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URTEIL DES GERICHTSHOFS (Siebte Kammer)

28. Februar 2018(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Zivil- und Handelssachen – Verordnung (EG) Nr. 805/2004 – Europäischer Vollstreckungstitel für unbestrittene Forderungen – Voraussetzungen für die Bestätigung – Mindestvorschriften für Verfahren über unbestrittene Forderungen – Rechte des Schuldners – Fehlen der Angabe der Anschrift der Stelle, bei der die Forderung bestritten werden kann oder bei der ein Rechtsbehelf gegen die Entscheidung eingelegt werden kann“

In der Rechtssache C‑289/17

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tartu Maakohus (Gericht erster Instanz Tartu, Estland) mit Entscheidung vom 10. Mai 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 19. Mai 2017, in dem Verfahren

Collect Inkasso OÜ,

ITM Inkasso OÜ,

Bigbank AS

gegen

Rain Aint,

Lauri Palm,

Raiko Oikimus,

Egle Noor,

Artjom Konjarov

erlässt

DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Rosas sowie der Richterinnen C. Toader (Berichterstatterin) und A. Prechal,

Generalanwalt: Y. Bot,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der estnischen Regierung, vertreten durch N. Grünberg als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Wilderspin, M. Heller und E. Randvere als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 17 Buchst. a und Art. 18 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung (EG) Nr. 805/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. April 2004 zur Einführung eines europäischen Vollstreckungstitels für unbestrittene Forderungen (ABl. 2004, L 143, S. 15).

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen von fünf Rechtsstreitigkeiten zwischen den Gläubigern Collect Inkasso OÜ, ITM Inkasso OÜ und Bigbank AS, drei Gesellschaften estnischen Rechts, einerseits und den Schuldnern Rain Aint, Lauri Palm, Raiko Oikimus, Egle Noor und Artjom Konjarov andererseits über die Bestätigung von gegen die Schuldner in Abwesenheit ergangenen Mahnbescheiden als Europäische Vollstreckungstitel.

 Rechtlicher Rahmen

3        Die Erwägungsgründe 10, 12 und 13 der Verordnung Nr. 805/2004 lauten:

„(10)      Auf die Nachprüfung einer gerichtlichen Entscheidung, die in einem anderen Mitgliedstaat über eine unbestrittene Forderung in einem Verfahren ergangen ist, auf das sich der Schuldner nicht eingelassen hat, kann nur dann verzichtet werden, wenn eine hinreichende Gewähr besteht, dass die Verteidigungsrechte beachtet worden sind.

(12)      Für das gerichtliche Verfahren sollten Mindestvorschriften festgelegt werden, um sicherzustellen, dass der Schuldner so rechtzeitig und in einer Weise über das gegen ihn eingeleitete Verfahren, die Notwendigkeit seiner aktiven Teilnahme am Verfahren, wenn er die Forderung bestreiten will, und über die Folgen seiner Nichtteilnahme unterrichtet wird, dass er Vorkehrungen für seine Verteidigung treffen kann.

(13)      Wegen der Unterschiede im Zivilprozessrecht der Mitgliedstaaten, insbesondere bei den Zustellungsvorschriften, müssen die Mindestvorschriften präzise und detailliert definiert sein. So kann insbesondere eine Zustellungsform, die auf einer juristischen Fiktion beruht, im Hinblick auf die Einhaltung der Mindestvorschriften nicht als ausreichend für die Bestätigung einer Entscheidung als Europäischer Vollstreckungstitel angesehen werden.“

4        Art. 3 („Vollstreckungstitel, die als Europäischer Vollstreckungstitel bestätigt werden“) Abs. 1 Buchst. b dieser Verordnung sieht vor:

„Diese Verordnung gilt für Entscheidungen, gerichtliche Vergleiche und öffentliche Urkunden über unbestrittene Forderungen.

Eine Forderung gilt als ‚unbestritten‘, wenn

b)      der Schuldner ihr im gerichtlichen Verfahren zu keiner Zeit nach den maßgeblichen Verfahrensvorschriften des Rechts des Ursprungsmitgliedstaats widersprochen hat oder

…“

5        Art. 6 („Voraussetzungen für die Bestätigung als Europäischer Vollstreckungstitel“) Abs. 1 Buchst. c dieser Verordnung bestimmt:

„Eine in einem Mitgliedstaat über eine unbestrittene Forderung ergangene Entscheidung wird auf jederzeitigen Antrag an das Ursprungsgericht als Europäischer Vollstreckungstitel bestätigt, wenn

c)      das gerichtliche Verfahren im Ursprungsmitgliedstaat im Fall einer unbestrittenen Forderung im Sinne von Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe b) oder c) den Voraussetzungen des Kapitels III entsprochen hat, und

…“

6        Kapitel III („Mindestvorschriften für Verfahren über unbestrittene Forderungen“) der Verordnung Nr. 805/2004 umfasst die Art. 12 bis 19 dieser Verordnung. Art. 12 („Anwendungsbereich der Mindestvorschriften“) Abs. 1 dieser Verordnung lautet:

„Eine Entscheidung über eine unbestrittene Forderung im Sinne von Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe b) oder c) kann nur dann als Europäischer Vollstreckungstitel bestätigt werden, wenn das gerichtliche Verfahren im Ursprungsmitgliedstaat den verfahrensrechtlichen Erfordernissen nach diesem Kapitel genügt hat.“

7        Art. 17 („Ordnungsgemäße Unterrichtung des Schuldners über die Verfahrensschritte zum Bestreiten der Forderung“) Buchst. a dieser Verordnung sieht vor:

„In dem verfahrenseinleitenden Schriftstück, einem gleichwertigen Schriftstück oder einer Ladung zu einer Gerichtsverhandlung oder in einer zusammen mit diesem Schriftstück oder dieser Ladung zugestellten Belehrung muss deutlich auf Folgendes hingewiesen worden sein:

a)      auf die verfahrensrechtlichen Erfordernisse für das Bestreiten der Forderung; dazu gehören insbesondere die Frist, innerhalb deren die Forderung schriftlich bestritten werden kann bzw. gegebenenfalls der Termin der Gerichtsverhandlung, die Bezeichnung und die Anschrift der Stelle, an die die Antwort zu richten bzw. vor der gegebenenfalls zu erscheinen ist, sowie die Information darüber, ob die Vertretung durch einen Rechtsanwalt vorgeschrieben ist“.

8        Art. 18 („Heilung der Nichteinhaltung von Mindestvorschriften“) dieser Verordnung bestimmt in Abs. 1:

„Genügte das Verfahren im Ursprungsmitgliedstaat nicht den in den Artikeln 13 bis 17 festgelegten verfahrensrechtlichen Erfordernissen, so sind eine Heilung der Verfahrensmängel und eine Bestätigung der Entscheidung als Europäischer Vollstreckungstitel möglich, wenn

b)      der Schuldner die Möglichkeit hatte, einen eine uneingeschränkte Überprüfung umfassenden Rechtsbehelf gegen die Entscheidung einzulegen, und er in oder zusammen mit der Entscheidung ordnungsgemäß über die verfahrensrechtlichen Erfordernisse für die Einlegung eines solchen Rechtsbehelfs, einschließlich der Bezeichnung und der Anschrift der Stelle, bei der der Rechtsbehelf einzulegen ist, und gegebenenfalls der Frist unterrichtet wurde …

…“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

9        Das Tartu Maakohus (Gericht erster Instanz Tartu, Estland) wurde mit fünf Rechtssachen befasst, deren Sachverhalte ähnlich sind.

10      Am 4. Januar 2008 stellte Collect Inkasso bei diesem Gericht drei Anträge im summarischen Mahnverfahren zur Einziehung von drei verschiedenen Forderungen gegen Herrn Aint, Herrn Palm und Herrn Oikimus.

11      Der Mahnantrag, der von diesem Gericht gegen den Schuldner erlassene Mahnbescheid und das Widerspruchsformular wurden Herrn Aint mit Hilfe der Polizei spätestens am 11. März 2009, Herrn Palm persönlich durch Übergabe gegen Unterschrift am 16. Februar 2008 und Herrn Oikimus durch Übergabe an seine Schwester gegen Unterschrift am 30. Januar 2008 zugestellt. Eine von demselben Gericht angeordnete Ergänzung des ursprünglichen Mahnbescheids wurde Herrn Aint persönlich durch Übergabe gegen Unterschrift am 25. Mai 2009 zugestellt.

12      Da die Schuldner nicht widersprochen hatten, erließ das Tartu Maakohus (Gericht erster Instanz Tartu) gegen sie Vollstreckungsbescheide über die Forderungen nebst Verzugszinsen und/oder Verfahrenskosten.

13      Diese Bescheide wurden Herrn Aint, Herrn Palm und Herrn Oikimus persönlich durch Übergabe gegen Unterschrift oder gegen die Unterschrift eines Familienmitglieds zugestellt, mit Ausnahme des Bescheids gegen Herrn Palm vom 30. März 2009, der ihm nicht zugestellt wurde. Abgesehen von diesem letzten Bescheid wurden die anderen Bescheide daher rechtskräftig.

14      Am 7. Juni 2016 stellte Collect Inkasso beim Tartu Maakohus (Gericht erster Instanz Tartu) drei Anträge auf Bestätigung der erlassenen Bescheide als Europäische Vollstreckungstitel.

15      Mit Beschlüssen vom 16. August 2016 wies das Tartu Maakohus (Gericht erster Instanz Tartu) diese Anträge auf Bestätigung zurück und stellte fest, dass den Schuldnern weder in den verfahrenseinleitenden Schriftstücken noch in den Vollstreckungsbescheiden die Anschrift der Stelle, an die die Antwort zu richten bzw. vor der gegebenenfalls zu erscheinen ist oder bei der diese Bescheide angefochten werden können, mitgeteilt worden war. Das Tartu Maakohus (Gericht erster Instanz Tartu) erteilte daher keine Europäischen Vollstreckungstitel, da die in Art. 6 Abs. 1 Buchst. c, Art. 17 Buchst. a und Art. 18 der Verordnung Nr. 805/2004 vorgeschriebenen Voraussetzungen nicht erfüllt waren. In Bezug auf den Bescheid vom 30. März 2009, der gegen Herrn Palm ausgestellt worden war, stellte dieses Gericht auch fest, dass er dem Schuldner nicht den Anforderungen der Art. 13 und 14 dieser Verordnung entsprechend zugestellt worden war.

16      Am 5. Oktober 2016 legte Collect Inkasso bei diesem Gericht Rechtsmittel gegen die Beschlüsse vom 16. August 2016 ein und begehrte ihre Aufhebung und die Erteilung der beantragten Europäischen Vollstreckungstitel.

17      ITM Inkasso stellte am 15. August 2008 beim Tartu Maakohus (Gericht erster Instanz Tartu) einen Antrag im summarischen Mahnverfahren zur Einziehung einer Forderung gegen Frau Noor.

18      Nachdem das Tartu Maakohus (Gericht erster Instanz Tartu) gegen Frau Noor einen Mahnbescheid erlassen hatte, stellte es ihr am 20. Dezember 2008 persönlich durch Übergabe gegen Unterschrift den Mahnantrag, den Mahnbescheid und das Widerspruchsformular zu.

19      Da kein Widerspruch eingelegt worden war, erließ dieses Gericht am 21. April 2009 einen Vollstreckungsbescheid über die Forderung nebst Verfahrenskosten. Dieser Bescheid wurde der Schuldnerin am 4. Mai 2009 persönlich durch Übergabe gegen Unterschrift zugestellt und wurde rechtskräftig.

20      ITM Inkasso beantragte am 21. Oktober 2016 beim vorlegenden Gericht die Bestätigung dieses Bescheids als Europäischer Vollstreckungstitel.

21      Bigbank stellte am 4. September 2007 beim Tartu Maakohus (Gericht erster Instanz Tartu) einen Antrag im summarischen Mahnverfahren zur Einziehung einer Forderung gegen Herrn Konjarov.

22      Nachdem das Tartu Maakohus (Gericht erster Instanz Tartu) gegen Herrn Konjarov einen Mahnbescheid erlassen hatte, stellte es ihm am 20. November 2008 durch Übergabe an seine Mutter gegen Unterschrift den Mahnantrag, den Mahnbescheid und das Widerspruchsformular zu.

23      Da kein Widerspruch eingelegt worden war, erließ dieses Gericht am 6. März 2009 einen Vollstreckungsbescheid über die Forderung nebst Verfahrenskosten. Dieser Bescheid wurde dem Schuldner am 11. März 2009 durch Übergabe an seine Mutter gegen Unterschrift zugestellt und wurde rechtskräftig.

24      Bigbank beantragte am 2. Januar 2017 beim vorlegenden Gericht die Bestätigung dieses Bescheids als Europäischer Vollstreckungstitel.

25      Das vorlegende Gericht meint, dass zur Entscheidung über die von Collect Inkasso eingelegten Rechtsmittel sowie zur Entscheidung über die Anträge auf Bestätigung von ITM Inkasso und Bigbank die Tragweite der in Art. 17 Buchst. a und Art. 18 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 805/2004 festgelegten Mindestanforderungen insbesondere in Bezug auf die Angabe der Anschrift der Stelle, an die die Antwort zu richten bzw. vor der zu erscheinen sei oder bei der gegebenenfalls ein Rechtsbehelf gegen einen Mahnbescheid einzulegen sei, geklärt werden müsse.

26      Das vorlegende Gericht führt dazu aus, dass die den Schuldnern der Ausgangsverfahren übermittelten Dokumente, nämlich die Anträge im summarischen Mahnverfahren, die Mahnbescheide und die Widerspruchsformulare sowie die Vollstreckungsbescheide, diese Anschrift nicht angegeben hätten. Die anderen verfahrensrechtlichen Erfordernisse, wie die Bezeichnung dieser Stelle, seien erfüllt worden.

27      Nach Ansicht dieses Gerichts ergibt sich zwar aus dem Wortlaut von Art. 17 der Verordnung Nr. 805/2004, dass dem Schuldner alle darin aufgeführten Angaben zu übermitteln seien, gleichzeitig sei aber anzunehmen, dass eine vernünftige Person, die die Bezeichnung einer Stelle, im vorliegenden Fall die Bezeichnung des vorlegenden Gerichts, kenne, auch ihre Anschrift herausfinden könne, da diese Information öffentlich zugänglich sei.

28      Vor diesem Hintergrund hat das Tartu Maakohus (Gericht erster Instanz Tartu) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Art. 17 Buchst. a der Verordnung Nr. 805/2004 dahin auszulegen, dass in dem verfahrenseinleitenden Schriftstück, einem gleichwertigen Schriftstück oder einer Ladung zu einer Gerichtsverhandlung oder in einer zusammen mit diesem Schriftstück oder dieser Ladung zugestellten Belehrung auf sämtliche in diesem Artikel aufgeführten Angaben deutlich hingewiesen worden sein muss? Insbesondere: Ist gemäß Art. 3 Abs. 1 Buchst. b, Art. 6 Abs. 1 Buchst. c und Art. 17 Buchst. a die Bestätigung einer Gerichtsentscheidung als Europäischer Vollstreckungstitel ausgeschlossen, wenn dem Schuldner die Anschrift der Stelle, an die eine Antwort zu richten ist, nicht mitgeteilt wurde, ihm aber alle anderen in Art. 17 Buchst. a aufgeführten Angaben mitgeteilt wurden?

2.      Ist Art. 18 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 805/2004 dahin auszulegen, dass, wenn das Verfahren im Ursprungsmitgliedstaat nicht den in Art. 17 der Verordnung Nr. 805/2004 festgelegten verfahrensrechtlichen Erfordernissen genügt, die Heilung der Verfahrensmängel voraussetzt, dass dem Schuldner in oder zusammen mit der Entscheidung sämtliche in Art. 18 Abs. 1 Buchst. b aufgeführten Angaben ordnungsgemäß mitgeteilt wurden? Ist insbesondere die Erteilung eines Europäischen Vollstreckungstitels ausgeschlossen, wenn dem Schuldner die Anschrift der Stelle, bei der ein Rechtsbehelf einzulegen ist, nicht mitgeteilt wurde, ihm aber alle anderen in Art. 18 Abs. 1 Buchst. b aufgeführten Angaben mitgeteilt wurden?

 Zu den Vorlagefragen

29      Mit seinen beiden Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 17 Buchst. a und Art. 18 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 805/2004 dahin auszulegen sind, dass eine gerichtliche Entscheidung, die ergangen ist, ohne dass der Schuldner von der Anschrift des Gerichts unterrichtet worden ist, an das seine Antwort zu richten ist, vor dem er zu erscheinen hat oder bei dem er gegebenenfalls einen Rechtsbehelf gegen diese Entscheidung einlegen kann, als Europäischer Vollstreckungstitel bestätigt werden kann.

30      Das vorlegende Gericht ist mit fünf Rechtssachen befasst, in denen eine Bestätigung von Vollstreckungsbescheiden als Europäische Vollstreckungstitel begehrt wird. Obwohl sich diese Rechtssachen in verschiedenen Verfahrensstadien befinden, sind sie alle dadurch gekennzeichnet, dass die verfahrenseinleitenden Schriftsätze und die nach Ablauf des summarischen Mahnverfahrens ergangenen Bescheide den Schuldnern zwar zugestellt wurden, die Anschrift des Gerichts, das für die Durchführung dieser Verfahren oder die Prüfung eines möglichen Rechtsbehelfs gegen diese Bescheide zuständig ist, aber nicht angegeben wurde. Die anderen verfahrensrechtlichen Erfordernisse, wie die Bezeichnung dieser Stelle, wurden erfüllt.

31      Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts steht fest, dass die Schuldner der Ausgangsverfahren während der summarischen Mahnverfahren untätig geblieben sind, so dass die Forderungen ihnen gegenüber unter den Begriff „unbestrittene Forderung“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 805/2004 fallen und als solche die Erteilung der beantragten Europäischen Vollstreckungstitel rechtfertigen.

32      Nach Art. 6 dieser Verordnung wird eine in einem Mitgliedstaat über eine unbestrittene Forderung ergangene Entscheidung auf jederzeitigen Antrag an das Ursprungsgericht als Europäischer Vollstreckungstitel bestätigt, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Im Fall einer unbestrittenen Forderung im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. b dieser Verordnung wird nach Art. 6 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 805/2004 vorausgesetzt, dass das gerichtliche Verfahren im Ursprungsmitgliedstaat den verfahrensrechtlichen Mindestvorschriften der Art. 12 bis 19 des Kapitels III dieser Verordnung genügt hat.

33      Art. 17 Buchst. a der Verordnung Nr. 805/2004 erfordert, dass bestimmte Angaben, darunter die Bezeichnung und die Anschrift der Stelle, an die die Antwort zu richten bzw. vor der gegebenenfalls zu erscheinen ist, aus dem verfahrenseinleitenden Schriftstück, einem gleichwertigen Schriftstück oder einer Ladung zu einer Gerichtsverhandlung oder in einer zusammen mit diesem Schriftstück oder dieser Ladung zugestellten Belehrung deutlich hervorgehen müssen.

34      Damit eine eventuelle Nichteinhaltung der Mindestvorschriften für Verfahren über unbestrittene Forderungen nach Art. 18 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 805/2004 geheilt werden kann, muss der Schuldner die Möglichkeit haben, einen eine uneingeschränkte Überprüfung umfassenden Rechtsbehelf gegen die Entscheidung einzulegen, und in der Entscheidung oder in einer zusammen damit zugestellten Belehrung ordnungsgemäß über die verfahrensrechtlichen Erfordernisse für die Einlegung eines solchen Rechtsbehelfs, einschließlich der Bezeichnung und der Anschrift der Stelle, bei der der Rechtsbehelf einzulegen ist, unterrichtet werden.

35      Daher folgt aus dem klaren Wortlaut von Art. 17 Buchst. a und Art. 18 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 805/2004, deren Auslegung vom vorlegenden Gericht erbeten wird, dass die Angabe der Anschrift der betreffenden Stelle an den Schuldner verpflichtend ist.

36      In den in Kapitel III der Verordnung Nr. 805/2004 festgelegten Mindestvorschriften kommt die Absicht des Gesetzgebers der Europäischen Union zum Ausdruck, dafür Sorge zu tragen, dass die Verfahren, die zum Erlass von Entscheidungen über eine unbestrittene Forderung führen, hinreichende Garantien für die Wahrung der Verteidigungsrechte im Ursprungsmitgliedstaat bieten (vgl. entsprechend Urteil vom 9. März 2017, Zulfikarpašić, C‑484/15, EU:C:2017:199, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung) in Anbetracht des Grundsatzes, dass im Vollstreckungsmitgliedstaat keine diesbezügliche Kontrolle durchgeführt wird.

37      Wie nämlich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervorgeht, sollen diese Mindestvorschriften, zu denen die Angabe der Anschrift der betreffenden Stelle gehört, gemäß dem zwölften Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 805/2004 sicherstellen, dass der Schuldner so rechtzeitig und in einer Weise über das gegen ihn eingeleitete Verfahren, die Notwendigkeit seiner aktiven Teilnahme am Verfahren, wenn er die betreffende Forderung bestreiten will, und die Folgen seiner Nichtteilnahme am Verfahren unterrichtet wird, dass er Vorkehrungen für seine Verteidigung treffen kann. In dem besonderen Fall eines Versäumnisurteils im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 2 Buchst. b dieser Verordnung sollen diese prozessualen Mindestvorschriften das Vorliegen hinreichender Garantien für die Wahrung der Verteidigungsrechte sicherstellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juni 2016, Pebros Servizi, C‑511/14, EU:C:2016:448, Rn. 44).

38      Wie schließlich aus Art. 17 Buchst. a und Art. 18 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 805/2004 hervorgeht, können die nach diesen Bestimmungen erforderlichen Angaben dem Beklagten nicht nur durch Verfahrensstücke oder die gerichtliche Entscheidung übermittelt werden, sondern auch durch zusammen mit diesen Schriftstücken zugestellte Belehrungen. Nach den Angaben der estnischen Regierung fügen die Gerichte der Republik Estland, wenn sie Schuldnern Mahnbescheide zustellen, üblicherweise ein Begleitschreiben mit Briefkopf bei, in dem sich alle Angaben zu dem betreffenden Gericht befinden. Selbst wenn aber die Anschrift des zuständigen Gerichts dem Schuldner grundsätzlich auf diese Weise tatsächlich zur Kenntnis gebracht werden kann, hat das vorlegende Gericht im vorliegenden Fall dennoch festgestellt, dass die maßgebliche Anschrift den Schuldnern der Ausgangsverfahren nicht übermittelt worden war.

39      Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 17 Buchst. a und Art. 18 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 805/2004 dahin auszulegen sind, dass eine gerichtliche Entscheidung, die ergangen ist, ohne dass der Schuldner von der Anschrift des Gerichts unterrichtet worden ist, an das seine Antwort zu richten ist, vor dem er zu erscheinen hat oder bei dem er gegebenenfalls einen Rechtsbehelf gegen diese Entscheidung einlegen kann, nicht als Europäischer Vollstreckungstitel bestätigt werden kann.

 Kosten

40      Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Siebte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 17 Buchst. a und Art. 18 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung (EG) Nr. 805/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. April 2004 zur Einführung eines europäischen Vollstreckungstitels für unbestrittene Forderungen sind dahin auszulegen, dass eine gerichtliche Entscheidung, die ergangen ist, ohne dass der Schuldner von der Anschrift des Gerichts unterrichtet worden ist, an das seine Antwort zu richten ist, vor dem er zu erscheinen hat oder bei dem er gegebenenfalls einen Rechtsbehelf gegen diese Entscheidung einlegen kann, nicht als Europäischer Vollstreckungstitel bestätigt werden kann.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Estnisch.