Language of document : ECLI:EU:C:2018:874

Rechtssache C684/16

Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e. V.

gegen

Tetsuji Shimizu

(Vorabentscheidungsersuchen des Bundesarbeitsgerichts)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Sozialpolitik – Arbeitszeitgestaltung – Richtlinie 2003/88/EG – Art. 7 – Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub – Nationale Regelung, die den Verlust des nicht genommenen bezahlten Jahresurlaubs und der finanziellen Vergütung für diesen Urlaub vorsieht, wenn der Arbeitnehmer den Urlaub nicht vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses beantragt – Richtlinie 2003/88/EG – Art. 7 – Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 31 Abs. 2 – Möglichkeit der Geltendmachung in einem Rechtsstreit zwischen Privatpersonen“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 6. November 2018

1.        Sozialpolitik – Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer – Arbeitszeitgestaltung – Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub – Nationale Regelung, die den automatischen Verlust des nicht genommenen bezahlten Jahresurlaubs und der finanziellen Vergütung für diesen Urlaub vorsieht, wenn der Arbeitnehmer den Urlaub nicht vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses beantragt hat – Keine vorherige Prüfung, ob der Arbeitnehmer die Möglichkeit hatte, diesen Anspruch tatsächlich wahrzunehmen – Unzulässigkeit – Pflichten des nationalen Gerichts – Unionsrechtskonforme Auslegung der nationalen Regelung

(Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 31 Abs. 2 und 52 Abs. 1; Richtlinie 2003/88 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 7)

2.        Sozialpolitik – Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer – Arbeitszeitgestaltung – Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub – Richtlinie 2003/88 – Art. 7 – Unmittelbare Wirkung – Möglichkeit ihrer Geltendmachung in einem Rechtsstreit zwischen Privatpersonen – Fehlen

(Richtlinie 2003/88 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 7)

3.        Sozialpolitik – Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer – Arbeitszeitgestaltung – Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub – Besonders bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der Union – Tragweite

(Art. 151 AEUV; Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 21 Abs. 1, 27 und 31 Abs. 2; Richtlinie 2003/88 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 7; Richtlinie 93/104 des Rates, Art. 7)

4.        Sozialpolitik – Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer – Arbeitszeitgestaltung – Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub – Nationale Regelung, die für unvereinbar mit der Richtlinie 2003/88 und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union befunden wurde – Pflichten eines nationalen Gerichts, das mit einem Rechtsstreit zwischen Privatpersonen befasst ist – Nichtanwendung dieser nationalen Regelung und Gewährung des bezahlten Jahresurlaubs oder der finanziellen Vergütung im Fall der Beendigung des Arbeitsverhältnisses – Grenzen

(Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 21 Abs. 1, 31 Abs. 2 und 51 Abs. 1; Richtlinie 2003/88 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 7)

1.      Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung und Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen, nach der ein Arbeitnehmer, der im betreffenden Bezugszeitraum keinen Antrag auf Wahrnehmung seines Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub gestellt hat, am Ende des Bezugszeitraums die ihm gemäß diesen Bestimmungen für den Bezugszeitraum zustehenden Urlaubstage und entsprechend seinen Anspruch auf eine finanzielle Vergütung für den bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht genommenen Urlaub verliert, und zwar automatisch und ohne vorherige Prüfung, ob er vom Arbeitgeber z. B. durch angemessene Aufklärung tatsächlich in die Lage versetzt wurde, diesen Anspruch wahrzunehmen. Es ist insoweit Sache des vorlegenden Gerichts, unter Berücksichtigung des gesamten innerstaatlichen Rechts und unter Anwendung der darin anerkannten Auslegungsmethoden zu prüfen, ob es in der Lage ist, zu einer Auslegung dieses Rechts zu gelangen, mit der die volle Wirksamkeit des Unionsrechts gewährleistet werden kann.

Für die Antwort auf die erste Frage ist zwar darauf hinzuweisen, dass die Beachtung der Verpflichtung des Arbeitgebers aus Art. 7 der Richtlinie 2003/88 nicht so weit gehen kann, von diesem zu verlangen, dass er seine Arbeitnehmer zwingt, ihren Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub tatsächlich wahrzunehmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. September 2006, Kommission/Vereinigtes Königreich, C‑484/04, EU:C:2006:526, Rn. 43). Er muss den Arbeitnehmer jedoch in die Lage versetzen, einen solchen Anspruch wahrzunehmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. November 2017, King, C‑214/16, EU:C:2017:914, Rn. 63).

Wie auch der Generalanwalt in den Nrn. 41 bis 43 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ist der Arbeitgeber in Anbetracht des zwingenden Charakters des Rechts auf bezahlten Jahresurlaub und angesichts des Erfordernisses, die praktische Wirksamkeit von Art. 7 der Richtlinie 2003/88 zu gewährleisten, u. a. verpflichtet, konkret und in völliger Transparenz dafür zu sorgen, dass der Arbeitnehmer tatsächlich in der Lage ist, seinen bezahlten Jahresurlaub zu nehmen, indem er ihn – erforderlichenfalls förmlich – auffordert, dies zu tun, und ihm, damit sichergestellt ist, dass der Urlaub ihm noch die Erholung und Entspannung bieten kann, zu denen er beitragen soll, klar und rechtzeitig mitteilt, dass der Urlaub, wenn er ihn nicht nimmt, am Ende des Bezugszeitraums oder eines zulässigen Übertragungszeitraums verfallen wird.

Die Beweislast trägt insoweit der Arbeitgeber (vgl. entsprechend Urteil vom 16. März 2006, Robinson-Steele u. a., C‑131/04 und C‑257/04, EU:C:2006:177, Rn. 68). Kann er nicht nachweisen, dass er mit aller gebotenen Sorgfalt gehandelt hat, um den Arbeitnehmer tatsächlich in die Lage zu versetzen, den ihm zustehenden bezahlten Jahresurlaub zu nehmen, verstießen das Erlöschen des Urlaubsanspruchs am Ende des Bezugs- oder zulässigen Übertragungszeitraums und – bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses – das entsprechende Ausbleiben der Zahlung einer finanziellen Vergütung für den nicht genommenen Jahresurlaub gegen Art. 7 Abs. 1 und gegen Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2003/88.

Da mit der im Ausgangsverfahren fraglichen nationalen Regelung die Richtlinie 2003/88 umgesetzt wird, findet Art. 31 Abs. 2 der Charta im Ausgangsverfahren Anwendung (vgl. entsprechend Urteil vom 15. Januar 2014, Association de médiation sociale, C‑176/12, EU:C:2014:2, Rn. 43).

In diesem Zusammenhang ist außerdem zu beachten, dass das in Art. 31 Abs. 2 der Charta verankerte Grundrecht auf bezahlten Jahresurlaub nur unter Einhaltung der in Art. 52 Abs. 1 der Charta vorgesehenen strengen Bedingungen und insbesondere nur unter Achtung seines Wesensgehalts beschränkt werden kann. Folglich können die Mitgliedstaaten nicht von dem sich aus Art. 7 der Richtlinie 2003/88 in Verbindung mit Art. 31 Abs. 2 der Charta ergebenden Grundsatz abweichen, wonach ein erworbener Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nach Ablauf des Bezugszeitraums und/oder eines im nationalen Recht festgelegten Übertragungszeitraums nicht erlischt, wenn der Arbeitnehmer nicht in der Lage war, seinen Urlaub zu nehmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. November 2017, King, C‑214/16, EU:C:2017:914, Rn. 56).

(vgl. Rn. 44-46, 50, 54, 61, Tenor 1)

2.      Art. 7 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2003/88 kann daher, obwohl er die Kriterien der Unbedingtheit und hinreichenden Genauigkeit erfüllt, die für eine unmittelbare Wirkung erforderlich sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom heutigen Tag, Bauer und Willmeroth, C‑569/16 und C‑570/16, Rn. 71 bis 73), nicht in einem Rechtsstreit zwischen Privaten geltend gemacht werden, um die volle Wirksamkeit des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub zu gewährleisten und zu erreichen, dass jede entgegenstehende nationalrechtliche Bestimmung unangewendet bleibt (Urteil vom 26. März 2015, Fenoll, C‑316/13, EU:C:2015:200, Rn. 48).

(vgl. Rn. 68)

3.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 69, 70, 72, 73)

4.      In dem Fall, dass eine nationale Regelung wie die in den Ausgangsverfahren fragliche nicht im Einklang mit Art. 7 der Richtlinie 2003/88 und Art. 31 Abs. 2 der Grundrechtecharta ausgelegt werden kann, ergibt sich aus Art. 31 Abs. 2 der Grundrechtecharta, dass das mit einem Rechtsstreit zwischen einem Arbeitnehmer und seinem früheren privaten Arbeitgeber befasste nationale Gericht diese nationale Regelung unangewendet zu lassen und dafür Sorge zu tragen hat, dass der Arbeitnehmer, wenn der Arbeitgeber nicht nachweisen kann, dass er mit aller gebotenen Sorgfalt gehandelt hat, um ihn tatsächlich in die Lage zu versetzen, den ihm nach dem Unionsrecht zustehenden bezahlten Jahresurlaub zu nehmen, weder seine erworbenen Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub noch entsprechend – im Fall der Beendigung des Arbeitsverhältnisses – die finanzielle Vergütung für nicht genommenen Urlaub, deren Zahlung in diesem Fall unmittelbar dem betreffenden Arbeitgeber obliegt, verlieren kann.

Das Recht auf bezahlten Jahresurlaub, das in Art. 31 Abs. 2 der Charta für jede Arbeitnehmerin und jeden Arbeitnehmer verankert ist, ist infolgedessen, was sein Bestehen selbst anbelangt, zugleich zwingend und nicht von Bedingungen abhängig, da die Charta nicht durch unionsrechtliche oder nationalrechtliche Bestimmungen konkretisiert werden muss. In diesen sind nur die genaue Dauer des Jahresurlaubs und gegebenenfalls bestimmte Voraussetzungen für die Wahrnehmung des Rechts festzulegen. Folglich verleiht Art. 31 Abs. 2 der Charta schon für sich allein den Arbeitnehmern ein Recht, das sie in einem Rechtsstreit gegen ihren Arbeitgeber in einem vom Unionsrecht erfassten und daher in den Anwendungsbereich der Charta fallenden Sachverhalt als solches geltend machen können (vgl. entsprechend Urteil vom 17. April 2018, Egenberger, C‑414/16, EU:C:2018:257, Rn. 76).

Bezüglich der Wirkung, die Art. 31 Abs. 2 der Charta gegenüber privaten Arbeitgebern entfaltet, ist festzustellen, dass die Charta nach ihrem Art. 51 Abs. 1 zwar für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Unionsrechts gilt. Hingegen trifft Art. 51 Abs. 1 der Charta keine Regelung darüber, ob Privatpersonen gegebenenfalls unmittelbar zur Einhaltung einzelner Bestimmungen der Charta verpflichtet sein können, und kann demnach nicht dahin ausgelegt werden, dass dies kategorisch ausgeschlossen wäre.

Wie der Generalanwalt in Nr. 78 seiner Schlussanträge in den verbundenen Rechtssachen Bauer und Willmeroth (C‑569/16 und C‑570/16, EU:C:2018:337) ausgeführt hat, kann der Umstand, dass manche Bestimmungen des Primärrechts in erster Linie an die Mitgliedstaaten gerichtet sind, es nicht ausschließen, dass diese auch für Rechtsbeziehungen zwischen Privatpersonen gelten können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. April 2018, Egenberger, C‑414/16, EU:C:2018:257, Rn. 77).

Der Gerichtshof hat insbesondere bereits anerkannt, dass das in Art. 21 Abs. 1 der Charta niedergelegte Verbot schon für sich allein dem Einzelnen ein Recht verleiht, das er in einem Rechtsstreit gegen eine andere Privatperson als solches geltend machen kann (Urteil vom 17. April 2018, Egenberger, C‑414/16, EU:C:2018:257, Rn. 76), ohne dass deshalb Art. 51 Abs. 1 der Charta dem entgegenstünde.

Speziell in Bezug auf Art. 31 Abs. 2 der Charta ist hervorzuheben, dass das Recht jeder Arbeitnehmerin und jedes Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub schon seinem Wesen nach mit einer entsprechenden Pflicht des Arbeitgebers einhergeht, nämlich der Pflicht zur Gewährung bezahlten Jahresurlaubs oder einer Vergütung für den bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub.

(vgl. Rn. 74, 76-79, 81, Tenor 2)