Language of document : ECLI:EU:C:2021:403

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MICHAL BOBEK

vom 20. Mai 2021(1)

Verbundene Rechtssachen C748/19 bis C754/19

Prokuratura Rejonowa w Mińsku Mazowieckim

gegen

WB (C748/19)

und

Prokuratura Rejonowa Warszawa-Żoliborz w Warszawie

gegen

XA,

YZ (C749/19)

und

Prokuratura Rejonowa Warszawa – Wola w Warszawie

gegen

DT (C750/19)

und

Prokuratura Rejonowa w Pruszkowie

gegen

ZY (C751/19)

und

Prokuratura Rejonowa Warszawa – Ursynów w Warszawie

gegen

AX (C752/19)

und

Prokuratura Rejonowa Warszawa – Wola w Warszawie

gegen

BV (C753/19)

und

Prokuratura Rejonowa Warszawa – Wola w Warszawie

gegen

CU (C754/19),

Beigeladene:

Pictura Sp. z o.o.

(Vorabentscheidungsersuchen des Sąd Okręgowy w Warszawie [Bezirksgericht Warschau, Polen])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Rechtsgrundsätze der Europäischen Union – Richterliche Unabhängigkeit – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Richtlinie (EU) 2016/343 – Zusammensetzung gerichtlicher Spruchkörper in Strafsachen einschließlich vom Justizminister abgeordneter Richter – Zulässigkeit von Vorabentscheidungsersuchen – Unabhängigkeit des die Vorlageentscheidung erlassenden gerichtlichen Spruchkörpers – Schranken von Art. 19 Abs. 1 EUV – Begriff ‚Gericht‘ im Sinne von Art. 267 AEUV – Erheblichkeit und Erforderlichkeit der Frage – Unschuldsvermutung“






I.      Einleitung

1.        In den vorliegenden Rechtssachen stellen sich im Hinblick auf die sich aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ergebenden Anforderungen an die richterliche Unabhängigkeit zentrale Fragen zur Zulässigkeit von Vorlagefragen im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens. Der Gerichtshof ist aufgerufen, die Schranken von Art. 19 Abs. 1 EUV zu präzisieren, insbesondere im Licht der jüngsten Entscheidungen in den Rechtssachen A. K. u. a., Miasto Łowicz, Maler, und Land Hessen(2).

2.        In den vorliegenden Rechtssachen stellt sich aber auch eine wichtige inhaltliche Frage: Steht das Unionsrecht nationalen Bestimmungen entgegen, nach denen der Justizminister, der gleichzeitig der Generalstaatsanwalt ist, auf der Grundlage nicht veröffentlichter Kriterien Richter für einen unbestimmten Zeitraum an höhere Gerichte abordnen und diese Abordnung jederzeit nach eigenem Ermessen beenden kann?

II.    Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht

3.        Art. 2 EUV lautet:

„Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“

4.        In Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV heißt es: „Die Mitgliedstaaten schaffen die erforderlichen Rechtsbehelfe, damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist.“

5.        Nach Art. 267 AEUV kann nur ein „Gericht“ eines Mitgliedstaats dem Gerichtshof der Europäischen Union ein Vorabentscheidungsersuchen vorlegen.

6.        Titel VI („Justizielle Rechte“) der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) enthält Art. 47 („Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht“), der wie folgt lautet:

„Jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, hat das Recht, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen.

Jede Person hat ein Recht darauf, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. …

….“

7.        Der 22. Erwägungsgrund der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren(3) lautet wie folgt:

„Die Beweislast für die Feststellung der Schuld von Verdächtigen und beschuldigten Personen liegt bei der Strafverfolgungsbehörde; Zweifel sollten dem Verdächtigen oder der beschuldigten Person zugutekommen. Unbeschadet … der Unabhängigkeit der Justiz bei der Prüfung der Schuld des Verdächtigen oder der beschuldigten Person … läge ein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung vor, wenn die Beweislast von der Strafverfolgungsbehörde auf die Verteidigung verlagert würde. …“

8.        Art. 6 („Beweislast“) der Richtlinie 2016/343 bestimmt:

„(1) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Beweislast für die Feststellung der Schuld von Verdächtigen und beschuldigten Personen bei der Strafverfolgungsbehörde liegt. …

(2) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass jeglicher Zweifel hinsichtlich der Frage der Schuld dem Verdächtigen oder der beschuldigten Person ... zugutekommt, einschließlich in Fällen, wenn das Gericht prüft, ob die betreffende Person freigesprochen werden soll.“

B.      Polnisches Recht

9.        In Art. 77 der Ustawa z dnia 27 lipca 2001 r. – Prawo o ustroju sądów powszechnych (Gesetz vom 27. Juli 2001 über die Verfassung der ordentlichen Gerichte, im Folgenden: Gesetz über die Verfassung der ordentlichen Gerichte)(4) heißt es wie folgt:

„§1 Der Justizminister kann einen Richter mit seiner Zustimmung damit beauftragen, die Aufgaben eines Richters wahrzunehmen oder administrative Aufgaben zu erfüllen

1.      bei einem anderen Gericht gleicher oder unterer Ebene, in besonders begründeten Fällen auch bei einem höheren Gericht, unter Berücksichtigung des rationellen Einsatzes des Personals der ordentlichen Gerichte und der sich aus der Arbeitsbelastung der einzelnen Gerichte ergebenden Bedürfnisse,

– für einen festen Zeitraum, der zwei Jahre nicht überschreiten darf, oder für einen unbestimmten Zeitraum.

§ 4 Wird ein Richter auf der Grundlage von § 1 Nrn. 2, 2a und 2b sowie von § 2a auf unbestimmte Zeit abgeordnet, so kann die Abordnung dieses Richters widerrufen werden, oder die betreffende Person kann unter Einhaltung einer Kündigungsfrist von drei Monaten von der Stelle zurücktreten, auf die sie abgeordnet wurde. In anderen Fällen, in denen ein Richter abgeordnet ist, bedarf ein solcher Widerruf oder Rücktritt keiner vorherigen Ankündigung.

…“

10.      Gemäß Art. 30 Abs. 2 der Ustawa z dnia 6 czerwca 1997 r. – Kodeks postępowania karnego (Gesetz vom 6. Juni 1997 – Strafprozessordnung) (im Folgenden: Strafprozessordnung)(5) „[entscheidet d]as Berufungsgericht … als Einzelrichter oder durch einen Spruchkörper mit drei Richtern, wenn die angefochtene Entscheidung von einem anderen Spruchkörper als einem Einzelrichter getroffen wurde oder der Gerichtspräsident aufgrund der besonderen Komplexität oder Bedeutung der Rechtssache anordnet, dass sie von einem Spruchkörper mit drei Richtern verhandelt wird, sofern das Gesetz nichts anderes bestimmt.“

11.      Nach Art. 41 Abs.1 der Strafprozessordnung „[ist e]in Richter … ausgeschlossen, wenn ein Umstand vorliegt, der geeignet ist, begründete Zweifel an seiner Unparteilichkeit in der betreffenden Rechtssache aufkommen zu lassen“.

III. Sachverhalt, Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

12.      Die vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen sind von der Vorsitzenden eines Spruchkörpers der 10. Strafberufungsabteilung des Sąd Okręgowy w Warszawie (Bezirksgericht Warschau, Polen) im Rahmen von sieben vor diesem Gericht anhängigen Strafverfahren vorgelegt worden. Den Vorlageentscheidungen zufolge betreffen diese Strafverfahren verschiedene Straftaten nach dem Strafgesetzbuch(6) und der Steuerstrafordnung(7).

13.      Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, dass die vorliegenden Verfahren dem Unionsrecht unterliegen. Die polnischen Gerichte seien gemäß den Art. 3 und 6 der Richtlinie 2016/343 verpflichtet, sicherzustellen, dass Verdächtige und beschuldigte Personen als unschuldig gelten, bis ihre Schuld rechtsförmlich nachgewiesen sei, und dass eine angemessene Beweislastverteilung zur Anwendung komme. Gemäß Art. 6 dieser Richtlinie in Verbindung mit deren 22. Erwägungsgrund gelte die Unschuldsvermutung unbeschadet der Unabhängigkeit der Justiz.

14.      Das Gericht weist darauf hin, dass jeder der gerichtlichen Spruchkörper, die für die Entscheidung der jeweiligen Rechtssache in den Ausgangsverfahren bestimmt seien, aus dem vorlegenden Richter als Vorsitzendem und zwei weiteren Richtern zusammengesetzt sei. In jeder der Rechtssachen sei einer der „weiteren“ Richter ein Richter, der von einem nachgeordneten Gericht durch eine gemäß Art. 77 des Gesetzes über die Verfassung der ordentlichen Gerichte erlassene Entscheidung des Justizministers/Generalstaatsanwalts abgeordnet worden sei (im Folgenden: abgeordnete Richter). Einige der abgeordneten Richter haben nach den Erläuterungen des vorlegenden Gerichts außerdem auch die Funktion eines „Disziplinarbeauftragten“ beim Rzecznik Dyscyplinarny Sędziów Sądów Powszechnych (Disziplinarbeauftragter für Richter der ordentlichen Gerichte) inne.

15.      Das vorlegende Gericht hat Zweifel an der Vereinbarkeit bestimmter Vorschriften des nationalen Rechts mit dem Unionsrecht, die dem Justizminister/Generalstaatsanwalt die Befugnis einräumen, Richter für einen unbestimmten Zeitraum an höhere Gerichte abzuordnen und diese Abordnung jederzeit nach eigenem Ermessen zu beenden (im Folgenden: fragliche nationale Vorschriften). Insbesondere könnten diese Bestimmungen gegen die Anforderungen an die Unabhängigkeit der nationalen Gerichtsbarkeit gemäß Art. 19 Abs. 1 EUV in Verbindung mit Art. 2 EUV verstoßen.

16.      In diesem tatsächlichen und rechtlichen Kontext hat der Sąd Okręgowy w Warszawie (Bezirksgericht Warschau) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof in jeder der sieben Rechtssachen die folgenden (gleichlautenden) Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Sind Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 2 EUV und dem darin verankerten Rechtsstaatsprinzip sowie Art. 6 Abs. 1 und 2 in Verbindung mit dem 22. Erwägungsgrund der Richtlinie 2016/343 dahin auszulegen, dass der wirksame gerichtliche Rechtsschutz, insbesondere die Unabhängigkeit der Rechtsprechung, und die Anforderungen, die sich aus der Unschuldsvermutung ergeben, verletzt sind, wenn ein gerichtliches Verfahren wie das Strafverfahren gegen den Angeklagten wegen der Begehung einer Straftat nach verschiedenen Bestimmungen des Strafgesetzbuchs und anderer Taten in der Weise gestaltet ist, dass

–      dem Spruchkörper ein Richter angehört, der auf der Grundlage einer persönlichen Entscheidung des Ministers Sprawiedliwości (Justizminister, Polen) von einem Gericht abgeordnet wurde, das eine Hierarchieebene tiefer liegt, wobei die Kriterien unbekannt sind, von denen sich der Justizminister leiten ließ, als er diesen Richter abordnete, und das nationale Recht keine gerichtliche Kontrolle dieser Entscheidung vorsieht und es dem Justizminister ermöglicht, die Abordnung des Richters jederzeit zu widerrufen?

2.      Liegt eine Verletzung der in der ersten Frage genannten Anforderungen vor, wenn die Beteiligten gegen die in einem Gerichtsverfahren wie dem in der ersten Frage beschriebenen erlassene Entscheidung einen außerordentlichen Rechtsbehelf bei einem Gericht wie dem Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) einlegen können, dessen Entscheidungen nach innerstaatlichem Recht nicht angefochten werden können, das nationale Recht den Vorsitzenden einer Organisationseinheit dieses Gerichts (Kammer), die für die Entscheidung über den Rechtsbehelf zuständig ist, dazu verpflichtet, die Verfahren den Richtern dieser Kammer in einer alphabetischen Reihenfolge zuzuweisen, wobei die Übergehung irgendeines Richters ausdrücklich untersagt ist, und an dem Zuweisungsverfahren auch eine Person beteiligt ist, die auf Antrag eines Kollegialorgans wie der Krajowa Rada Sądownictwa (Landesjustizrat, Polen) zum Richter ernannt wurde, das in der Weise zusammengesetzt ist, dass ihm Richter angehören:

a)      die durch eine Kammer des Parlaments gewählt werden, die über eine gemeinsame Liste der Bewerber abstimmt, die zuvor durch einen Parlamentsausschuss aus Bewerbern zusammengestellt wurde, die eine Fraktion von Parlamentariern oder ein Organ dieser Kammer auf der Grundlage von Empfehlungen einer Gruppe von Richtern oder Bürgern vorgeschlagen hat, woraus folgt, dass die Bewerber an drei Stellen des Auswahlverfahrens durch Politiker bestätigt werden;

b)      die die Mehrheit der Mitglieder dieser Einrichtung ausmachen, wobei diese Mehrheit hinreichend groß ist, um die Besetzung der Richterposten zu beantragen und andere bindende Entscheidungen nach dem nationalen Recht zu treffen?

3.      Welche Wirkung hat aus der Sicht des Unionsrechts, insbesondere in Bezug auf die in der ersten Frage angeführten Bestimmungen und Anforderungen, eine Entscheidung, die in einem Gerichtsverfahren erlassen wird, das derart gestaltet ist wie in der ersten Frage beschrieben, und eine Entscheidung in einem Verfahren vor dem Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), wenn daran eine Person beteiligt ist wie die, von der in der zweiten Frage die Rede ist?

4.      Hängen nach dem Unionsrecht, insbesondere nach den in der ersten Frage angeführten Bestimmungen, die Wirkungen von Entscheidungen, von denen in der dritten Frage die Rede ist, davon ab, ob das betreffende Gericht zugunsten oder zu Ungunsten des Angeklagten entschieden hat?

17.      Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 25. Oktober 2019 sind die Rechtssachen C‑748/19 bis C‑754/19 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden.

18.      Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 2. Dezember 2019 ist die in den Vorlageentscheidungen beantragte Durchführung des beschleunigten Verfahrens nach Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs abgelehnt worden.

19.      Der Gerichtshof hat am 31. Juli 2020 ein Auskunftsersuchen an das vorlegende Gericht gerichtet, das mit Schreiben vom 3. September 2020 beantwortet wurde.

20.      Schriftliche Erklärungen haben die Prokuratura Regionalna w Warszawie (Staatsanwaltschaft der Woiwodschaft Warschau), die Prokuratura Regionalna w Lublinie (Staatsanwaltschaft der Woiwodschaft Lublin), die polnische Regierung und die Europäische Kommission eingereicht.

IV.    Würdigung

21.      Diese Schlussanträge gliedern sich wie folgt. Als Erstes werde ich mich mit den von den Beteiligten erhobenen Einwänden gegen die Zuständigkeit und die Zulässigkeit befassen (A). Nachdem ich dargelegt habe, dass die erste Frage des vorlegenden Gerichts nach dem herkömmlichen Ansatz des Gerichtshofs und seiner Rechtsprechung in der Tat zulässig ist, werde ich mich als Zweites der Problematik zuwenden, auf die die Einwände gegen die Zuständigkeit des Gerichtshofs und die Zulässigkeit der Fragen gestützt sind: dem Wesen und den Schranken von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV (B). Schließlich werde ich die erste vom vorlegenden Gericht gestellte Frage zum System der Richterabordnung, das die zur Entscheidung des Ausgangsverfahrens berufenen gerichtlichen Spruchkörper betrifft, im Rahmen der materiellen Prüfung behandeln (C).

A.      Zuständigkeit und Zulässigkeit

22.      Einige Verfahrensbeteiligte, die Erklärungen eingereicht haben, haben Einwände gegen die Zuständigkeit des Gerichtshofs und/oder die Zulässigkeit der Vorabentscheidungsersuchen vorgebracht. Obwohl diese Beteiligten ihre Ausführungen zu beiden Fragen zusammengefasst haben, werde ich sie gleichwohl getrennt prüfen.

23.      Zunächst werde ich auf das Vorbringen zur Zuständigkeit des Gerichtshofs eingehen, das meines Erachtens nur eine kurze Behandlung verdient (1). Danach werde ich mich den verschiedenen Argumenten zuwenden, die zur Zulässigkeit der Ersuchen insgesamt oder speziell zu bestimmten Fragen vorgebracht worden sind. In der Tat werfen einige Argumente ziemlich komplexe Fragen auf, die im Einzelnen untersucht werden sollten (2).

1.      Zuständigkeit des Gerichtshofs

24.      Nach Ansicht der polnischen Regierung, der Staatsanwaltschaft der Woiwodschaft Warschau und der Staatsanwaltschaft der Woiwodschaft Lublin ist der Gerichtshof für die Beantwortung der Vorlagefragen nicht zuständig. Die Organisation der Justiz und, genauer gesagt, Angelegenheiten wie die Ernennung von Richtern, die Zusammensetzung der gerichtlichen Spruchkörper, die Abordnung von Richtern von einem Gericht zu einem anderen und die Rechtswirkungen der Entscheidungen der nationalen Gerichte fielen in die ausschließliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Soweit es in den Ausgangsverfahren um nationales Strafrecht in Bereichen geht, die nicht auf Unionsebene harmonisiert worden seien, handele es sich – so diese Verfahrensbeteiligten – um ausschließlich innerpolnische Vorgänge.

25.      Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft der Woiwodschaft Warschau und der Staatsanwaltschaft der Woiwodschaft Lublin ergibt sich diese Auffassung auch aus Rn. 29 des Urteils Associação Sindical dos Juízes Portugueses des Gerichtshofs(8). Einige Fassungen dieses Urteils in anderen Sprachen als der englischen machten deutlich, dass die Anwendbarkeit von Art. 19 Abs. 1 EUV voraussetze, dass ein Mitgliedstaat im konkreten Fall im Geltungsbereich des Unionsrechts handle.

26.      Ich halte diese Einwände für unzutreffend.

27.      Erstens haben die Mitgliedstaaten nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs, auch wenn die Organisation der Justiz in den Mitgliedstaaten in deren Zuständigkeit fällt, bei der Ausübung dieser Zuständigkeit die Verpflichtungen einzuhalten, die sich für sie aus dem Unionsrecht ergeben, einschließlich derjenigen aus Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 EUV(9). Diese Verpflichtungen können sich auf jedes Merkmal der nationalen Strukturen oder Verfahren beziehen, die für die nationale Durchsetzung des Unionsrechts verwendet werden. Der Gegenstand der vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen betrifft genau die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten, die sich aus diesen Bestimmungen ergeben, und die Frage, ob die fraglichen nationalen Bestimmungen tatsächlich mit diesen Verpflichtungen in Einklang stehen. Als solcher ist der Gerichtshof für die Auslegung von Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 EUV sowie für die Entscheidung über die in den Vorlagefragen aufgeworfenen Fragestellungen zuständig(10).

28.      Zweitens kann ich entgegen dem Vorbringen der Staatsanwaltschaft der Woiwodschaft Warschau und der Staatsanwaltschaft der Woiwodschaft Lublin keinen erheblichen Unterschied erkennen zwischen den verschiedenen Sprachfassungen – einschließlich und vor allem der portugiesischen Fassung, da diese die Verfahrenssprache war – von Rn. 29 des Urteils Associação Sindical dos Juízes Portugueses des Gerichtshofs. Diese Textstelle betrifft den Unterschied zwischen dem Anwendungsbereich von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und dem der Charta. Der Gerichtshof hat festgestellt, dass Art. 19 Abs. 1 EUV in „den vom Unionsrecht erfassten Bereichen“ Anwendung finde, da diese Bestimmung keine Beschränkung wie die in Art. 51 Abs. 1 der Charta genannte enthalte. Im Rahmen dieser Rechtssache ist der Gerichtshof nicht weiter auf diesen Punkt eingegangen(11).

29.      Die genaue Bedeutung dieser Textstelle wurde jedoch in der anschließenden Rechtsprechung des Gerichtshofs eindeutig geklärt. Der Unterschied im materiellen Anwendungsbereich der beiden oben genannten Bestimmungen besteht darin, dass Art. 19 Abs. 1 EUV anwendbar ist, wenn eine nationale Einrichtung als Gericht über Fragen der Anwendung oder der Auslegung des Unionsrechts und somit über Fragen aus den vom Unionsrecht erfassten Bereichen zu entscheiden hat(12). Mit anderen Worten, die nationalen Gerichte müssen die in dieser Vorschrift festgelegten Standards einhalten, wenn sie für die Entscheidung von Angelegenheiten, die unter das Unionsrecht fallen, grundsätzlich zuständig sind. Umgekehrt ist es nicht erforderlich, dass die konkreten Fälle, um die es geht, tatsächlich Unionsrecht betreffen.

30.      Was die vorliegenden Rechtssachen betrifft, besteht, wie die Kommission zu Recht festgestellt hat, kaum ein Zweifel daran, dass der gerichtliche Spruchkörper, um dessen Unabhängigkeit es im vorliegenden Verfahren geht – der Sąd Okręgowy w Warszawie (Bezirksgericht Warschau) –, ein Spruchkörper ist, der als Gericht über Fragen der Anwendung oder Auslegung des Unionsrechts zu entscheiden hat. Darüber hinaus ist es unstrittig, dass der Gerichtshof für die Auslegung der Bestimmungen der Richtlinie 2016/343 sowie von Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 EUV zuständig ist.

31.      Der Gerichtshof ist daher eindeutig für die Entscheidung der vorliegenden Rechtssachen zuständig.

2.      Zulässigkeit

32.      Was die Zulässigkeit der Vorlagefragen betrifft, so werde ich zunächst auf die gegen die Fragen 2, 3 und 4 erhobenen Einwände eingehen, da diese Fragen meiner Ansicht nach unzulässig sind (a). Ich werde mich dann der Zulässigkeit der ersten Frage zuwenden, die demgegenüber einer eingehenderen Erörterung bedarf (b).

33.      Vor Eintritt in diese Prüfung ist jedoch ein spezifischer Einwand gegen die Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens in der Rechtssache C‑754/19 zu behandeln. Die Staatsanwaltschaft der Woiwodschaft Warschau trägt vor, dass das vorlegende Gericht das Verfahren, das diesem Ersuchen zugrunde liegt, nicht ausgesetzt habe und in Wirklichkeit in der Folge am 11. Dezember 2019 eine endgültige Entscheidung gefällt habe.

34.      Nach ständiger Rechtsprechung muss der Gerichtshof, wenn beim vorlegenden Gericht kein Rechtsstreit anhängig ist und daher eine Antwort auf die Vorlagefrage für die Entscheidung eines Rechtsstreits nicht von Nutzen ist, feststellen, dass über das Vorabentscheidungsersuchen nicht zu entscheiden ist(13).

35.      Wenn also – wie die Staatsanwaltschaft der Woiwodschaft Warschau vorträgt – das Ausgangsverfahren in der Rechtssache C‑754/19 tatsächlich nicht ausgesetzt wurde und eine endgültige Entscheidung ergangen ist, dann wäre der Zweck des Vorabentscheidungsersuchens entfallen. Unter diesen Umständen wäre es für den Gerichtshof nicht mehr erforderlich, über die in dieser Rechtssache vorgelegten Fragen zu entscheiden.

36.      Wie dem auch sei, das vorlegende Gericht hat dem Gerichtshof weder eine spätere relevante Tatsache mitgeteilt noch sein Vorlageersuchen zurückgezogen. Da zudem die in dieser Rechtssache angesprochenen Fragen mit den anderen sechs in diesen Schlussanträgen behandelten Rechtssachen identisch sind, in denen unbestritten ist, dass diese Rechtssachen noch vor dem nationalen Gericht anhängig sind, ist eine weitere Klärung dieser Angelegenheit nicht notwendig.

37.      Ich wende mich daher nun den konkreten Argumenten zu, die zur Zulässigkeit der verschiedenen Vorlagefragen vorgetragen werden.

a)      Fragen 2, 3 und 4

38.      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob bestimmte Vorschriften des Unionsrechts verletzt werden, wenn die Parteien gegen das im Ausgangsverfahren zu erlassende Urteil einen außerordentlichen Rechtsbehelf einlegen können, der vor einem Gericht – dem Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) – verhandelt wird, an dessen Unabhängigkeit das vorlegende Gericht Zweifel hegt.

39.      Die dritte Frage betrifft die Rechtswirkungen einer zukünftigen Entscheidung des vorlegenden Gerichts sowie die Rechtswirkungen der Entscheidungen des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) über die möglichen Rechtsbehelfe, die letztlich gegen die im Ausgangsverfahren zu erlassenden Entscheidungen eingelegt werden können.

40.      In engem Zusammenhang mit dieser Frage steht die vierte Frage, ob nach Unionsrecht die Folgen des Urteils des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) in diesen außerordentlichen Rechtsbehelfsverfahren davon abhängen, ob das dieser zugunsten oder gegen den Angeklagten entscheidet.

41.      In Übereinstimmung mit dem Vorbringen der polnischen Regierung, der Staatsanwaltschaft der Woiwodschaft Warschau und der Staatsanwaltschaft der Woiwodschaft Lublin sowie der Kommission bin ich der Auffassung, dass diese drei Fragen unzulässig sind.

42.      Soweit diese Fragen auf der Annahme beruhen, dass in den vorliegenden Rechtssachen künftig ein außerordentlicher Rechtsbehelf beim Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) eingelegt wird, beruhen diese Fragen auf einem rein hypothetischen Ereignis. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass ein Vorabentscheidungsersuchen nach ständiger Rechtsprechung nicht darauf gerichtet sein kann, Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen einzuholen(14).

43.      Ebenso sind die dritte und die vierte Frage, soweit sie sich auch auf die möglichen Auswirkungen der Urteile beziehen, die das vorlegende Gericht erlassen wird, verfrüht und unzureichend begründet. Sie sind verfrüht, weil sie sich auf Verfahren beziehen, die möglicherweise später vor einem anderen Gericht stattfinden, nicht aber auf das gegenwärtige Verfahrensstadium in diesen Rechtssachen. Außerdem stehen, wie das vorlegende Gericht ausführt, für den Fall, dass der Gerichtshof entscheiden sollte, dass die fraglichen nationalen Maßnahmen nicht mit Art. 19 Abs. 1 EUV vereinbar sind, andere Möglichkeiten zur Verfügung, um der Situation abzuhelfen. Daher kann es sein, dass das vom vorlegenden Gericht angesprochene Problem niemals zur Entstehung gelangt. Diese Fragen genügen auch nicht den Anforderungen des Art. 94 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs, da das vorlegende Gericht nicht im Einzelnen darlegt, wie sich die angeblich fehlerhafte Zusammensetzung der gerichtlichen Spruchkörper, die die Rechtssachen vielleicht irgendwann in der Zukunft verhandeln sollten, konkret auf die Rechtmäßigkeit der vom vorlegenden Gericht zu treffenden Entscheidungen auswirken kann.

44.      Ohne in irgendeiner Weise den allgemeinen nationalen Kontext zu vernachlässigen, der, vorsichtig ausgedrückt, in der Tat problematisch und komplex ist, gibt es dennoch anerkannte Grenzen für das, wonach in einem Vorabentscheidungsersuchen gefragt werden kann. Vereinfacht ausgedrückt sollten sich die Vorlagefragen auf die dem vorlegenden Gericht vorliegende Rechtssache (oder auf frühere Umstände, die sich eindeutig auf die vorliegende Rechtssache auswirken)(15) beziehen. Auch wenn diese Bedingung in der herkömmlichen Rechtsprechung des Gerichtshofs weit und wohlwollend ausgelegt worden ist, ist das Wichtigste, dass die gewünschten Hinweise geeignet sein müssen, vom vorlegenden Gericht bei der von ihm zu treffenden Entscheidung berücksichtigt zu werden. Das schließt Mutmaßungen über zukünftige Ereignisse aus, die möglicherweise nie eintreten werden.

45.      Daher sind meiner Ansicht nach die Fragen 2, 3 und 4 in der Tat unzulässig.

b)      Erste Frage

46.      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Unionsrecht nationalen Vorschriften entgegensteht, wonach der Justizminister/Generalstaatsanwalt auf der Grundlage nicht veröffentlichter Kriterien Richter für einen unbestimmten Zeitraum an höhere Gerichte abordnen und diese Abordnung jederzeit nach eigenem Ermessen beenden kann. Das vorlegende Gericht bezieht sich insbesondere auf Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 2 EUV und dem darin verankerten Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit sowie auf Art. 6 Abs. 1 und 2 in Verbindung mit dem 22. Erwägungsgrund der Richtlinie 2016/343.

47.      Zur Zulässigkeit dieser Frage werden verschiedene Einwände erhoben. Diese Einwände betreffen: den Begriff „Gericht“ im Sinne von Art. 267 AEUV (1), die Einhaltung der Anforderungen von Art. 94 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs (2) sowie die Erforderlichkeit und Erheblichkeit der Vorlagefrage (3). Ich werde die damit zusammenhängenden Fragen der Reihe nach untersuchen.

1)      Der Begriff „Gericht“ im Sinne von Art. 267 AEUV

48.      Als Erstes weisen die Staatsanwaltschaft der Woiwodschaft Warschau und die Staatsanwaltsanwaltschaft der Woiwodschaft Lublin darauf hin, dass die Vorabentscheidungsersuchen von einer Einzelrichterin – der Vorsitzenden der gerichtlichen Spruchkörper, die mit den in Rede stehenden Strafsachen befasst sind – und nicht von dem Spruchkörper selbst eingereicht worden seien. Sie machen geltend, dass gemäß Art. 29 Abs. 1 der Strafprozessordnung Berufungsverfahren wie das vorliegende von einem Spruchkörper mit drei Richtern zu entscheiden seien, es sei denn, es lägen besondere, im Gesetz vorgesehene Umstände vor. Diese besonderen Umstände seien im vorliegenden Fall nicht gegeben. Daher erfülle die vorlegende Einrichtung nicht die Voraussetzungen, um als „Gericht“ im Sinne von Art. 267 AEUV angesehen zu werden.

49.      Es ist unbestritten, dass die vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen vom Sąd Okręgowy w Warszawie (X Wydział Karny Odwoławczy) (Bezirksgericht, 10. Berufungsabteilung für Strafsachen, Warschau) eingereicht wurden. In der Vorlageentscheidung heißt es, dass diesem Gericht die Vorsitzende dieses Spruchkörpers angehört, die auch die Vorlageentscheidung unterzeichnet hat.

50.      Dies reicht meines Erachtens aber nicht aus, dass die Vorabentscheidungsersuchen deswegen automatisch unzulässig sind.

51.      Erstens ist zu bedenken, dass der Begriff „Gericht“ im Sinne von Art. 267 AEUV stets autonom nach dem Unionsrecht und vom Gerichtshof definiert worden ist, und zwar unabhängig von Bezeichnungen und Einstufungen nach nationalem Recht. Im Licht dieser Kriterien besteht kein Zweifel daran (und wird tatsächlich von keinem Verfahrensbeteiligten bestritten), dass die vorlegende Einrichtung alle Merkmale der sogenannten Dorsch-Kriterien(16) erfüllt: gesetzliche Grundlage der Einrichtung, ihr ständiger Charakter, die obligatorische Gerichtsbarkeit, das streitige Verfahren, die Anwendung von Rechtsnormen durch die Einrichtung sowie – als grundsätzliche Voraussetzung – ihre Unabhängigkeit und Unparteilichkeit.

52.      Zweitens ist der Begriff „Gericht“ im Sinne von Art. 267 AEUV auf der strukturellen, institutionellen Ebene zu prüfen. Mit anderen Worten, er wird geprüft, indem die vorlegende richterliche Einrichtung als solche betrachtet wird, wobei die Aufgabe zu berücksichtigen ist, die diese Einrichtung unter den besonderen Umständen eines Falles wahrzunehmen hat. Vereinfacht ausgedrückt, kann eine Einrichtung auch dann ein Gericht sein, wenn sie gewöhnlich in einer anderen (nicht rechtsprechenden) Eigenschaft handelt(17) und umgekehrt(18). Die spezifischen Aufgaben, die eine Einrichtung im Ausgangsverfahren zu erfüllen hat, sind daher von größter Bedeutung. In den vorliegenden Fällen besteht kein Zweifel daran, dass das vorlegende Gericht in rechtsprechender Eigenschaft handelt, wenn es Rechtsmittel in Strafverfahren verhandelt und womöglich auch die Zusammensetzung des Spruchkörpers überprüft, der über solche Rechtsmittel entscheidet. Beide Aufgaben werden als Rechtsprechungsorgan ausgeübt.

53.      Drittens hat der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung festgestellt, dass es nicht „Sache des Gerichtshofs [ist], zu prüfen, ob die Vorlageentscheidung im Einklang mit den nationalen Vorschriften über die Gerichtsorganisation und das gerichtliche Verfahren ergangen ist“(19). Nach dieser Rechtsprechung „[ist der Gerichtshof] an die von einem Gericht eines Mitgliedstaats erlassene Vorlageentscheidung gebunden, solange sie nicht aufgrund eines im nationalen Recht eventuell vorgesehenen Rechtsbehelfs aufgehoben worden ist“(20).

54.      Aus dem Vorstehenden ergibt sich also eindeutig, dass es, wenn es sich bei der Einrichtung, die das Vorabentscheidungsersuchen stellt, um ein Gericht handelt, das als Rechtsprechungsorgan handelt, wobei diese beiden Begriffe autonom nach dem Unionsrecht definiert sind, nicht die Aufgabe dieses Gerichtshofs ist, auch noch die Einhaltung aller Verfahrensvorschriften des nationalen Rechts zu überprüfen: Ist der Stempel richtig? Entspricht die Entscheidung den formalen und verfahrensrechtlichen Anforderungen? Stehen alle Unterschriften an der richtigen Stelle?

55.      Es ist vielleicht erwähnenswert, dass dieser Ansatz und diese Rechtsprechung auf eine Rechtssache, die Rechtssache Reina, zurückgehen, in der die Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens mit der Begründung angefochten worden war, dass das vorlegende Gericht nicht ordnungsgemäß zusammengesetzt gewesen sei(21). Darüber hinaus hat der Gerichtshof im Urteil San Giorgio einen ähnlichen Einwand wie den im vorliegenden Verfahren erhobenen ausdrücklich zurückgewiesen. Die italienische Regierung hatte die Zulässigkeit des (vom Präsidenten des vorlegenden Gerichts eingereichten) Vorabentscheidungsersuchens mit der Begründung bestritten, dass die Entscheidung darüber nach nationalem Recht in die Zuständigkeit des Gerichts als Kollegium falle. Der Gerichtshof hat diesen Einwand ohne Weiteres zurückgewiesen und hervorgehoben, dass nach ständiger Rechtsprechung „jedes Gericht der Mitgliedstaaten das Recht hat, den Gerichtshof … anzurufen, und zwar unabhängig davon, in welchem Stadium der sich bei dem Gericht anhängige Rechtsstreit befindet und welcher Art die Entscheidung ist, die es erlassen soll“(22).

56.      Der Gerichtshof hat diesen Ansatz nur dann nicht verfolgt, wenn das vorlegende Gericht offensichtlich unzuständig war, wie in den jüngsten Di Girolamo-Rechtssachen(23). Die vorliegenden Rechtssachen unterscheiden sich jedoch deutlich von den Di Girolamo-Fällen. Es ist unstreitig, dass das vorlegende Gericht für die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rechtssachen zuständig ist. Die einzige Frage betrifft die Einrichtung innerhalb dieses Gerichts, die befugt ist, dem Gerichtshof eine Frage nach Art. 267 AEUV vorzulegen. Die vorliegenden Rechtssachen sind daher viel eher mit denen vergleichbar, die der Gerichtshof in den Urteilen Reina und San Giorgio geprüft hat.

57.      Viertens ist der Umstand, dass das vorlegende Gericht, um dem Gerichtshof eine Frage nach Art. 267 AEUV vorzulegen, nach Ansicht der Staatsanwaltschaft der Woiwodschaft Warschau und der Staatsanwaltschaft der Woiwodschaft Lublin bestimmte Regelungen seiner internen Rechtsordnung außer Acht gelassen haben soll, selbst wenn er bestätigt würde, unerheblich. In der Rechtsprechung des Gerichtshofs gibt es zahlreiche Beispiele dafür, dass nationale Gerichte nach Unionsrecht nationale Verfahrensvorschriften, die ihre Befugnisse zur Vorlage von Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof einschränken, unangewendet lassen durften oder sogar mussten(24).

58.      In einem jüngeren Fall, in dem die Sachlage ganz ähnlich wie in den vorliegenden Rechtssachen war, erging das Urteil A. K. u. a. In dieser Rechtssache machte die polnische Regierung geltend, dass die nationalen Verfahren ungültig seien, weil dabei die Vorschriften über die Zusammensetzung und Zuständigkeit von Gerichten nicht beachtet worden seien. Nach nationalem Recht sei die richtige Zusammensetzung für die Behandlung der Rechtssachen die eines Einzelrichters und nicht die eines Spruchkörpers mit drei Richtern gewesen, der die Fragen vorgelegt hatte(25). Der Gerichtshof hat jedoch ausgeführt, dass „[mit den Vorlagefragen] nämlich im Wesentlichen gerade erfragt [wird], ob ein Gericht wie das vorlegende ungeachtet der in dem betreffenden Mitgliedstaat geltenden nationalen Vorschriften über die Verteilung der gerichtlichen Zuständigkeiten nach den in diesen Fragen genannten unionsrechtlichen Bestimmungen verpflichtet ist, diese nationalen Vorschriften unangewendet zu lassen und sich gegebenenfalls in den Ausgangsrechtsstreitigkeiten für zuständig zu erklären. Ein Urteil, mit dem der Gerichtshof eine solche Verpflichtung bejahen würde, wäre jedoch für das nationale Gericht und alle anderen Organe der Republik Polen bindend, ohne dass die innerstaatlichen Bestimmungen über die Ungültigkeit von Verfahren oder die Verteilung der gerichtlichen Zuständigkeiten, auf die sich die polnische Regierung bezieht, dem entgegenstehen könnten“(26).

59.      Fünftens würde die Annahme der von der polnischen Regierung vorgebrachten Einwände – wonach eine Frage wie die vorliegende, um dem nationalen Recht zu entsprechen, nur vom Kollegium vorgelegt werden könne – meines Erachtens zu zwei weiteren Problemen führen.

60.      Zum einen ist es unwahrscheinlich, dass Fragen zur ordnungsgemäßen Zusammensetzung gerichtlicher Spruchkörper den Gerichtshof jemals erreichen oder dass sie ihn rechtzeitig erreichen. Richter, deren Ernennung angeblich nicht ordnungsgemäß ist, werden nämlich vermutlich anderer Meinung sein in Bezug auf die Notwendigkeit, dem Gerichtshof die Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen, ob sie ordnungsgemäß ernannt sind, um den betreffenden Fall zu verhandeln. Unter diesen Umständen könnte eine solche Vorlagefrage nur dann gestellt werden, wenn ein Rechtsmittel gegen die vom (möglicherweise unrechtmäßig zusammengesetzten) Gericht erlassene Entscheidung eingelegt wird. Im besten Fall gelangt die Angelegenheit daher zu einem recht späten Zeitpunkt vor den Gerichtshof. Im schlimmsten (oder eher realistischen) Fall erreicht sie den Gerichtshof überhaupt nicht.

61.      Zum anderen würde die Annahme der von der polnischen Regierung vorgeschlagenen Auffassung zu einem weiteren Paradoxon führen. Sollten die vom vorlegenden Gericht geäußerten Zweifel in der Sache begründet sein, muss davon ausgegangen werden, dass eines der Mitglieder dieser Gremien nicht unabhängig ist. Wäre also in dem eher unwahrscheinlichen Fall, dass ein solches Mitglied des Spruchkörpers bereit wäre, eine Vorlageentscheidung zu unterzeichnen, die seine eigene Unabhängigkeit in Frage stellt, eine solche Vorlageentscheidung überhaupt zulässig? Hieße das nicht, dass in dieser Zusammensetzung die vorlegende Einrichtung das einem „Gericht“ im Sinne von Art. 267 AEUV innewohnende Kriterium der Unabhängigkeit nicht erfüllen würde?

62.      Dies macht zwei Punkte deutlich. Erstens, um es noch einmal zu wiederholen, können Fragen bezüglich der ordnungsgemäßen Zusammensetzung eines gerichtlichen Spruchkörpers in Wirklichkeit niemals von diesem Spruchkörper selbst aufgeworfen werden. Zweitens ist es nicht nur unlogisch, sondern auch systemisch gefährlich, die Zulässigkeit von Vorabentscheidungsersuchen und das autonome Kriterium des Art. 267 AEUV an die Erfüllung aller verfahrensrechtlichen Elemente des nationalen Rechts zu knüpfen.

63.      Sechstens: Die Richterin, die in den vorliegenden Fällen das Ersuchen stellt, ist nicht irgendein Richter des Spruchkörpers, der die Fälle verhandelt: Sie ist die Vorsitzende dieses Spruchkörpers. Die Vorsitzenden der gerichtlichen Einrichtungen sind nicht nur mit zusätzlichen Befugnissen ausgestattet, sondern auch mit zusätzlichen Verantwortlichkeiten betraut. Sie sind in der Tat aufgerufen, als „Hüter der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Richter und des Gerichts als Ganzes“ zu handeln(27). Innerhalb kleinerer Gerichtsformationen, oder soweit es sich um ein bestimmtes Verfahren handelt, werden diese Aufgaben im Allgemeinen vom Vorsitzenden des Spruchkörpers (oder der Kammer) ausgeübt, der die Aufgabe hat, den Vorsitz im Spruchkörper zu führen und dessen Arbeit zu leiten(28). Von ihnen wird typischerweise erwartet, dass sie sowohl das Verfahren als auch die internen Beratungen des Spruchkörpers, dem sie vorsitzen, leiten. Dementsprechend halte ich es nicht für ungewöhnlich (und schon gar nicht für unrechtmäßig), dass die vorlegende Richterin sich als Vorsitzende des Spruchkörpers verpflichtet sieht, auf dessen ordnungsgemäße Zusammensetzung zu achten.

64.      Schließlich gibt es noch eine weitere Überlegung, die mit dem letzten Punkt zusammenhängt: Was ist eigentlich das genaue Verfahren, für das das vorlegende Gericht den Gerichtshof um Hinweise ersucht? Sicherlich kann man die Frage so betrachten, dass es sich bei dem betreffenden Verfahren um das Strafverfahren vor einem Spruchkörper mit drei Richtern handelt, der eine Entscheidung in der Sache in Bezug auf die strafrechtliche Anklage erlässt.

65.      Es gibt jedoch auch eine andere Betrachtungsweise dieser Frage. Diese bestünde darin, sich auf den konkreten Verfahrenspunkt und die tatsächliche Entscheidung zu konzentrieren, die als Reaktion auf diesen Vorgang getroffen werden muss. In dieser Rechtssache handelt es sich bei dem Verfahren, für das der Gerichtshof um Hinweise ersucht wird, nicht um das gesamte Strafverfahren, sondern nur um eine Vorfrage bezüglich der ordnungsgemäßen Zusammensetzung des mit dieser Sache befassten Spruchkörpers. In Bezug auf diesen Teil des Verfahrens und auch im Hinblick auf die Art der darin zu treffenden (vorbereitenden) Verfahrensentscheidung ist es die vorlegende Richterin in ihrer Eigenschaft als Vorsitzende des Spruchkörpers, die in diesem Teil des Gesamtverfahrens tatsächlich als Einzelrichterin entscheidet. In Bezug auf diese verfahrensrechtliche Vorfrage, die zu klären ist, bevor die Rechtssache ordnungsgemäß von einem unionsrechtskonformen gerichtlichen Spruchkörper verhandelt werden kann, ist die vorlegende Richterin der einzige Richter, der sich mit dieser Frage befassen kann und auf jeden Fall befassen muss, bevor das Verfahren in diesen Sachen fortgesetzt werden kann.

66.      Ich schlage natürlich nicht vor, dass der Gerichtshof Vorabentscheidungsersuchen von Richtern (oder Spruchkörpern) annehmen sollte, die für die Behandlung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rechtssachen offensichtlich unzuständig sind, die ihre Befugnis zur Vorlage nach Art. 267 AEUV missbrauchen oder die in Bezug auf das Ausgangsverfahren die Dorsch-Kriterien nicht erfüllen. Die vorliegenden Rechtssachen fallen jedoch in keine dieser beiden Kategorien: Das vorlegende Gericht ist „Gericht“ im Sinne von Art. 267 AEUV, es ist für die betreffenden Rechtssachen zuständig, diese Rechtssachen sind ebenso wie das aufgeworfene Problem in limine litis echt.

2)      Zur Frage eines Darlegungsdefizits

67.      Die polnische Regierung sowie die Staatsanwaltschaften der Woiwodschaften Warschau und Lublin machen geltend, dass die Vorabentscheidungsersuchen nicht den Anforderungen nach Art. 94 der Verfahrensordnung genügten. Der Zusammenhang zwischen auszulegenden Vorschriften des Unionsrechts und den anhängigen Rechtssachen würden in diesen Ersuchen nicht hinreichend detailliert dargelegt.

68.      Insoweit ist einzuräumen, dass die Vorlageentscheidungen, zumindest soweit sich die Vorlagefrage auf die Bestimmungen der Richtlinie 2016/343 bezieht, knapp gefasst sind. Das vorlegende Gericht hätte sich hinsichtlich der Klarstellung des Sachverhalts mehr Mühe geben können. Insbesondere hätten mehr Einzelheiten dazu angegeben werden können, inwieweit sich die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten gemäß Art. 6 der Richtlinie 2016/343 in Bezug auf die Beweislast auf die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verfahren auswirken.

69.      Dessen ungeachtet bin ich nicht der Ansicht, dass die „Wortknappheit“ des vorlegenden Gerichts als hinter den Anforderungen des Art. 94 der Verfahrensordnung zurückbleibend angesehen werden kann. Die Richtlinie 2016/343 ist nämlich (i) auf die vorliegenden Rechtssachen anwendbar und (ii) erscheint relevant.

70.      Zum ersten Punkt ergibt sich aus der Vorlageentscheidung, dass gegen die Angeklagten im Ausgangsverfahren ein Strafverfahren durchzuführen ist und dass über ihre Schuld noch nicht abschließend entschieden wurde. Die Bestimmungen der Richtlinie 2016/343 finden somit Anwendung. Nach ihrem Art. 2 gilt diese Richtlinie für natürliche Personen, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind. Sie gilt für alle Abschnitte des Strafverfahrens ab dem Zeitpunkt, zu dem eine Person verdächtigt oder beschuldigt wird, eine Straftat oder eine mutmaßliche Straftat begangen zu haben, bis die Entscheidung über die endgültige Feststellung, ob diese Person die betreffende Straftat begangen hat, Rechtskraft erlangt hat(29). Es ist wohl kaum nötig, in diesem Zusammenhang hinzuzufügen, dass diese Richtlinie auch in Verfahren anwendbar ist, die für einen Mitgliedstaat eine „rein innere“ Angelegenheit sind.

71.      In Bezug auf den zweiten Punkt genügt die Feststellung, dass es in der Frage der Unschuldsvermutung oder der Beweislast problematisch werden kann, wenn einer oder mehrere der Richter in einem gerichtlichen Spruchkörper, der eine Strafsache verhandelt, Verbindungen zu einem der Beteiligten, und zwar zur Seite der Staatsanwaltschaft, hat. Wenn die Abordnung eines Richters an ein höheres Gericht und seine Stellung dort möglicherweise davon abhängig ist, dass man seitens der Staatsanwaltschaft mit seiner Leistung zufrieden ist, weil sie sonst jederzeit widerrufen werden kann, stellt sich die Frage, ob dieser Umstand geeignet ist, Zweifel an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des abgeordneten Richters aufkommen zu lassen. Man kann es als eine Frage der richterlichen Unparteilichkeit ansehen (wenn man es von einem strukturellen Standpunkt aus betrachtet) oder möglicherweise als eine Frage, die sich auf die Unschuldsvermutung oder die Beweislast bezieht (wenn man es vom Standpunkt des Angeklagten aus sieht, der annehmen könnte, dass ein so zusammengesetztes Gremium tendenziell auf der Seite der Anklage steht).

72.      Jedenfalls sind die Voraussetzungen des Art. 94 der Verfahrensordnung in Bezug auf Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV erfüllt. Der tatsächliche und kontextuelle Rahmen, den der Gerichtshof für seine Beurteilung auf der Grundlage dieser Bestimmung benötigt, erfordert nämlich keine weiteren Angaben zu den Besonderheiten des Ausgangsverfahrens. In den Vorlageentscheidungen werden der nationale Rechtsrahmen, der die Abordnung von Richtern regelt, die spezifischen Fragen, mit denen das vorlegende Gericht bei der Zusammensetzung des zur Entscheidung des Ausgangsverfahrens berufenen Spruchkörpers konfrontiert ist, sowie die Gründe, aus denen das Gericht an der Vereinbarkeit dieses Rahmens mit dem Unionsrecht zweifelt, knapp, aber erschöpfend dargelegt. Diese Faktoren zusammengenommen ermöglichen es dem Gerichtshof, zu erkennen, welche Frage vom vorlegenden Gericht gestellt wird und welche Erwägungen dahinter stehen.

3)      Erheblichkeit und Erforderlichkeit der Vorlagefrage

73.      Die polnische Regierung sowie die Staatsanwaltschaften der Woiwodschaften Warschau und Lublin machen geltend, dass eine Antwort auf die Vorlagefrage für die Entscheidung der Ausgangsverfahren weder erforderlich noch erheblich sei. Sie machen im Wesentlichen geltend, die Frage sei rein hypothetisch. Aus verfahrensrechtlicher Sicht sei es dem vorlegenden Gericht unmöglich, die Antwort des Gerichtshofs zur Auslegung von Art. 19 Abs. 1 EUV im Ausgangsverfahren anzuwenden. Nach nationalem Recht besitze dieses Gericht keine Befugnis, mögliche sich aus den fraglichen nationalen Verfahrensvorschriften ergebende Fehler zu „korrigieren“. Gegebenenfalls müsste eine andere gerichtliche Einrichtung (namentlich ein anderer Spruchkörper) tätig werden, um über den Ausschluss eines der amtierenden Richter des vorlegenden Gerichts zu entscheiden. Diese Verfahrensbeteiligten weisen zudem darauf hin, dass die Angeklagten gegen die Zusammensetzung der Spruchkörper keine Einwände erhoben hätten. Außerdem seien in den Vorlageentscheidungen die nationalen Vorschriften über die Abordnung von Richtern nicht vollständig und unparteiisch wiedergeben worden; schließlich verweisen sie auf die Urteile des Gerichtshofs in den Rechtssachen Foglia(30).

74.      Die Kommission meint, dass die Vorlagebeschlüsse kurz und bündig gefasst seien. Gleichwohl sei die Vorlagefrage jedoch nicht unzulässig: In den Ausgangsverfahren könne sich tatsächlich eine verfahrensrechtliche Frage stellen, die nur gelöst werden könne, wenn der Gerichtshof dazu eine Antwort erteile.

75.      In diesem Punkt stimme ich mit der Kommission überein. Auch ich bin der Meinung, dass die erste Frage in der Tat zulässig ist. Diese Vorlagefrage wirft vorab eine Frage nach der Vereinbarkeit zwischen nationalem Recht und Unionsrecht auf, die zu klären das vorlegende Gericht verpflichtet ist, bevor es im Ausgangsverfahren (dem Recht gemäß) eine Entscheidung fällen kann. Diese Schlussfolgerung wird durch die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Erheblichkeit und Erforderlichkeit der Vorlagefrage bestätigt (i) und durch die neuere Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht in Frage gestellt (ii), von der sich die vorliegenden Rechtssachen leicht unterscheiden lassen (iii).

i)      Ständige Rechtsprechung zur „Erheblichkeit“ und zur „Erforderlichkeit“

76.      Nach ständiger Rechtsprechung ist es allein Sache des nationalen Gerichts, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, anhand der Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der Fragen zu beurteilen, die es dem Gerichtshof vorlegt. Daraus folgt, dass für die von den nationalen Gerichten vorgelegten Fragen eine Vermutung der Entscheidungserheblichkeit gilt und dass der Gerichtshof nur dann ablehnen kann, über diese Fragen zu befinden, wenn die erbetene Auslegung offensichtlich in keinem Zusammenhang mit dem tatsächlichen Sachverhalt oder Zweck des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung dieser Fragen erforderlich sind(31).

77.      Erheblichkeit und Erforderlichkeit sind also zwei Seiten derselben Medaille: Eine Frage ist erheblich, wenn ihre Beantwortung für das nationale Gericht erforderlich ist, um im Ausgangsverfahren entscheiden zu können, und umgekehrt. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind Fragen zulässig, wenn ihre Beantwortung erforderlich ist, um den vorlegenden Gerichten die „Entscheidung“ der bei ihnen anhängigen Rechtssachen zu ermöglichen(32). Dies wird herkömmlicherweise so verstanden, dass grundsätzlich zwei Bedingungen erfüllt sein müssen: (a) Vor dem vorlegenden Gericht muss ein Rechtsstreit anhängig sein(33), und (b) die Vorabentscheidung muss bei der von diesem Gericht zu erlassenden Entscheidung berücksichtigt werden können(34).

78.      Was die erste Voraussetzung betrifft, so steht fest, dass in allen vorgelegten Rechtssachen, mit Ausnahme möglicherweise der in C‑754/19(35) in Rede stehenden, ein Strafverfahren vor dem vorlegenden Gericht anhängig ist. Die entscheidende Frage ist daher, ob die zweite Voraussetzung erfüllt ist: Kann das vorlegende Gericht die Antwort des Gerichtshofs auf die Vorlagefrage berücksichtigen?

79.      Bewertet man den Sachverhalt der vorliegenden Rechtssachen im Licht der herkömmlichen Rechtsprechung des Gerichtshofs, ist diese Frage eindeutig zu bejahen. Aus dieser ständigen Rechtsprechung ergibt sich, warum die von der polnischen Regierung und den Staatsanwaltschaften der Woiwodschaften Warschau und Lublin geltend gemachten Einwände unbegründet sind.

80.      Erstens bedarf es kaum eines Hinweises darauf, dass es nicht notwendig ist, dass die Vorlagefrage unmittelbar in materieller Hinsicht für die Entscheidung des Rechtsstreits erheblich sein muss. Die Rechtsprechung enthält zahlreiche Beispiele für Vorabentscheidungen zu Verfahrensfragen verschiedener Art(36). In der Tat gibt es eine besonders reichhaltige Rechtsprechung, die die Tragweite des Grundsatzes der Verfahrensautonomie und seine Grenzen betrifft, insbesondere diejenigen, die sich aus der Notwendigkeit ergeben, die Wirksamkeit des Unionsrechts sicherzustellen(37). Einige der vom Gerichtshof behandelten Fragen beziehen sich z. B. auf verfahrensrechtliche Beschränkungen, die den nationalen Gerichten durch nationale Vorschriften auferlegt werden(38) oder Verfahrensfragen, mit denen sich das vorlegende Gericht zu befassen hat, bevor es eine Entscheidung in der Sache fällen kann(39). Einige Vorlagefragen betrafen, wie in den vorliegenden Rechtssachen, bestimmte Aspekte der nationalen Vorschriften über die Gerichtsorganisation(40).

81.      Tatsächlich ähneln die vorliegenden Fälle erkennbar der Sachlage, um die es in der Rechtssache A. K. u. a. gegangen ist. In jener Rechtssache hat der Gerichtshof Rechtssachen für zulässig befunden, in denen das vorlegende Gericht „nicht zu materiell-rechtlichen Fragen der bei ihm anhängigen Rechtsstreitigkeiten, die selbst weitere Fragen zum Unionsrecht aufwerfen, unterwiesen werden möchte, sondern zu einem verfahrensrechtlichen Problem, das von ihm in limine litis zu entscheiden ist, da es die Zuständigkeit dieses Gerichts für die Entscheidung über diese Rechtsstreitigkeiten selbst betrifft“(41).

82.      Es gibt auch Beispiele für Fälle, in denen der Gerichtshof im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens in Bezug auf eine bestimmte Zusammensetzung eines gerichtlichen Spruchkörpers die Frage der Unabhängigkeit geprüft hat. Im Urteil Ognyanov hat er beispielsweise geprüft, ob das Unionsrecht einer nationalen Regelung entgegensteht, die den Ausschluss einer gerichtlichen Kammer vorsah, weil diese in dem an den Gerichtshof gerichteten Vorabentscheidungsersuchen eine vorläufige Stellungnahme zum materiell-rechtlichen Inhalt einer Rechtssache abgegeben hatte(42).

83.      Zweitens ist der Umstand unerheblich, dass die vom Gerichtshof im vorliegenden Verfahren zu erteilende Antwort vom vorlegenden Gericht nicht in einer Entscheidung in Form eines Urteils (oder einer Entscheidung in der Sache) angewandt werden kann.

84.      Nach ständiger Rechtsprechung setzt die Zulässigkeit eines Vorabentscheidungsersuchens voraus, dass das vorlegende Gericht „im Rahmen eines Verfahrens zu entscheiden [hat], das auf eine Entscheidung mit Rechtsprechungscharakter abzielt“(43). Dies bedeutet, dass die Vorlage eines nationalen Gerichts, das ausnahmsweise in einem Verfahren von administrativem Charakter tätig ist, unzulässig ist(44). Dagegen bedeutet dies nicht, dass die Entscheidung, die das vorlegende Gericht im Ausgangsverfahren über die im Rahmen seiner Vorlagefragen aufgeworfene konkrete Frage zu treffen hat, einen verfahrensbeendenden Bezug haben, geschweige denn in Form eines Urteils ergehen muss. Der Gerichtshof hat in ständiger Rechtsprechung festgestellt, dass Vorlagefragen zulässig sind, wenn sie Verfahrensfragen betreffen, die „das gesamte zur Entscheidung des vorlegenden Gerichts führende Verfahren [umfassen]“. Diese Anforderung „[ist] weit auszulegen …, um zu verhindern, dass zahlreiche Verfahrensfragen als unzulässig angesehen werden und nicht Gegenstand einer Auslegung durch den Gerichtshof sein können und dass er nicht über die Auslegung aller vom vorlegenden Gericht anzuwendenden Vorschriften des Unionsrechts entscheiden kann“(45).

85.      In der Tat gibt es keinen Mangel an Beispielen, in denen die Antwort des Gerichtshofs zur Unterstützung des vorlegenden Gerichts nicht in einer Entscheidung in Form eines Urteils (oder einer anderen Entscheidung in der Sache) angewandt werden konnte. In der Rechtssache VB Pénzügyi Lízing betraf z. B. eine der Vorlagefragen die Verpflichtung nationaler Gerichte, bei Vorlage eines Ersuchens um Vorabentscheidung gleichzeitig den Justizminister zu unterrichten, dass ein Ersuchen gestellt wurde(46). Im Urteil Eurobolt hat der Gerichtshof nicht gezögert, eine Frage zu beantworten, ob ein nationales Gericht gemäß Art. 267 AEUV berechtigt ist, sich an Unionsorgane zu wenden, die an der Ausarbeitung eines sekundären Unionsrechtsakts mitgewirkt haben, dessen Gültigkeit vor diesem Gericht angefochten wurde(47). Im Urteil Salvoni lieferte der Gerichtshof dem nationalen Gericht die gewünschte Auslegung der einschlägigen Unionsvorschriften und schloss damit aus, dass dieses Gericht ein einseitiges (ex parte) Verfahren mit einem der Beteiligten durchführte(48). In ähnlicher Weise hat er in einer Reihe von Rechtssachen, die die Auslegung von Rechtsinstrumenten der Union im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit betrafen, die einschlägigen Bestimmungen des Unionsrechts ausgelegt, um die vorlegenden Gerichte beim Ausfüllen der in den Anhängen dieser Rechtsinstrumente vorgesehenen Formulare zu unterstützen(49).

86.      Auch hier gibt es also viele Beispiele dafür, dass die Rechtsprechung Antworten gegeben hat, die sich auf verschiedene verfahrensrechtliche, strukturelle oder institutionelle Fragen beziehen und die einem vorlegenden Gericht helfen, andere Fragen zu klären, die sich vor, bei oder gar nach der endgültigen Entscheidung in der Sache ergeben(50).

87.      Unerheblich ist drittens die von der polnischen Regierung dargestellte Sachlage, dass das vorlegende Gericht nach nationalem Recht keine Befugnis zur „Korrektur“ etwaiger Mängel besitze, die sich aus einer möglichen Unvereinbarkeit der fraglichen nationalen Verfahrensvorschriften mit dem Unionsrecht ergeben.

88.      Zum einen wird dieses Vorbringen vom vorlegenden Gericht bestritten. In seiner Antwort vom 3. September 2020 auf eine entsprechende Frage des Gerichtshofs hat das vorlegende Gericht erklärt, dass ihm, sollte der Gerichtshof eine Unvereinbarkeit der fraglichen nationalen Regelung mit dem Unionsrecht feststellen, drei Optionen zur Verfügung stünden, um dieser Unvereinbarkeit abzuhelfen oder zumindest deren Auswirkungen teilweise zu begrenzen. Erstens könne ein Richter gemäß Art. 41 Abs. 1 der Strafprozessordnung seinen eigenen Ausschluss von einem Verfahren beantragen. Zweitens könne die vorlegende Richterin als Vorsitzende des Spruchkörpers, der über die in Rede stehenden Rechtssachen entscheide, einen Antrag an den Präsidenten ihres Gerichts stellen, um die Anwendung von Art. 47 Buchst. b des Gesetzes über die Verfassung der ordentlichen Gerichte zu beantragen, was zu einer Änderung der Zusammensetzung des Spruchkörpers führen könne. Drittens könne das vorlegende Gericht gemäß Art. 37 der Strafprozessordnung den Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) bitten, die Rechtssachen einem anderen Gericht derselben Ebene zuzuweisen, wenn die Interessen der Justiz dies erforderten.

89.      Angesichts dieser unterschiedlichen Meinungen weise ich erneut darauf hin, dass es Sache des vorlegenden Gerichts ist, den relevanten sachlichen und rechtlichen Rahmen zu bestimmen. Der Gerichtshof hat wiederholt festgestellt, dass er nicht befugt sei, im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens darüber zu entscheiden, wie nationale Vorschriften auszulegen sind oder ob ihre Auslegung durch das vorlegende Gericht richtig ist; diese Auslegung fällt nämlich in die ausschließliche Zuständigkeit der nationalen Gerichte(51). Es ist daher nicht Sache dieses Gerichtshofs, über den richtigen Inhalt oder die richtige Auslegung des nationalen Rechts zu befinden.

90.      Andererseits hat der Gerichtshof jedenfalls die Voraussetzung der Erforderlichkeit stets unabhängig von den nach nationalem Recht gangbaren Wegen, einer möglichen Unvereinbarkeit zwischen nationalem Recht und Unionsrecht abzuhelfen, beurteilt. Nach ständiger Rechtsprechung ist „jede Bestimmung einer nationalen Rechtsordnung oder jede Gesetzgebungs‑, Verwaltungs‑ oder Gerichtspraxis, die dadurch zu einer Abschwächung der Wirksamkeit des Unionsrechts führen würde, dass dem für die Anwendung dieses Rechts zuständigen Gericht die Befugnis abgesprochen wird, bereits zum Zeitpunkt dieser Anwendung alles Erforderliche zu tun, um diejenigen innerstaatlichen Rechtsvorschriften beiseitezulassen, die unter Umständen ein Hindernis für die volle Wirksamkeit der unmittelbar geltenden Normen des Unionsrechts bilden, mit den in der Natur des Unionsrechts liegenden Erfordernissen unvereinbar“(52).

91.      Das Vorbringen der polnischen Regierung lässt sich mit der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs zur unmittelbaren Wirkung und zum Vorrang nicht in Einklang bringen. Wären die Verpflichtungen der nationalen Gerichte zur Wahrung des Unionsrechts auf das beschränkt, was das nationale Recht ihnen ausdrücklich erlaubt, bliebe nicht viel Unionsrecht übrig, um das es noch gehen könnte. Ist das vorlegende Gericht mit einem Problem des Unionsrechts konfrontiert, ist es verpflichtet, alles zu tun, um die (potenzielle) Unvereinbarkeit zu beseitigen, um so bald wie möglich eine Vereinbarkeit zu erreichen. Das vorlegende Gericht kann zu diesem Zweck die nationalen Vorschriften in Übereinstimmung mit dem Unionsrecht auslegen oder gegebenenfalls die nationalen Vorschriften, die es daran hindern, die Übereinstimmung zu gewährleisten, unangewendet lassen(53). Dass das Problem hypothetisch zu einem späteren Zeitpunkt wenigstens nach dem Buchstaben des nationalen Rechts von einem anderen Gericht (oder einem anderen Spruchkörper) gelöst werden könnte, ist kein gültiger Einwand, schon gar nicht aus Sicht des Unionsrechts.

92.      Folglich würde der Umstand, dass das vorlegende Gericht nach Ansicht der polnischen Regierung möglicherweise keine konkreten Maßnahmen ergreifen kann, um die mögliche Unvereinbarkeit der nationalen Regelung mit dem Unionsrecht zu beheben – selbst wenn dies zutreffen sollte, was meines Erachtens nicht der Fall ist –, die Vorlagefrage jedenfalls nicht unzulässig machen. Bei Vorabentscheidungsersuchen, die darauf abzielen, die Verpflichtungen und Befugnisse zu klären, die die nationalen Gerichte aus dem Unionsrecht ableiten, wird nämlich die Frage, ob eine nationale Verfahrensvorschrift oder deren mehrere mit dem Unionsrecht vereinbar sind, zur zentralen Frage der materiellen Prüfung der Rechtssache. Das ist keine Frage der Zulässigkeit.

93.      Eine Bestätigung dieser Grundsätze lässt sich wiederum im Urteil A. K. u. a. finden. Darin hat der Gerichtshof ausdrücklich ausgeführt, dass „… der Umstand, dass nationale Bestimmungen … die Einstellung von Rechtsstreitigkeiten wie denen des Ausgangsverfahrens anordnen, den Gerichtshof ohne eine Entscheidung des vorlegenden Gerichts, die Ausgangsverfahren einzustellen oder in der Hauptsache für erledigt zu erklären, grundsätzlich nicht zu dem Schluss veranlassen [kann], dass er nicht mehr über die ihm zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen entscheiden kann“(54). Der Gerichtshof verweist auf die umfassende Befugnis der nationalen Gerichte bei der Einreichung eines Vorabentscheidungsersuchens und gelangt zu dem Schluss: „Eine nationale Vorschrift kann daher ein nationales Gericht weder daran hindern, von dieser Befugnis Gebrauch zu machen, noch daran, dieser Pflicht nachzukommen.“(55)

94.      Viertens berührt der Umstand, dass die Personen, die Gegenstand des Strafverfahrens vor dem vorlegenden Gericht sind, die Vereinbarkeit der fraglichen nationalen Regelung mit dem Unionsrecht nicht gerügt haben, weder die Erheblichkeit der Frage noch ihre Zulässigkeit. Es ist unstreitig, dass der Umstand, dass die Beteiligten des Ausgangsverfahrens eine Frage des Unionsrechts nicht vor einem nationalen Gericht aufgeworfen haben, Letzterem nicht verwehrt, den Gerichtshof anzurufen. Art. 267 AEUV ist nicht auf Fälle beschränkt, in denen die eine oder andere Partei des Ausgangsverfahrens die Initiative ergriffen hat, eine Frage zur Auslegung oder zur Gültigkeit des Unionsrechts aufzuwerfen, sondern erstreckt sich auch auf Fälle, in denen das nationale Gericht selbst eine solche Frage aufwirft(56). Dies ist umso wichtiger in einem Fall, in dem ernsthafte Zweifel an der ordnungsgemäßen Zusammensetzung des mit der Rechtssache befassten Spruchkörpers aufkommen(57).

95.      Die vorliegenden Rechtssachen sind auch keine „konstruierten Fälle“, die irgendeine Ähnlichkeit mit den Rechtssachen Foglia aufweisen(58). Es ist unbestritten, dass es sich bei den Strafverfahren vor dem vorlegenden Gericht um wirkliche Rechtsstreitigkeiten handelt. Absolut nichts deutet darauf hin, dass die Beteiligten diese Verfahren künstlich inszeniert haben, um den Gerichtshof um Hinweise für die Auslegung bestimmter Vorschriften des Unionsrechts zu bitten(59).

96.      Fünftens und letztens, und als Zwischenbewertung, habe ich den Eindruck, dass die vorliegenden Rechtssachen alle Elemente aufweisen, die für die Anwendbarkeit von Art. 19 Abs. 1 EUV erforderlich sind.

97.      Zunächst ist festzustellen, dass die im vorliegenden Verfahren aufgeworfenen Fragen weder im Verhältnis zu den in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rechtssachen noch für die nationale Rechtsordnung im Allgemeinen unbedeutend oder von untergeordneter Bedeutung sind. Da die aufgeworfenen Fragen nach der ordnungsgemäßen Zusammensetzung der gerichtlichen Spruchkörper nicht spezifisch für die Ausgangsverfahren sind, sondern sich aus einer nationalen Regelung mit allgemeiner Geltung ergeben, kann die Antwort des Gerichtshofs auf die Vorlagefrage nämlich erhebliche Auswirkungen auf eine Reihe anderer Rechtssachen haben.

98.      Was die Art des Gegenstands der Ausgangsverfahren betrifft, hat der Gerichtshof im Urteil Simpson nachdrücklich festgestellt, dass „die Garantien für den Zugang zu einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht, und insbesondere diejenigen, die für den Begriff und die Zusammensetzung des Gerichts bestimmend sind, den Grundpfeiler des Rechts auf ein faires Verfahren bilden. Danach muss jedes Gericht überprüfen, ob es in Anbetracht seiner Zusammensetzung ein solches Gericht ist, wenn insoweit ein ernsthafter Zweifel besteht. Diese Überprüfung ist im Hinblick auf das Vertrauen erforderlich, das die Gerichte einer demokratischen Gesellschaft bei den Rechtssuchenden wecken müssen. In diesem Sinne stellt eine solche Überprüfung ein wesentliches Formerfordernis dar, das zwingend zu beachten und von Amts wegen zu prüfen ist“(60). Daher kann und muss das vorlegende Gericht, sofern es ernsthafte Zweifel an seiner rechtmäßigen Zusammensetzung hegt, eine solche Frage aufwerfen, bevor es zur materiellen Prüfung der ihm vorliegenden Rechtssachen übergeht.

99.      Im Übrigen ist, wie sich aus dem Kontext der vorliegenden Rechtssachen sowie aus einer Reihe anderer Rechtssachen, die denselben Mitgliedstaat betreffen und in jüngster Zeit Anlass zu einer Reihe von Rechtssachen, die von diesem Gerichtshof zu behandeln waren, ableiten lässt, die betreffende Rechtsordnung wahrscheinlich nicht geeignet, angemessene Mechanismen zur Selbstabhilfe des vom vorlegenden Gericht aufgeworfenen potenziellen Problems bereitzustellen. Das vom vorlegenden Gericht festgestellte Problem ist nicht lediglich eine singuläre und bedauerliche Störung in einem ansonsten einwandfrei funktionierenden System.

100. Zusammenfassend halte ich die erste Frage im Licht der gefestigten Rechtsprechung des Gerichtshofs für zulässig. Mit dieser Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, wie Art. 19 Abs. 1 EUV – eine Vorschrift, die in den vorliegenden Rechtssachen eindeutig Anwendung findet – zutreffend auszulegen ist, um auf diese Weise eine verfahrensrechtliche Frage zu klären, damit das Ausgangsverfahren in einer Art und Weise durchgeführt werden kann, die mit dem Unionsrecht vereinbar ist.

101. Das Vorbringen eines angeblichen Mangels an Erheblichkeit oder Erforderlichkeit der Vorlagefrage ist in Anbetracht der herkömmlichen Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht stichhaltig. Die jüngsten Entscheidungen des Gerichtshofs, die im spezifischen Kontext der Unabhängigkeit der nationalen Gerichtsbarkeit und der Zulässigkeit solcher Fragen ergangen sind, ändern nichts an dieser Schlussfolgerung.

ii)    Jüngste Rechtsprechung: Urteil Miasto Łowicz und nachfolgende Rechtsprechung

102. In der Rechtssache Miasto Łowicz(61) war der Gerichtshof gefragt worden, ob die neue Regelung der Disziplinarverfahren gegen Richter in Polen die Anforderungen an die richterliche Unabhängigkeit gemäß Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV erfülle. Der Gerichtshof ist jedoch in der Sache nicht auf die Vorlagefragen eingegangen, da er das Vorabentscheidungsersuchen für unzulässig ansah.

103. In seiner Begründung für diese Schlussfolgerung hat der Gerichtshof zunächst hervorgehoben, dass für die Feststellung der „Erforderlichkeit“ im Sinne von Art. 267 AEUV ein Bezug zwischen dem vor dem vorlegenden Gericht ausgetragenen Rechtsstreit und den Bestimmungen des Unionsrechts, um deren Auslegung ersucht wird, bestehen muss, „so dass diese Auslegung einem objektiven Erfordernis für die Entscheidung entspricht, die das nationale Gericht zu treffen hat“(62). Der Gerichtshof hat dann mehrere Situationen genannt, in denen Vorlagefragen diese Bedingung erfüllen. Er hat ein Schema für „Situationstypen“ erstellt, in denen ein Vorabentscheidungsersuchen einen ausreichenden Bezug aufweist, um seine Entscheidungserheblichkeit im Sinne von Art. 267 AEUV zu gewährleisten. Dieser Bezug ist gegeben, wenn (i) das Ausgangsverfahren in der Sache einen Bezug zum Unionsrecht aufweist(63), (ii) die Frage sich auf die Auslegung von Verfahrensvorschriften des Unionsrechts bezieht, die anwendbar sind(64) oder (iii) die gewünschte Antwort des Gerichtshofs geeignet erscheint, dem vorlegenden Gericht eine Auslegung des Unionsrechts an die Hand zu geben, die es ihm ermöglicht, über Verfahrensfragen des nationalen Rechts zu entscheiden, bevor es in der Sache entscheiden kann(65).

104. Anschließend hat der Gerichtshof festgestellt, dass in den gegebenen Rechtssachen kein solcher Bezug festgestellt werden könne, da sie unter keine der oben genannten Situationen fielen. Er befand, dass jedwede zu gebende Antwort keinen Einfluss auf die bei den vorlegenden Gerichten anhängigen Gerichtsverfahren haben würde.

105. Meiner Ansicht nach sind die Feststellungen des Gerichtshofs im Urteil Miasto Łowicz kaum überraschend.

106. Erstens betrachte ich dieses Urteil nicht als Einschränkung oder Abweichung von den Grundsätzen, die sich aus der bisherigen Rechtsprechung ergeben. Meines Erachtens spiegelt es im Großen und Ganzen die Ausrichtung dieser Rechtsprechung wider: die Notwendigkeit, dass sichergestellt ist, dass das vorlegende Gericht in der Lage ist, die Antworten, um die der Gerichtshof ersucht wird, im Ausgangsverfahren zu berücksichtigen. Die Auswirkungen auf diese Verfahren können – wie der Gerichtshof ausdrücklich festgestellt hat – entweder deren materiell-rechtlichen oder deren verfahrensrechtlichen Aspekte betreffen. Diese Auswirkungen müssen jedoch in der einen oder anderen Form konkret und vorhersehbar sein und dürfen nicht hypothetisch, theoretisch oder rein spekulativ sein.

107. Zweitens erscheint auch die Anwendung der Grundsätze, die sich aus seiner herkömmlichen Rechtsprechung ergeben, auf die spezifischen Situationen, um die es in der Rechtssache Miasto Łowicz ging, angemessen. Es bestand eine erhebliche Diskrepanz zwischen dem Sachverhalt, um den es vor den vorlegenden Gerichten ging, und der eher allgemeinen Frage, die von diesen Gerichten gestellt wurde(66). Es war – auch angesichts der wenigen Einzelheiten in den Vorlagebeschlüssen(67) – unklar, wie die Feststellungen des Gerichtshofs zur Vereinbarkeit der neuen Regelung der Disziplinarverfahren gegen Richter in Polen eine tatsächliche Auswirkung verfahrensrechtlicher oder materiell-rechtlicher Art im Ausgangsverfahren hätten haben können. Diese Verfahren betrafen andere Sachverhalte(68).

108. Drittens bin ich im Gegensatz zu einigen Stimmen im Schrifttum(69) nicht der Ansicht, dass ein solches Erfordernis einer gewissen unmittelbaren Mindest-Erheblichkeit für die vom vorlegenden Gericht im Ausgangsverfahren zu treffende Entscheidung eine Abweichung von der herkömmlichen Rechtsprechung des Gerichtshofs darstellt. Ich vermute, dass ein Teil des Problems einfach die Folge einer optischen Täuschung ist. Bevor der Gerichtshof das Bestehen einer eigenen, sich unmittelbar aus Art. 19 Abs. 1 EUV ergebenden Verpflichtung bejahte, musste der Fall, um in die Zuständigkeit des Gerichtshofs zu fallen, in den Anwendungsbereich des Unionsrechts im herkömmlichen Sinne fallen. Dieses Erfordernis schränkte automatisch das Spektrum der Fragen ein, die gestellt werden konnten, da eine deutliche Verbindung zu einer Bestimmung des Unionsrechts oder zumindest ein weiter gefasster Konflikt mit einer der Freiheiten oder einem der Grundsätze des Unionsrechts verlangt wurde(70). Vor diesem (naturgemäß engeren) Hintergrund stellte sich die Frage der Erheblichkeit und Erforderlichkeit nicht häufig bzw. erschien zu beschwerlich.

109. Im Gegensatz dazu wurde, nachdem Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV nicht mehr auf das Erfordernis beschränkt war, dass der Fall des Ausgangsverfahrens in den Anwendungsbereich des Unionsrechts im herkömmlichen Sinne fällt, der zweite (engere, materiell-rechtliche) Prüfungszugang tatsächlich beseitigt. Worauf jetzt der Blick fällt, ist der erste Prüfungszugang für die Frage der Erforderlichkeit/Erheblichkeit, der schon immer da war, ohne dass ihm jemand wirklich viel Aufmerksamkeit geschenkt hat und dies aus einem recht verständlichen Grund: Man neigt dazu, intuitiv den engeren Zugängen Aufmerksamkeit zu schenken, nicht den breiteren. Da es sich nun aber tatsächlich um den einzigen Prüfungszugang handelt, mag er als eine neue oder strengere Einschränkung empfunden werden, einfach deshalb, weil er der einzige ist, der noch in Frage kommt.

110. Der Ansatz des Gerichtshofs in der Rechtssache Miasto Łowicz wurde anschließend in der Rechtssache Prokuratura Rejonowa w Słubicach(71) angewandt, die ein nationales Verfahren und Fragen betraf, die dem im Urteil Miasto Łowicz behandelten ziemlich ähnlich waren. Demgegenüber stellten sich in den Rechtssachen Maler(72) und Land Hessen(73) etwas andere Fragen zur Zulässigkeit bzw. Zuständigkeit.

111. In der Rechtssache Maler erging das Vorabentscheidungsersuchen aufgrund einer Meinungsverschiedenheit innerhalb des Verwaltungsgerichts Wien (Österreich) zwischen dem vorlegenden Gericht (als Einzelrichter) und dem Präsidenten dieses Gerichts. Das vorlegende Gericht war der Ansicht, dass die Zuweisung einer bestimmten Rechtssache, die auf der Grundlage der gerichtsinternen Vorschriften über die Zuweisung von Rechtssachen erfolgte, Fragen im Sinne von Art. 83 des österreichischen Bundes-Verfassungsgesetzes aufwarf, wonach u. a. niemand der Zuständigkeit seines gesetzlichen Richters entzogen werden darf. Aufgrund des vermuteten Konflikts mit dem Grundsatz des gesetzlichen Richters äußerte das vorlegende Gericht auch Zweifel daran, ob es als „unabhängig genug“ angesehen werden könne, um den Fall nach dem in Art. 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (im Folgenden: EMRK), in Art. 19 Abs. 1 EUV und in Art. 47 der Charta festgelegten Maßstab zu verhandeln.

112. Unter Anwendung der Rechtsprechung des Urteils Miasto Łowicz erklärte der Gerichtshof das Vorabentscheidungsersuchen in seiner Gesamtheit für unzulässig und betonte, dass das Ausgangsverfahren in der Sache keinen Bezug zu Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV aufweise und dass die Antwort des Gerichtshofs dem vorlegenden Richter keine Auslegung des Unionsrechts geben könne, deren er bedürfte, um über den Rechtsstreit des Ausgangsverfahrens zu befinden(74).

113. Zwei weitere Elemente sind in diesem Zusammenhang vielleicht erwähnenswert. Erstens war die vom vorlegenden Richter aufgeworfene Frage eine eher technische Frage in einem Bereich, in dem eine Reihe von möglichen Ansätzen denkbar war. In der Tat wird niemand behaupten wollen, dass es nach Unionsrecht nur eine bestimmte Art und Weise gibt, wie Rechtssachen innerhalb eines Gerichts zugewiesen werden können, um die Einhaltung des Rechts auf einen gesetzlichen Richter oder, allgemeiner, des Rechts auf ein faires Verfahren zu gewährleisten. Zweitens, und das ist vielleicht noch wichtiger, wies der Vorlagebeschluss auf keine Elemente hin, die entweder für sich genommen oder in ihrer Gesamtheit Zweifel an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der mit der Rechtssache befassten Justizorgane oder an der allgemeinen Leistungsfähigkeit des Justizsystems aufkommen ließen. Insbesondere wurden dem Gerichtshof in dieser Rechtssache keine strukturellen, systemischen oder andere Fragen zur Rechtsstaatlichkeit zur Kenntnis gebracht. Im Gegenteil, der Sachverhalt zeigte, dass das nationale System in der Tat einige Möglichkeiten bot, den angeblichen Rechtsverstoß, sollte es einen solchen gegeben haben, zu beheben. Tatsächlich machte das vorlegende Gericht sogar Gebrauch von diesen Möglichkeiten, schien aber mit deren Endergebnis unzufrieden zu sein(75).

114. Unter solchen Umständen kann man davon ausgehen, dass die Nichtbefassung mit der Vorlage in materieller Hinsicht der ständigen Rechtsprechung entspricht, wonach es dem Gerichtshof mangels gegenteiliger Anhaltspunkte nicht zusteht, anzunehmen, dass die nationalen Vorschriften, die die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Gerichte gewährleisten, in einer den Bestimmungen der staatlichen Rechtsordnung oder den Grundsätzen eines Rechtsstaats zuwiderlaufenden Weise angewandt werden(76). Vereinfacht ausgedrückt, wurde kein schwerwiegendes Problem, das sich möglicherweise auf der Grundlage von Art. 19 Abs. 1 EUV ergeben könnte, festgestellt, das darauf hingedeutet hätte, dass die fragliche nationale Rechtsordnung nicht zu einer „Selbstabhilfe“ in der Lage gewesen wäre.

115. In der Rechtssache Land Hessen schließlich hatte das vorlegende Gericht dem Gerichtshof eine Frage zu seinem eigenen Status als „Gericht“ im Sinne von Art. 267 AEUV im Licht von Art. 47 der Charta vorgelegt. Der Gerichtshof hat festgestellt, dass das vorlegende Gericht den Gerichtshof in Wirklichkeit damit aufgefordert habe, die Zulässigkeit seines Vorabentscheidungsersuchens zu prüfen. Da die Eigenschaft als „Gericht“ im Sinne von Art. 267 AEUV eine Voraussetzung für die Zulässigkeit der Vorlage ist, konnte die Erfüllung dieser Voraussetzung als Vorfrage für die Auslegung der in der anderen Vorlagefrage genannten unionsrechtlichen Bestimmung durch den Gerichtshof angesehen werden.

116. Der Gerichtshof prüfte die vom vorlegenden Gericht zur Zulässigkeit vorgebrachten Bedenken eingehend und gelangte zu dem Ergebnis, dass diese Einrichtung die Anforderungen des Art. 267 AEUV erfülle(77). Er schloss dann aber den Abschnitt über die Zulässigkeit mit der Feststellung ab, „dass dieses Ergebnis keine Auswirkung auf die Zulässigkeit der zweiten Frage hat, die als solche unzulässig ist. Da diese Frage nämlich die Auslegung von Art. 267 AEUV selbst betrifft, der für die Entscheidung des Rechtsstreits des Ausgangsverfahrens nicht in Rede steht, entspricht die mit dieser Frage erbetene Auslegung keinem objektiven Erfordernis für die Entscheidung, die das vorlegende Gericht zu treffen hat“(78).

117. Der vom Gerichtshof in seinem Urteil verfolgte Ansatz und der Wortlaut bestimmter Urteilsstellen mögen zumindest auf den ersten Blick verblüffend erscheinen. Bei näherer Betrachtung ist dies aber wohl wie folgt zu verstehen.

118. Der Gerichtshof wollte damit lediglich zum Ausdruck bringen, dass die Prüfung der Frage, ob die in Art. 267 AEUV genannten Voraussetzungen für die Statthaftigkeit der Vorlage erfüllt sind, ganz offensichtlich die Zulässigkeit der Vorlage betrifft und nicht deren materielle Prüfung. Wenn also Zweifel daran bestehen, ob die vorlegende Einrichtung ein „Gericht“ im Sinne von Art. 267 AEUV ist (weil sie wie im Urteil Land Hessen angeblich nicht hinreichend unabhängig ist oder aus anderen Gründen), stellt diese Frage eine Vorfrage des Verfahrens dar, unabhängig davon, ob sie dem Gerichtshof im Hinblick auf die Zulässigkeit vorgelegt oder zum Gegenstand einer konkreten Vorlagefrage gemacht wurde(79).

119. Es ist richtig, dass die Haltung des Gerichtshofs in dieser Frage im Laufe der Jahre nicht ganz einheitlich gewesen ist. In der Tat wurde der gerichtliche Charakter der Einrichtung, die das Vorabentscheidungsersuchen stellt, sowohl im Hinblick auf die Zuständigkeit des Gerichtshofs(80) als auch im Hinblick auf die Zulässigkeit der Vorlage(81) geprüft. Darüber hinaus hat der Gerichtshof, anders als im Urteil Land Hessen, in einigen Fällen Fragen zum Begriff „Gericht“ im Sinne von Art. 267 AEUV und zu der Frage beantwortet, ob die nationale Einrichtung, die das Ersuchen in einer Rechtssache stellt, als solches angesehen werden kann(82).

120. Ich glaube aber nicht, dass die unvermeidbare Vielfalt der Rechtsprechung, die sich im Laufe der Jahre angesammelt hat, von besonderer Bedeutung ist, da sie naturgemäß sehr vom Einzelfall abhängig ist. Natürlich ist ein solcher Satz aus theoretischer Sicht wahrscheinlich unbefriedigend, aber aus meiner Sicht ergibt sich daraus kein besonderes Problem. Soweit der Gerichtshof eine Überprüfung der gerichtlichen Eigenschaft einer ersuchenden nationalen Einrichtung vornimmt, ist es von begrenzter praktischer Bedeutung, ob er dies im Zusammenhang mit der Zuständigkeit, der Zulässigkeit oder (schließlich) sogar in der Sache selbst tut. Das vorlegende Gericht erhält die erbetene Klärung und wenn der Gerichtshof ein Problem entdeckt, wird das Ersuchen aus verfahrensrechtlichen Gründen zurückgewiesen, ohne dass auf den Inhalt der vorgelegten Fragen eingegangen wird(83).

121. Das Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache Land Hessen enthält daher meines Erachtens keine Abweichung von der oben dargelegten Rechtsprechung. Jedenfalls unterscheiden sich die vorliegenden Rechtssachen ohne Weiteres von den in den Rechtssachen Miasto Łowicz, Maler und Land Hessen untersuchten Sachverhalten, einem Gegenstand, dem ich mich nunmehr zuwende.

iii) Die vorliegenden Rechtssachen sind anders als die oben genannten Rechtssachen

122. Erstens kann im Gegensatz zur Situation in der Rechtssache Miasto Łowicz die Antwort des Gerichtshofs auf die erste Frage sehr wohl Berücksichtigung finden, da sie die ordnungsgemäße Zusammensetzung des gerichtlichen Spruchkörpers zum Gegenstand hat. Unter diesem Gesichtspunkt folgt die Erheblichkeit der ersten Frage aus der Notwendigkeit, ein konkretes und wirkliches Problem zu lösen, das das Verfahren vor dem vorlegenden Gericht unmittelbar betrifft. In dieser Hinsicht stehen der Vorsitzenden des Spruchkörpers mehrere Optionen zur Verfügung, um der nicht ordnungsgemäßen Situation abzuhelfen.

123. In Bezug auf das im Urteil Miasto Łowicz genannte Schema bin ich der Auffassung, dass die vorliegenden Rechtssachen eindeutig in die dritte Kategorie gehören: Das vorlegende Gericht möchte vom Gerichtshof eine Antwort, um eine verfahrensrechtliche Frage des nationalen Rechts zu klären, damit es dann in der Lage ist, über die bei ihm anhängigen Rechtssachen in der Sache zu entscheiden.

124. Zugleich fallen die vorliegenden Rechtssachen auch in die zweite Kategorie: Das vorlegende Gericht nimmt Bezug auf die Bestimmungen der Richtlinie 2016/343, eine unionsrechtliche Regelung mit verfahrensrechtlichen Vorschriften, die im Ausgangsverfahren sowohl in persönlicher als auch in sachlicher Hinsicht Anwendung finden(84).

125. Vor diesem Hintergrund und angesichts der angeblichen Verbindungen zwischen bestimmten Richtern, die den zur Entscheidung der Ausgangsverfahren berufenen Spruchkörpern angehören, und dem Justizminister/Generalstaatsanwalt liegt es nahe, dass sich das vorlegende Gericht die Frage stellt, ob die fraglichen nationalen Maßnahmen mit den Bestimmungen der Richtlinie 2016/343 vereinbar sind. Art. 3 dieser Richtlinie enthält folgenden Grundsatz: „Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige und beschuldigte Personen als unschuldig gelten, bis ihre Schuld rechtsförmlich nachgewiesen wurde.“ In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Unschuldsvermutung in Art. 48 der Charta verankert ist, der, wie sich aus den Erläuterungen zur Charta ergibt, Art. 6 Abs. 2 und 3 EMRK entspricht(85). Art. 6 der Richtlinie 2016/343 wiederum sieht in Anlehnung an deren 22. Erwägungsgrund im Wesentlichen vor, dass die Beweislast für die Feststellung der Schuld von Verdächtigen und beschuldigten Personen bei der Strafverfolgungsbehörde liegt und dass jeglicher Zweifel hinsichtlich der Frage der Schuld dem Verdächtigen oder den beschuldigten Personen zugutekommt.

126. Ob die Bestimmungen der Richtlinie 2016/343 nationalen Maßnahmen wie den im vorliegenden Verfahren fraglichen tatsächlich entgegenstehen, ist somit eine Frage, die die materielle Seite der ersten Vorlagefrage und nicht deren Zulässigkeit betrifft.

127. Zweitens betrifft die vom vorlegenden Gericht aufgeworfene Frage anders als in der Rechtssache Maler die Vereinbarkeit bestimmter nationaler Maßnahmen mit Bestimmungen des Primär- und Sekundärrechts der Union. Mit anderen Worten, die vorliegenden Rechtssachen sind nicht nur ein (matter) Reflex von etwas, was eigentlich ein Problem innerhalb des nationalen Rechtssystems ist. Zudem betrifft der materielle Gegenstand der Frage ein eher grundlegendes Element, das der richterlichen Unparteilichkeit, und nicht nur eine technische Angelegenheit, zu der es im Unionsrecht keinen einheitlichen Ansatz gibt. Außerdem sind diese potenziellen Probleme allem Anschein nach von gewissem Gewicht und haben wahrscheinlich erhebliche systemische Auswirkungen. Schließlich wurden diese Rechtssachen im Rahmen eines spezifischen rechtlichen Kontexts vorgelegt, in dem die Fähigkeit eines solchen Systems zur „Selbstabhilfe“ alles andere als offensichtlich ist.

128. Drittens hat der Gerichtshof im Urteil Land Hessen dem vorlegenden Gericht die erbetenen Klärungen gegeben. Die der zweiten Vorlagefrage zugrunde liegenden existenziellen („Bin ich ein Gericht?“) und metaphysischen („Ich verwende das Verfahren nach Art. 267 AEUV, um zu prüfen, ob ich dieses Verfahren anwenden kann“) Elemente haben den Gerichtshof nicht gehindert, die Vorlagefragen zu prüfen. Die weiteren Ausführungen des Gerichtshofs in Rn. 62 dieses Urteils haben als obiter dictum im Wesentlichen eine erzieherische Funktion. Auf die vorliegenden Rechtssachen bezogen: Würde der Gerichtshof die Ersuchen in ihrer Gesamtheit als unzulässig ansehen, würde das vorlegende Gericht keine Hinweise zum aufgeworfenen Problem erhalten.

129. Die jüngste Rechtsprechung des Gerichtshofs widerlegt daher keineswegs meine Schlussfolgerung zur Zulässigkeit der ersten Vorlagefrage, sondern macht vielmehr deutlich, warum die Beantwortung dieser Frage erforderlich ist, damit das vorlegende Gericht in den bei ihm anhängigen Rechtssachen ein Urteil erlassen kann.

B.      Wesen und Schranken des Art. 19 Abs.1 EUV

130. Im vorangegangenen Abschnitt dieser Schlussanträge habe ich zu erklären versucht, warum ich in Anwendung der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs zu seiner Zuständigkeit und zur Zulässigkeit von Vorabentscheidungsersuchen der Ansicht bin, dass die erste Frage des vorlegenden Gerichts zulässig ist. Ich habe auch versucht, die neuere Rechtsprechung des Gerichtshofs zu systematisieren und zu zeigen, warum sich an diesem herkömmlicherweise offenen Ansatz in Wirklichkeit nichts geändert hat.

131. Nunmehr ist es jedoch notwendig, sich dem (neuen) Problem zuzuwenden, das im Raum steht: Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV. Es lässt sich nicht leugnen, dass das Unbehagen an der Beurteilung der Zulässigkeit in den vorliegenden Rechtssachen, wie vielleicht auch in anderen in jüngster Zeit eingeleiteten oder derzeit beim Gerichtshof anhängigen Rechtssachen, bis zu einem gewissen Grad auf den „wohlwollenden“ Ansatz zurückzuführen ist, den der Gerichtshof bei der Auslegung von Art. 19 Abs. 1 EUV verfolgt hat. Nach Wegfall der materiellen Schranke, wonach es „im Anwendungsbereich“ des Unionsrechts liegen muss, um die Zuständigkeit des Gerichtshofs zu begründen, im Fall von Art. 19 Abs. 1 EUV ergaben sich in der Folge naturgemäß Bedenken hinsichtlich einer möglicherweise zu weitgehenden Anwendbarkeit des von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV(86). Über kurz oder lang könnte sogar die Versuchung entstehen, diese Schranken auf der Ebene der Zulässigkeit wieder einzuführen(87).

132. Man muss zugeben, dass der im Urteil Associação Sindical dos Juízes Portugueses gewählte Ansatz recht weitreichend ist: Der Anwendungsbereich von Art. 19 Abs. 1 EUV ist weit gefasst, und zwar sowohl ratione materiae (alle vom Unionsrecht erfassten Bereiche umfassend, unabhängig davon, ob die Mitgliedstaaten im Einzelfall Unionsrecht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta durchführen) als auch ratione iudicis (alle nationalen Einrichtungen umfassend, die als Gericht über Fragen der Anwendung und Auslegung des Unionsrechts zu entscheiden haben). Wie ich in meinen Schlussanträgen in der Rechtssache AFJR ausgeführt habe, dürfte es in der Tat ziemlich schwer sein, ein nationales Gericht zu finden, das per definitionem nie aufgerufen sein könnte, über Fragen des Unionsrechts zu entscheiden(88).

133. Auf dieser Grundlage könnte man die Ansicht vertreten, dass angesichts des weiten Anwendungsbereichs von Art. 19 Abs. 1 EUV für die Zulässigkeit von Rechtssachen, die Fragen nach dieser Bestimmung aufwerfen, ein restriktiverer Ansatz gerechtfertigt ist. Bei einem solchen Szenario bildeten die Zulässigkeitskriterien eine Schleuse, die den Gerichtshof davor bewahrt, von zahllosen Vorlagen überschwemmt zu werden, die eine Vielzahl von Aspekten betreffen, die aus Sicht nationaler Gerichte Fragen der Unabhängigkeit der nationalen Gerichtsbarkeit aufwerfen könnten.

134. In diesem Abschnitt werde ich erklären, warum ich nicht dieser Ansicht bin. In der Tat bin ich davon überzeugt, dass der Ansatz des Gerichtshofs in dieser Frage – wenn er richtig formuliert und angewandt wird – zutreffend ist. Zu diesem Zweck ist es erforderlich, das wahre Wesen von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV zu verdeutlichen: Es handelt sich schlicht um einen außerordentlichen Rechtsbehelf für außergewöhnliche Fälle. Daher ist und sollte die Zugangsschwelle in Bezug auf die Zulässigkeit niedrig sein, während die materielle Schwelle für dessen Verletzung relativ hoch ist (1). Auf diese Weise ergänzt Art. 19 Abs. 1 EUV zwei andere wichtige Vertragsbestimmungen, die ebenfalls den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit zum Ausdruck bringen, kann aber letztlich auch über diese hinausgehen: Art. 47 der Charta und Art. 267 AEUV (2).

a)      Wesen und Tragweite von Art. 19 Abs. 1 EUV

135. Zunächst ist zu betonen, dass die Lesart des Gerichtshofs im Wortlaut von Art. 19 Abs. 1 EUV widergespiegelt wird, wonach die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, „Rechtsbehelfe [zu schaffen], damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist“. Die darin festgelegte Verpflichtung ist weitreichend und bedingungslos. Sie bezieht sich auf den Bereich, nicht auf den Einzelfall.

136. Es lässt sich auch kaum bestreiten, dass ein Mindestmaß an Garantien für die richterliche Unabhängigkeit grundsätzlich für alle Gerichte und in Bezug auf ihre gesamte Tätigkeit gewährleistet sein muss. Es wäre absurd, zu behaupten, dass eine nationale Regelung zur Gerichtsorganisation in rein innerstaatlichen Fällen unproblematisch wäre, während sie potenziell immer ein Problem darstellt, wenn eine Bestimmung oder ein Grundsatz des Unionsrechts zur Anwendung kommt. Bei Abhängigkeit oder Unabhängigkeit geht es um Einflussnahme, Druck und Kontrolle. Es ist eine strukturelle Frage. Die Unabhängigkeit muss in jeder Beziehung gewährleistet sein. Sicherlich kann eine Person, die einen Richter oder ein Gericht beeinflusst oder sogar kontrolliert, sich dazu entschließen, ihren Einfluss in einem einzelnen Fall nicht auszuüben. Das bedeutet jedoch kaum, dass dieser Richter generell „unabhängig“ ist(89). Aus diesem Grund gibt es eben nicht die „richterliche Unabhängigkeit im Anwendungsbereich des Unionsrechts“ im Gegensatz zur „richterlichen Unabhängigkeit in rein nationalen Rechtssachen“(90). Es gibt keine „partielle“ richterliche Unabhängigkeit(91).

137. Darüber hinaus ist es oft unmöglich, am Anfang eines Verfahrens zu erkennen, ob eine unionsrechtliche Bestimmung oder ein unionsrechtlicher Grundsatz im Rahmen eines bestimmten Verfahrens Anwendung findet oder nicht. Außerdem geschieht es oft, dass Gerichtsentscheidungen irgendwann nach Erlass aus dem einen oder anderen Grund dem „Rechtsraum“ der Union zuzuordnen sind. Die gegenseitige Anerkennung, ganz zu schweigen vom gegenseitigen Vertrauen, würden kaum funktionieren, wenn die nationalen Behörden in jedem Fall prüfen müssten, ob das Gericht eines anderen Mitgliedstaats „unabhängig genug“ war, wenn sie sich mit einer (zunächst) rein internen Rechtssache befassten, die anschließend (bildlich gesprochen) eine Grenze überschritten hat, um bestimmte Rechtswirkungen in einem anderen Mitgliedstaat zu entfalten.

138. Dieses Problem ist jedoch nicht auf die horizontale Dimension der gegenseitigen Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten beschränkt(92). In einem System wie dem der Europäischen Union, in dem das Recht der wichtigste Motor der Integration ist, ist das Vorhandensein eines unabhängigen Justizsystems (sowohl auf zentraler als auch auf nationaler Ebene), das in der Lage ist, die korrekte Anwendung dieses Rechts zu gewährleisten, von größter Bedeutung. Ohne eine unabhängige Gerichtsbarkeit gibt es ganz einfach kein wirkliches Rechtssystem mehr. Wenn es kein „Recht“ gibt, gibt es auch kaum mehr Integration. Das Bestreben nach „Schaffung einer immer engeren Union der Völker Europas“ ist zum Scheitern verurteilt, wenn sich auf der gerichtlichen Landkarte Europas in rechtlicher Hinsicht schwarze Löcher auftun.

139. In Anbetracht der vorstehenden Gründe ist es für das europäische Rechtssystem von entscheidender Bedeutung, kategorisch auf Mindestgarantien für die richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit für alle seine Mitglieder zu bestehen, unabhängig davon, ob in dem einzelnen Fall, der vor einem bestimmten Gericht verhandelt wird, tatsächlich Unionsrecht angewendet wird.

140. Allerdings sagen all diese strukturellen Aussagen zum Warum relativ wenig aus über das Wie. Zunächst einmal: Hat Art. 19 Abs. 1 EUV einen unbeschränkten Anwendungsbereich, und fängt er damit jedes mögliche Problem im Zusammenhang mit der Gerichtsorganisation der Mitgliedstaaten, ihren Gerichtsverfahren und deren Gerichtspraxis auf? Mit anderen Worten: Ist Art. 19 Abs. 1 EUV wie ein starkes Elektronenmikroskop, das in der Lage ist, auch die kleinsten Teilchen aufzuspüren, die die „Gesundheit“ der nationalen Gerichtsbarkeit beeinträchtigen (oder nicht beeinträchtigen)?

141. Die Frage ist meines Erachtens zu verneinen. Der materielle Anwendungsbereich von Art. 19 Abs. 1 EUV bestimmt noch nicht die Schwelle für einen Verstoß. Ersterer ist der Bereich, der von den in der Unionsbestimmung verankerten Prinzipien „abgedeckt“ wird: Dementsprechend können nationale Maßnahmen, die in diesen Bereich fallen, einer Überprüfung der Vereinbarkeit mit den sich danach ergebenden Grundsätzen unterzogen werden. Letzterer ist der Maßstab für die Durchführung dieser Überprüfung.

142. Zu diesem Ansatz bedarf es einiger Klarstellungen.

143. Erstens: Was ist der Maßstab für einen möglichen Verstoß gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV? Nochmals: Der Wortlaut von Art. 19 Abs. 1 EUV regelt die Verpflichtung der Mitgliedstaaten und dementsprechend auch, wann gegen diese Verpflichtung verstoßen wird. Nur wenn die Mitgliedstaaten nicht „die erforderlichen Rechtsbehelfe [schaffen], damit ein wirksamer Rechtsschutz … gewährleistet ist“, verstoßen sie gegen diese Bestimmung.

144. Ich stimme daher mit Generalanwalt Tanchev darin überein, dass Art. 19 Abs. 1 EUV eine Bestimmung ist, die sich vor allem mit den strukturellen und systemischen Elementen der nationalen Rechtsordnungen befasst(93). Diese Elemente können unabhängig davon, ob sie auf Handlungen der nationalen Legislative oder Exekutive oder auf eine Gerichtspraxis zurückzuführen sind, die Fähigkeit eines Mitgliedstaats in Frage stellen, dem Einzelnen einen wirksamen Rechtsschutz zu gewähren. Mit anderen Worten: Worum es in Art. 19 Abs. 1 EUV geht, ist die Frage, ob das Rechtssystem eines Mitgliedstaats dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit, einem der Grundwerte der Union, der auch in Art. 2 EUV aufgeführt ist, entspricht.

145. Dies ist, so glaube ich, eine Auffassung, die der Gerichtshof bisher weder ausdrücklich ausgesprochen noch verworfen hat. In der Tat hat sich der Gerichtshof mit diesem Punkt nicht näher befasst, da es für die ihm vorgelegten Rechtssachen nicht notwendig war, darüber zu befinden.

146. Zweitens: Wenn dies tatsächlich der Fall sein sollte, dann ist die Zulässigkeitsschranke im Hinblick auf Art. 19 Abs. 1 EUV nicht höher als üblich und muss auch nicht höher gesetzt werden. In dieser Hinsicht sind die herkömmliche Rechtsprechung und der herkömmliche Ansatz zur Zulässigkeit, wie sie im vorangegangenen Abschnitt dieser Schlussanträge ausführlich dargelegt worden sind, ausreichend. In der Tat hat Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Bezug auf einen Verstoß gegen diese Bestimmung bereits eine eingebaute und recht hohe materielle Schwelle.

147. Art. 19 Abs. 1 EUV beinhaltet einen außerordentlichen Rechtsbehelf für außergewöhnliche Sachverhalte. Sein Zweck ist es nicht, alle möglichen Probleme zu erfassen, die sich in Bezug auf die nationale Gerichtsbarkeit ergeben, sondern nur solche von gewissem Gewicht und/oder systemischer Natur, für die das interne Rechtssystem wahrscheinlich keine angemessene Abhilfe schaffen kann.

148. Wenn ich von Gewicht und systemischer Natur spreche, meine ich nicht, dass es notwendig ist, dass ein Problem in einer beträchtlichen Anzahl von Fällen auftritt oder große Teile des nationalen Rechtssystems betrifft, um unter diese Bestimmung zu fallen. Entscheidend ist vielmehr, ob das (einmalige oder wiederkehrende) Problem, das dem Gerichtshof zur Kenntnis gebracht wird, geeignet ist, das ordnungsgemäße Funktionieren der nationalen Gerichtsbarkeit zu gefährden und dadurch die Fähigkeit des betreffenden Mitgliedstaats zu beeinträchtigen, den Einzelnen ausreichende Rechtsbehelfe zu gewähren.

149. Insoweit mangelt es nicht an Situationen innerhalb der nationalen Gerichtsbarkeit, die einzelne oder sogar sich wiederholende und damit strukturelle Mängel betreffen können, gleichwohl aber nicht die Schwelle von Art. 19 Abs. 1 EUV überschreiten. Die Beispiele reichen von einer fehlerhaften Indexierung der Richtergehälter in einem bestimmten Jahr, der Nichtbewilligung der Jahresabschlussprämie, der unrichtigen Zuweisung einer Rechtssache an den richtigen gerichtlichen Spruchkörper oder den richtigen Berichterstatter bis hin zur fehlenden Beförderung der am besten qualifizierten Person auf den Posten des Kammervorsitzenden usw. Umgekehrt könnte die Frage, ob eine einzige, aber wichtige Richterernennung rechtmäßig erfolgt ist, obwohl dies nur einmal erfolgte, systemische Auswirkungen haben, die eine Prüfung nach Art. 19 Abs. 1 EUV rechtfertigen(94).

150. Ein weiterer Gesichtspunkt, der meines Erachtens nach Art. 19 Abs. 1 EUV relevant ist, ist die Frage, ob das nationale System rechtlich und tatsächlich ausreichende strukturelle Garantien bietet, um dem festgestellten Problem gegebenenfalls selbst abzuhelfen. Wenn der von einem Mitgliedstaat geschaffene allgemeine Rechtsrahmen grundsätzlich in der Lage ist, den potenziellen Fehler zu beheben, führen einzelne Fälle von Fehlanwendungen dieses Rahmens nicht automatisch zu einem Verstoß gegen Art. 19 Abs. 1 EUV. Es ist nicht Sache des Gerichtshofs, die Einhaltung der nationalen Vorschriften durch die nationalen Gerichte akribisch zu überwachen(95). Daher verstößt – abgesehen von Elementen, die auf weiter gehende Auswirkungen hinweisen – ein einzelner, isolierter Fall eines angeblichen Irrtums bei der Auslegung oder Anwendung einer nationalen Bestimmung in einem ansonsten gesunden und mit dem Unionsrecht konformen Rechtssystem nicht gegen Art. 19 Abs. 1 EUV.

151. Auch insoweit ist es fast eine Selbstverständlichkeit, darauf hinzuweisen, dass nicht alle Rechtssachen, die möglicherweise Vorschriften betreffen, die die Gerichtsbarkeit oder das Gerichtsverfahren regeln, Fragen der Rechtsstaatlichkeit zum Gegenstand haben(96). Die Überprüfung nationaler Maßnahmen, die angeblich die Unabhängigkeit der nationalen Gerichte beeinträchtigen, seitens des Gerichtshofs muss auf pathologische Situationen begrenzt bleiben.

152. Drittens ist es im Rahmen dieser Prüfung von größter Bedeutung, nicht nur das „geschriebene Recht“ zu untersuchen, sondern auch das „gelebte Recht“ einzubeziehen. Bei der Prüfung der Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht hat der Gerichtshof die nationalen Gesetze und Verordnungen, da diese in der Praxis angewendet werden(97), im Licht der Auslegung durch die nationalen Gerichte(98) und gegebenenfalls unter Berücksichtigung der allgemeinen Rechtsgrundsätze der nationalen Rechtsordnung(99) betrachtet. Aus diesem Grund hat der Gerichtshof darauf bestanden, dass angebliche Verstöße gegen Art. 19 Abs. 1 EUV immer in ihrem Zusammenhang geprüft werden müssen, indem alle relevanten Elemente betrachtet werden. Die technischen Aspekte des dem Gerichtshof zur Kenntnis gebrachten Problems können nicht „klinisch isoliert“ von den breiteren rechtlichen und institutionellen Gegebenheiten untersucht werden(100).

153. Der Gerichtshof blickt somit eindeutig über die einzelne Bestimmung hinaus. Diese Prüfung beschränkt sich nicht nur auf die unmittelbar benachbarten nationalen Rechtsvorschriften, sondern erstreckt sich auch auf die breitere rechtliche und institutionelle Landschaft(101). Vereinfacht ausgedrückt, ist jede potenzielle Erkrankung eines „Patienten“ unter Berücksichtigung seiner gesamten „Gesundheit“ im Hinblick auf die richterliche Unabhängigkeit zu beurteilen.

154. Unter diesem Gesichtspunkt ist mir unverständlich, wie der in diesem Abschnitt umrissene Ansatz zu Art. 19 Abs. 1 EUV im Widerspruch zur Gleichheit der Mitgliedstaaten stehen oder dazu führen soll, dass mit zweierlei Maß gemessen wird. Der Maßstab ist genau der gleiche, und er gilt allgemein. Der Zustand der einzelnen Patienten ist jedoch objektiv sehr unterschiedlich(102). Die Gleichheit der Mitgliedstaaten kann kaum in Form einer rein formalen, um nicht zu sagen formalistischen, Qualität angegangen werden, wonach jeder genau gleich behandelt werden muss, unabhängig von der Situation und dem Kontext, in dem er sich befindet. Sinnloser Automatismus ist nicht (materielle) Gleichheit; diese verlangt, Gleiches gleich, aber auch unterschiedliche Sachverhalte unterschiedlich zu behandeln(103).

155. Viertens und letztens hat eine solche Auslegung von Art. 19 Abs. 1 EUV zur Folge, dass die Beurteilung, ob eine nationale Maßnahme den Maßstäben des Art. 19 Abs. 1 EUV entspricht, nicht bei der Prüfung der Zulässigkeit der Vorlagefragen („Ist Art. 19 Abs. 1 EUV auf den vorliegenden Fall anwendbar?“), sondern im Rahmen ihrer Beurteilung in materieller Hinsicht („Entspricht die fragliche nationale Maßnahme den in Art. 19 Abs. 1 EUV festgelegten Maßstäben?“) zu erfolgen.

156. Das wiederum wirft eine weitere wichtige Frage auf, die jedoch eher pragmatischer Natur ist: Begründet dieser Ansatz die Gefahr, dass Probleme für den Terminkalender des Gerichtshofs geschaffen werden?

157. Ich denke nicht.

158. Zum einen erlaubt es die geltende Rechtsprechung zur Zulässigkeit dem Gerichtshof, künstliche oder hypothetische Fälle ziemlich schnell zurückzuweisen, ebenso wie Fälle, in denen das nationale Gericht trotz der Tatsache, dass die Frage in den sachlichen Anwendungsbereich von Art. 19 Abs. 1 EUV fällt, nicht in der Lage sein würde, die Antwort des Gerichtshofs auf die vorgelegte(n) Frage(n) zu berücksichtigen (wie in der Rechtssache Miasto Łowicz)(104). Ebenso können Rechtssachen, in denen die grundlegenden Anforderungen von Art. 19 Abs. 1 EUV ersichtlich fehlen und/oder das vorlegende Gericht nicht dargelegt hat, warum sich möglicherweise eine Frage nach Art. 19 Abs. 1 EUV stellen könnte, zurückgewiesen werden, sofern die Voraussetzungen der Erheblichkeit und Erforderlichkeit der Frage nicht erfüllt sind.

159. Wie dargelegt, ist die Schwelle für einen Verstoß gegen Art. 19 Abs. 1 EUV relativ hoch. Wenn die beanstandeten nationalen Maßnahmen, unabhängig von ihrer Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit, kein echtes Problem für die Rechtsstaatlichkeit aufweisen (im Hinblick auf ihr Gewicht und die systemischen Auswirkungen des angeblichen Verstoßes oder die Unfähigkeit des Systems zur Selbstabhilfe), ist für die Unionsgerichte eine Beurteilung der Rechtssache in materieller Hinsicht wohl nicht komplexer oder zeitaufwändiger als die Beurteilung ihrer Zulässigkeit(105).

160. Eine orthodoxe Anwendung der herkömmlichen Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Zulässigkeit von Rechtssachen, in denen die Vorabentscheidungsfragen die Auslegung von Art. 19 Abs. 1 EUV betreffen, birgt daher meines Erachtens keinerlei Gefahr, ausgefallenen, schlecht gewählten oder abwegigen Vorlagen Tür und Tor des Gerichtshofs zu öffnen. Sie verlangt vom Gerichtshof auch nicht, an seiner üblichen Bewertung des Kriteriums der „Erforderlichkeit“ „herumzudoktern“, um mehr Rechtssachen zurückzuweisen, als es sonst der Fall wäre.

b)      Art. 19 Abs. 1 EUV, Art. 47 der Charta und Art. 267 AEUV: derselbe Inhalt, aber unterschiedliche Zielsetzungen

161. Es gibt ein letztes Element im Zusammenhang mit Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, das der Erörterung bedarf: In welchem Verhältnis steht diese Bestimmung zu den anderen Vertragsbestimmungen, in denen ebenfalls der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit verankert ist, insbesondere zu Art. 47 der Charta und Art. 267 AEUV?(106) In der Tat hat das Verhältnis zwischen diesen Bestimmungen sowohl bei den Verfahrensbeteiligten als auch bei einer Reihe von vorlegenden Gerichten für einige Verwirrung gesorgt. Enthalten diese Bestimmungen unterschiedliche Arten der „richterlichen Unabhängigkeit“? Ist es möglich, dass ein nationales Gericht im Sinne einer dieser Bestimmungen unabhängig ist, während es für eine andere Bestimmung nicht unabhängig genug ist? Gibt es infolgedessen im Unionsrecht unterschiedliche Begriffe der richterlichen Unabhängigkeit?

162. Aus meiner Sicht lautet die einfache Antwort „Nein“: Es gibt nur ein und denselben Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit. Abgesehen davon, dass diese Überlegung von der Logik her selbstverständlich ist, wird sie auch durch die Tatsache belegt, dass der Gerichtshof auf diesen Begriff in einheitlicher Weise Bezug nimmt, unabhängig davon, welche Unionsvorschrift im gegebenen Fall Anwendung findet(107). Ich kann daher den Generalanwälten Tanchev und Hogan nur voll und ganz zustimmen, dass Art. 19 Abs. 1 EUV und Art. 47 der Charta in Bezug auf die richterliche Unabhängigkeit im Kern den gleichen Inhalt haben(108).

163. Allerdings bedeutet der gleiche Inhalt nicht unbedingt das gleiche Ergebnis im Einzelfall. Die drei Bestimmungen unterscheiden sich in ihrem Anwendungsbereich und ihrem Zweck innerhalb der Struktur der Verträge. Dieser Unterschied bedeutet, dass bei jeder der drei Bestimmungen eine etwas andere Art der Prüfung durchzuführen ist.

164. Art. 19 Abs. 1 EUV hat einen weiten Anwendungsbereich, der über Sachverhalte hinausgeht, in denen ein Einzelfall, nach herkömmlicher Auffassung, durch das Unionsrecht geregelt wird. Er verpflichtet die Mitgliedstaaten, dafür zu sorgen, dass der Aufbau und die Arbeitsweise ihrer gerichtlichen Einrichtungen angesichts ihrer zentralen Rolle innerhalb des Unionsrechtssystems mit den Werten der Union, insbesondere der Rechtsstaatlichkeit, in Einklang stehen. Die Schwelle für den Verstoß gegen diese Bestimmung ist recht hoch: Nur Probleme systemischer Art oder von gewissem Gewicht, denen durch das innerstaatliche Rechtsbehelfssystem wahrscheinlich nicht selbst abgeholfen werden kann, führen zu einem Verstoß. Die Beurteilung des Gerichtshofs geht in diesem Zusammenhang eindeutig über die einzelne Akte hinaus und bezieht die breite institutionelle und verfassungsrechtliche Struktur der nationalen Gerichtsbarkeit mit ein.

165. Art. 47 der Charta ist eine Bestimmung, die ein subjektives Recht eines jeden Verfahrensbeteiligten auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein faires Verfahren festlegt, das nur dann zum Tragen kommt, wenn der Sachverhalt gemäß Art. 51 Abs. 1 der Charta in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt. In diesem Rahmen sind alle Verfahrensbeteiligten berechtigt, sich auf einen Verstoß gegen Art. 47 der Charta zu berufen. Die Überprüfung der „Unabhängigkeit“ eines Gerichts erfordert in diesem Zusammenhang eine detaillierte und fallspezifische Bewertung aller relevanten Umstände. Fragen, die mit einem strukturellen oder systemischen Merkmal des nationalen Rechtssystems zusammenhängen, sind nur insoweit relevant, als sie sich auf das einzelne Verfahren ausgewirkt haben können. Die Intensität der Überprüfung des Gerichts im Hinblick auf die Unabhängigkeit der betreffenden gerichtlichen Einrichtung liegt in diesem Zusammenhang auf einem moderaten Niveau: Nicht jeder Rechtsverstoß ist als ein Verstoß gegen Art. 47 der Charta zu werten. Dazu ist ein gewisses Gewicht erforderlich. Ist jedoch das insoweit erforderliche Gewicht gegeben, reicht dies aus, um einen Verstoß gegen Art. 47 der Charta zu begründen; es bedarf keiner weiteren Voraussetzung, um das sich aus dem Unionsrecht ergebende individuelle Recht geltend zu machen.

166. Art. 267 AEUV schließlich hat einen weiten materiellen Anwendungsbereich, der alle Situationen umfasst, in denen irgendeine Unionsvorschrift anwendbar sein kann, erstreckt sich aber auch auf bestimmte Situationen, die nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen(109). Der Begriff „Gericht“ (der per definitionem die Unabhängigkeit von dessen Mitgliedern zur Voraussetzung hat) hat in dieser Bestimmung einen funktionalen Charakter: Sie dient der Identifizierung der nationalen Einrichtungen, die im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens als Gegenüber des Gerichtshofs auftreten können. Die Analyse gemäß Art. 267 AEUV konzentriert sich auf eine strukturelle Frage, und zwar auf einer eher allgemeinen Ebene: die Stellung dieser Einrichtung innerhalb des institutionellen Rahmens der Mitgliedstaaten. Die Intensität der Prüfung durch den Gerichtshof im Hinblick auf die Unabhängigkeit der Einrichtung ist in diesem Zusammenhang nicht so groß. Schließlich besteht der Zweck von Art. 267 AEUV lediglich darin, im Hinblick auf die Zulässigkeit das richtige institutionelle Gegenüber zu bestimmen.

167. Diese Unterscheidung hat sowohl für die Verfahrensbeteiligten als auch für die vorlegenden Gerichte recht wichtige Konsequenzen.

168. Erstens kann ein potenzieller Verstoß gegen Art. 47 der Charta nur im Hinblick auf ein unionsrechtlich garantiertes individuelles Recht geltend gemacht werden(110). Dies dürfte eine Berufung auf diese Bestimmung in Fällen ausschließen, in denen die nationalen Richter selbst Fragen zur Vereinbarkeit ihres Systems mit dem unionsrechtlichen Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit stellen, da es unwahrscheinlich ist, dass die Richter selbst ein aus dem Unionsrecht abgeleitetes Recht haben, das in den bei ihnen anhängigen Rechtssachen auf dem Spiel steht. Dagegen sind Fragen, die von Richtern selbst aufgeworfen werden, durchaus möglich und nach Art. 19 Abs. 1 EUV und Art. 267 AEUV zulässig(111).

169. Zweitens können die Art der Überprüfung, die Schwelle und die Prüfungsintensität letztendlich zu unterschiedlichen Ergebnissen in Bezug auf eine (Un‑)Vereinbarkeit führen. Insbesondere ist es durchaus möglich, dass ein und derselbe Umstand einen Verstoß nach Art. 47 der Charta darstellen kann, ohne dass er eine Frage nach Art. 19 Abs. 1 EUV aufwirft(112); auch ist es möglich, dass ein Verstoß gegen Art. 19 Abs. 1 EUV vorliegt, während nach Art. 47 der Charta kein Verstoß vorliegt(113).

170. Nachdem ich zu dem Ergebnis gelangt bin, dass die erste Vorlagefrage zulässig ist, wende ich mich nun den materiellen Rechtsfragen zu.

C.      Inhaltliche Prüfung

171. Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht vom Gerichtshof wissen, ob Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 2 EUV und dem darin verankerten Rechtsstaatsprinzip sowie Art. 6 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2016/343 in Verbindung mit deren 22. Erwägungsgrund dahin auszulegen sind, dass sie nationalen Vorschriften entgegenstehen, nach denen der Justizminister/Generalstaatsanwalt auf der Grundlage nicht veröffentlichter Kriterien Richter für einen unbestimmten Zeitraum an höhere Gerichte abordnen und diese Abordnung jederzeit nach eigenem Ermessen beenden kann.

172. Nach ständiger Rechtsprechung hat der Begriff der richterlichen Unabhängigkeit zwei Aspekte: einen äußeren und einen inneren.

173. Der äußere Aspekt (oder die Unabhängigkeit im engeren Sinne) erfordert, dass das Gericht vor Eingriffen oder Druck von außen, die die Unabhängigkeit des Urteils seiner Mitglieder im Hinblick auf die ihnen unterbreiteten Rechtsstreitigkeiten gefährden könnten, geschützt werden muss. Wie Generalanwalt Hogan in jüngst gestellten Schlussanträgen treffend formuliert hat, setzt die Unabhängigkeit im engeren Sinne voraus, dass das nationale Gericht „[seine] Funktionen in völliger Autonomie ausübt, ohne mit irgendeiner Stelle hierarchisch verbunden oder ihr untergeordnet zu sein und ohne von irgendeiner Stelle Anordnungen oder Anweisungen zu erhalten“(114).

174. Der innere Aspekt bezieht sich auf die Unparteilichkeit und soll gleiche Bedingungen für die Verfahrensbeteiligten und ihre jeweiligen Interessen in Bezug auf den Gegenstand des Verfahrens gewährleisten. Dieser Aspekt erfordert Objektivität und das Fehlen jeglichen Interesses am Ausgang des Verfahrens, abgesehen von der strikten Beachtung der Rechtsstaatlichkeit. Wie Generalanwalt Ruiz-Jarabo Colomer in der Rechtssache De Coster betont hat, erfordert die Unparteilichkeit von den Richtern ein „psychologisches Verhalten der anfänglichen Gleichgültigkeit“ gegenüber dem Streitgegenstand, um „gleichen Abstand zu den Verfahrensbeteiligten“ zu wahren (und so in Erscheinung zu treten)(115).

175. Wie der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung festgestellt hat, bedingen diese beiden Erfordernisse, „dass es Regeln insbesondere für die Zusammensetzung der Einrichtung, die Ernennung, die Amtsdauer und die Gründe für Enthaltung, Ablehnung und Abberufung ihrer Mitglieder gibt, die es ermöglichen, bei den Rechtsunterworfenen jeden berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit der genannten Stelle für Einflussnahmen von außen und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen auszuschließen“(116).

176. Vor diesem Hintergrund scheint in den vorliegenden Rechtssachen folgende Frage relevant zu sein: Bieten die fraglichen nationalen Maßnahmen – insbesondere diejenigen, die die Zusammensetzung der gerichtlichen Spruchkörper in Strafverfahren betreffen – hinreichende Garantien für die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit jedes einzelnen Mitglieds dieser Spruchkörper, um bei den Betroffenen jeden Zweifel auszuräumen, dass diese Mitglieder Einflussnahmen von außen unterliegen oder ein Eigeninteresse am Ausgang des Verfahrens haben könnten?

177. Diese Frage ist eindeutig zu verneinen. Die fraglichen nationalen Maßnahmen erweisen sich nämlich sowohl im Hinblick auf den inneren als auch auf den äußeren Aspekt der Unabhängigkeit als höchst problematisch.

178. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten unionsrechtlich nicht verpflichtet sind, ein bestimmtes verfassungsrechtliches Modell anzunehmen, das die Beziehungen und das Zusammenwirken zwischen den verschiedenen Staatsgewalten in einer bestimmten Weise regelt, vorausgesetzt natürlich, dass eine grundlegende, für den Rechtsstaat charakteristische Gewaltenteilung erhalten bleibt(117). Dementsprechend gibt es nichts im Unionsrecht, was die Mitgliedstaaten daran hindern könnte, auf ein System zurückzugreifen, nach dem Richter im dienstlichen Interesse vorübergehend von einem Gericht an ein anderes abgeordnet werden können, entweder auf derselben Zuständigkeitsebene oder an ein höheres Gericht(118).

179. In einem System, in dem das Justizministerium für Organisations- und Personalangelegenheiten des Justizwesens zuständig ist, gehören Entscheidungen über die Abordnung einzelner Richter wohl zur Zuständigkeit des Ministers. Unter der Voraussetzung, dass die gesetzlichen Verfahren eingehalten werden, alle nach nationalem Recht erforderlichen Zustimmungen erteilt wurden(119) und die üblichen Vorschriften für die Ernennung, Amtszeit und Abberufung von Richtern während der Abordnung weiterhin gelten, ist auch dieser Aspekt an sich unproblematisch.

180. Dies ist jedoch nach den in den vorliegenden Rechtssachen in Rede stehenden nationalen Vorschriften offensichtlich nicht der Fall. Die abgeordneten Richter unterliegen in mehrfacher Hinsicht nicht den üblichen Regeln, sondern einer ganz besonderen – und sehr bedenklichen – rechtlichen Regelung.

181. Erstens muss meines Erachtens in einem mit dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit in Einklang stehenden System zumindest eine gewisse Transparenz und Rechenschaftspflicht bei Entscheidungen über die Abordnung von Richtern gegeben sein. Um es klar zu sagen: Ich denke nicht, dass für diese Entscheidungen unbedingt eine Form der (unmittelbaren) gerichtlichen Überprüfung zur Verfügung stehen muss. Jedoch sollte es andere Formen der Überprüfung geben, um Willkür und Manipulationsrisiken zu vermeiden(120).

182. Insbesondere sollte jede Entscheidung im Zusammenhang mit der Abordnung eines Richters (Einleitung oder Beendigung) auf der Grundlage von im Voraus bekannten Kriterien getroffen werden und ordnungsgemäß begründet werden. Meines Erachtens müssen weder die abstrakten Kriterien noch die konkrete Begründung besonders detailliert sein. Sie sollten jedoch ein Mindestmaß an Klarheit im Hinblick darauf bieten können, weshalb und wie eine bestimmte Entscheidung getroffen wurde, um irgendeine Form von Nachprüfung zu gewährleisten(121).

183. Bei den fraglichen nationalen Maßnahmen ist Derartiges jedoch nicht erkennbar. Wie das vorlegende Gericht erläutert, werden die Kriterien, die der Justizminister/Generalstaatsanwalt bei der Abordnung von Richtern und der Beendigung ihrer Abordnung anwendet, sofern es sie überhaupt gibt, jedenfalls nicht öffentlich gemacht. Soweit ich sehe, enthalten diese Entscheidungen auch keinerlei Begründung. Es ist schwer, unter diesen Umständen von einer Form von Transparenz, Rechenschaftspflicht und Kontrolle zu sprechen.

184. Zweitens gibt die Tatsache, dass die Abordnung auf unbestimmte Zeit erfolgt und jederzeit nach dem Ermessen des Justizministers/Generalstaatsanwalts beendet werden kann, Anlass zu großer Besorgnis. In der Tat kann ich mir kaum ein deutlicheres Beispiel für einen unmittelbaren Konflikt mit dem Grundsatz der Unabsetzbarkeit von Richtern vorstellen. In dieser Hinsicht neige ich zu der Auffassung, dass eine (richterliche) Abordnung normalerweise für einen festen Zeitraum erfolgen sollte, der in Form einer bestimmten Dauer oder bis zu einem anderen objektiv feststellbaren Ereignis festgelegt wird (z. B., wenn die reguläre Besetzung des Gerichts wieder vollständig ist oder wenn der Rückstand an unerledigten Rechtssachen abgearbeitet ist, je nachdem, was der genaue Grund für die Abordnung überhaupt gewesen ist)(122).

185. Sicherlich muss eine gewisse Flexibilität in dieser Hinsicht möglich sein, und zwar sowohl hinsichtlich der Umstände, die eine Abordnung oder deren Beendigung rechtfertigen, als auch hinsichtlich der Dauer. Die Ausübung eines uneingeschränkten, nicht überprüfbaren und nicht transparenten Ermessens, das dem Justizminister/Generalstaatsanwalt gestattet, Richter abzuordnen und sie jederzeit nach eigenem Ermessen abzuberufen, scheint jedoch weit über das hinauszugehen, was als angemessen und notwendig angesehen werden könnte, um das reibungslose Funktionieren und den Arbeitsablauf im nationalen Gerichtswesen zu gewährleisten. Wie das Europäische Parlament einmal festgestellt hat, „[sind] Ermessensentscheidungen … vielleicht im modernen Staat ein notwendiges Übel; aber freies Ermessen gepaart mit einem totalen Mangel an Transparenz ist mit Rechtsstaatlichkeit völlig unvereinbar“(123).

186. Drittens wird nicht nur die Befugnis zur Ausübung dieses uneingeschränkten Ermessens einem Mitglied der Regierung zugewiesen (und nicht etwa einem gerichtlichen Selbstverwaltungsorgan, was das Problem bis zu einem gewissen Grad abgemildert hätte), sondern dieses Mitglied der Regierung hat dabei auch gleichzeitig zwei „Hüte“ auf. Der Justizminister hat im Rahmen der gegenwärtigen nationalen Verfassungsordnung nämlich gleichzeitig das Amt des Generalstaatsanwalts inne. Dies ist meines Erachtens eines der problematischsten Merkmale – wenn nicht sogar das problematischste Merkmal – des nationalen Rechtsrahmens.

187. In dieser Eigenschaft ist der Justizminister die oberste staatsanwaltschaftliche Instanz innerhalb des Mitgliedstaats und hat Weisungsbefugnis gegenüber dem gesamten Apparat der Staatsanwaltschaften. Er verfügt über weitreichende Befugnisse gegenüber den nachgeordneten Staatsanwaltschaften. Das nationale Recht räumt ihm u. a. die Befugnis ein, Anordnungen „zum Inhalt einer gerichtlichen Maßnahme“ durch einen nachgeordneten Staatsanwalt zu erlassen, der verpflichtet ist, diesen Anordnungen Folge zu leisten(124).

188. Dies führt zu einer „unheiligen“ Allianz zwischen zwei institutionellen Einrichtungen, die normalerweise getrennt voneinander agieren sollten. Was insbesondere die Frage der Abordnung von Richtern anbelangt, so erlaubt sie im Ergebnis dem hierarchischen Vorgesetzten eines am Strafverfahren Beteiligten (der Staatsanwaltschaft), den Spruchkörper (teilweise) zusammenzustellen, der das von den ihr untergeordneten Staatsanwälten eingeleitete Verfahren verhandeln wird.

189. Dies hat ganz offensichtlich zur Folge, dass manche Richter (vorsichtig ausgedrückt) einen Anreiz haben könnten, zugunsten der Staatsanwaltschaft oder, allgemeiner gesagt, im Sinne des Justizministers/Generalstaatsanwalts zu urteilen. In der Tat können Richter der unteren Instanzen aufgrund der Möglichkeit, mit einer Abordnung an ein höheres Gericht belohnt zu werden, mit möglicherweise besseren Karriereaussichten und einem höheren Gehalt in Versuchung geführt werden. Umgekehrt könnten abgeordnete Richter davon abgehalten werden, unabhängig zu handeln, um das Risiko zu vermeiden, dass ihre Abordnung durch den Justizminister/Generalstaatsanwalt beendet wird.

190. Viertens und letztens wird die oben beschriebene Situation durch den Umstand weiter verschlimmert, dass einige der abgeordneten Richter auch die Stellung von Disziplinarbeauftragten beim Disziplinarbeauftragten für die Richter der ordentlichen Gerichte bekleiden können. Es ist sicherlich nicht weit hergeholt, anzunehmen, dass Richter sich scheuen, Kollegen zu widersprechen, die irgendwann ein Disziplinarverfahren gegen sie anstrengen könnten. Darüber hinaus können solche Personen in struktureller Hinsicht sehr wohl als eine „diffuse Kontrolle und Aufsicht“ innerhalb der gerichtlichen Spruchkörper und der Gerichte, an die sie abgeordnet wurden, wahrgenommen werden, und zwar aufgrund des Kontexts und der Rahmenbedingungen für ihre Abordnung.

191. Es überrascht nicht, dass der Gerichtshof derzeit mit mehreren Verfahren befasst ist, in denen die Vereinbarkeit der polnischen Disziplinarordnung für Richter mit dem Unionsrecht in Frage gestellt wird(125). In seinem Beschluss vom 8. April 2020 hat der Gerichtshof in dieser Hinsicht eine Reihe möglicher Fragen ausgemacht(126). Es ist auch bekannt, dass in letzter Zeit in Polen mehrere Disziplinarverfahren gegen Richter eingeleitet wurden, die einfach nur von der in Art. 267 AEUV vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch gemacht haben, ein Vorabentscheidungsersuchen beim Gerichtshof einzureichen.

192. Kurz gesagt, die fraglichen nationalen Bestimmungen führen einerseits zu einem ziemlich problematischen Netzwerk von Verbindungen zwischen den abgeordneten Richtern, den Staatsanwälten und (einem Mitglied) der Regierung und andererseits zu einer ungesunden Rollenvermischung zwischen Richtern, normalen Staatsanwälten und Disziplinarbeauftragten.

193. Bevor ich diesen Punkt abschließe, möchte ich hinzufügen, dass ich das Vorbringen der Staatsanwaltschaft der Woiwodschaft Lublin zu diesem Punkt nicht für überzeugend halte. Ich vermag nicht zu erkennen, inwieweit die Tatsache, dass ein System der Richterabordnung lange vor Amtsantritt der jetzigen Regierung eingeführt wurde, Einfluss auf die Prüfung haben könnte, ob dieses System mit dem Unionsrecht vereinbar ist oder nicht. Auch die Tatsache, dass eine Abordnung nur mit Zustimmung des betreffenden Richters zulässig ist (da das polnische Verfassungsgericht eine Abordnung ohne Zustimmung für verfassungswidrig erklärt hat(127)), vermag keine der obigen Aussagen in Frage zu stellen.

194. Ich will nochmals betonen, dass es aus Sicht des Unionsrechts überhaupt kein Problem mit der Abordnung von Richtern an sich gibt, sofern diese Richter während ihrer Abordnung innerhalb der nationalen Gerichtsstrukturen in Bezug auf Unabsetzbarkeit und Unabhängigkeit die gleiche Art von Garantien genießen wie alle anderen Richter innerhalb dieses Gerichts. Aus den in diesem Abschnitt ausführlich erörterten Gründen ist das in den vorliegenden Rechtssachen jedoch eindeutig nicht der Fall.

195. Im Ergebnis bin ich der Auffassung, dass unter Umständen wie den in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden die Mindestgarantien, die zur Gewährleistung der unverzichtbaren Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Judikative erforderlich sind, nicht mehr gegeben sind. Die fraglichen nationalen Vorschriften bieten keine ausreichenden Garantien, um bei den Einzelnen, insbesondere bei denjenigen, gegen die ein Strafverfahren eingeleitet wurde, das begründete Vertrauen zu wecken, dass die Richter in dem Spruchkörper keinem Druck von außen und keiner politischen Einflussnahme ausgesetzt sind und kein Eigeninteresse am Ausgang des Verfahrens haben.

196. Diese nationalen Vorschriften sind daher mit Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV unvereinbar. Wie der Gerichtshof im Urteil A.B. u. a. jüngst festgestellt hat, wird mit dieser Bestimmung den Mitgliedstaaten eine klare und präzise Ergebnispflicht auferlegt, die in Bezug auf die Unabhängigkeit, die die zur Auslegung und Anwendung des Unionsrechts berufenen Gerichte aufweisen müssen, unbedingt ist(128). Mit anderen Worten, diese Bestimmung entfaltet unmittelbare Wirkung und berechtigt somit ein nationales Gericht aufgrund des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um die Vereinbarkeit des nationalen Rechts mit dem Unionsrecht sicherzustellen(129).

197. In Anbetracht des Vorstehenden halte ich es nicht für notwendig, auf die Gründe einzugehen, aus denen die fraglichen nationalen Bestimmungen auch gegen die Bestimmungen der Richtlinie 2016/343 verstoßen. Im Zusammenhang mit einem derart schwerwiegenden Verstoß gegen Art. 19 Abs. 1 EUV ist es von geringem Mehrwert, des Weiteren darüber zu erörtern, ob die Beweislast für die Feststellung der Schuld von Verdächtigen und beschuldigten Personen weiterhin bei der Staatsanwaltschaft liegt oder ob Zweifel den Verdächtigen oder beschuldigten Personen tatsächlich zugutekommt. Der Kern des Prinzips der Unschuldsvermutung wird untergraben, wenn ein und dieselbe Person – der Justizminister/Generalstaatsanwalt – in Strafsachen Einfluss sowohl auf die Staatsanwaltschaft als auch auf bestimmte Richter des Spruchkörpers ausüben kann. Folglich ist aus meiner Sicht unausweichlich zugleich ein Verstoß gegen die Bestimmungen der Richtlinie 2016/343 gegeben.

V.      Fazit

198. Ich schlage vor, dass der Gerichtshof die vom Sąd Okręgowy w Warszawie (Bezirksgericht Warschau, Polen) zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen wie folgt beantwortet:

–        Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 2 EUV und Art. 6 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der der Justizminister, der zugleich Generalstaatsanwalt ist, auf der Grundlage nicht veröffentlichter Kriterien Richter für einen unbestimmten Zeitraum an höhere Gerichte abordnen und diese Abordnung jederzeit nach eigenem Ermessen beenden kann;

–        die Fragen 2, 3 und 4 sind unzulässig.


1      Originalsprache: Englisch.


2      Urteile vom 19. November 2019, A. K. u. a. (Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts) (C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982) (im Folgenden: Urteil A. K. u. a.), vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny (C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234) (im Folgenden: Urteil Miasto Łowicz), vom 9. Juli 2020, Land Hessen (C‑272/19, EU:C:2020:535) (im Folgenden: Urteil Land Hessen), und Beschluss vom 2. Juli 2020, S.A.D. Maler und Anstreicher (C‑256/19, EU:C:2020:523) (im Folgenden: Urteil Maler.


3      ABl. 2016, L 65, S. 1.


4      Konsolidierte Fassung im Dziennik Ustaw (Gesetzblatt) von 2019, Nr. 52 (geänderte Fassung).


5      Konsolidierte Fassung im Dziennik Ustaw (Gesetzblatt) von 2020, Nr. 30.


6      Art. 200, 280, 177, 296 der Ustawa z dnia 6 czerwca 1997 r. – Kodeks karny (Gesetz vom 6. Juni 1997 über das Strafgesetzbuch, konsolidierte Fassung, Dz. U. 2019, Nr. 1950).


7      Art. 62 Abs. 2 der Ustawa z dnia 10 września 1990 r. – Kodeks karny skarbowy (Gesetz vom 10. September 1990 über die Steuerstrafordnung, konsolidierte Fassung, Dz. U. 2020, Nr. 19).


8      Urteil vom 27. Februar 2018 (C‑64/16, EU:C:2018:117).


9      Vgl. in diesem Sinne Urteil A. K. u. a. (Rn. 75, 84 und 86 und die dort angeführte Rechtsprechung).


10      Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 7. März 2017, X und X (C‑638/16 PPU, EU:C:2017:173, Rn. 37), A. K. u. a. (Rn. 74), Land Hessen (Rn. 41), und vom 2. März 2021, A.B. u. a. (Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Klagen) (C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 69).


11      Vgl. zu weiteren Einzelheiten hierzu meine Schlussanträge in der Rechtssache Torubarov (C‑556/17, EU:C:2019:339, Nr. 54).


12      Vgl. Urteile vom 24. Juni 2019, Kommission/Polen (Unabhängigkeit des Obersten Gerichts) (C‑619/18, EU:C:2019:531, Rn. 51), A. K. u. a. (Rn. 83), und vom 2. März 2021, A.B. u. a. (Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Klagen) (C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 111).


13      Vgl. z. B. Urteile vom 3. Juli 2014, Da Silva (C‑189/13, EU:C:2014:2043, Rn. 34 und 35), sowie vom 26. Februar 2015, Matei (C‑143/13, EU:C:2015:127, Rn. 38).


14      Vgl. jüngst das Urteil vom 3. Oktober 2019, A u. a. (C‑70/18, EU:C:2019:823, Rn. 73 und die dort angeführte Rechtsprechung).


15      Siehe hierzu z. B. Urteil vom 29. Juli 2019, Torubarov (C‑556/17, EU:C:2019:626). Genau genommen betraf die in dieser Rechtssache vom vorlegenden Gericht aufgeworfene Frage eine Mutmaßung über die künftige Behandlung einer Rechtssache durch eine nationale Verwaltungsbehörde, nach Erlass eines Nichtigkeitsurteils durch das nationale Gericht. Angesichts dessen, dass die nationale Verwaltungsbehörde die früheren Entscheidungen des nationalen Gerichts bereits missachtet hatte, ließ die Vorgeschichte der Rechtssache die Frage über die Zukunft jedoch als weit weniger hypothetisch und sie als gerechtfertigt erscheinen.


16      Urteil vom 17. September 1997, Dorsch Consult (C‑54/96, EU:C:1997:413, Rn. 23). In jüngerer Zeit Urteil Land Hessen (Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).


17      Vgl. z. B. Urteil vom 17. Juli 2014, Torresi (C‑58/13 und C‑59/13, EU:C:2014:2088, Rn. 15 bis 30).


18      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 31. Januar 2013, Belov (C‑394/11, EU:C:2013:48, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).


19      Urteil vom 10. Dezember 2018, Wightman u. a. (C‑621/18, EU:C:2018:999, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).


20      Urteil vom 16. Juli 2020, Governo della Repubblica italiana (Status von italienischen Friedensrichtern) (C‑658/18, EU:C:2020:572, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung).


21      Urteil vom 14. Januar 1982, Reina (65/81, EU:C:1982:6, Rn. 6).


22      Urteil vom 9. November 1983, San Giorgio (199/82, EU:C:1983:318, Rn. 7 bis 10).


23      Vgl. Beschlüsse vom 6. September 2018, Di Girolamo (C‑472/17, nicht veröffentlicht, EU:C:2018:684), und vom 17. Dezember 2019, Di Girolamo (C‑618/18, nicht veröffentlicht, EU:C:2019:1090).


24      Vgl., neben vielen anderen, Urteile vom 5. Oktober 2010, Elchinov (C‑173/09, EU:C:2010:581, Rn. 21 bis 32 und die dort angeführte Rechtsprechung), sowie vom 15. Januar 2013, Križan u. a. (C‑416/10, EU:C:2013:8, Rn. 62 bis 73 und die dort angeführte Rechtsprechung).


25      Urteil A. K. u. a. (Rn. 110).


26      Ebd. (Rn. 112).


27      Vgl. z. B. Europarat, Beirat Europäischer Richter (CCJE), Stellungnahme Nr.19 (2016) vom 10. November 2016 zur Rolle der Gerichtspräsidenten (CCJE[2016]2), S. 2.


28      Siehe z. B. Art. 11 Abs. 4 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs.


29      Urteil vom 5. September 2019, AH u. a. (Unschuldsvermutung) (C‑377/18, EU:C:2019:670, Rn. 32).


30      Urteile vom 11. März 1980, Foglia (104/79, EU:C:1980:73), und vom 16. Dezember 1981, Foglia (244/80, EU:C:1981:302).


31      Vgl. unter vielen die Urteile vom 1. Dezember 2018, Wightman u. a. (C‑621/18, EU:C:2018:999, Rn. 26 und 27), und vom 1. Oktober 2019, Blaise u. a. (C‑616/17, EU:C:2019:800, Rn. 35).


32      Vgl. u. a. Urteil vom 17. Februar 2011, Weryński (C‑283/09, EU:C:2011:85, Rn. 35).


33      Vgl. insbesondere Urteile vom 21. April 1988, Pardini (338/85, EU:C:1988:194, Rn. 10 und 11), und vom 16. Juli 1992, Lourenço Dias (C‑343/90, EU:C:1992:327, Rn. 18).


34      Vgl. u. a. Urteile vom 13. September 2016, Rendón Marín (C‑165/14, EU:C:2016:675, Rn. 24), und vom 19. Juni 2018, Gnandi (C‑181/16, EU:C:2018:465, Rn. 31).


35      Siehe oben, Nrn. 33 bis 36 dieser Schlussanträge.


36      Vgl. jüngst Urteil vom 17. Januar 2019, Dzivev u. a. (C‑310/16, EU:C:2019:30), und vom 19. Dezember 2019, Deutsche Umwelthilfe (C‑752/18, EU:C:2019:1114).


37      Vgl. unter vielen das Urteil vom 4. Dezember 2018, The Minister for Justice and Equality und Commissioner of the Garda Síochána (C‑378/17, EU:C:2018:979). Speziell zu dieser Frage und mit zahlreichen Verweisen auf die Rechtsprechung, siehe auch meine Schlussanträge in der Rechtssache An tAire Talmhaíochta Bia agus Mara u. a. (C‑64/20, EU:C:2021:14, und die dort angeführte Rechtsprechung).


38      Vgl. z. B. Urteil vom 29. Juli 2019, Torubarov (C‑556/17, EU:C:2019:626).


39      Vgl. u. a. meine Schlussanträge in der Rechtssache Asociaţia „Forumul Judecătorilor din România“ u. a. (C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19 und C‑355/19, EU:C:2020:746 Nr. 92 sowie die dort angeführte Rechtsprechung) (im Folgenden: AFJR).


40      Vgl. insbesondere Urteil A. K. u. a.


41      Ebd. (Nrn. 99 und 100).


42      Urteil vom 5. Juli 2016 (C‑614/14, EU:C:2016:514).


43      Vgl. u. a. Urteil vom 28. Januar 2021, Spetsializirana prokuratura (Erklärungen der Rechte) (C‑649/19, EU:C:2021:75, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).


44      Vgl. z. B. Urteil vom 19. Oktober 1995, Job Centre (C‑111/94, EU:C:1995:340).


45      Vgl. u. a. Urteil vom 28. Februar 2019, Gradbeništvo Korana (C‑579/17, EU:C:2019:162, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).


46      Urteil vom 9. November 2010 (C‑137/08, EU:C:2010:659, Rn. 31 und 32).


47      Urteil vom 3. Juli 2019 (C‑644/17, EU:C:2019:555, Rn. 27).


48      Urteil vom 4. September 2019 (C‑347/18, EU:C:2019:661).


49      Vgl. u. a. Urteile vom 2. März 2017, Henderson (C‑354/15, EU:C:2017:157), und vom 24. Oktober 2019, Gavanozov (C‑324/17, EU:C:2019:892).


50      Vgl. z. B. von vielen Urteil vom 20. März 1997, Hayes (C‑323/95, EU:C:1997:169) (zur Prozesskostensicherheit, die nach nationalem Recht verlangt wird, bevor eine Prüfung in der Sache stattfinden kann), Urteil vom 27. Juni 2013, Agrokonsulting-04 (C‑93/12, EU:C:2013:432) (eine Vorfrage der ausschließlichen Zuständigkeit in einem Mitgliedstaat, die der Klärung bedarf, bevor eine Prüfung in der Sache stattfinden kann).


51      Vgl. jüngst Urteile vom 3. Juli 2019, UniCredit Leasing (C‑242/18, EU:C:2019:558, Rn. 46 und 47), und vom 25. November 2020, Sociálna poisťovňa (C‑799/19, EU:C:2020:960, Rn. 44 und 45).


52      Vgl. z. B. Urteile vom 9. März 1978, Simmenthal (106/77, EU:C:1978:49, Rn. 22 und 23), und vom 8. September 2010, Winner Wetten (C‑409/06, EU:C:2010:503, Rn. 56 und 57).


53      Vgl. mit weiteren Verweisen Urteil vom 24. Juni 2019, Popławski (C‑573/17, EU:C:2019:530, Rn. 50 ff.).


54      Urteil A. K. u. a. (Rn. 102).


55      Ebd. (Rn. 103). Diese Schlussfolgerung wurde zuletzt bestätigt im Urteil vom 2. März 2021, A.B. u. a. (Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Klagen) (C‑824/18, EU:C:2021:153). In dieser Rechtssache befand sich das vorlegende Gericht nämlich ebenfalls in einer Situation, in der es nach nationalem Recht nicht befugt war, die Vereinbarkeit mit Art. 19 Abs. 1 EUV herzustellen.


56      Vgl. u. a. Urteil vom 16. Juni 1981, Salonia (126/80, EU:C:1981:136, Rn. 5 bis 7). Aus jüngerer Zeit Urteil vom 1. Februar 2017, Tolley (C‑430/15, EU:C:2017:74, Rn. 30 bis 33).


57      In diesem Sinne Urteil vom 26. März 2020, Überprüfung Simpson/Rat und HG/Kommission (C‑542/18 RX‑II und C‑543/18 RX‑II, EU:C:2020:232, Rn. 57 und 58).


58      Vgl. oben, Fn. 30 dieser Schlussanträge.


59      Vgl. z. B. Urteil vom 5. Juli 2016, Ognyanov (C‑614/14, EU:C:2016:514, insbesondere Rn. 12 und 26).


60      Urteil vom 26. März 2020, Überprüfung Simpson/Rat und HG/Kommission (C‑542/18 RX‑II und C‑543/18 RX‑II, EU:C:2020:232, Rn. 57). Hervorhebung nur hier.


61      Urteil Miasto Łowicz.


62      Ebd. (Rn. 48).


63      Ebd. (Rn. 49), unter Bezugnahme auf das Urteil vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses (C‑64/16, EU:C:2018:117).


64      Ebd. (Rn. 50), unter Bezugnahme auf das Urteil vom 17. Februar 2011, Weryński (C‑283/09, EU:C:2011:85, Rn. 41 und 42).


65      Ebd. (Rn. 51), unter Bezugnahme auf das Urteil in der Rechtssache A. K. u. a.


66      Vgl. hierzu ausführlicher meine Schlussanträge in der Rechtssache Statul Român – Ministerul Finanţelor Publice (C‑397/19, EU:C:2020:747, Nrn. 33 und 34).


67      Schlussanträge des Generalanwalts Tanchev in den verbundenen Rechtssachen Miasto Łowicz und Prokurator Generalny (C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2019:775, Nrn. 115 bis 126).


68      Urteil Miasto Łowicz (Rn. 45 bis 53).


69      Vgl. z. B. Platon, S., „Court of Justice Preliminary references and rule of law: Another case of mixed signals from the Court of Justice regarding the independence of national courts: Miasto Lowicz“, Common Market Law Review, Bd. 57, Ausgabe Nr. 6, 2020, S. 1843 bis 1866.


70      Für eine ausführlichere Erörterung siehe meine Schlussanträge in der Rechtssache TÜV Rheinland LGA Products und Allianz IARD (C‑581/18, EU:C:2020:77) – zum Anwendungsbereich des Unionsrechts in den eher traditionellen Fällen der Freizügigkeit, und meine Schlussanträge in der Rechtssache Ispas (C‑298/16, EU:C:2017:650) – zum Anwendungsbereich des Unionsrechts im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta.


71      Beschluss vom 6. Oktober 2020 (C‑623/18, EU:C:2020:800).


72      Beschluss vom 2. Juli 2020 (C‑256/19, EU:C:2020:523).


73      Urteil vom 9. Juli 2020 (C-272/19, EU:C:2020:535).


74      Urteil Maler (Rn. 46 bis 48).


75      Ebd. (vgl. Rn. 7 bis 27, insbesondere Rn. 16).


76      Vgl. bereits Urteil vom 4. Februar 1999, Köllensperger und Atzwanger (C‑103/97, EU:C:1999:52, Rn. 24).


77      Urteil Land Hessen (Rn. 42 bis 61).


78      Ebd. (Rn. 62).


79      Cf. Iannuccelli, P., „L’indépendance du juge national et la recevabilité de la question préjudicielle concernant sa propre qualité de «juridiction»“, Il Diritto dell’Unione Europea, 2021, S. 823 bis 841.


80      Vgl. u. a. Urteil vom 6. Oktober 2015, Consorci Sanitari del Maresme (C‑203/14, EU:C:2015:664, Rn. 16 bis 31).


81      Vgl. u. a. Urteil vom 21. Januar 2020, Banco de Santander (C‑274/14, EU:C:2020:17, Rn. 51 bis 80).


82      Vgl. u. a. Urteile vom 27. April 1994, Almelo (C‑393/92, EU:C:1994:171, Rn. 21 bis 24), vom 4. Juni 2002, Lyckeskog (C‑99/00, EU:C:2002:329, Rn. 10 bis 19), und vom 16. Dezember 2008, Cartesio (C‑210/06, EU:C:2008:723, Rn. 54 bis 63).


83      Vgl. auch Schlussanträge des Generalanwalts Wahl in der Rechtssache Gullotta und Farmacia di Gullotta Davide & C. (C‑497/12, EU:C:2015:168, Rn. 15 und 25).


84      Wie oben in den Nrn. 69 bis 71 dieser Schlussanträge dargelegt.


85      Vgl. z. B. Urteil vom 25. Februar 2021, Dalli/Kommission (C‑615/19 P, EU:C:2021:133, Rn. 223).


86      Wie bereits in meinen Schlussanträgen in der Rechtssache AFJR (Nrn. 212 ff.) dargelegt.


87      Insofern könnten die oben angeführten wissenschaftlichen Hinweise durchaus richtig sein, vgl. Nrn. 108 und 109 sowie Fn. 69.


88      Vgl. meine Schlussanträge in der Rechtssache AFJR (Nr. 207).


89      Bemerkenswerterweise gab es nach 1989 in einer Reihe von ehemals kommunistischen Staaten nicht ganz unähnliche Ansichten über eine „sektorale Unabhängigkeit“ als Mittel zur Rechtfertigung der Justiz und ihrer Kontinuität: Es wurde gesagt, dass die Richter in einigen Bereichen (wie z. B. dem „politikfreien Zivilrecht“) faktisch (bereits) unabhängig seien, vor allem, weil in diesen Bereichen nicht (länger) versucht wurde, den Ausgang von Einzelfällen zu beeinflussen, vgl. z. B. Markovits, I., Justice in Lüritz: Experiencing Socialist Law in East Germany, Princeton University Press, 2010.


90      Vgl. zu dieser Frage auch meine Schlussanträge in der Rechtssache Torubarov(C‑556/17, EU:C:2019:339, Nrn. 54 und 55).


91      Oder in der Tat „auf dem Gebiet des Rechts“: Den Gedanken, dass trotz etwaiger Probleme in „politischen Rechtssachen“ die eher „technischen Bereiche des Unionsrechts“, wie z. B. das Mehrwertsteuer- oder das Umweltrecht, dennoch weiterhin ordnungsgemäß angegangen würden, kann nur jemand hegen, der keine Ahnung oder historische Erinnerung daran hat, wie ein gekapertes Justizsystem funktioniert (oder eher nicht funktioniert).


92      Vgl. in diesem Kontext insbesondere Urteile vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality (Mängel des Justizsystems) (C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586), und vom 17. Dezember 2020, Openbaar Ministerie (Unabhängigkeit der ausstellenden Justizbehörde) (C‑354/20 PPU und C‑412/20 PPU, EU:C:2020:1033).


93      Vgl. insbesondere Schlussanträge des Generalanwalts Tanchev in der Rechtssache Kommission/Polen (Unabhängigkeit der ordentlichen Gerichte) (C‑192/18, EU:C:2019:529, Nr. 115) und in den verbundenen Rechtssachen Miasto Łowicz und Prokurator Generalny (C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2019:775, Nr. 125).


94      Vgl. in diesem Sinne meine Schlussanträge in der Rechtssache AFJR (Nrn. 265 bis 279) (betreffend die nicht ordnungsgemäße Ernennung des Vorsitzenden der Justizinspektion).


95      Vgl. in Bezug auf eine ähnliche Auffassung Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) vom 1. Dezember 2020, Ástráðsson/Island, CE:ECHR:2020:1201JUD002637418, § 209 und die dort angeführte Rechtsprechung, im Folgenden: Urteil Ástráðsson.


96      Vgl. entsprechend Urteil vom 26. März 2020, Überprüfung Simpson/Rat und HG/Kommission (C‑542/18 RX‑II und C‑543/18 RX‑II, EU:C:2020:232, Rn. 71 bis 76). Vgl. auch in einem anderen Zusammenhang EGMR Urteil Ástráðsson, § 234.


97      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. November 2003, Kommission/Finnland (C‑185/00, EU:C:2003:639, Rn. 109).


98      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Dezember 2007, Kommission/Irland (C‑418/04, EU:C:2007:780, Rn. 166).


99      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Juni 2003, Kommission/Frankreich (C‑233/00, EU:C:2003:371, Rn. 84).


100      Vgl. mit weiteren Verweisen meine Schlussanträge in der Rechtssache AFJR (insbesondere Nrn. 243 und 244).


101      Vgl. z. B. Urteile A. K. u. a. (Rn. 142), oder vom 2. März 2021, A.B. u. a. (Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Klagen) (C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 98 bis 106 und 163).


102      Um bei dem Bild des Patienten zu bleiben: Die Aussage, dass der objektive Kontext in solchen Fällen keine Rolle spielt, erinnert an die Anforderung, ein Notarztteam, das gerade am Ort eines Autounfalls angekommen ist, müsse nicht nur die Insassen in den an der Kollision beteiligten Fahrzeugen untersuchen, sondern alle Insassen in den dortigen Fahrzeugen, einschließlich derer, die nicht an der Kollision beteiligt waren, sondern nur angehalten hatten, um das Geschehen zu beobachten. Schließlich seien sie alle Fahrzeuginsassen, und alle müssten unabhängig von den Umständen genau gleich behandelt werden.


103      Bartlett, R. C., und Collins, S. D., Aristotle’s Nicomachean Ethics: A New Translation, University of Chicago Press, 2011.


104      Ein Beispiel aus jüngster Zeit sind die Schlussanträge des Generalanwalts Pikamäe in der Rechtssache IS (C‑564/19, EU:C:2021:292, Nrn. 85 bis 92).


105      Insoweit könnten die vom Gerichtshof im Urteil Maler dargelegten Erwägungen zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens sehr wohl in gleichem Umfang und in gleicher Ausführlichkeit wie bei einer Entscheidung in der Sache selbst angestellt werden.


106      Abgesehen von anderen spezifischen (typischerweise sekundärrechtlichen) Regelungen, die ebenfalls den Begriff der richterlichen Unabhängigkeit aufgreifen und weiterentwickeln und die in bestimmten Fallgestaltungen ebenfalls in Betracht kommen können, wie die Entscheidung der Kommission vom 13. Dezember 2006 zur Einrichtung eines Verfahrens für die Zusammenarbeit und die Überprüfung der Fortschritte Rumäniens bei der Erfüllung bestimmter Vorgaben in den Bereichen Justizreform und Korruptionsbekämpfung (ABl. 2006, L 354, S. 56). Vgl. im Einzelnen meine Schlussanträge in der Rechtssache AFJR (Nrn. 183 bis 225).


107      Vgl. u. a. Urteile vom 16. Februar 2017, Margarit Panicello (C‑503/15, EU:C:2017:126, Rn. 37 und 38) (in Bezug auf Art. 267 AEUV), A. K. u. a. (Rn. 121 und 122) (in Bezug auf Art. 47 der Charta), vom 24. Juni 2019, Kommission/Polen (Unabhängigkeit des Obersten Gerichts) (C‑619/18, EU:C:2019:531, Rn. 71 bis 73) (in Bezug auf Art. 19 Abs. 1 EUV), und vom 2. März 2021, A.B. u. a. (Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Klagen) (C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 143).


108      Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Hogan in der Rechtssache Repubblika (C‑896/19, EU:C:2020:1055, Nrn. 45 und 46) und Schlussanträge des Generalanwalts Tanchev in der Rechtssache A. K. u. a. (EU:C:1019:551, Nr. 85).


109      Vgl. insbesondere Urteil vom 15. November 2016, Ullens de Schooten (C‑268/15, EU:C:2016:874, Rn. 50 bis 53). Zu einigen speziellen Fragen, die sich dabei stellen, siehe jüngst meine Schlussanträge in der Rechtssache J & S Service (C‑620/19, EU:C:2020:649, Nrn. 27 bis 74).


110      Ein Sonderfall sind Situationen, in denen der Anwendungsbereich des Unionsrechts nach Art. 51 Abs. 1 der Charta durch eine spezifische Regelung des Sekundärrechts der Union ausgelöst wird, die dann die Anwendung von Art. 47 der Charta eröffnet. Siehe meine Schlussanträge in der Rechtssache AFJR (Nrn. 196 bis 202).


111      Vgl. hierzu Schlussanträge des Generalanwalts Hogan in der Rechtssache Repubblika (C‑896/19, EU:C:2020:1055, Nrn. 33 bis 47).


112      Es liegt ein konkreter Verstoß gegen Art. 47 der Charta vor, der in Bezug auf sein Gewicht nicht die Schwelle des Art. 19 Abs. 1 EUV erreicht.


113      Die Art des Verstoßes erreicht die Schwelle des Art. 19 Abs. 1 EUV, aber er betrifft keine individuellen unionsrechtlichen Rechte gemäß Art. 47 der Charta (insoweit jüngst die Sachlage im Urteil vom 2. März 2021, A.B. u. a. (Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Klagen) (C‑824/18, EU:C:2021:153, insbesondere Rn. 89).


114      Schlussanträge des Generalanwalts Hogan in der Rechtssache Repubblika (C‑896/19, EU:C:2020:1055, Rn. 58).


115      C‑17/00, EU:C:2001:366, Nr. 93, unter Bezugnahme auf Schriften des Juristen P. Calamandrei.


116      Vgl. aus jüngerer Zeit Urteile Land Hessen (Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung), und vom 2. März 2021, A.B. u. a. (Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Klagen) (C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 117).


117      Urteil A. K. u. a. (Rn. 130 und die dort angeführte Rechtsprechung). Vgl. im Einzelnen mit weiteren Verweisen meine Schlussanträge in der Rechtssache AFSJ (Nr. 230).


118      Ähnlich EGMR, Urteile vom 25. Oktober 2011, Richert/Polen (CE:ECHR:2011:1025JUD005480907, § 44), und vom 20. März 2012, Dryzek/Polen (CE:ECHR:2012:0320DEC001228509, § 49).


119      Z. B. durch das Selbstverwaltungsorgan der Justiz und/oder die Präsidenten oder die Räte der beteiligten Gerichte und/oder den betreffenden Richter.


120      Vgl. EGMR, Urteil vom 25. Oktober 2011, Richert/Polen (CE:ECHR:2011:1025JUD005480907, §§ 42 und 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).


121      In welcher Form auch immer: sei es durch andere Mitglieder der Regierung und/oder des nationalen Parlaments, Überwachung durch die Medien und die öffentliche Meinung; letztlich auch für einen potenziellen Verfahrensbeteiligten, der Zweifel an der ordnungsgemäßen Zusammensetzung des zur Entscheidung seines Falles berufenen Gremiums haben kann und diese Frage im Rahmen des Verfahrens in seinem Fall zur Sprache bringen möchte.


122      Vgl. EGMR, Urteil vom 25. Oktober 2011, Richert/Polen (CE:ECHR:2011:1025JUD005480907, Rn. 45).


123      Europäisches Parlament (2006), Bericht der Kommission, 21. und 22. Jahresbericht der Kommission über die Kontrolle der Anwendung des Gemeinschaftsrechts (A6-0089/2006 final) S. 17.


124      Siehe zu weiteren Einzelheiten und zu einer Bewertung: Europäische Kommission für Demokratie durch Recht („Venedig-Kommission“), Stellungnahme zum Gesetz über die Staatsanwaltschaft, neueste Fassung (2017), Stellungnahme 892/2017.


125      Vgl. insbesondere Rechtssache C‑791/19, Kommission/Polen (Disziplinarordnung für Richter). Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Tanchev in dieser Rechtssache (C‑791/19, EU:C:2021:366).


126      Beschluss vom 8. April 2020, Kommission/Polen (C‑791/19 R, EU:C:2020:277).


127      Urteil vom 15. Januar 2009, Nr. K 45/07, OTK ZU Nr. 1/a/2009, Nr. 3.


128      Urteil vom 2. März 2021, A.B. u. a. (Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Klagen) (C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 146).


129      Vgl. jüngst z. B. Urteil vom 4. Dezember 2018, Minister for Justice and Equality und Commissioner of An Garda Síochána (C‑378/17, EU:C:2018:979, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).