Language of document : ECLI:EU:C:2014:308

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MELCHIOR WATHELET

vom 8. Mai 2014(1)

Rechtssache C‑242/13

Commerz Nederland NV

gegen

Havenbedrijf Rotterdam NV

(Vorabentscheidungsersuchen des Hoge Raad der Nederlanden [Niederlande])

„Staatliche Beihilfen – Begriff – Beihilfen, die einer Bank von einem öffentlichen Unternehmen in Form einer Bürgschaft gewährt werden – Entscheidung des Direktors des öffentlichen Unternehmens – Missachtung der Bestimmungen der Satzung des öffentlichen Unternehmens“





I –    Einleitung

1.        Die vorliegende Rechtssache betrifft die Frage, ob Bürgschaften, die einer Bank von einem öffentlichen Unternehmen unter Verstoß gegen seine internen Vorschriften erteilt worden sind, dem Staat zugerechnet und letztlich als staatliche Beihilfen im Sinne der Art. 107 AEUV und 108 AEUV qualifiziert werden können. Im vorliegenden Fall sind diese Bürgschaften von Herrn Scholten, dem einzigen Geschäftsführer der Havenbedrijf Rotterdam NV (im Folgenden: HbR), des Hafenbetriebs von Rotterdam (Niederlande), zugunsten von Gesellschaften übernommen worden, die dem niederländischen RDM-Konzern (im Folgenden: RDM-Konzern) angehören. Es steht fest, dass Herr Scholten mit der Übernahme dieser Bürgschaften eigenmächtig gehandelt, diese Übernahme bewusst geheim gehalten und die Vorschriften der Satzung des öffentlichen Unternehmens dadurch missachtet hat, dass er nicht zuvor die Zustimmung des Aufsichtsrats dieses Unternehmens eingeholt hat.

2.        Bis hierhin „nihil sub sole novum“(2), aber es ist doch erstaunlich, dass der betreffende Mitgliedstaat die Auffassung vertritt, die fraglichen Maßnahmen seien ihm zuzurechnen und stellten staatliche Beihilfen im Sinne des AEU-Vertrags dar, während der durch die Bürgschaften Begünstigte, der offensichtlich bezahlt zu werden wünscht, der Ansicht ist, bei den Bürgschaften handele es sich nicht um solche Beihilfen, da sie ultra vires übernommen worden seien.

3.        Eine ganz ähnliche Bürgschaft zwischen denselben Vertragspartnern, mit Ausnahme des Kreditgebers, war Gegenstand des Urteils Residex Capital IV(3). Wie Generalanwältin Kokott in Nr. 2 ihrer Schlussanträge in der genannten Rechtssache feststellt, war diese Bürgschaft „unter mysteriösen Umständen“(4) vom Gemeentelijk Havenbedrijf Rotterdam (städtischer Hafenbetrieb von Rotterdam, im Folgenden: GHR), einem Organ der Gemeinde Rotterdam (im Folgenden: Gemeinde) und Vorgänger von HbR, zugunsten einer Gesellschaft übernommen worden, die ebenfalls dem niederländischen RDM-Konzern angehörte. Da sich die Frage der Zurechenbarkeit in dieser Rechtssache nicht gestellt hat, hat der Gerichtshof lediglich die Frage behandelt, ob Art. 108 Abs. 3 Unterabs. 3 AEUV ein nationales Gericht dazu verpflichtet, eine der Europäischen Kommission nicht gemeldete und von dieser nicht gebilligte städtische Bürgschaft als nichtig anzusehen.

II – Rechtlicher Rahmen

4.        Im Ausgangsrechtsstreit stellen sich Fragen nach der Auslegung der Art. 107 AEUV und 108 AEUV sowie der Rn. 50 bis 58 des Urteils Frankreich/Kommission(5), das die Frage der Zurechnung einer Beihilfemaßnahme im Sinne dieser Artikel an den Staat betrifft.

5.        Vereinfacht gesagt hat der Gerichtshof in diesem Urteil entschieden, dass die Zurechenbarkeit einer Beihilfemaßnahme an den Staat nicht „allein daraus“ abgeleitet werden kann, „dass die [fragliche] Maßnahme von einem öffentlichen Unternehmen getroffen wurde“ (Rn. 51), da dieses „je nach dem Maß an Selbständigkeit, das ihm der Staat belässt, mehr oder weniger unabhängig handeln [kann]“ (Rn. 52). Der Gerichtshof hat darüber hinaus ausgeschlossen, dass „die bloße Tatsache, dass ein öffentliches Unternehmen in Form einer allgemeinrechtlichen Kapitalgesellschaft gegründet worden ist, in Anbetracht der Selbständigkeit, die ihm diese Rechtsform möglicherweise verleiht, nicht als ausreichend angesehen werden [kann], um auszuschließen, dass eine Beihilfemaßnahme einer solchen Gesellschaft dem Staat zuzurechnen ist“ (Rn. 57).

6.        In Rn. 52 ebendieses Urteils hat der Gerichtshof ferner befunden, dass, um eine Beihilfemaßnahme dem Staat zurechnen zu können, „außerdem geprüft werden [muss], ob davon auszugehen ist, dass die Behörden in irgendeiner Weise am Erlass dieser Maßnahmen beteiligt waren“.

7.        Er hat im genannten Urteil Frankreich/Kommission (EU:C:2002:294) jedoch die Auffassung vertreten, dass „nicht verlangt werden [kann], dass auf der Grundlage einer genauen Anweisung nachgewiesen wird, dass die Behörden das öffentliche Unternehmen konkret veranlasst haben, die fraglichen Beihilfemaßnahmen zu treffen“ (Rn. 53), da ein solcher Nachweis für einen Dritten „sehr schwierig“ ist (Rn. 54). Aus diesem Grund hat er festgestellt, dass „die Zurechenbarkeit einer Beihilfemaßnahme eines öffentlichen Unternehmens an den Staat aus einem Komplex von Indizien abgeleitet werden kann, die sich aus den Umständen des konkreten Falles und aus dem Kontext ergeben, in dem diese Maßnahme ergangen ist“ (Rn. 55).

8.        In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass er „bereits berücksichtigt [hatte], dass die fragliche Einrichtung die beanstandete Entscheidung nicht treffen konnte, ohne den Anforderungen der öffentlichen Stellen Rechnung zu tragen …, oder dass, abgesehen von organisationsrechtlichen Faktoren, die die öffentlichen Unternehmen mit dem Staat verbunden haben, diese Unternehmen, über die die Beihilfen gewährt worden waren, die [staatlichen] Richtlinien zu beachten hatten“ (Urteil Frankreich/Kommission, EU:C:2002:294, Rn. 55).

9.        Nach seiner Auffassung „sind gegebenenfalls [weitere Indizien] von Bedeutung, um auf die Zurechenbarkeit einer Beihilfemaßnahme eines öffentlichen Unternehmens an den Staat schließen zu können, wie insbesondere seine Eingliederung in die Strukturen der öffentlichen Verwaltung, die Art seiner Tätigkeit und deren Ausübung auf dem Markt unter normalen Bedingungen des Wettbewerbs mit privaten Wirtschaftsteilnehmern, der Rechtsstatus des Unternehmens, ob es also dem öffentlichen Recht oder dem allgemeinen Gesellschaftsrecht unterliegt, die Intensität der behördlichen Aufsicht über die Unternehmensführung oder jedes andere Indiz, das im konkreten Fall auf eine Beteiligung der Behörden oder auf die Unwahrscheinlichkeit einer fehlenden Beteiligung am Erlass einer Maßnahme hinweist, wobei auch deren Umfang, ihr Inhalt oder ihre Bedingungen zu berücksichtigen sind“ (Urteil Frankreich/Kommission, EU:C:2002:294, Rn. 56).

III – Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

10.      Der Hafen von Rotterdam wird von HbR betrieben, einer Aktiengesellschaft, deren Gesellschaftskapital (zu rund 70 %) der Gemeinde und (zu rund 30 %) dem niederländischen Staat gehört. Da dieser seine Beteiligung erst 2006 erwarb, war die Gemeinde zum maßgeblichen Zeitpunkt alleinige Anteilseignerin von HbR.

11.      In der Vergangenheit wurde der Hafen von Rotterdam vom Havenbedrijf der Gemeente Rotterdam (Städtischer Hafenbetrieb Rotterdam) betrieben, einer 1932 errichteten städtischen Behörde ohne Rechtspersönlichkeit, die im Laufe der 80er Jahre zu GHR wurde. Am 1. Januar 2004 trat HbR an die Stelle von GHR.

12.      Mit der Verwaltung von HbR ist ein Verwaltungsrat betraut, der von einem Aufsichtsrat überwacht wird. 1992 wurde Herr Scholten zum einzigen Geschäftsführer von GHR/HbR ernannt. Zum Zeitpunkt der Übernahme der fraglichen Bürgschaften war der für den Hafen zuständige Stadtrat der Gemeinde Vorsitzender des Aufsichtsrats.

13.      Der RDM-Konzern bestand aus einer Reihe von Gesellschaften, die Herrn van den Nieuwenhuyzen gehörten. Dieser Konzern war in der Herstellung und Lieferung von Kriegsmaterial tätig. Er ging in Konkurs, und seine Tätigkeit wurde nicht von einem anderen Unternehmen fortgeführt. Der RDM-Konzern war in keiner Weise mit HbR verbunden.

14.      Am 28. Dezember 2002 verpflichtete sich die RDM Holding NV (im Folgenden: RDM Holding) gegenüber GHR vertraglich (im Folgenden: U-Boot-Vertrag) dazu, Taiwan weder Informationen noch Material zur Verfügung zu stellen, die bzw. das für den Bau oder die Nutzung von U-Booten von Interesse sein könnte(n). Im Gegenzug verpflichtete sich GHR dazu, sich gegenüber den Gläubigern von RDM Holding und/oder ihrer Niederlassungen bis zu einem Betrag von mindestens 100 Mio. Euro zu verbürgen, und zwar für eine Dauer von höchstens drei Jahren.

15.      GHR und RDM Holding verpflichteten sich ferner dazu, über das Bestehen und den Inhalt des U-Boot-Vertrags gegenüber Dritten Stillschweigen zu bewahren.

16.      In der Präambel dieses Vertrags führten GHR und RDM Holding erstens aus, dass RDM Holding in Kooperation mit den amerikanischen Behörden geprüft habe, ob Technologie für den Bau von U‑Booten mittels anderer Gesellschaften des RDM-Konzerns an Taiwan transferiert werden könne, zweitens, dass GHR über diesbezügliche Verhandlungen zwischen den Rechtsanwälten von RDM Holding und des niederländischen Staates auf dem Laufenden sei, drittens, dass die Volksrepublik China habe verlauten lassen, sie werde, falls RDM Holding diese Technologie an Taiwan liefere, Sanktionen gegen die Niederlande, einschließlich der Umleitung ihres Seeverkehrs über einen anderen Hafen als Rotterdam, verhängen, viertens, dass GHR alles tun wolle, um dies auszuschließen, und fünftens, dass RDM Holding bereit sei, unter den vertraglich festgelegten Voraussetzungen auf den Transfer dieser Technologie an Taiwan zu verzichten.

17.      Durch Vertrag vom 5. November 2003 räumte die Commerz Nederland NV (im Folgenden: Commerz) der RDM Vehicles BV (im Folgenden: RDM Vehicles) eine Kreditfazilität in Höhe von 25 Mio. Euro (im Folgenden: Vehicles-Kredit) ein, mit der die Herstellung eines Panzerfahrzeugs finanziert werden sollte. Noch am selben Tag unterzeichnete Herr Scholten eine Bürgschaft, mit der GHR gegenüber Commerz für die Erfüllung der RDM Vehicles obliegenden Verpflichtungen aus dem Vehicles-Kredit einstand.

18.      Nachdem HbR am 1. Januar 2004 GHR nachgefolgt war, übernahm Herr Scholten am 4. Juni 2004 zugunsten von Commerz die gleiche Bürgschaft für den Vehicles-Kredit, dieses Mal im Namen von HbR, wobei Commerz auf ihre Rechte aus der von GHR übernommenen Bürgschaft verzichtete. Dieser Bürgschaft stimmte der Aufsichtsrat von HbR am 22. Juni 2004 zu.

19.      Die Anwaltskanzlei Spigthoff erstellte am 10. November 2003 bzw. 4. Juni 2004 Rechtsgutachten für Commerz, nach denen die im Namen von GHR und HbR für den Vehicles-Kredit unterzeichneten Bürgschaften „rechtswirksame, verbindliche und durchsetzbare Verpflichtungen“ für den Bürgen darstellten. Mit Urteil vom 17. April 2013 entschied der Gerechtshof te ’s‑Gravenhage (Niederlande), dass diese Rechtsgutachten bewusst falsch erstellt worden seien.

20.      Durch Verträge vom 27. Februar 2004 räumte Commerz der RDM Finance I BV (im Folgenden: RDM I) und der RDM Finance II BV (im Folgenden: RDM II) Kreditfazilitäten in Höhe von 7,2 Mio. Euro bzw. 6,4 Mio. Euro ein (im Folgenden: RDM I-Kredit und RDM II-Kredit). Diese Kredite dienten der Finanzierung von Bestellungen von Kriegsmaterial bei der RDM Technology BV.

21.      Am 2. März 2004 unterzeichnete Herr Scholten Bürgschaften, mit denen sich HbR gegenüber Commerz für die Erfüllung der Verpflichtungen von RDM I und RDM II aus diesen Krediten verbürgte. Am 3. März 2004 erstellte Spigthoff ein Rechtsgutachten, das mit den in Nr. 19 der vorliegenden Schlussanträge erwähnten Gutachten vergleichbar ist.

22.      Mit Urteil vom 15. Oktober 2010(6) entschied die Rechtbank Rotterdam, dass Herr Scholten Spenden von Herrn van den Nieuwenhuyzen, dem Eigentümer und Generaldirektor des RDM-Konzerns, angenommen habe, mit denen dieser eine Vorzugsbehandlung seines Unternehmens durch Herrn Scholten habe erreichen wollen. Die Rechtbank Rotterdam befand weiter, Herr Scholten habe bewusst wahrheitswidrige Bescheinigungen ausgestellt, in denen er behauptet habe, eine Billigung der Bürgschaften durch den Aufsichtsrat sei nicht erforderlich, und er habe es bewusst unterlassen, die fraglichen Bürgschaften in den Jahresabschlüssen von HbR für die Jahre 2002 und 2003 zu erwähnen. Schließlich entschied die Rechtbank Rotterdam, dass Herr Scholten die übernommenen Bürgschaften bewusst geheim gehalten habe, da er gewusst habe, dass der Aufsichtsrat seine Zustimmung nicht erteilt hätte, wenn er darüber informiert worden wäre. Die Rechtbank Rotterdam verurteilte Herrn Scholten wegen Bestechlichkeit, Urkundenfälschung und Betrugs zum Nachteil von HbR zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Monaten.

23.      Mit Schreiben vom 20. August 2004 kündigte Commerz den Vehicles-Kredit und verlangte Rückzahlung des ausstehenden Kreditbetrags. Da keine Zahlung erfolgte, verlangte Commerz von HbR Zahlung von 19 843 541,80 Euro aus der Bürgschaft für diesen Kredit zuzüglich Nebenkosten. HbR kam dieser Aufforderung nicht nach.

24.      Mit Schreiben vom 29. April 2004 kündigte Commerz den RDM I-Kredit sowie den RDM II-Kredit und verlangte Rückzahlung der ausstehenden Kreditbeträge. Da keine Zahlung erfolgte, forderte Commerz HbR auf, an sie 4 869,00 Euro bzw. 14 538,24 Euro aus den Bürgschaften für diese Kredite zuzüglich Nebenkosten zu zahlen. HbR kam auch dieser Aufforderung nicht nach.

25.      Nachdem sich HbR geweigert hatte, die sich aus den Bürgschaften ergebenden Verpflichtungen zu erfüllen, verklagte Commerz sie vor der Rechtbank Rotterdam und verlangte Zahlung des geschuldeten Betrags aus der von ihr für den Vehicles-Kredit übernommenen Bürgschaft. Das angerufene Gericht wies diesen Antrag mit der Begründung zurück, dass die genannte Bürgschaft eine Beihilfemaßnahme im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV darstelle, die nach Art. 108 Abs. 3 AEUV bei der Kommission hätte angemeldet werden müssen, was nicht geschehen sei, und dass die Bürgschaft daher aufgrund von Art. 3:40 Abs. 2 des niederländischen Bürgerlichen Gesetzbuchs nichtig sei.

26.      Commerz legte gegen diese Entscheidung Rechtsmittel beim Gerechtshof te ’s‑Gravenhage ein und beantragte darüber hinaus die Verurteilung von HbR zur Zahlung der geschuldeten Beträge aus den von dieser für den RDM I-Kredit und den RDM II-Kredit übernommenen Bürgschaften. Der Gerechtshof te ’s‑Gravenhage bestätigte die Entscheidung der Rechtbank Rotterdam und wies die Anträge von Commerz zurück.

27.      Die Prüfung des Sachverhalts anhand der im Urteil Frankreich/Kommission (EU:C:2002:294) aufgestellten Kriterien führe, so der Gerechtshof te ’s‑Gravenhage, zu dem Ergebnis, dass die Übernahme der fraglichen Bürgschaften den Niederlanden zuzurechnen sei.

28.      Der Gerechtshof te ’s‑Gravenhage begründete dieses Ergebnis damit, dass erstens die Gemeinde sämtliche Anteile an HbR halte, zweitens die Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder durch die Generalversammlung der Aktionäre, und somit durch die Gemeinde, ernannt worden seien, drittens der für den Hafen zuständige Stadtrat der Gemeinde Vorsitzender des Aufsichtsrats sei, viertens gemäß der Satzung von HbR für die Übernahme von Bürgschaften wie den vorliegenden die Zustimmung des Aufsichtsrats erforderlich sei und fünftens das satzungsmäßige Ziel von HbR nicht mit dem eines reinen Wirtschaftsunternehmens vergleichbar sei, da dem Allgemeininteresse am Betrieb eines Hafens wie dem von Rotterdam ein hoher Stellenwert eingeräumt werde.

29.      Commerz focht dieses Urteil vor dem Hoge Raad der Nederlanden an, der sich fragt, ob die in Rede stehenden Bürgschaften dem niederländischen Staat zuzurechnen sind.

30.      Das vorlegende Gericht befand, dass selbst dann, wenn Herr Scholten ganz und gar eigenmächtig gehandelt und die Grenzen seiner Befugnis als einziger Geschäftsführer von HbR – durch bewusste Geheimhaltung der Existenz des U-Boot-Vertrags und der Bürgschaften sowie durch Nichteinholung der Zustimmung des Aufsichtsrats vor Übernahme der fraglichen Bürgschaften – überschritten hätte, die unter Missachtung der Vorschriften der Satzung von HbR übernommenen Bürgschaften für diese Gesellschaft nach dem niederländischen Zivilrecht gleichwohl verbindlich wären.

31.      In diesem tatsächlichen Rahmen möchte das vorlegende Gericht wissen, ob bei der Frage, ob auf eine Zurechnung der fraglichen Bürgschaften an den niederländischen Staat zu schließen ist oder nicht, ein tatsächlicher und sachlicher Ansatz oder vielmehr ein rechtlicher Ansatz zu wählen ist. Dem vorlegenden Gericht zufolge wäre, sofern dem ersten Ansatz gefolgt würde, davon auszugehen, dass der Staat nicht einmal über die Existenz der Bürgschaften auf dem Laufenden war und schon gar nicht ihre Übernahme gebilligt hatte. Werde hingegen dem zweiten Ansatz gefolgt, genüge der Nachweis, dass der Staat in Bezug auf Maßnahmen wie die Übernahme von Bürgschaften generell die Entscheidungsfindung in dem öffentlichen Unternehmen bestimme oder zumindest einen starken und beherrschenden Einfluss auf diese ausübe.

32.      Da er der Ansicht war, hierbei handele es sich um eine Frage des Unionsrechts, hat der Hoge Raad der Nederlanden beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Steht es der – zur Qualifikation als staatliche Beihilfe im Sinne der Art. 107 AEUV und 108 AEUV erforderlichen – Zurechnung einer Bürgschaftsübernahme durch ein öffentliches Unternehmen an die Behörden zwangsläufig entgegen, dass die Bürgschaft, wie im vorliegenden Fall, von dem (einzigen) Geschäftsführer des öffentlichen Unternehmens übernommen worden ist, der dazu zwar zivilrechtlich befugt gewesen ist, jedoch eigenmächtig gehandelt, die Übernahme der Bürgschaft bewusst geheim gehalten und die Vorschriften der Satzung des öffentlichen Unternehmens missachtet hat, indem er nicht die Zustimmung des Aufsichtsrats eingeholt hat, und ferner davon auszugehen ist, dass die betreffende öffentliche Verwaltung (in diesem Fall die Gemeinde) die Übernahme der Bürgschaft nicht gewollt hat?

2.      Sind diese Umstände, wenn sie einer Zurechnung an die Behörden nicht zwangsläufig entgegenstehen, für die Beantwortung der Frage, ob die Übernahme der Bürgschaft den Behörden zugerechnet werden kann, ohne Bedeutung, oder muss das Gericht eine Abwägung im Licht der sonstigen Indizien vornehmen, die für bzw. gegen eine Zurechnung an die Behörden sprechen?

IV – Verfahren vor dem Gerichtshof

33.      Das Vorabentscheidungsersuchen ist am 29. April 2013 beim Gerichtshof eingegangen. Commerz, HbR, die niederländische Regierung und die Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht.

34.      Gemäß Art. 61 Abs. 1 seiner Verfahrensordnung hat der Gerichtshof die Beteiligten am 20. Januar 2014 zur Beantwortung mehrerer Fragen in der mündlichen Verhandlung aufgefordert; trotz deren Erheblichkeit und Bedeutung – um dem vorlegenden Gericht eine angemessene und sachdienliche Antwort geben zu können – hat die niederländische Regierung jedoch beschlossen, nicht an der mündlichen Verhandlung vom 13. März 2014 teilzunehmen.

35.      Diese Zusammenarbeit durch die Antwort auf die Fragen des Gerichtshofs in einem Verfahren mit vielerlei „wunderlichen“ Aspekten wäre wertvoll gewesen. Ich bedaure, dass die niederländische Regierung sie dem Gerichtshof nicht gegeben hat. In der mündlichen Verhandlung haben sich somit nur Commerz, HbR und die Kommission eingelassen.

V –    Würdigung

36.      Mit seinen Fragen möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Ultra-vires-Übernahme der fraglichen Bürgschaften, insbesondere die Tatsache, dass Herr Scholten sie unter Missachtung der Vorschriften der Satzung seines Unternehmens, und sogar ohne seinen Aufsichtsrat darüber zu informieren, übernommen hat, die Zurechnung dieser Bürgschaften an den niederländischen Staat ausschließt und, falls nicht, ob die Umstände, unter denen die Bürgschaften übernommen worden sind, bei der Entscheidung über ihre Zurechnung an den Staat berücksichtigt werden können.

A –    Vorbringen vor dem Gerichtshof

37.      Commerz vertritt die Auffassung, die fraglichen Bürgschaften seien dem Staat nicht zuzurechnen, obwohl sie für HbR zivilrechtlich verbindlich seien. Zur Stützung ihrer Auffassung beruft sie sich auf die Auslegung der Rn. 50 bis 58 des Urteils Frankreich/Kommission (EU:C:2002:294), die dem Hoge Raad der Nederlanden von Generalanwalt Keus in seinen Schlussanträgen vom 7. Dezember 2012 vorgeschlagen worden ist.

38.      Nach Auffassung dieses Generalanwalts setzt die Zurechnung einer Beihilfemaßnahme an den Staat eine tatsächliche und sachliche Beteiligung der staatlichen Behörden an den betreffenden Maßnahmen voraus. Aus diesem Urteil gehe hervor, dass die Zurechenbarkeit einer Maßnahme eines öffentlichen Unternehmens an den Staat verlange, dass der Staat „[im] konkreten Fall“ „am Erlass dieser [Maßnahme]“ beteiligt gewesen sei und tatsächlich eine Kontrolle über sie ausgeübt habe (Rn. 52). Da der Gerichtshof in den Rn. 55 bis 57 des genannten Urteils klargestellt habe, dass die Zurechenbarkeit einer Maßnahme eines öffentlichen Unternehmens an den Staat aus einem „Komplex von Indizien“ abgeleitet werden könne, die sich aus den Umständen des konkreten Falles und aus dem Kontext ergäben, in dem diese Maßnahme ergangen sei, hat Generalanwalt Keus die Auffassung vertreten, der Gerichtshof habe, auch wenn er eine Beweisschwelle sowie die Art und Weise, auf die dieser Beweis erbracht werden könne, festgelegt habe, den Beweisgegenstand, nämlich die konkrete Beteiligung der öffentlichen Hand an der fraglichen Maßnahme, nicht geändert.

39.      Commerz ist der Ansicht, es stehe den niederländischen Gerichten nicht frei, sich, wie es der Gerechtshof te ’s‑Gravenhage getan habe, auf einen Komplex von Indizien zu stützen, die aus dem allgemeinen Kontext hergeleitet würden, in dem die Bürgschaften übernommen worden seien, und so die besonderen Umstände des konkreten Falles auszublenden. Da Herr Scholten autonom, eigenmächtig, heimlich und gegen den Willen der Gemeinde gehandelt habe, ohne die von dieser gestellten Anforderungen zu beachten, sei die Gemeinde nicht an der Übernahme der streitigen Bürgschaften beteiligt gewesen. Infolgedessen vertritt sie die Auffassung, die Bürgschaften seien weder der Gemeinde noch dem Staat zuzurechnen, stellten damit keine Beihilfemaßnahmen im Sinne der Art. 107 AEUV und 108 AEUV dar und müssten der Kommission daher nicht gemeldet werden.

40.      HbR und die niederländische Regierung treten dieser Auslegung des Urteils Frankreich/Kommission (EU:C:2002:294) entgegen.

41.      HbR ist der Ansicht, die Zurechenbarkeit einer Beihilfemaßnahme an den Staat müsse sich auf objektive Kriterien und nicht auf den mutmaßlichen Willen des Staates stützen. Daher sei zu ermitteln, ob der Staat beteiligt gewesen sei oder hätte beteiligt werden müssen, nicht aber, ob er habe oder hätte beteiligt werden wollen.

42.      Da die fraglichen Bürgschaften für sie verbindlich seien, so HbR, sei die Gemeinde trotz ihrer Ultra-vires-Übernahme an ihnen beteiligt gewesen; diese Übernahme könne nämlich nicht ohne ihr Tätigwerden, ob gewollt oder ungewollt, erfolgen. Aus diesen Gründen vertritt HbR die Auffassung, die fraglichen Bürgschaften seien dem Staat zuzurechnen und stellten folglich Beihilfemaßnahmen im Sinne der Art. 107 AEUV und 108 AEUV dar, die der Kommission hätten gemeldet werden müssen.

43.      Nach Auffassung der niederländischen Regierung hindert die Tatsache, dass die Bürgschaften ultra vires übernommen worden seien, nicht deren Zurechnung an den Staat. Insoweit schließt sie sich der Auffassung des Gerechtshof te ’s‑Gravenhage, wie sie in Nr. 28 der vorliegenden Schlussanträge zusammengefasst worden ist, an, wonach sich die Zurechnung der fraglichen Bürgschaften an den niederländischen Staat auf die beherrschende Stellung stütze, die die Gemeinde in der Gesellschaft einnehme.

44.      HbR und die niederländische Regierung vertreten darüber hinaus die Auffassung, die Wirksamkeit der Vorschriften im Bereich der staatlichen Beihilfen könne auf nicht hinnehmbare Weise beeinträchtigt werden, wenn die Anwendung dieser Vorschriften mit der Begründung ausgeschlossen würde, dass ein satzungsmäßiger Geschäftsführer eines öffentlichen Unternehmens im Rahmen des Erlasses einer Maßnahme Vorschriften der Satzung dieses Unternehmens missachtet habe. In der Praxis sei es nämlich nicht immer möglich, zu überprüfen, ob die in Rede stehende Maßnahme gegen den Willen des öffentlichen Unternehmens getroffen worden sei oder nicht; ein Staat könne daher Zuflucht hinter den „Fehlern“ eines Geschäftsführers suchen, um zu verhindern, dass ihm die Maßnahme zugerechnet werden könne.

45.      Auch die Kommission tritt der von Commerz und Generalanwalt Keus vorgeschlagenen Auslegung des Urteils Frankreich/Kommission (EU:C:2002:294) entgegen. Unter Bezugnahme auf die Rn. 55 und 56 dieses Urteils ist sie der Ansicht, für die Zurechnung einer Beihilfemaßnahme an den Staat genüge es, wenn dieser die Entscheidungsfindung in dem öffentlichen Unternehmen tatsächlich bestimme oder einen starken und beherrschenden Einfluss auf diese ausübe.

46.      Die Kommission ist daher der Ansicht, der Nachweis einer genauen Anweisung sei nicht erforderlich, um auf die konkrete Beteiligung des Staates am Erlass der fraglichen Beihilfemaßnahme zu schließen. Wäre dies der Fall, wäre die Voraussetzung der Zurechenbarkeit im Fall einer Beihilfemaßnahme eines öffentlichen Unternehmens nur ganz ausnahmsweise erfüllt.

47.      Die Kommission kommt zu dem Schluss, dass es Sache des nationalen Gerichts sei, die in den Rn. 55 bis 57 des Urteils Frankreich/Kommission (EU:C:2002:294) aufgeführten Indizien insgesamt zu bewerten, und schließt sich der Würdigung durch den Gerechtshof te ’s‑Gravenhage an, die ich in Nr. 28 der vorliegenden Schlussanträge zusammengefasst habe.

48.      Hinsichtlich der besonderen Umstände der Übernahme der Bürgschaften, die Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits sind, vertritt die Kommission die Auffassung, sie wirkten sich auf deren Zurechenbarkeit an die Gemeinde nicht aus; diese habe die Übernahme der fraglichen Bürgschaften durch HbR nämlich zum einen selbst überhaupt erst ermöglicht, und zum anderen gehöre diese Übernahme nicht zu den normalen Geschäftstätigkeiten von HbR, sondern scheine eher von den in der Präambel des U-Boot-Vertrags angeführten Erwägungen des Allgemeininteresses bestimmt zu werden.

B –    Beurteilung

1.      Handelt es sich um Beihilfemaßnahmen oder um überwiegend unternehmerische Entscheidungen?

49.      Vor der Prüfung dieses Vorbringens erscheint es mir notwendig, zu überprüfen, ob die fraglichen Bürgschaften Beihilfemaßnahmen darstellen. Nur dann, wenn eine Bürgschaft einem Unternehmen einen Vorteil verschafft, kann sie nämlich eine Beihilfe darstellen(7).

50.      In Nr. 17 ihrer Schlussanträge in der Rechtssache Residex Capital IV (C‑275/10, EU:C:2011:354) hatte Generalanwältin Kokott auf das Vorliegen einer Beihilfe zugunsten der RDM Aerospace NV geschlossen, die, daran sei erinnert, demselben Konzern angehörte wie die Unternehmen, die in der vorliegenden Rechtssache durch die Bürgschaften begünstigt werden, denn „[o]hne diese Bürgschaft“ hätte das Unternehmen „sich ein solches Darlehen nach Angaben des vorlegenden Gerichts nicht beschaffen können“.

51.      Auch wenn das vorlegende Gericht diesen Gesichtspunkt in der vorliegenden Rechtssache nicht anspricht, besteht Grund zu der Annahme, dass die dort in Rede stehenden Bürgschaften den Unternehmen des RDM-Konzerns, die sich die Vehicles-Kredite RDM I und RDM II ohne diese Bürgschaften nicht hätten beschaffen können, einen Vorteil verschafft haben.

52.      Darüber hinaus ist jedoch die Frage zu untersuchen, ob HbR mit der Übernahme dieser Bürgschaften nicht aus überwiegend unternehmerischen Gründen gehandelt hat, wie es ein privater Investor getan hätte, da der von den Unternehmen des RDM-Konzerns erhaltene Vorteil in diesem Fall die Gegenleistung für wechselseitige Vorteile darstellen würde, die diese HbR gewährt hätten(8).

53.      Nur bei Verneinung dieser Frage wird zu prüfen sein, ob die von HbR übernommenen Bürgschaften den Einsatz öffentlicher Mittel erfordern und dem Staat zuzurechnen sind. Wie es Generalanwalt Jacobs in Nr. 55 seiner Schlussanträge in der Rechtssache Frankreich/Kommission (C‑482/99, EU:C:2001:685) ausgedrückt hat, „sollten die Geschäftsentscheidungen einer Brauerei im öffentlichen Eigentum, die ohne jede Einflussnahme durch die öffentliche Hand getroffen werden, nicht als unter die Vorschriften über staatliche Beihilfen fallend betrachtet werden“.

54.      Der gleiche Grundsatz wurde auf S. 250 der Schlussanträge von Generalanwalt Slynn in der Rechtssache Kwekerij van der Kooy u. a./Kommission (67/85, 68/85 und 70/85, EU:C:1987:177) aufgestellt, der sich in Bezug auf die in dieser Rechtssache in Rede stehende Beihilfemaßnahme, nämlich die Festsetzung eines Vorzugstarifs, fragte, „ob die Festsetzung dieses Vorzugstarifs, auch wenn sie unter dem Einfluss des Staates erfolgte und dem Staat Verluste verursachte, durch wirtschaftliche Erwägungen gerechtfertigt war, die mit dem Vorliegen ‚einer Beihilfe‘ unvereinbar waren“.

55.      Die Kommission vertritt die Auffassung, die Übernahme von Bürgschaften stelle im vorliegenden Fall eine aus Gründen des Allgemeininteresses und nicht aus wirtschaftlichen Erwägungen getroffene Maßnahme dar. Ihre Schlussfolgerung gründet sich auf die Indizien, die der Gerechtshof te ’s‑Gravenhage zur Untermauerung seiner Schlussfolgerung festgestellt hatte, dass HbR unter der tatsächlichen Kontrolle des niederländischen Staates stehe(9), sowie auf die Ziele des Allgemeininteresses, die dem Tätigwerden von HbR zugrunde liegen – u. a. was den Beitrag zur Stadtentwicklung, die Entwicklung der Stadthäfen und die Verbesserung des städtischen Gefüges der Stadt und der Region Rotterdam angeht.

56.      Auch wenn diese Indizien der Realität entsprechen, können sie nach meinem Dafürhalten nur im Rahmen der Zurechenbarkeit der Bürgschaften an den Staat geltend gemacht werden – wie es der Gerechtshof te ’s‑Gravenhage im Übrigen tut – und nicht, wie es die Kommission tut, bei der Entscheidung über die Frage, ob die Übernahme der in Rede stehenden Bürgschaften im konkreten Fall durch Erwägungen wirtschaftlicher Art diktiert worden ist oder nicht.

57.      Vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht neige ich einer Bejahung dieser Frage zu.

58.      Wie ich in den Nrn. 14 bis 16 der vorliegenden Schlussanträge ausgeführt habe, offenbart die Präambel des U-Boot-Vertrags, dass der RDM-Konzern in Kooperation mit den amerikanischen Behörden prüfte, ob U-Boot-Technologie an Taiwan transferiert werden konnte. Unter Punkt A der Präambel ist von diesbezüglichen Verhandlungen zwischen den Rechtsanwälten von RDM Holding und des niederländischen Staates die Rede.

59.      Unter Punkt B der Präambel wird Bezug genommen auf die Drohung der Volksrepublik China, gegen die Niederlande Sanktionen, einschließlich der Umleitung ihres Seeverkehrs über einen anderen Hafen als den von Rotterdam im Fall eines Transfers von U‑Boot-Technologie an Taiwan, zu verhängen, sowie auf den Willen von GHR, alles zu tun, um diese Möglichkeit auszuschließen.

60.      Zwar sind die Gültigkeit und die Echtheit dieses Vertrags angefochten worden. Wie Commerz dem Gerichtshof in der mündlichen Verhandlung mitgeteilt hat, hat die Rechtbank Rotterdam Herrn Scholten wegen Bestechlichkeit in Form der Annahme von Spenden von Herrn van den Nieuwenhuyzen verurteilt. Ebendiese Rechtbank Rotterdam hat jedoch entschieden, dass die Fälschung weder rechtmäßig noch überzeugend („niet wettig en overtuigend“) nachgewiesen worden sei, woraufhin die Staatsanwaltschaft gegen diesen Teil des Urteils Rechtsmittel eingelegt hat. In der mündlichen Verhandlung hat HbR darauf hingewiesen, dass dieses Rechtsmittel immer noch vor den niederländischen Gerichten anhängig sei.

61.      Aus diesem Grund hatte der Gerichtshof hierzu eine Frage gestellt(10), weil er davon ausging, dass die niederländische Regierung zweifellos eher als Commerz und HbR in der Lage sei, sich zur Glaubhaftigkeit der in die Präambel des U-Boot-Vertrags übernommenen Tatsachenbehauptungen zu äußern. Wie ich ausgeführt habe, hat die niederländische Regierung nicht an der mündlichen Verhandlung teilgenommen, was es ihr ermöglicht hätte, zu bestreiten, dass die in Rede stehenden Bürgschaften aus den in der Präambel des U-Boot-Vertrags angeführten wirtschaftlichen Gründen übernommen worden seien. Dies bestärkt mich in der Auffassung, dass die Übernahme der Bürgschaften hauptsächlich von wirtschaftlichen Erwägungen bestimmt worden ist.

62.      Unter diesen Umständen hat Herr Scholten – vorbehaltlich der Überprüfung der (von HbR bestrittenen) Echtheit dieses Vertrags und eines eventuellen Missverhältnisses zwischen den übernommenen Bürgschaften und dem Geschäftsrisiko, das sich aus einer etwaigen Umleitung des Verkehrs aus China oder weiteren tatsächlichen Anhaltspunkten ergibt, über die das vorlegende Gericht möglicherweise verfügt, durch dieses – mit der Übernahme der fraglichen Bürgschaften, und sei es auch unter Überschreitung seiner Befugnisse, nach meinem Dafürhalten im Interesse von GHR/HbR ein unternehmerisches Ziel verfolgt, nämlich die Folgen eines chinesischen Embargos gegen den Hafen von Rotterdam zu vermeiden, was es erforderlich machte, im Gegenzug für die Bürgschaften die Verpflichtung des RDM-Konzerns zu erwirken, keine U-Boot-Technologie an Taiwan zu transferieren.

2.      Falls die in Rede stehenden Bürgschaften als Begünstigungen oder Beihilfemaßnahmen qualifiziert werden: Handelt es sich um solche im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV?

63.      Wird mit den Vergünstigungen, die die in Rede stehenden Bürgschaften verschaffen, kein überwiegend unternehmerisches Ziel verfolgt, werden sie nur dann zu staatlichen Beihilfen im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV, wenn sie „unmittelbar oder mittelbar aus staatlichen Mitteln gewährt werden“ und „dem Staat zuzurechnen“ sind(11).

a)      Staatliche Mittel

64.      Es wird nicht bestritten, dass, falls eine Inanspruchnahme aus den Bürgschaften erfolgt, staatliche Mittel mobilisiert werden, da HbR – ein zum maßgeblichen Zeitpunkt zu 100 % im Eigentum der Gemeinde stehendes Unternehmen – die von den Unternehmen des RDM-Konzerns gegenüber Commerz eingegangenen finanziellen Verpflichtungen aus ihren Mitteln wird erfüllen müssen.

b)      Zurechenbarkeit an den Staat

65.      Die Frage der Zurechenbarkeit stellt sich nicht, wenn die staatliche Maßnahme von einer Einrichtung des Staates gewährt wird, unabhängig davon, welche Stellung diese Einrichtung im Staatsaufbau einnimmt, ob sie der Zentralverwaltung oder einer dezentralisierten oder dekonzentrierten Stelle des Staates angehört. Dies war der Fall im Urteil Residex Capital IV (EU:C:2011:814), das dieselben Stellen – GHR und den RDM-Konzern – und die gleiche Art der Sicherheitsleistung betraf, die von derselben Person (Herrn Scholten) auf die gleiche Art und Weise ultra vires gestellt wurde, und in dem sich die Frage der Zurechenbarkeit nicht einmal stellte, da die Bürgschaften von einer Verwaltungsbehörde der Gemeinde übernommen worden waren.

66.      Für den Fall, dass die Beihilfemaßnahme von einer Stelle getroffen wird, die keine Einrichtung des Staates im Sinne der vorhergehenden Nummer ist, hat der Gerichtshof in Rn. 51 des Urteils Frankreich/Kommission (EU:C:2002:294) sehr klar entschieden, dass die Zurechenbarkeit einer Beihilfemaßnahme an den Staat nicht automatisch „allein daraus“ abgeleitet werden kann, „dass die Maßnahme von einem öffentlichen Unternehmen getroffen wurde“.

67.      Dies ist in der vorliegenden Rechtssache der Fall, da die Bürgschaften für den Vehicles-Kredit, die am 4. Juni 2004 ausgelaufen sind, ursprünglich von GHR, einer städtischen Verwaltungsbehörde, übernommen worden waren. HbR – eine Aktiengesellschaft, deren Kapital vollständig von der Gemeinde gehalten wird und die GHR am 1. Januar 2004 nachgefolgt ist – hat noch an ebendiesem 4. Juni 2004 die gleichen Bürgschaften zugunsten von Commerz übernommen. Die Bürgschaften für den RDM‑I-Kredit und den RDM‑II-Kredit sind von Anfang an von HbR, einem öffentlichen Unternehmen, übernommen worden.

68.      In einem solchen Fall ist zu prüfen, ob die in Rede stehenden Beihilfemaßnahmen gleichwohl dem Staat zuzurechnen sind, da sie solchermaßen gewährt worden sind, dass „die Behörden in irgendeiner Weise am Erlass dieser Maßnahmen beteiligt waren“(12).

69.      Von einer solchen Beteiligung des Staates ist auszugehen, wenn die in Rede stehenden Beihilfemaßnahmen von einer Stelle, die ermächtigt ist, hoheitliche Befugnisse auszuüben, oder von einer Stelle getroffen werden, die unter der tatsächlichen Kontrolle des Staates handelt.

70.      Was das Kriterium der Ausübung hoheitlicher Befugnisse angeht, hat die Kommission in der mündlichen Verhandlung geltend gemacht, HbR sei keine gewöhnliche private Gesellschaft. Nach ihrer Satzung habe sie die Stellung des Hafen- und Industriekomplexes von Rotterdam zu stärken, die Navigationssicherheit zu fördern, über die Ordnung und die nautische und maritime Sicherheit zu wachen sowie als Hafenbehörde aufzutreten. Auf dieser Grundlage hat die Kommission vorgetragen, die in Rede stehenden Bürgschaften könnten dem niederländischen Staat zugerechnet werden.

71.      Ich teile diese Auffassung der Kommission nicht. Meiner Meinung nach kann eine Beihilfemaßnahme, die von einer Stelle getroffen wird, die ermächtigt ist, hoheitliche Befugnisse auszuüben, dem Staat nur insofern zugerechnet werden, als diese Maßnahme im konkreten Fall in Ausübung der genannten Befugnisse erlassen worden ist. Im vorliegenden Fall fallen weder die Übernahme der Bürgschaften selbst noch der Grund für ihre Übernahme unter die Ausübung der hoheitlichen Befugnisse, die HbR verliehen worden sind.

72.      Daher ist zu prüfen, ob die in Rede stehenden Bürgschaften dem niederländischen Staat aufgrund der tatsächlichen Kontrolle zuzurechnen sind, die dieser über HbR ausübt.

73.      Wie der Gerichtshof in Rn. 52 seines Urteils Frankreich/Kommission (EU:C:2002:294) entschieden hat, kann, „[a]uch wenn der Staat in der Lage ist, ein öffentliches Unternehmen zu kontrollieren und einen beherrschenden Einfluss auf dessen Tätigkeiten auszuüben, … nicht ohne Weiteres vermutet werden, dass diese Kontrolle in einem konkreten Fall tatsächlich ausgeübt wird. Ein öffentliches Unternehmen kann je nach dem Maß an Selbständigkeit, das ihm der Staat belässt, mehr oder weniger unabhängig handeln“.

74.      Bevor ich mich der Prüfung zuwende, ob der Ultra-vires-Charakter der Übernahme der in Rede stehenden Bürgschaften deren Zurechnung an den Staat entgegensteht, und unter Hinweis darauf, dass ich bei meinen Ausführungen davon ausgehe, dass die Übernahmeentscheidung nicht hauptsächlich von wirtschaftlichen Erwägungen bestimmt worden ist, glaube ich – wie der Gerechtshof te ’s‑Gravenhage –, dass hier genügend Indizien im Sinne des Urteils Frankreich/Kommission (EU:C:2002:294) vorhanden sind, um diese Entscheidung dem Staat zuzurechnen, was im Übrigen weder HbR noch die niederländische Regierung bestreiten.

75.      Zur Zurechnung einer Beihilfemaßnahme an den Staat aufgrund der tatsächlichen Kontrolle ist es nicht erforderlich, dass „auf der Grundlage einer genauen Anweisung“ nachgewiesen wird, „dass die Behörden das öffentliche Unternehmen konkret veranlasst haben, die fraglichen Beihilfemaßnahmen zu treffen“(13). Wie der Gerichtshof in Rn. 54 seines Urteils Frankreich/Kommission (EU:C:2002:294) festgestellt hat, besteht die Gefahr, dass ein solcher Nachweis „gerade wegen der privilegierten Beziehungen zwischen dem Staat und einem öffentlichen Unternehmen für einen Dritten sehr schwierig“ ist.

76.      Vorliegend räumen HbR und die niederländische Regierung ein, dass sich die Erstgenannte unter der tatsächlichen Kontrolle der Letztgenannten befindet. Aufgrund der Tatsache, dass die niederländische Regierung nicht an der mündlichen Verhandlung teilgenommen und daher nicht auf die Fragen, die ausdrücklich diesen Punkt betreffen, geantwortet hat, sollte jedoch unabhängig von der bloßen Behauptung dieser Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen festgestellt werden, ob eine solche Kontrolle gegeben ist.

77.      Wie der Gerichtshof in Rn. 56 seines Urteils Frankreich/Kommission (EU:C:2002:294) ausgeführt hat, sind eine Reihe von Indizien zu berücksichtigen wie „[die] Eingliederung [der Stelle, die die fragliche Maßnahme getroffen hat,] in die Strukturen der öffentlichen Verwaltung, die Art [ihrer] Tätigkeit und deren Ausübung auf dem Markt unter normalen Bedingungen des Wettbewerbs mit privaten Wirtschaftsteilnehmern, der Rechtsstatus des Unternehmens, ob es also dem öffentlichen Recht oder dem allgemeinen Gesellschaftsrecht unterliegt, die Intensität der behördlichen Aufsicht über die Unternehmensführung oder jedes andere Indiz, das im konkreten Fall auf eine Beteiligung der Behörden oder auf die Unwahrscheinlichkeit einer fehlenden Beteiligung am Erlass einer Maßnahme hinweist, wobei auch deren Umfang, ihr Inhalt oder ihre Bedingungen zu berücksichtigen sind“.

78.      Ich beziehe mich zunächst auf organisationsrechtliche Faktoren. Die Rechtsvorgänger von HbR waren Teil der Verwaltung der Gemeinde und hatten einer Gesellschaft desselben RDM-Konzerns bereits gleichartige Bürgschaften (wenn nicht die gleichen!) gewährt(14). Zum maßgeblichen Zeitpunkt hielt die Gemeinde sämtliche Anteile an HbR. Die Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder waren von der Generalversammlung der Aktionäre und somit von der Gemeinde ernannt worden. Der für den Hafen zuständige Stadtrat der Gemeinde war Vorsitzender des Aufsichtsrats. Die Satzung von HbR erlaubte, wenn auch mit Zustimmung des Aufsichtsrats, die Übernahme von Bürgschaften wie den vorliegenden. Diese Indizien zeigen auf, dass HbR über einen beschränkten Unabhängigkeitsspielraum gegenüber der Gemeinde als alleiniger Anteilseignerin verfügte.

79.      In Anbetracht dieser engen Verbindungen zwischen HbR und der Gemeinde wäre es schwer, an „die Unwahrscheinlichkeit einer fehlenden Beteiligung“(15) des Staates an der Übernahme der fraglichen Bürgschaften zu glauben, zumal es sich im vorliegenden Fall um Bürgschaften handelt, die zugunsten eines Konzerns übernommen worden sind, der im Rüstungsbereich tätig ist, ganz zu schweigen von den in der Präambel des U-Boot-Vertrags angeführten diplomatischen und politischen Komplikationen, von denen diese Übernahme möglicherweise bestimmt worden ist.

80.      Es bleibt die Frage zu prüfen, ob der Ultra-vires-Charakter der Übernahme der fraglichen Bürgschaften deren Zurechnung an den Staat entgegensteht.

3.      Steht der Ultra-vires-Charakter der Übernahme der Bürgschaften deren Zurechnung an den Staat entgegen?

81.      Zunächst geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen klar hervor, dass die fraglichen Bürgschaften trotz ihres Ultra-vires-Charakters für HbR verbindlich sind. Es stellt sich daher die Frage, ob die Tatsache, dass Herr Scholten sie ultra vires übernommen hat, ihrer Zurechnung an den niederländischen Staat entgegensteht.

82.      Zur Stützung ihrer Auffassung, die Zurechnung sei nicht möglich, führt Commerz die Schlussanträge von Generalanwalt Keus vor dem vorlegenden Gericht an, in denen dieser die Ansicht vertritt, der Gerichtshof habe im Urteil Frankreich/Kommission (EU:C:2002:294) offensichtlich eine tatsächliche und sachliche Beteiligung des Staates am Erlass der betreffenden Maßnahmen vor Augen gehabt. Auf der Grundlage dieser Auslegung des genannten Urteils trägt Commerz vor, eine solche tatsächliche und sachliche Beteiligung des Staates an der Übernahme der fraglichen Bürgschaften sei unmöglich, wenn diese ultra vires übernommen würden. Anders ausgedrückt: Inwiefern ließe sich im vorliegenden Fall sagen, dass „die fragliche Einrichtung die beanstandete [Maßnahme] nicht treffen konnte, ohne den Anforderungen der öffentlichen Stellen Rechnung zu tragen“(16), obwohl feststehe, dass diese über die Übernahme der fraglichen Bürgschaften nicht einmal auf dem Laufenden waren?

83.      Auch wenn ich wie Generalanwalt Keus der Auffassung bin, dass die Beteiligung des Staates konkret sein, d. h. die fragliche Beihilfemaßnahme(17) und nicht die Tätigkeit des öffentlichen Unternehmens allgemein betreffen muss, glaube ich nicht, dass diese Feststellung für die Beantwortung der Frage nach der Zurechenbarkeit von Maßnahmen nützlich ist, die von einem Geschäftsführer eines öffentlichen Unternehmens unter Missachtung der Vorschriften von dessen Satzung getroffen worden sind.

84.      Wie Generalanwalt Keus ausführt, betreffen die Hinweise, die der Gerichtshof in den Rn. 55 bis 57 seines Urteils Frankreich/Kommission (EU:C:2002:294) gegeben hat, nämlich eher die Beweisschwelle für das Vorliegen der tatsächlichen Kontrolle, d. h. die Feststellung der Anhaltspunkte, aus denen sich die Beteiligung des Staates ableiten lässt, als den eigentlichen Beweisgegenstand, d. h. die Beteiligung des Staates am Erlass der fraglichen Maßnahmen. Dies geht klar aus Rn. 53 dieses Urteils hervor, in der der Gerichtshof entschieden hat, dass es nicht erforderlich ist, „auf der Grundlage einer genauen Anweisung [nachzuweisen], dass die Behörden das öffentliche Unternehmen konkret veranlasst haben, die fraglichen Beihilfemaßnahmen zu treffen“.

85.      Schließlich kann es sich als nützlich erweisen, die Grundsätze des Völkerrechts, die die Zurechnung völkerrechtswidriger Handlungen an den Staat betreffen, insbesondere Art. 7 der Artikel der Völkerrechtskommission über die Verantwortlichkeit der Staaten für völkerrechtswidrige Handlungen (im Folgenden: Artikel über die Verantwortlichkeit der Staaten)(18) in Bezug zu nehmen, der die Überschrift „Kompetenzüberschreitung oder weisungswidriges Handeln“ trägt.

86.      Dieser Artikel bestimmt: „Das Verhalten eines Staatsorgans oder einer zur Ausübung hoheitlicher Befugnisse ermächtigten Person oder Stelle ist als Handlung des Staates im Sinne des Völkerrechts zu werten, wenn das Organ, die Person oder die Stelle in dieser Eigenschaft handelt, selbst wenn sie ihre Kompetenzen überschreiten oder Weisungen zuwiderhandeln.“(19)

87.      Diese Regel ist in der internationalen Rechtsprechung(20) gefestigt und von der Völkerrechtskommission in ihrem Kommentar zu den Artikeln über die Verantwortlichkeit der Staaten(21) anerkannt worden.

88.      Im vorliegenden Fall ist – selbst unter Außerachtlassung der Tatsache, dass der Aufsichtsrat von HbR die für den Vehicles-Kredit übernommene Bürgschaft am 22. Juni 2004 nachträglich gebilligt hat – klar, dass Herr Scholten in seiner Eigenschaft als einziger Geschäftsführer von HbR gehandelt hat und weder die Satzung noch der Gesellschaftszweck von HbR die Übernahme von Bürgschaften wie den vorliegenden untersagten, hinsichtlich deren Commerz ohne Weiteres von einer Verpflichtung von HbR als solcher ausgehen konnte. Dies gilt umso mehr, als Commerz Rechtsgutachten erhalten hat, die ihr die Gültigkeit der übernommenen Bürgschaften bestätigten(22).

89.      Zwar hat der Gerechtshof te ’s‑Gravenhage entschieden, dass diese Rechtsgutachten bewusst falsch erstellt worden seien. Aber selbst wenn auf dieser Grundlage angenommen würde, dass Commerz über die Ungültigkeit der Bürgschaften im Verhältnis zur internen Satzung von GHR/HbR auf dem Laufenden war oder hätte sein können, dürfte sich dies in keiner Weise auf die Zurechenbarkeit der Bürgschaften an den Staat auswirken.

90.      Schließlich bin ich wie HbR und die niederländische Regierung der Auffassung, dass die Wirksamkeit der Vorschriften im Bereich der staatlichen Beihilfen beeinträchtigt werden könnte, wenn deren Anwendung allein mit der Begründung ausgeschlossen werden könnte, dass der satzungsmäßige Geschäftsführer eines öffentlichen Unternehmens im Rahmen des Erlasses einer Beihilfemaßnahme die Bestimmungen der Satzung dieses Unternehmens nicht beachtet hatte oder sich möglicherweise, wie im vorliegenden Fall, der Bestechlichkeit schuldig gemacht hat.

91.      Die Zurechnung einer Beihilfemaßnahme an den Staat hat nämlich einen rein objektiven Charakter, bei dem der subjektive Begriff des Verschuldens seiner Organe oder Bediensteten oder deren Motive keine Rolle spielen. Wäre dies anders, würden die Wirksamkeit und die einheitliche Anwendung des Rechts der staatlichen Beihilfen deutlich abgeschwächt.

92.      Daher ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Bürgschaften wie die in Rede stehenden, wenn sie staatliche Beihilfen darstellen und vom einzigen Geschäftsführer eines öffentlichen Unternehmens übernommen werden, dem Staat selbst dann zuzurechnen sind, wenn der genannte Geschäftsführer in dieser Eigenschaft handelnd seine Befugnis überschritten oder den Vorschriften der Satzung des erwähnten Unternehmens zuwidergehandelt hat.

93.      Abgesehen von diesem Ergebnis, das auf bloßen Indizien beruht, die aus dem Urteil Frankreich/Kommission (EU:C:2002:294) übernommen worden sind, möchte ich noch hinzufügen, dass ich ernsthafte Zweifel daran habe, dass HbR, die Gemeinde und die niederländische Regierung nicht den geringsten Verdacht in Bezug auf die Existenz der von Herrn Scholten zugunsten eines auf dem Gebiet der Herstellung und Lieferung von Kriegsmaterial tätigen Industriekonzerns übernommenen Bürgschaften gehabt haben.

94.      Der tatsächliche Rahmen der vorliegenden Rechtssache ist nämlich sehr speziell. Insoweit verweise ich auf:

–        die sehr erstaunliche Auffassung einer Regierung, für die die in Rede stehende Maßnahme nicht durch überwiegend wirtschaftliche Erwägungen gerechtfertigt ist und eine staatliche Beihilfe darstellt, die ihr daher zuzurechnen ist (auch wenn diese Auffassung es ermöglicht, die Bürgschaften nicht zu bedienen);

–        die in die Präambel des U-Boot-Vertrags übernommenen Tatsachenbehauptungen, die auf den Versuch einer Lieferung von U-Boot-Technologie an Taiwan, die Drohung der Volksrepublik China, Sanktionen gegen die Niederlande, einschließlich der Umleitung ihres Seeverkehrs über einen anderen Hafen als Rotterdam, zu verhängen, die Kooperation des RDM-Konzerns mit den amerikanischen Behörden, um die Lieferung von U‑Boot-Technologie an Taiwan auf nicht-niederländische Gesellschaften des RDM-Konzerns zu verlagern, sowie auf die Verhandlungen zwischen diesem Konzern und der niederländischen Regierung über diese Lieferung Bezug nehmen;

–        die Einholung von Rechtsgutachten durch Commerz, mit denen die Rechtmäßigkeit der fraglichen Bürgschaften bescheinigt wird, die die niederländischen Gerichte aber als bewusst falsch erstellt angesehen haben, und

–        die nachträgliche Billigung der Bürgschaft im Zusammenhang mit dem Vehicles-Kredit durch den Aufsichtsrat von HbR.

95.      Diese Umstände sind äußerst merkwürdig. Generalanwältin Kokott hat sie als „mysteriös“(23) bezeichnet.

VI – Ergebnis

96.      Ich schlage dem Gerichtshof daher vor, die vom Hoge Raad der Nederlanden zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:

Bürgschaften wie die in Rede stehenden sind, wenn sie staatliche Beihilfen darstellen und vom einzigen Geschäftsführer eines öffentlichen Unternehmens übernommen werden, dem Staat selbst dann zuzurechnen, wenn der genannte Geschäftsführer in dieser Eigenschaft handelnd seine Befugnis überschritten oder den Vorschriften der Satzung des erwähnten Unternehmens zuwidergehandelt hat.


1 – Originalsprache: Französisch.


2Liber Ecclesiastes, Kapitel 1, Vers 10.


3 – C‑275/10, EU:C:2011:814.


4 – C‑275/10, EU:C:2011:354.


5 – C‑482/99, EU:C:2002:294.


6 – ECLI:NL:RBROT:2010:BO0530.


7 – Vgl. Mitteilung der Kommission über die Anwendung der Artikel 87 und 88 des EG-Vertrags auf staatliche Beihilfen in Form von Haftungsverpflichtungen und Bürgschaften (ABl. 2008, C 155, S. 10, Nr. 3.1.).


8 – Diese Frage ist in der Rechtssache Residex Capital IV (EU:C:2011:814) nicht erörtert worden, ebenso wenig übrigens wie die Frage der Zurechenbarkeit der zugunsten der RDM Aerospace NV übernommenen Bürgschaften an den Staat, was dazu geführt hat, sie als staatliche Beihilfen zu qualifizieren.


9 – Vgl. Nr. 28 der vorliegenden Schlussanträge.


10 – Er fragte u. a., ob „… aus den schriftlichen Erklärungen von HbR … zum einen hervor[geht], dass deren Gesellschaftszweck u. a. die Stärkung ‚des Industriekomplexes von Rotterdam‘ sowie ‚die Entwicklung, den Bau, die Leitung und den Betrieb des Hafens und des Industriegebiets von Rotterdam im weitesten Sinne des Begriffs‘ beinhaltet. Zum anderen wird in Rn. 17 der genannten Erklärungen festgestellt, dass im Ausgangsverfahren geltend gemacht worden sei, die Übernahme der Bürgschaften sei sowohl durch das Ziel, die Arbeitsplätze im bedeutenden verarbeitenden Gewerbe des Hafens zu sichern, als auch durch einen Vertrag vom 28. Dezember 2002 gerechtfertigt, der den Verzicht des RDM-Konzerns, U-Boot-Technologie an Taiwan zu liefern, betreffe und auch in den Nrn. 3.3 (II) und 3.4 des Vorabentscheidungsersuchens erwähnt werde. Commerz, HbR und die niederländische Regierung werden gebeten, in der mündlichen Verhandlung auszuführen, ob aufgrund der genannten oder weiterer Umstände Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Übernahme der streitigen Bürgschaften im Interesse von HbR und/oder der Gemeinde … und/oder des niederländischen Staates lag. Insbesondere werden sie gebeten, die Genauigkeit der in den Erwägungsgründen A bis C des genannten Vertrags angeführten Umstände zu kommentieren.“


11 – Urteile Frankreich/Kommission (EU:C:2002:294, Rn. 24) sowie Association Vent De Colère u. a. (C‑262/12, EU:C:2013:851, Rn. 16).


12 – Urteil Frankreich/Kommission (EU:C:2002:294, Rn. 52).


13 – Urteil Frankreich/Kommission (EU:C:2002:294, Rn. 53).


14 – Diese Bürgschaften sind Gegenstand eines Urteils, nämlich des Urteils Residex Capital IV (EU:C:2011:814), gewesen.


15 – Urteil Frankreich/Kommission (EU:C:2002:294, Rn. 56).


16 – Urteil Frankreich/Kommission (EU:C:2002:294, Rn. 55).


17 – Vgl. in diesem Sinne Urteil Association Vent De Colère u. a. (EU:C:2013:851, Rn. 17).


18 – UNGA A/CN.4/L.602/Rev.1. Die Artikel über die Verantwortlichkeit der Staaten wurden von der Generalversammlung der Vereinten Nationen zur Anwendung auf die Staaten empfohlen (vgl. UNGA A/RES/56/83, UNGA A/RES/59/35 und UNGA A/RES/62/61).


19 – Hervorhebung nur hier.


20 – Vgl. Vereinte Nationen, Maal Case, Reports of International Arbitral Awards, Bd. X (1903), S. 732 und 733; La Masica Case (Great Britain, Honduras) vom 7. Dezember 1916, Reports of International Arbitral Awards, Bd. XI (1916), S. 560; Thomas H. Youmans (USA) v. United Mexican States vom 23. November 1926, Reports of International Arbitral Awards, Bd. IV (1926), S. 116; Francisco Mallén (United Mexican States) v. USA vom 27. April 1927, Reports of International Arbitral Awards, Bd. IV (1927), S. 177; Charles S. Stephens and Bowman Stephens (USA) v. United Mexican States vom 17. Juli 1927, Reports of International Arbitral Awards, Bd. IV (1927), S. 267 und 268; William T. Way (USA) v. United Mexican States vom 8. Oktober 1928, Reports of International Arbitral Awards, Bd. IV (1928), S. 400 und 401, und Estate of Jean-Baptiste Caire v. United Mexican States vom 7. Juni 1929, Reports of International Arbitral Awards, Bd. V (1929), S. 531. Dieser Grundsatz ist auch Teil der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (vgl. EGMR, Urteil Ilaşcu u. a. / Moldau und Russland vom 8. Juli 2004, Recueil des arrêts et décisions 2004-VII, S. 90 und 106), des Inter-American Court of Human Rights (vgl. CIDH, Urteil Velásquez-Rodríguez v. Honduras vom 29. Juli 1988, Serie C, Nr. 4 [1989], Rn. 169 bis 172), und des Beschwerdegerichts USA-Iran (vgl. Petrolane, Inc. v. Islamische Republik Iran [1991] 27 Iran-U.S.C.T.R. 64, S. 92).


21 – Rn. 4 bis 6 des Kommentars zu Art. 7 der Artikel über die Verantwortlichkeit der Staaten.


22 – Vgl. Nrn. 19 und 21 der vorliegenden Schlussanträge.


23 – Vgl. Schlussanträge in der Rechtssache Residex Capital IV (EU:C:2011:354, Nr. 2).