948 über die Grundsätze für eine endgültige Lösung und die Rückkehr palästinensischer Flüchtlinge in ihre Heimat], das Mandat des [UNRWA] bis zum 30. Juni 2023 zu verlängern.“

8        Mit der Resolution Nr. 77/123 der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 12. Dezember 2022 über die Hilfe für Palästinaflüchtlinge wurde das Mandat des UNRWA bis zum 30. Juni 2026 verlängert.

9        In Anbetracht der ihm übertragenen Aufgabe ist das UNRWA als eine andere Organisation der Vereinten Nationen als der UNHCR anzusehen, die Schutz oder Beistand im Sinne von Art. 1 Abschnitt D der Genfer Konvention bietet.

 Unionsrecht

 Richtlinie 2011/95

10      Der 18. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95 lautet:

„Bei der Umsetzung dieser Richtlinie sollten die Mitgliedstaaten im Einklang mit dem Übereinkommen der Vereinten Nationen von 1989 über die Rechte des Kindes vorrangig das ‚Wohl des Kindes‘ berücksichtigen. Bei der Bewertung der Frage, was dem Wohl des Kindes dient, sollten die Mitgliedstaaten insbesondere dem Grundsatz des Familienverbands, dem Wohlergehen und der sozialen Entwicklung des Minderjährigen, Sicherheitsaspekten sowie dem Willen des Minderjährigen unter Berücksichtigung seines Alters und seiner Reife Rechnung tragen.“

11      Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) dieser Richtlinie bestimmt:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

d)      ‚Flüchtling‘ einen Drittstaatsangehörigen, der aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will, oder einen Staatenlosen, der sich aus denselben vorgenannten Gründen außerhalb des Landes seines vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts befindet und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht dorthin zurückkehren will und auf den Artikel 12 keine Anwendung findet;

…“

12      Art. 4 („Prüfung der Tatsachen und Umstände“) der Richtlinie bestimmt:

(1)      Die Mitgliedstaaten können es als Pflicht des Antragstellers betrachten, so schnell wie möglich alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte darzulegen. Es ist Pflicht des Mitgliedstaats, unter Mitwirkung des Antragstellers die für den Antrag maßgeblichen Anhaltspunkte zu prüfen.

(2)      Zu den in Absatz 1 genannten Anhaltspunkten gehören Angaben des Antragstellers zu Alter und familiären und sozialen Verhältnissen – auch der betroffenen Verwandten –, Identität, Staatsangehörigkeit(en), Land/Ländern und Ort(en) des früheren Aufenthalts, früheren Asylanträgen, Reisewegen und Reisedokumenten sowie zu den Gründen für seinen Antrag auf internationalen Schutz und sämtliche ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen zu diesen Angaben.

(3)      Die Anträge auf internationalen Schutz sind individuell zu prüfen, wobei Folgendes zu berücksichtigen ist:

a)      alle mit dem Herkunftsland verbundenen Tatsachen, die zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag relevant sind, einschließlich der Rechts- und Verwaltungsvorschriften des Herkunftslandes und der Weise, in der sie angewandt werden;

b)      die maßgeblichen Angaben des Antragstellers und die von ihm vorgelegten Unterlagen, einschließlich Informationen zu der Frage, ob er verfolgt worden ist bzw. verfolgt werden könnte oder einen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. erleiden könnte;

…“

13      Art. 12 („Ausschluss“) der Richtlinie bestimmt:

„(1)      Ein Drittstaatsangehöriger oder ein Staatenloser ist von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen, wenn er

a)      den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Institution der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge gemäß Artikel 1 Abschnitt D der Genfer Flüchtlingskonvention genießt. Wird ein solcher Schutz oder Beistand aus irgendeinem Grund nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig geklärt worden ist, genießt er ipso facto den Schutz dieser Richtlinie;

b)      von den zuständigen Behörden des Landes, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Landes verknüpft sind, bzw. gleichwertige Rechte und Pflichten hat.

(2)      Ein Drittstaatsangehöriger oder ein Staatenloser ist von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen, wenn schwerwiegende Gründe zu der Annahme berechtigen, dass er

a)      ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne der internationalen Vertragswerke begangen hat, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen festzulegen;

b)      eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Aufnahmelandes begangen hat, bevor er als Flüchtling aufgenommen wurde, das heißt vor dem Zeitpunkt der Ausstellung eines Aufenthaltstitels aufgrund der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft; insbesondere grausame Handlungen können als schwere nichtpolitische Straftaten eingestuft werden, auch wenn mit ihnen vorgeblich politische Ziele verfolgt werden;

c)      sich Handlungen zuschulden kommen ließ, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen, wie sie in der Präambel und in den Artikeln 1 und 2 der Charta der Vereinten Nationen verankert sind, zuwiderlaufen.

(3)      Absatz 2 findet auf Personen Anwendung, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen anstiften oder sich in sonstiger Weise daran beteiligen.“

14      Art. 15 („Ernsthafter Schaden“) der Richtlinie 2011/95 sieht vor:

„Als ernsthafter Schaden gilt

a)      die Todesstrafe oder Hinrichtung oder

b)      Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung eines Antragstellers im Herkunftsland oder

c)      eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.“

15      Art. 20 („Allgemeine Bestimmungen“) Abs. 3 dieser Richtlinie bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten berücksichtigen bei der Umsetzung dieses Kapitels die spezielle Situation von schutzbedürftigen Personen wie Minderjährigen, unbegleiteten Minderjährigen, Behinderten, älteren Menschen, Schwangeren, Alleinerziehenden mit minderjährigen Kindern, Opfern des Menschenhandels, Personen mit psychischen Störungen und Personen, die Folter, Vergewaltigung oder sonstige schwere Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt erlitten haben.“

16      Art. 21 („Schutz vor Zurückweisung“) Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 lautet:

„Die Mitgliedstaaten achten den Grundsatz der Nichtzurückweisung in Übereinstimmung mit ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen.“

 Richtlinie 2013/32

17      Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie 2013/32 sieht vor:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

e)      ‚bestandskräftige Entscheidung‘ eine Entscheidung darüber, ob einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gemäß der Richtlinie [2011/95] die Flüchtlingseigenschaft oder der subsidiäre Schutzstatus zuzuerkennen ist, und gegen die kein Rechtsbehelf nach Kapitel V der vorliegenden Richtlinie mehr eingelegt werden kann, unabhängig davon, ob ein solcher Rechtsbehelf zur Folge hat, dass Antragsteller sich bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf in dem betreffenden Mitgliedstaat aufhalten dürfen;

q)      ‚Folgeantrag‘ einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz, der nach Erlass einer bestandskräftigen Entscheidung über einen früheren Antrag gestellt wird, auch in Fällen, in denen der Antragsteller seinen Antrag ausdrücklich zurückgenommen hat oder die Asylbehörde den Antrag nach der stillschweigenden Rücknahme durch den Antragsteller gemäß Artikel 28 Absatz 1 abgelehnt hat.“

18      Kapitel II („Grundsätze und Garantien“) dieser Richtlinie enthält deren Art. 6 bis 30. Art. 10 („Anforderungen an die Prüfung von Anträgen“) Abs. 3 der Richtlinie sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Asylbehörde ihre Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz nach angemessener Prüfung trifft. Zu diesem Zweck stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass

a)      die Anträge einzeln, objektiv und unparteiisch geprüft und entschieden werden;

b)      genaue und aktuelle Informationen aus verschiedenen Quellen, wie etwa [der Asylagentur der Europäischen Union (EASO)] und [dem] UNHCR sowie einschlägigen internationalen Menschenrechtsorganisationen, eingeholt werden, die Aufschluss geben über die allgemeine Lage in den Herkunftsstaaten der Antragsteller und gegebenenfalls in den Staaten, durch die sie gereist sind, und diese Informationen den für die Prüfung und Entscheidung der Anträge zuständigen Bediensteten zur Verfügung stehen;

…“

19      Art. 33 („Unzulässige Anträge“) Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten können einen Antrag auf internationalen Schutz nur dann als unzulässig betrachten, wenn

d)      es sich um einen Folgeantrag handelt, bei dem keine neuen Umstände oder Erkenntnisse zu der Frage, ob der Antragsteller nach Maßgabe der Richtlinie [2011/95] als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist, zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind …“

20      Art. 40 („Folgeanträge“) dieser Richtlinie bestimmt:

„(1)      Wenn eine Person, die einen Antrag auf internationalen Schutz in einem Mitgliedstaat gestellt hat, in demselben Mitgliedstaat weitere Angaben vorbringt oder einen Folgeantrag stellt, prüft dieser Mitgliedstaat diese weiteren Angaben oder die Elemente des Folgeantrags im Rahmen der Prüfung des früheren Antrags oder der Prüfung der Entscheidung, gegen die ein Rechtsbehelf eingelegt wurde, insoweit die zuständigen Behörden in diesem Rahmen alle Elemente, die den weiteren Angaben oder dem Folgeantrag zugrunde liegen, berücksichtigen können.

(2)      Für die Zwecke der gemäß Artikel 33 Absatz 2 Buchstabe d zu treffenden Entscheidung über die Zulässigkeit eines Antrags auf internationalen Schutz wird ein Folgeantrag auf internationalen Schutz zunächst daraufhin geprüft, ob neue Elemente oder Erkenntnisse betreffend die Frage, ob der Antragsteller nach Maßgabe der Richtlinie [2011/95] als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist, zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind.

(3)      Wenn die erste Prüfung nach Absatz 2 ergibt, dass neue Elemente oder Erkenntnisse zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind, die erheblich zu der Wahrscheinlichkeit beitragen, dass der Antragsteller nach Maßgabe der Richtlinie [2011/95] als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist, wird der Antrag gemäß Kapitel II weiter geprüft. Die Mitgliedstaaten können auch andere Gründe festlegen, aus denen der Folgeantrag weiter zu prüfen ist.

…“

21      Art. 46 („Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf“) der Richtlinie 2013/32 bestimmt in Abs. 3:

„Zur Einhaltung des Absatzes 1 stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass der wirksame Rechtsbehelf eine umfassende Ex-nunc-Prüfung vorsieht, die sich sowohl auf Tatsachen als auch auf Rechtsfragen erstreckt und bei der gegebenenfalls das Bedürfnis nach internationalem Schutz gemäß der Richtlinie [2011/95] zumindest in Rechtsbehelfsverfahren vor einem erstinstanzlichen Gericht beurteilt wird.“

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

22      SN und ihr minderjähriges Kind LN, beide Staatenlose palästinensischer Herkunft, verließen Gaza-Stadt im Juli 2018, hielten sich dann zunächst 45 Tage in Ägypten und danach sieben Monate lang in der Türkei auf, bevor sie, in Begleitung von KN, dem Ehemann von SN und Vater von LN, über Griechenland illegal in Bulgarien einreisten.

23      Am 22. März 2019 stellten SN und LN bei den bulgarischen Behörden einen Erstantrag auf internationalen Schutz. Dieser Antrag wurde mit der unsicheren Lage im Gazastreifen, dem Fehlen angemessener Lebensbedingungen und dem, sei es aufgrund des Beschusses aus Israel oder wegen der Konflikte zwischen Fatah und Hamas, fast ständig herrschenden Kriegszustand begründet. In dem Antrag hieß es auch, dass das Leben von KN durch die ständigen Bombenangriffe auf seinen Arbeitsplatz bedroht sei, dass SN sich nicht vorstellen könne, in einer solchen Umgebung weitere Kinder zur Welt zu bringen, und dass ihr Haus, das sich in der Nähe eines Polizeipostens der Hamas befinde, durch regelmäßigen Raketenbeschuss aus Israel bedroht sei.

24      In diesem Erstantrag hatten SN und LN nicht angegeben, dass sie beim UNRWA registriert waren.

25      Mit Entscheidung vom 5. Juli 2019 lehnte der Vorsitzende der Darzhavna agentsia za bezhantsite (Staatliche Agentur für Flüchtlinge, Bulgarien) (im Folgenden: DAB) diesen Antrag ab. Zur Begründung führte er aus, dass SN und LN nicht gezwungen gewesen seien, den Gazastreifen wegen der realen Gefahr von Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung, Todesstrafe oder Hinrichtung oder einer sonstigen ernsthaften Bedrohung zu verlassen, und dass sie bei einer Rückkehr in den Gazastreifen keiner solchen Gefahr ausgesetzt seien, ferner, dass die Lage im Gazastreifen nicht mit der Situation eines bewaffneten Konflikts wie dem in der Rechtssache, in der das Urteil vom 17. Februar 2009, Elgafaji (C‑465/07, EU:C:2009:94), ergangen sei, verglichen werden könne, und schließlich, dass SN und LN sich im ersten sicheren Land, nämlich Ägypten, oder sogar der Türkei, hätten niederlassen können und dass sie in Wirklichkeit nur in der Hoffnung eines in wirtschaftlicher Hinsicht besseren Lebens nach Bulgarien gereist seien.

26      Nach Ausschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs wurde dieser Bescheid bestandskräftig.

27      Am 21. August 2020 stellten SN und LN einen zweiten Antrag auf internationalen Schutz. Im Rahmen dieses Antrags legten SN und LN ein Schreiben des UNHCR vom 18. August 2020 vor, in dem ihre Registrierung beim UNRWA bescheinigt wird, und beriefen sich auf Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2011/95, um ipso facto die Flüchtlingseigenschaft beanspruchen zu können.

28      Zur Stützung dieses Antrags legten SN und LN verschiedene Dokumente vor, die die kritischen Umstände belegen, unter denen das UNRWA im Gazastreifen tätig ist, insbesondere seit der Aussetzung der jährlichen Finanzierung durch die Vereinigten Staaten von Amerika im Jahr 2018, die zu einer Verringerung der Unterstützung geführt haben soll, die ihre Familie ursprünglich erhalten habe, so dass sie nicht mehr ausreiche, um ihnen menschenwürdige Lebensbedingungen zu gewährleisten. Unter diesen Umständen waren SN und LN der Ansicht, dass der Schutz oder Beistand des UNRWA ihnen gegenüber als nicht länger gewährt anzusehen sei.

29      Zur Erklärung ihres Wegzugs aus dem Gazastreifen und der Unmöglichkeit ihrer Rückkehr dorthin berief sich SN auf die Verschlechterung der Sicherheitslage in der Region, die Unterbrechung der Zahlung ihres Gehalts, die fehlende Arbeit und die hohe Arbeitslosenquote, die Verschlechterung der Lage im Zusammenhang mit der Covid‑19-Pandemie, die Verhängung einer Ausgangssperre, die Schließung der Schulen und das von der Hamas gegen die Bürger verhängte Verbot, ihr Haus zu verlassen, die regelmäßigen Spannungen zwischen der Hamas und Israel sowie den Umstand, dass das Haus, in dem sie gelebt habe, da es sich in der Nähe eines Polizeipostens der Hamas befinde, durch regelmäßigen Raketenbeschuss aus Israel gefährdet gewesen sei. Außerdem sei bei einem Angriff im Jahr 2014 das Dach dieses Hauses getroffen worden, und SN und LN seien zum Großvater väterlicherseits von SN gezogen, bei dem sie fast zwei Jahre lang gewohnt hätten, bevor sie wieder in das Haus eingezogen seien. Die Eltern von SN seien im Jahr 2008 nach Schweden gezogen, und sie habe die Absicht, zu ihnen zu ziehen.

30      Mit Entscheidung vom 28. August 2020 stellte die DAB fest, dass dieser Folgeantrag auf internationalen Schutz zulässig sei, da die Vorlage des Nachweises für die Registrierung von SN beim UNRWA als wesentlicher neuer Umstand in Bezug auf ihre persönliche Situation und ihr Herkunftsland anzusehen sei.

31      Mit Entscheidung vom 14. Mai 2021 lehnte der stellvertretende Vorsitzende der DAB diesen Folgeantrag jedoch als unbegründet ab, u. a. weil die Prüfung im Rahmen eines solchen Antrags auf das Vorliegen, die Erheblichkeit und die Begründetheit neuer Elemente beschränkt sei, die die persönlichen Umstände des Antragstellers oder die Situation des Herkunftslands beträfen. Die Registrierung beim UNRWA stelle aber kein neues Element von wesentlicher Bedeutung für die persönlichen Umstände von SN und LN dar, da diese den Beistand des UNRWA bereits genossen und sich entschieden hätten, auf ihn zu verzichten, indem sie freiwillig das Einsatzgebiet dieser Organisation verlassen hätten. Sodann lägen keine Gründe vor, weshalb sie bei einer Rückkehr in dieses Gebiet nicht wieder in den Genuss dieses Beistands kommen sollten. Schließlich hätten die Behauptungen über die allgemeine Lage im Gazastreifen kein für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft relevantes persönliches Element der Verfolgung oder der Lebensgefahr begründet. SN sei nämlich nicht gezwungen gewesen, ihr Herkunftsland zu verlassen, und sie habe auch nicht behauptet, diskriminierenden Maßnahmen oder anderen nachteiligen Maßnahmen ausgesetzt gewesen zu sein, die eine Verfolgungsgefahr begründeten.

32      SN und LN fochten diesen Bescheid vor dem Administrativen sad Sofia-grad (Verwaltungsgericht Sofia-Stadt, Bulgarien), dem vorlegenden Gericht, an.

33      Zur Stützung ihrer Klage machen sie erstens geltend, dass KN am 26. März 2018 wegen seiner Beteiligung an friedlichen Demonstrationen gegen die Hamas von der Polizei der Hamas einbestellt worden sei. Eine solche Vorladung habe KN jedoch der Gefahr ausgesetzt, gefoltert oder gar getötet zu werden, was KN und seine Familie dazu gezwungen habe, das UNRWA-Einsatzgebiet zu verlassen. Zweitens seien die vom UNRWA erbrachten grundlegenden Leistungen und seine humanitären Tätigkeiten durch wiederholte finanzielle Defizite gefährdet. Vor diesem Hintergrund habe die Familie von SN nur eine minimale Unterstützung erhalten, die lediglich aus Lebensmitteln bestanden habe. Drittens macht SN geltend, dass es aufgrund der von Israel auferlegten Beschränkungen objektiv unmöglich sei, in den Gazastreifen zurückzukehren. Viertens müsse dem Wohl des Kindes LN Rechnung getragen werden. Fünftens machten sie geltend, dass 80 % der Einwohner von Gaza auf humanitäre Hilfe angewiesen seien, so dass ihre Überstellung in den Gazastreifen sie unter Verstoß gegen Art. 4 der Charta Bedingungen extremer materieller Not aussetzen würde.

34      Der stellvertretende Vorsitzende der DAB trug erneut vor, dass der Beistand, der SN und LN gewährt worden sei, nicht aus Gründen eingestellt worden sei, die von ihrem Willen unabhängig seien. Sie hätten vielmehr freiwillig darauf verzichtet, indem sie das Einsatzgebiet des UNRWA verlassen hätten.

35      In diesem Zusammenhang ist das vorlegende Gericht der Ansicht, dass die Gründe, aus denen SN und LN den Gazastreifen, eines der Operationsgebiete des Einsatzgebiets des UNRWA, verlassen hätten, von wesentlicher Bedeutung für die Prüfung seien, ob ihre Rechtslage in den Anwendungsbereich von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2011/95 falle.

36      Als Erstes fragt sich das vorlegende Gericht, welche Elemente gemäß Art. 40 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 im Rahmen der Prüfung der Begründetheit eines Folgeantrags berücksichtigt werden können. Insoweit stellt es fest, dass SN und LN sich zur Begründung ihres Folgeantrags auf ihre Registrierung beim UNRWA berufen und geltend gemacht hätten, dass die bereits zur Begründung ihres früheren Antrags angeführten Umstände darauf schließen ließen, dass der Schutz oder Beistand des UNRWA ihnen im Sinne von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2011/95 nicht länger gewährt worden sei.

37      Zum einen fragt sich das vorlegende Gericht, ob Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2013/32, wonach Folgeanträge, die nicht auf neuen Umständen beruhen, unzulässig sind, einer Berücksichtigung der Gründe entgegensteht, aus denen SN und LN den Gazastreifen verlassen haben.

38      Zum anderen sei, um diese Gründe im Licht des neuen Umstands prüfen zu können, der in dem Nachweis der Registrierung von SN und LN beim UNRWA bestehe, das in Art. 40 Abs. 1 aufgestellte Erfordernis auszulegen, dass der Mitgliedstaat den Folgeantrag im Rahmen der Prüfung des früheren Antrags oder der in dieser Bestimmung genannten „Entscheidung, gegen die ein Rechtsbehelf eingelegt wurde“, prüft.

39      Was als Zweites die Auslegung von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2011/95 betrifft, weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass SN und LN keine Verfolgungsgefahr geltend gemacht hätten, sondern verlangten, die allgemeine Situation im Gazastreifen als Grund für die Ausreise und die Unmöglichkeit der Rückkehr in das Einsatzgebiet des UNWRA zu würdigen; diese Situation lasse den Schluss zu, dass der Schutz oder Beistand des UNRWA aus von ihrem Willen unabhängigen Gründen nicht länger gewährt worden sei.

40      In diesem Zusammenhang fragt sich das vorlegende Gericht, ob die Rückkehr in den Gazastreifen SN und LN nicht in eine Situation extremer materieller Not im Sinne des Urteils vom 19. März 2019, Jawo (C‑163/17, EU:C:2019:218), brächte, d. h. in eine Situation, die es ihnen nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre. Es ist der Ansicht, dass auch die allgemeine Situation im Gazastreifen im Hinblick auf Artikel 19 der Charta, der den Grundsatz der Nichtzurückweisung umsetzt und eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung verbietet, berücksichtigt werden müsse.

41      Unter diesen Umständen hat der Administrativen sad Sofia-grad (Verwaltungsgericht Sofia-Stadt) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Folgt aus Art. 40 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32, dass im Fall der Zulassung zur Prüfung eines von einem staatenlosen Antragsteller palästinensischer Herkunft gestellten Folgeantrags auf internationalen Schutz, der aufgrund seiner Registrierung beim UNRWA gestellt wurde, dass die in der Bestimmung vorgesehene Verpflichtung der zuständigen Behörden, alle Elemente, die den weiteren Angaben im Rahmen des Folgeantrags zugrunde liegen, zu berücksichtigen und zu prüfen, unter den Umständen der Rechtssache die Verpflichtung umfasst, neben den neuen Elementen oder Umständen, die Gegenstand des Folgeantrags sind, auch die Gründe, aus denen die Person das Einsatzgebiet des UNRWA verlassen hat, zu prüfen, wenn man sie in Verbindung mit Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2011/95 auslegt? Spielt es für die Erfüllung der genannten Verpflichtung eine Rolle, dass die Gründe, aus denen die Person das Einsatzgebiet des UNRWA verlassen hat, bereits im Rahmen des Verfahrens über den ersten Antrag auf internationalen Schutz geprüft wurden, das mit einem bestandskräftigen ablehnenden Bescheid beendet wurde, in dem der Antragsteller seine Registrierung beim UNRWA allerdings weder geltend gemacht noch nachgewiesen hat?

2.      Folgt aus Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2011/95, dass die in der Bestimmung enthaltene Wendung „[w]ird ein solcher Schutz oder Beistand aus irgendeinem Grund nicht länger gewährt“ auf eine staatenlose Person palästinensischer Herkunft anwendbar ist, die beim UNRWA registriert war und die in Gaza-Stadt mit Nahrungsmitteln, Gesundheitsdiensten und Bildungsleistungen vom UNRWA unterstützt wurde, ohne dass Anhaltspunkte für eine persönliche Bedrohung dieser Person vorliegen, die Gaza-Stadt freiwillig und rechtmäßig verlassen hat, wenn man die in der Rechtssache vorliegenden Informationen berücksichtigt:

–        Bewertung der allgemeinen Lage zum Zeitpunkt des Verlassens als eine noch nie dagewesene humanitäre Krise, verbunden mit einem Mangel an Nahrungsmitteln, Trinkwasser, Gesundheitsdiensten, Arzneimitteln sowie mit Problemen der Wasser- und der Stromversorgung, mit der Zerstörung von Gebäuden und Infrastruktur, Arbeitslosigkeit;

–        Schwierigkeiten des UNRWA, die Gewährleistung von Unterstützung und Dienstleistungen, auch in Form von Nahrungsmitteln und Gesundheitsdiensten, in Gaza aufrechtzuerhalten, die auf ein erhebliches Defizit im Haushalt des UNRWA und auf den ständigen Zuwachs der auf die Unterstützung durch das Hilfswerk angewiesenen Personen zurückzuführen sind, wobei die allgemeine Lage in Gaza die Tätigkeit des UNRWA untergräbt?

Ist diese Frage allein deshalb anders zu beantworten, weil der Antragsteller eine schutzbedürftige Person im Sinne von Art. 20 Abs. 3 dieser Richtlinie ist, nämlich ein minderjähriges Kind?

3.      Ist Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen, dass ein Antragsteller, der internationalen Schutz begehrt und ein beim UNRWA registrierter palästinensischer Flüchtling ist, in das von ihm verlassene Einsatzgebiet des UNRWA, konkreter nach Gaza-Stadt, zurückkehren kann, wenn zum Zeitpunkt der Verhandlung vor Gericht über seine Klage gegen einen ablehnenden Bescheid

–        keine gesicherten Informationen darüber vorliegen, ob diese Person die Unterstützung durch das UNRWA in Bezug auf Nahrungsmittel, Gesundheitsdienste, Arzneimittel und medizinische Versorgung sowie Bildung in Anspruch nehmen könnte,

–        die Informationen über die allgemeine Lage in Gaza-Stadt und über das UNRWA in dem Dokument mit dem Titel „Position des UNHCR zur Rückkehr in den Gazastreifen“ vom März 2022 als Gründe für das Verlassen des Einsatzgebiets des UNRWA und für die Nicht-Rückkehr bewertet werden, einschließlich der Frage, ob sich der Antragsteller im Fall einer Rückkehr dort unter menschenwürdigen Lebensbedingungen aufhalten kann?

Fällt die persönliche Situation einer Person, die internationalen Schutz beantragt, angesichts der Lage im Gazastreifen zum genannten Zeitpunkt und sofern die Person auf die Unterstützung des UNRWA für Nahrungsmittel, Gesundheitsdienste, Arzneimittel und medizinische Versorgung angewiesen ist, im Hinblick auf die Anwendung und Wahrung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung nach Art. 21 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 in Verbindung mit Art. 19 der Charta in Bezug auf diesen Antragsteller in den Anwendungsbereich der in Nr. 4 des Tenors des Urteils vom 19. März 2019, Jawo (C‑163/17, EU:C:2019:218), gegebenen Auslegung betreffend extreme materielle Not nach Art. 4 der Charta?

Ist die Frage nach der Rückkehr nach Gaza-Stadt auf der Grundlage der Informationen über die allgemeine Lage in Gaza-Stadt und über das UNRWA allein deshalb, weil die Person, die Schutz beantragt, ein minderjähriges Kind ist, unter Berücksichtigung der Wahrung des Kindeswohls sowie der Gewährleistung seines Wohlergehens und seiner sozialen Entwicklung, seines Schutzes und seiner Sicherheit anders zu beantworten?

4.      Je nach Antwort auf die dritte Frage:

Ist Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2011/95 und insbesondere die in dieser Bestimmung enthaltene Wendung „genießt er ipso facto den Schutz dieser Richtlinie“ im vorliegenden Fall dahin auszulegen, dass

–        in Bezug auf eine Person, die Schutz beantragt und bei der es sich um einen beim UNRWA registrierten staatenlosen Palästinenser handelt, der Grundsatz der Nichtzurückweisung nach Art. 21 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 in Verbindung mit Art. 19 der Charta anwendbar ist, weil die Person im Fall der Rückkehr nach Gaza-Stadt dem Risiko einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wäre, da sie in extreme materielle Not geraten könnte, und für die Gewährung subsidiären Schutzes in den Anwendungsbereich von Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 fällt,

oder

–        der betreffende Mitgliedstaat nach dieser Vorschrift einer Person, die Schutz beantragt und bei der es sich um einen beim UNRWA registrierten staatenlosen Palästinenser handelt, von Rechts wegen die Flüchtlingseigenschaft im Sinne von Art. 2 Buchst. d dieser Richtlinie zuerkennen muss, sofern sie nicht in den Anwendungsbereich von Art. 12 Abs. 1 Buchst. b oder Abs. 2 und 3 dieser Richtlinie fällt, entsprechend Nr. 2 des Tenors des Urteils vom 19. Dezember 2012, Abed El Karem El Kott u. a. (C‑364/11, ЕU:C:2012:826), ohne dass die für die Gewährung subsidiären Schutzes nach Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 relevanten Umstände in Bezug auf diese Person berücksichtigt werden?

 Zu den Vorlagefragen

 Zur ersten Frage

42      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 40 der Richtlinie 2013/32 in Verbindung mit Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass die Behörde, die über die Begründetheit eines Folgeantrags auf internationalen Schutz entscheidet, verpflichtet ist, die zur Stützung dieses Antrags vorgebrachten tatsächlichen Elemente zu prüfen, und zwar auch dann, wenn diese Tatsachen bereits von der Behörde gewürdigt wurden, die einen ersten Antrag auf internationalen Schutz endgültig abgelehnt hat.

43      Zur Beantwortung dieser Frage ist erstens darauf hinzuweisen, dass nach Art. 2 Buchst. e und q der Richtlinie 2013/32 ein Folgeantrag ein weiterer Antrag auf internationalen Schutz ist, der nach Erlass einer bestandskräftigen Entscheidung – d. h. einer Entscheidung, gegen die kein Rechtsbehelf nach Kapitel V dieser Richtlinie mehr eingelegt werden kann – über einen früheren Antrag gestellt wird.

44      Folglich stellt ein Folgeantrag als solcher einen Antrag auf internationalen Schutz dar, und zwar, wie der Generalanwalt in Nr. 45 seiner Schlussanträge im Wesentlichen hervorhebt, unabhängig davon, auf welcher Rechtsgrundlage ein solcher Folgeantrag gestellt wird.

45      Im vorliegenden Fall geht aus den Akten des Gerichtshofs hervor, dass der erste Antrag von SN und LN auf internationalen Schutz mit der Begründung abgelehnt wurde, dass die zur Stützung dieses Antrags vorgelegten Elemente nicht belegen könnten, dass SN und LN den Gazastreifen aus Furcht vor Verfolgung im Sinne von Art. 2 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 verlassen hätten.

46      Erst nachdem die Entscheidung über diesen ersten Antrag bestandskräftig geworden war, stellten SN und LN ihren neuen Antrag auf internationalen Schutz, der daher als Folgeantrag im Sinne von Art. 2 Buchst. q der Richtlinie 2013/32 anzusehen ist.

47      Zweitens wurde der Folgeantrag von SN und LN mit Entscheidung vom 28. August 2020 als zulässig angesehen, wobei das neue Element, auf das er gestützt war, den Nachweis der Registrierung dieser Staatenlosen palästinensischer Herkunft beim UNRWA betraf.

48      Drittens muss, wenn die Voraussetzungen für die Zulässigkeit eines Folgeantrags erfüllt sind, dieser Antrag in der Sache geprüft werden, und zwar, wie es in Art. 40 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 heißt, gemäß Kapitel II dieser Richtlinie, das die Grundsätze und Garantien enthält, die auf Anträge auf internationalen Schutz anwendbar sind (Urteil vom 8. Februar 2024, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Zulässigkeit eines Folgeantrags], C‑216/22, EU:C:2024:122, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).

49      Art. 40 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 unterscheidet also im Hinblick auf die Natur der Elemente oder Erkenntnisse, mit denen dargetan werden kann, dass der Antragsteller nach Maßgabe der Richtlinie 2011/95 als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist, nicht zwischen einem ersten Antrag auf internationalen Schutz und einem Folgeantrag. Die Beurteilung der Tatsachen und Umstände zur Stützung dieser Anträge muss in jedem Fall gemäß Art. 4 der Richtlinie 2011/95 erfolgen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Juni 2021, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Neue Elemente oder Erkenntnisse], C‑921/19, EU:C:2021:478, Rn. 40).

50      Gemäß Art. 4 Abs. 2 gehören zu den zur Begründung eines Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkten die „Angaben des Antragstellers zu Alter und familiären und sozialen Verhältnissen – auch der betroffenen Verwandten –, Identität, Staatsangehörigkeit(en), Land/Ländern und Ort(en) des früheren Aufenthalts, früheren Asylanträgen, Reisewegen und Reisedokumenten sowie zu den Gründen für seinen Antrag auf internationalen Schutz und sämtliche ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen“.

51      Art. 4 Abs. 3 Buchst. a und b der Richtlinie 2011/95 schreibt eine individuelle Prüfung des Antrags vor, wobei u. a. alle mit dem Herkunftsland verbundenen Tatsachen, die zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag relevant sind, und die vom Antragsteller vorgelegten Unterlagen, einschließlich Informationen zu der Frage, ob er verfolgt worden ist bzw. verfolgt werden könnte oder einen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. erleiden könnte, zu berücksichtigen sind.

52      Außerdem sieht, wie der Generalanwalt in Nr. 55 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausführt, Art. 10 der Richtlinie 2013/32, der eben zu deren Kapitel II gehört, in Abs. 3 Buchst. a vor, dass die Anträge auf internationalen Schutz einzeln, objektiv und unparteiisch geprüft werden.

53      Daraus folgt, dass sich die Behörde, die über die Begründetheit eines Folgeantrags entscheidet, nicht darauf beschränken darf, nur die neuen Elemente oder Erkenntnisse zu beurteilen, die zur Stützung seiner Zulässigkeit vorgebracht werden, sondern gemäß Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 alle vom Antragsteller zur Stützung dieses Folgeantrags vorgebrachten Anhaltspunkte berücksichtigen muss (Urteil vom 10. Juni 2021, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Neue Elemente oder Erkenntnisse], C‑921/19, EU:C:2021:478, Rn. 44).

54      Der Umstand, dass ein Element zur Stützung eines Folgeantrags bereits im Rahmen der Prüfung eines früheren Antrags auf internationalen Schutz beurteilt wurde, der zu einer bestandskräftig gewordenen Ablehnungsentscheidung geführt hat, hindert die Behörde, die über den Folgeantrag entscheidet, nicht daran, diese Tatsache im Licht der Umstände, die durch die neuen Elemente oder Erkenntnisse zutage getreten sind, aufgrund deren dieser Antrag als zulässig angesehen werden konnte, erneut zu prüfen, um über den Antrag in der Sache zu entscheiden.

55      Die zuständige nationale Behörde muss sich nämlich nur im Stadium der Prüfung der Zulässigkeit des Folgeantrags darauf beschränken, zum einen zu prüfen, ob Elemente oder Erkenntnisse zur Stützung dieses Antrags vorliegen, die im Rahmen der nunmehr bestandskräftigen Entscheidung über den früheren Antrag nicht geprüft worden sind, und zum anderen, ob diese neuen Elemente oder Erkenntnisse allein erheblich zu der Wahrscheinlichkeit beitragen, dass dem Antragsteller der Status einer Person mit Anspruch auf internationalen Schutz zuerkannt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Juni 2021, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Neue Elemente oder Erkenntnisse], C‑921/19, EU:C:2021:478, Rn. 50). Im Übrigen können diese neuen Elemente oder Erkenntnisse selbst bei der Prüfung der Zulässigkeit eines Folgeantrags nicht völlig unabhängig von dem Kontext beurteilt werden, in dem diese neuen Elemente oder Erkenntnisse auftreten, und zwar auch dann nicht, wenn sich dieser Kontext seit der endgültigen Ablehnung des früheren Antrags nicht geändert hat.

56      Diese Auslegung ist umso mehr geboten, wenn das neue Element, auf das der Folgeantrag gestützt wird, nicht einen bloßen tatsächlichen Umstand darstellt, sondern die Anwendung einer anderen Rechtsvorschrift auslösen kann als derjenigen, auf deren Grundlage die zuständige Behörde über den früheren Antrag entschieden hat, wie Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95, der die Fälle betrifft, in denen der Schutz oder Beistand des UNRWA nicht länger gewährt wird. In einer solchen Situation sind die bereits im früheren Verfahren geprüften Elemente anhand der Merkmale dieser neuen Rechtsgrundlage neu zu bewerten.

57      Schließlich ist angesichts der insoweit bestehenden Zweifel des vorlegenden Gerichts hervorzuheben, dass diese Auslegung durch Art. 40 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 in keiner Weise in Frage gestellt wird. Wie die Europäische Kommission ausführt, betrifft diese Bestimmung, soweit sie auf Folgeanträge anwendbar ist, nämlich den ganz spezifischen Fall, dass das nationale Recht es ausnahmsweise erlaubt, das Verfahren, nach dem der frühere Antrag endgültig abgelehnt wurde, wegen des Vorliegens eines Folgeantrags wiederzueröffnen.

58      Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 40 der Richtlinie 2013/32 in Verbindung mit Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass die Behörde, die über die Begründetheit eines Folgeantrags auf internationalen Schutz entscheidet, verpflichtet ist, die zur Stützung dieses Antrags vorgebrachten tatsächlichen Elemente zu prüfen, und zwar auch dann, wenn diese Tatsachen bereits von der Behörde gewürdigt wurden, die einen ersten Antrag auf internationalen Schutz endgültig abgelehnt hat.

 Zur zweiten und zur dritten Frage

59      Mit seiner zweiten und seiner dritten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass der Schutz oder Beistand des UNRWA, den ein Staatenloser palästinensischer Herkunft, der internationalen Schutz beantragt, genießt, im Sinne dieser Bestimmung als nicht länger gewährt gilt, wenn diese Organisation aus irgendeinem Grund, auch aufgrund der allgemeinen Lage, die in dem Operationsgebiet des Einsatzgebiets dieser Organisation herrscht, in dem dieser Staatenlose seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, nicht in der Lage ist, diesem Staatenlosen, gegebenenfalls unter Berücksichtigung seiner Schutzbedürftigkeit, gemäß ihrem Auftrag menschenwürdige Lebensbedingungen zu gewährleisten, ohne dass er nachweisen müsste, dass er aufgrund von seiner persönlichen Situation innewohnenden Umständen von dieser allgemeinen Lage spezifisch betroffen ist. In diesem Zusammenhang möchte das vorlegende Gericht wissen, im Hinblick auf welchen Zeitpunkt die Frage zu beurteilen ist, ob der Schutz oder Beistand des UNRWA als nicht länger gewährt gilt. Außerdem möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der Umstand, dass es sich bei diesem Staatenlosen um ein minderjähriges Kind handelt, für diese Beurteilung relevant ist.

60      Vorab ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 1 der Richtlinie 2011/95 ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen ist, „wenn er den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Institution der Vereinten Nationen mit Ausnahme des [UNHCR] gemäß Artikel 1 Abschnitt D der Genfer Flüchtlingskonvention genießt“.

61      Art. 1 Abschnitt D Abs. 1 der Genfer Konvention bestimmt, dass diese keine Anwendung auf Personen findet, „die zurzeit“ den Schutz oder Beistand „einer Organisation oder einer Institution der Vereinten Nationen mit Ausnahme des [UNHCR] genießen“.

62      Konkret hat jede Person, die (wie SN oder LN) beim UNRWA registriert ist, Anspruch auf den Schutz und den Beistand dieser Organisation, damit ihrem Wohlergehen als Flüchtling gedient ist (Urteil vom 5. Oktober 2023, OFPRA [Flüchtlingseigenschaft eines Staatenlosen palästinensischer Herkunft], C‑294/22, EU:C:2023:733, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

63      Wegen dieses in den genannten Gebieten des Nahen Ostens eingeführten speziellen Flüchtlingsstatus für Palästinenser ist es nach Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 1 der Richtlinie 2011/95, der Art. 1 Abschnitt D Satz 1 der Genfer Konvention entspricht, für die beim UNRWA registrierten Personen grundsätzlich ausgeschlossen, in der Europäischen Union als Flüchtling anerkannt zu werden (Urteil vom 5. Oktober 2023, OFPRA [Flüchtlingseigenschaft eines Staatenlosen palästinensischer Herkunft], C‑294/22, EU:C:2023:733, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).

64      Allerdings folgt aus Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2011/95, der Art. 1 Abschnitt D Abs. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention entspricht, dass in dem Fall, dass der Schutz oder Beistand des UNRWA aus irgendeinem Grund nicht länger gewährt wird, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig geklärt worden ist, dieser Betroffene ipso facto den Schutz der Richtlinie 2011/95 genießt (Urteil vom 5. Oktober 2023, OFPRA [Flüchtlingseigenschaft eines Staatenlosen palästinensischer Herkunft], C‑294/22, EU:C:2023:733, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).

65      Wie aus den wiederholten Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen hervorgeht, ist die Lage der Personen, die den Schutz oder Beistand des UNRWA genießen, bislang nicht endgültig geklärt worden.

66      Nach diesen einleitenden Erläuterungen ist als Erstes darauf hinzuweisen, dass Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2011/95 im Wesentlichen Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2004, L 304, S. 12) entspricht, so dass die Rechtsprechung zur letztgenannten Bestimmung für die Auslegung der erstgenannten Bestimmung relevant ist (Urteil vom 5. Oktober 2023, OFPRA [Flüchtlingseigenschaft eines Staatenlosen palästinensischer Herkunft], C‑294/22, EU:C:2023:733, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).

67      Insoweit hat der Gerichtshof bereits klargestellt, dass mit dem bloßen Verlassen des UNRWA-Einsatzgebiets durch den Betroffenen – unabhängig von dem Grund dafür – der in Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 1 dieser Richtlinie vorgesehene Ausschluss von der Anerkennung als Flüchtling nicht enden kann und dass daher eine bloße Abwesenheit von diesem Gebiet oder die freiwillige Entscheidung, es zu verlassen, nicht als Wegfall des Schutzes oder Beistands des UNRWA im Sinne von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a dieser Richtlinie eingestuft werden kann (Urteil vom 5. Oktober 2023, OFPRA [Flüchtlingseigenschaft eines Staatenlosen palästinensischer Herkunft], C‑294/22, EU:C:2023:733, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).

68      Der Gerichtshof hat jedoch auch entschieden, dass der von einer Organisation oder einer Institution wie dem UNRWA geleistete Schutz oder Beistand nicht nur durch die Auflösung dieser Organisation oder Institution selbst wegfallen kann, sondern auch dadurch, dass es dieser Organisation oder Institution unmöglich ist, ihre Aufgabe zu erfüllen (Urteil vom 5. Oktober 2023, OFPRA [Flüchtlingseigenschaft eines Staatenlosen palästinensischer Herkunft], C‑294/22, EU:C:2023:733, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).

69      So kann, wenn die Entscheidung, das UNRWA-Einsatzgebiet zu verlassen, durch Zwänge begründet ist, die vom Willen des Betroffenen unabhängig sind, eine solche Situation zu der Feststellung führen, dass der Beistand, den diese Person genossen hat, im Sinne von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2011/95 nicht länger gewährt wird (Urteil vom 5. Oktober 2023, OFPRA [Flüchtlingseigenschaft eines Staatenlosen palästinensischer Herkunft], C‑294/22, EU:C:2023:733, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).

70      Diese Auslegung steht im Einklang mit dem Ziel dieser Bestimmung, die namentlich die Fortdauer des Schutzes der palästinensischen Flüchtlinge als solche gewährleisten soll, indem diese, bis ihre Lage gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig geklärt worden ist, tatsächlichen Schutz oder Beistand erhalten und nicht nur der Bestand einer mit der Gewährung dieses Beistands oder Schutzes betrauten Organisation oder Institution gesichert ist (Urteil vom 5. Oktober 2023, OFPRA [Flüchtlingseigenschaft eines Staatenlosen palästinensischer Herkunft], C‑294/22, EU:C:2023:733, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).

71      Daher kommt Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2011/95 zur Anwendung, wenn sich auf der Grundlage einer individuellen Beurteilung aller maßgeblichen Umstände herausstellt, dass sich der betreffende Staatenlose palästinensischer Herkunft in einer sehr unsicheren persönlichen Lage befindet und es dem UNRWA, um dessen Beistand er ersucht hat, aus irgendeinem Grund unmöglich ist, ihm Lebensverhältnisse zu gewährleisten, die mit der Aufgabe des UNRWA im Einklang stehen, so dass sich dieser Staatenlose aufgrund von Umständen, die von ihm nicht zu kontrollieren und von seinem Willen unabhängig sind, gezwungen sieht, das UNRWA-Einsatzgebiet zu verlassen (Urteile vom 25. Juli 2018, Alheto, C‑585/16, EU:C:2018:584, Rn. 86; vom 3. März 2022, Secretary of State for the Home Department [Flüchtlingseigenschaft eines Staatenlosen palästinensischer Herkunft], C‑349/20, EU:C:2022:151, Rn. 50, und vom 5. Oktober 2023, OFPRA [Flüchtlingseigenschaft eines Staatenlosen palästinensischer Herkunft], C‑294/22, EU:C:2023:733, Rn. 38 und 44).

72      Insoweit ist zum einen klarzustellen, dass die Voraussetzung betreffend die sehr unsichere persönliche Lage des Antragstellers impliziert, dass dieser Antragsteller sich in dem betreffenden Operationsgebiet des Einsatzgebiets des UNRWA in einer sehr unsicheren persönlichen Lage befindet, es aber nicht erforderlich ist, dass diese sehr unsichere persönliche Lage spezifische Merkmale aufweist, die der Person des Antragstellers eigen sind oder durch seine besondere Situation verursacht werden. Was die Unmöglichkeit für das UNRWA betrifft, dem Antragsteller Lebensverhältnisse zu gewährleisten, die mit seiner Aufgabe im Einklang stehen, so ist dies der Fall, wenn es dieser Organisation aus irgendeinem Grund, auch aufgrund der in diesem Operationsgebiet herrschenden allgemeinen Lage, nicht möglich ist, dem Antragsteller menschenwürdige Lebensbedingungen und ein Mindestmaß an Sicherheit zu gewährleisten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Januar 2021, Bundesrepublik Deutschland [Flüchtlingseigenschaft eines Staatenlosen palästinensischer Herkunft], C‑507/19, EU:C:2021:3, Rn. 54).

73      Die individuelle Prüfung dieser Voraussetzungen setzt außerdem voraus, dass die spezifische Situation des Antragstellers und der Grad seiner Schutzbedürftigkeit gebührend berücksichtigt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juli 2020, Addis, C‑517/17, EU:C:2020:579, Rn. 54). Insoweit ist jedem Element besondere Aufmerksamkeit zu widmen, das die Annahme zulässt, dass der betreffende Staatenlose palästinensischer Herkunft spezifische Grundbedürfnisse hat, die mit einem Zustand der Schutzbedürftigkeit und insbesondere mit dem etwaigen Umstand zusammenhängen, dass es sich bei diesem Staatenlosen um einen Minderjährigen handelt, so dass gemäß Art. 24 Abs. 2 der Charta das Wohl dieses Kindes zu berücksichtigen ist. Zu diesem Zweck muss die zuständige nationale Behörde, wie sich u. a. aus dem 18. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95 ergibt, insbesondere dem Grundsatz des Familienverbands, dem Wohlergehen und der sozialen Entwicklung des Minderjährigen sowie Sicherheitsaspekten Rechnung tragen.

74      Darüber hinaus kann der Umstand, dass der Schutz oder der Beistand des UNRWA hinter dem zurückbleibt, den der Staatenlose palästinensischer Herkunft in Anspruch nehmen könnte, wenn er in einem Mitgliedstaat als Flüchtling anerkannt würde, nicht für die Annahme ausreichen, dass er gezwungen war, das Einsatzgebiet des UNRWA zu verlassen oder dass er nicht dorthin zurückkehren könnte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Oktober 2023, OFPRA [Flüchtlingseigenschaft eines Staatenlosen palästinensischer Herkunft], C‑294/22, EU:C:2023:733, Rn. 45).

75      Als Zweites ist es, wie der Generalanwalt in Nr. 63 seiner Schlussanträge hervorgehoben hat, Sache der zuständigen nationalen Behörden und Gerichte, nicht nur festzustellen, ob das Verlassen des UNRWA-Einsatzgebiets durch einen Antragsteller auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2011/95 durch Gründe gerechtfertigt werden kann, die sich seiner Kontrolle entziehen und von seinem Willen unabhängig sind und ihn somit daran hindern, Schutz oder Beistand des UNRWA zu erhalten, sondern auch, ob er zu dem Zeitpunkt, zu dem die zuständigen Verwaltungsbehörden einen Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft prüfen, oder zu dem Zeitpunkt, zu dem das zuständige Gericht über eine Klage gegen die Verweigerung der Zuerkennung dieser Eigenschaft entscheidet, daran gehindert ist, einen solchen Schutz oder Beistand zu erhalten, weil sich die Lage in dem betreffenden Einsatzgebiet aus Gründen verschlechtert, die sich seiner Kontrolle entziehen und unabhängig von seinem Willen sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. März 2022, Secretary of State for the Home Department [Flüchtlingseigenschaft eines Staatenlosen palästinensischer Herkunft], C‑349/20, EU:C:2022:151, Rn. 57 und 58).

76      Zum einen ist nämlich die Frage, ob der Schutz oder der Beistand des UNRWA dem Staatenlosen palästinensischer Herkunft nicht länger gewährt wird, von der zuständigen Verwaltungsbehörde gemäß Art. 4 der Richtlinie 2011/95 auf der Grundlage einer individuellen Beurteilung aller maßgeblichen Umstände zu prüfen. Aus Art. 4 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 ergibt sich, dass bei der Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz alle mit dem Herkunftsland verbundenen Tatsachen zu berücksichtigen sind, die „zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag“ relevant sind. Zum anderen sind die Mitgliedstaaten nach Art. 46 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 verpflichtet, ihr nationales Recht so zu gestalten, dass die Behandlung der von dieser Bestimmung erfassten Rechtsbehelfe eine „umfassende Ex-nunc“-Prüfung umfasst, was voraussetzt, dass das zuständige Gericht insbesondere alle Gesichtspunkte berücksichtigt, die eine Beurteilung des Einzelfalls anhand des aktuellen Stands ermöglichen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. März 2022, Secretary of State for the Home Department [Flüchtlingseigenschaft eines Staatenlosen palästinensischer Herkunft], C‑349/20, EU:C:2022:151, Rn. 54, 55 und 61).

77      Insoweit ist noch darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 10 Abs. 3 Buchst. b der Richtlinie 2013/32 sicherstellen müssen, dass genaue und aktuelle Informationen aus verschiedenen Quellen, wie etwa der Asylagentur der Europäischen Union (EASO) und dem UNHCR sowie einschlägigen internationalen Menschenrechtsorganisationen, eingeholt werden, die Aufschluss geben über die allgemeine Lage in den Herkunftsstaaten der Antragsteller oder, wenn sie staatenlos sind, in dem Land, in dem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatten.

78      Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass sich ein Staatenloser palästinensischer Herkunft, der den Beistand des UNRWA beantragt hat, unter Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2011/95 fällt, wenn sich auf der Grundlage einer individuellen Beurteilung aller relevanten Umstände anhand des aktuellen Stands herausstellt, dass sich dieser Staatenlose bei einer Rückkehr in das Operationsgebiet des Einsatzgebiets des UNRWA, in dem er seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, in einer sehr unsicheren persönlichen Lage befände, gegebenenfalls unter Berücksichtigung seiner Schutzbedürftigkeit, und dass es dem UNRWA aus irgendeinem Grund, auch aufgrund der in diesem Operationsgebiet herrschenden allgemeinen Lage, unmöglich ist, diesem Staatenlosen menschenwürdige Lebensverhältnisse und ein Mindestmaß an Sicherheit zu gewährleisten, unter Berücksichtigung gegebenenfalls der spezifischen Bedürfnisse, die mit seiner Schutzbedürftigkeit zusammenhängen.

79      Somit ist davon auszugehen, dass ein Staatenloser palästinensischer Herkunft nicht in das Operationsgebiet des Einsatzgebiets des UNRWA zurückkehren kann, in dem er seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, wenn die aus irgendeinem Grund bestehende Unmöglichkeit, den Schutz oder Beistand des UNRWA zu erhalten, für diesen Staatenlosen die reale Gefahr mit sich bringt, Lebensverhältnissen ausgesetzt zu werden, die ihm nicht im Einklang mit der Aufgabe des UNRWA die Deckung seiner grundlegenden Bedürfnisse auf den Gebieten Gesundheit, Bildung und Sicherung des Lebensunterhalts garantieren, gegebenenfalls unter Berücksichtigung seiner spezifischen Grundbedürfnisse aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer Personengruppe, die sich durch einen Grund für besondere Schutzbedürftigkeit, wie etwa Alter, auszeichnet.

80      Als Drittes ist, soweit das vorlegende Gericht darauf hinweist, dass SN und LN im Ausgangsverfahren keine auf ihre individuelle Situation bezogenen Gründe geltend gemacht hätten, um zu belegen, dass der Schutz oder Beistand des UNRWA ihnen gegenüber nicht länger gewährt werde, erstens festzustellen, dass es Sache des vorlegenden Gerichts ist, nicht nur die zur Stützung dieses Antrags angeführten Umstände zu berücksichtigen, sondern auch die Gesichtspunkte, die die Behörde, die entschieden hat, diesen Antrag abzulehnen, berücksichtigt hat oder hätte berücksichtigen können, sowie die nach Erlass dieser Entscheidung aufgetretenen Gesichtspunkte, unter Berücksichtigung der Pflicht dieser Behörde gemäß Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95, aktiv mit dem Antragsteller zusammenzuarbeiten, um die für seinen Antrag maßgeblichen Anhaltspunkte zu ergänzen und zu ermitteln (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 25. Juli 2018, Alheto, C‑585/16, EU:C:2018:584, Rn. 113, und vom 3. März 2022, Secretary of State for the Home Department [Flüchtlingseigenschaft eines Staatenlosen palästinensischer Herkunft], C‑349/20, EU:C:2022:151, Rn. 64).

81      Zweitens weist das vorlegende Gericht auch noch darauf hin, dass die allgemeine Situation in Gaza tatsächlich die Fähigkeit des UNRWA beeinträchtige, Staatenlosen palästinensischer Herkunft, die sich in diesem Operationsgebiet befänden, wirksam Beistand und Schutz zu gewähren. In diesem Zusammenhang verweist es u. a. auf die Entschließung des Europäischen Parlaments vom 19. April 2018 zur Lage im Gazastreifen (ABl. 2019, C 390, S. 108), aus der hervorgehe, dass die Situation im Gazastreifen „zu einer beispiellosen humanitären Krise in dem Gebiet geführt hat, die sich immer weiter zuspitzt“, sowie auf das Dokument mit dem Titel „Position des UNHCR zur Rückkehr in den Gazastreifen“ vom März 2022, in dem der UNHCR darauf hingewiesen habe, dass die Verschlechterung der allgemeinen Lage in dieser Stadt ein Faktor sei, der bei der Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz zu berücksichtigen sei. Insbesondere habe der UNHCR in Anbetracht der Indizien für schwere Verletzungen und den Missbrauch der international anerkannten Menschenrechte und des humanitären Rechts sowie der anhaltenden Instabilität in diesem Operationsgebiet die Staaten aufgefordert, allen Zivilisten, die aus dem Gazastreifen flüchteten, die Einreise in ihr Hoheitsgebiet zu gestatten und den Grundsatz der Nichtzurückweisung zu beachten. Der UNHCR hebt ausdrücklich hervor, dass die Situation in diesem Operationsgebiet einen objektiven Grund dafür darstellen könne, dass palästinensische Flüchtlinge das UNRWA verließen, und erklärt daher, dass der Schutz oder Beistand des UNRWA ihnen gegenüber als nicht länger gewährt zu gelten habe.

82      Seitdem haben sich, wie der Generalanwalt insbesondere in Nr. 64 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, sowohl die Lebensbedingungen im Gazastreifen als auch die Fähigkeit des UNRWA, seine Aufgabe zu erfüllen, aufgrund der Folgen der Ereignisse des 7. Oktober 2023 in noch nie dagewesener Weise verschlechtert.

83      Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, insbesondere im Licht der in Rn. 77 des vorliegenden Urteils genannten Informationen festzustellen, ob das UNRWA aus irgendeinem Grund, auch aufgrund der im Gazastreifen herrschenden allgemeinen Lage, keinem Staatenlosen palästinensischer Herkunft, der um seinen Beistand ersucht hat und der in diesem Operationsgebiet wohnt, dort einen Aufenthalt unter menschenwürdigen Lebensverhältnissen und mit einem Mindestmaß an Sicherheit gewährleisten kann.

84      Dies wäre insbesondere dann der Fall, wenn sich in dem fraglichen Operationsgebiet des Einsatzgebiets des UNRWA jeder Staatenlose palästinensischer Herkunft unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihm nicht erlaubte, seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die seine physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder ihn in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde im Sinne von Art. 4 der Charta unvereinbar wäre (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. März 2019, Jawo, C‑163/17, EU:C:2019:218, Rn. 92).

85      Sollte das vorlegende Gericht schließlich zu dem Ergebnis kommen, dass der Schutz oder Beistand des UNRWA in diesem Operationsgebiet seines Einsatzgebiets in Anbetracht der allgemeinen Lebensbedingungen, die zum Zeitpunkt seiner Entscheidung im Gazastreifen herrschen, SN oder LN gegenüber als nicht länger gewährt anzusehen ist, müsste es seine individuelle Prüfung ihrer Anträge fortsetzen, um zu prüfen, ob SN oder LN unter einen der in Art. 12 Abs. 1 Buchst. b, Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2011/95 genannten Ausschlussgründe fällt.

86      Andernfalls wäre diesen Staatenlosen palästinensischer Herkunft von Rechts wegen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Dezember 2012, Abed El Karem El Kott u. a., C‑364/11, EU:C:2012:826, Rn. 81).

87      Nach alledem ist auf die zweite und die dritte Frage zu antworten, dass Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass der Schutz oder Beistand des UNRWA, den ein Staatenloser palästinensischer Herkunft, der internationalen Schutz beantragt, genießt, im Sinne dieser Bestimmung als nicht länger gewährt gilt, wenn zum einen diese Organisation aus irgendeinem Grund, auch aufgrund der allgemeinen Lage, die in dem Operationsgebiet des Einsatzgebiets dieser Organisation herrscht, in dem dieser Staatenlose seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, nicht in der Lage ist, diesem Staatenlosen, gegebenenfalls unter Berücksichtigung seiner Schutzbedürftigkeit, gemäß ihrem Auftrag menschenwürdige Lebensbedingungen zu gewährleisten, ohne dass er nachweisen müsste, dass er aufgrund von seiner persönlichen Situation innewohnenden Umständen von dieser allgemeinen Lage spezifisch betroffen ist, und wenn sich zum anderen der betroffene Staatenlose palästinensischer Herkunft im Fall seiner Rückkehr in dieses Operationsgebiet in einer sehr unsicheren persönlichen Lage befindet, gegebenenfalls unter Berücksichtigung seiner Schutzbedürftigkeit, wobei die Verwaltungsbehörden und die Gerichte verpflichtet sind, eine individuelle Prüfung jedes auf diese Bestimmung gestützten Antrags auf internationalen Schutz vorzunehmen, in deren Rahmen das Alter der betreffenden Person relevant sein kann. Der Beistand oder Schutz des UNRWA ist insbesondere dann als gegenüber dem Antragsteller nicht länger gewährt anzusehen, wenn diese Organisation aus irgendeinem Grund keinem Staatenlosen palästinensischer Herkunft, der sich in dem Operationsgebiet ihres Einsatzgebiets aufhält, in dem er seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, menschenwürdige Lebensverhältnisse und ein Mindestmaß an Sicherheit mehr gewährleisten kann. Die Frage, ob der Beistand oder Schutz des UNRWA als nicht länger gewährt gilt, ist im Hinblick auf den Zeitpunkt zu beurteilen, zu dem der Staatenlose das Operationsgebiet des Einsatzgebiets des UNRWA, in dem er seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, verlassen hat, auf den Zeitpunkt, zu dem die zuständigen Verwaltungsbehörden über seinen Antrag auf internationalen Schutz entscheiden, oder auf den Zeitpunkt, zu dem das zuständige Gericht über einen Rechtsbehelf gegen eine Entscheidung, mit der dieser Antrag abgelehnt wird, entscheidet.

 Zur vierten Frage

88      Mit seiner vierten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Wendung „genießt er ipso facto den Schutz dieser Richtlinie“ in Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass zum einen die betreffenden Personen, wenn sie in eines der Operationsgebiete des Einsatzgebiets des UNRWA zurückgeschickt werden sollten und wenn sie in diesem Gebiet der Gefahr einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wären, ipso facto unter das Verbot der Zurückweisung nach Art. 21 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 in Verbindung mit Art. 19 der Charta und in den Anwendungsbereich von Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 über die Zuerkennung des subsidiären Schutzes fielen, oder dass zum anderen diesen Personen ipso facto die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt werden müsste, ohne dass die für die Gewährung subsidiären Schutzes relevanten Umstände in Bezug auf diese Personen berücksichtigt würden.

89      Da das vorlegende Gericht in seinem Ersuchen nicht dargelegt hat, aus welchen Gründen es um die Auslegung dieser Bestimmungen des Unionsrechts bittet und welchen Zusammenhang es zwischen diesen Bestimmungen und der auf den bei ihm anhängigen Rechtsstreit anzuwendenden nationalen Regelung herstellt (Urteil vom 14. September 2023, Vinal, C‑820/21, EU:C:2023:667, Rn. 98 und die dort angeführte Rechtsprechung), ist festzustellen, dass die vierte Frage unzulässig ist.

 Kosten

90      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 40 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes in Verbindung mit Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes

ist dahin auszulegen, dass

die Behörde, die über die Begründetheit eines Folgeantrags auf internationalen Schutz entscheidet, verpflichtet ist, die zur Stützung dieses Antrags vorgebrachten tatsächlichen Elemente zu prüfen, und zwar auch dann, wenn diese Tatsachen bereits von der Behörde gewürdigt wurden, die einen ersten Antrag auf internationalen Schutz endgültig abgelehnt hat.

2.      Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2011/95

ist dahin auszulegen, dass

der Schutz oder Beistand des Hilfswerks der Vereinten Nationen (für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten) (UNRWA), den ein Staatenloser palästinensischer Herkunft, der internationalen Schutz beantragt, genießt, im Sinne dieser Bestimmung als nicht länger gewährt gilt, wenn zum einen diese Organisation aus irgendeinem Grund, auch aufgrund der allgemeinen Lage, die in dem Operationsgebiet des Einsatzgebiets dieser Organisation herrscht, in dem dieser Staatenlose seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, nicht in der Lage ist, diesem Staatenlosen, gegebenenfalls unter Berücksichtigung seiner Schutzbedürftigkeit, gemäß ihrem Auftrag menschenwürdige Lebensbedingungen zu gewährleisten, ohne dass er nachweisen müsste, dass er aufgrund von seiner persönlichen Situation innewohnenden Umständen von dieser allgemeinen Lage spezifisch betroffen ist, und wenn sich zum anderen der betroffene Staatenlose palästinensischer Herkunft im Fall seiner Rückkehr in dieses Operationsgebiet in einer sehr unsicheren persönlichen Lage befindet, gegebenenfalls unter Berücksichtigung seiner Schutzbedürftigkeit, wobei die Verwaltungsbehörden und die Gerichte verpflichtet sind, eine individuelle Prüfung jedes auf diese Bestimmung gestützten Antrags auf internationalen Schutz vorzunehmen, in deren Rahmen das Alter der betreffenden Person relevant sein kann. Der Beistand oder Schutz des UNRWA ist insbesondere dann als gegenüber dem Antragsteller nicht länger gewährt anzusehen, wenn diese Organisation aus irgendeinem Grund keinem Staatenlosen palästinensischer Herkunft, der sich in dem Operationsgebiet ihres Einsatzgebiets aufhält, in dem er seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, menschenwürdige Lebensverhältnisse und ein Mindestmaß an Sicherheit mehr gewährleisten kann. Die Frage, ob der Beistand oder Schutz des UNRWA als nicht länger gewährt gilt, ist im Hinblick auf den Zeitpunkt zu beurteilen, zu dem der Staatenlose das Operationsgebiet des Einsatzgebiets des UNRWA, in dem er seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, verlassen hat, auf den Zeitpunkt, zu dem die zuständigen Verwaltungsbehörden über seinen Antrag auf internationalen Schutz entscheiden, oder auf den Zeitpunkt, zu dem das zuständige Gericht über einen Rechtsbehelf gegen eine Entscheidung, mit der dieser Antrag abgelehnt wird, entscheidet.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Bulgarisch.