Language of document : ECLI:EU:C:2022:1028

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Siebte Kammer)

22. Dezember 2022(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Humanarzneimittel – Richtlinie 89/105/EWG – Transparenz von Maßnahmen zur Regelung der Preisfestsetzung bei Arzneimitteln für den menschlichen Gebrauch und ihre Einbeziehung in die staatlichen Krankenversicherungssysteme – Art. 4 – Preisstopp für alle Arzneimittel oder für bestimmte Arzneimittelkategorien – Nationale Maßnahme, die nur bestimmte einzelne Arzneimittel betrifft – Festsetzung eines Höchstpreises für den Verkauf bestimmter Arzneimittel an Gesundheitseinrichtungen“

In der Rechtssache C‑20/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Conseil d’État (Staatsrat, Frankreich) mit Entscheidung vom 30. Dezember 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 10. Januar 2022, in dem Verfahren

Syndicat Les Entreprises du médicament (LEEM)

gegen

Ministre des Solidarités et de la Santé

erlässt

DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin M. L. Arastey Sahún sowie der Richter N. Wahl (Berichterstatter) und J. Passer,

Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        des Syndicat Les Entreprises du médicament (LEEM), vertreten durch E. Nigri, Avocat,

–        der französischen Regierung, vertreten durch G. Bain und J.‑L. Carré als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Sipos und C. Valero als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 der Richtlinie 89/105/EWG des Rates vom 21. Dezember 1988 betreffend die Transparenz von Maßnahmen zur Regelung der Preisfestsetzung bei Arzneimitteln für den menschlichen Gebrauch und ihre Einbeziehung in die staatlichen Krankenversicherungssysteme (ABl. 1989, L 40, S. 8).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Verband Les Entreprises du médicament (LEEM) und dem Ministre des Solidarités et de la Santé (Minister für Solidarität und Gesundheit, Frankreich) über die Gültigkeit des Décret no 2020‑1437, du 24 novembre 2020, relatif aux modalités de fixation du prix maximal de vente aux établissements de santé d’un produit de santé (Dekret Nr. 2020‑1437 vom 24. November 2020 über die Modalitäten zur Festsetzung des Höchstpreises für den Verkauf eines Gesundheitserzeugnisses an Gesundheitseinrichtungen, JORF vom 25. November 2020, Text Nr. 29, im Folgenden: streitiges Dekret).

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Im fünften und im sechsten Erwägungsgrund der Richtlinie 89/105 heißt es:

„Ziel dieser Richtlinie ist es, einen Überblick über die einzelstaatlichen Vereinbarungen zur Preisfestsetzung zu erhalten, einschließlich ihres Funktionierens in bestimmten Fällen und aller ihnen zugrundeliegenden Kriterien, und sie allen Teilnehmern am Arzneimittelmarkt in den Mitgliedstaaten allgemein zugänglich zu machen. …

Als erster Schritt zur Beseitigung dieser Unterschiede erweist sich die Festlegung einer Reihe von Anforderungen als dringend notwendig, die darauf abzielen, sicherzustellen, dass alle Betroffenen überprüfen können, dass die einzelstaatlichen Maßnahmen keine mengenmäßigen Beschränkungen für die Ein- oder Ausfuhr oder Maßnahmen gleicher Wirkung darstellen. Diese Anforderungen beeinflussen jedoch nicht die Politik der Mitgliedstaaten, die für die Preisfestsetzung für Arzneimittel den Regeln des freien Wettbewerbs den Vorrang geben. Diese Anforderungen beeinflussen auch die einzelstaatliche Politik in Bezug auf die Preisfestsetzung und das Sozialversicherungssystem nur in dem Maße, in dem dies für die Transparenz im Sinne dieser Richtlinie notwendig ist.“

4        Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie lautet:

„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass alle einzelstaatlichen Maßnahmen in Form von Rechts- oder Verwaltungsvorschriften zur Kontrolle der Preise von Arzneimitteln für den menschlichen Gebrauch oder zur Einschränkung der unter ihre staatlichen Krankenversicherungssysteme fallenden Arzneimittel die Anforderungen dieser Richtlinie erfüllen.“

5        Art. 2 Nr. 1 dieser Richtlinie bestimmt:

„Ist das Inverkehrbringen eines Arzneimittels nur dann zulässig, wenn die zuständigen Behörden des betreffenden Mitgliedstaats den Preis dieses Erzeugnisses genehmigt haben, so gilt Folgendes:

1.      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass eine Entscheidung über den Preis, der für das Arzneimittel verlangt werden kann, innerhalb von neunzig Tagen nach Eingang des Antrags, der vom Inhaber einer Genehmigung für das Inverkehrbringen gemäß den Vorschriften des betreffenden Mitgliedstaats gestellt worden ist, getroffen und dem Antragsteller mitgeteilt wird. …“

6        Art. 3 Nr. 1 der Richtlinie führt aus:

„Ist eine Erhöhung des Preises für ein Arzneimittel nur nach vorheriger Genehmigung der zuständigen Behörden zulässig, so gilt unbeschadet des Artikels 4 folgendes:

1.      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass eine Entscheidung über einen Antrag auf Erhöhung des Preises eines Arzneimittels, der vom Inhaber einer Genehmigung für das Inverkehrbringen gemäß den Vorschriften des betreffenden Mitgliedstaates gestellt worden ist, innerhalb von neunzig Tagen nach Eingang des Antrags getroffen und dem Antragsteller mitgeteilt wird. Der Antragsteller macht den zuständigen Behörden sachdienliche Angaben, die insbesondere Einzelheiten über die Ereignisse enthalten, die nach der letzten Preisfestsetzung für das Arzneimittel eingetreten sind und nach Ansicht des Antragstellers die beantragte Preiserhöhung rechtfertigen. …“

7        Art. 4 der Richtlinie 89/105 sieht vor:

„(1)      Verfügen die zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats einen Preisstopp für alle Arzneimittel oder für bestimmte Arzneimittelkategorien, so überprüft dieser Mitgliedstaat mindestens einmal jährlich, ob nach der gesamtwirtschaftlichen Lage die Beibehaltung des Preisstopps ohne Änderungen gerechtfertigt ist. Innerhalb von neunzig Tagen nach Beginn dieser Überprüfung erklären die zuständigen Behörden, ob und welche Preiserhöhungen oder ‑senkungen genehmigt werden.

(2)      In Ausnahmefällen kann eine Person, die Inhaber einer Genehmigung für das Inverkehrbringen eines Arzneimittels ist, eine Abweichung von einem Preisstopp beantragen, wenn dies durch besondere Gründe gerechtfertigt ist. …

…“

8        Art. 6 der Richtlinie sieht vor:

„Ist ein Arzneimittel durch das staatliche Krankenversicherungssystem nur gedeckt, wenn die zuständigen Behörden beschlossen haben, das betreffende Arzneimittel in eine Positivliste der unter das staatliche Krankenversicherungssystem fallenden Arzneimittel aufzunehmen, so gilt Folgendes:

1.      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass eine Entscheidung über einen Antrag auf Aufnahme eines Arzneimittels in die Liste der unter das Krankenversicherungssystem fallenden Arzneimittel, der vom Inhaber einer Genehmigung für das Inverkehrbringen gemäß den Vorschriften des betreffenden Mitgliedstaats gestellt worden ist, innerhalb von neunzig Tagen nach Eingang des Antrags getroffen und dem Antragsteller mitgeteilt wird. …

2.      Eine Entscheidung, ein Arzneimittel nicht in die Liste der unter das Krankenversicherungssystem fallenden Erzeugnisse aufzunehmen, muss eine auf objektiven und überprüfbaren Kriterien beruhende Begründung enthalten; gegebenenfalls sind zugrundeliegende Stellungnahmen oder Empfehlungen von Sachverständigen hierin anzugeben. Der Antragsteller ist über Rechtsmittel und Rechtsmittelfristen zu belehren.

3.      Vor dem in Artikel 11 Absatz 1 genannten Zeitpunkt veröffentlichen die Mitgliedstaaten in einer geeigneten amtlichen Bekanntmachung die Kriterien, die die zuständigen Behörden bei ihrer Entscheidung, ein Arzneimittel in die Liste aufzunehmen oder nicht, zu beachten haben, und teilen sie der [Europäischen] Kommission mit.

4.      Innerhalb eines Jahres nach dem in Artikel 11 Absatz 1 genannten Zeitpunkt veröffentlichen die Mitgliedstaaten in einer geeigneten amtlichen Bekanntmachung eine vollständige Liste der Erzeugnisse, die unter ihr Krankenversicherungssystem fallen, sowie deren von ihren zuständigen Behörden festgelegte Preise und übermitteln sie der Kommission. Diese Informationen werden mindestens einmal jährlich auf den neuesten Stand gebracht.

5.      Eine Entscheidung, ein Erzeugnis aus der Liste der unter das Krankenversicherungssystem fallenden Erzeugnisse zu streichen, muss eine auf objektiven und überprüfbaren Kriterien beruhende Begründung enthalten. Sie ist der zuständigen Person gegebenenfalls mit Angabe zugrundeliegender Stellungnahmen oder Empfehlungen von Sachverständigen sowie unter Belehrung über Rechtsmittel und Rechtsmittelfristen mitzuteilen.

6.      Eine Entscheidung, eine Arzneimittelkategorie aus der Liste der unter das Krankenversicherungssystem fallenden Erzeugnisse zu streichen, muss eine auf objektiven und überprüfbaren Kriterien beruhende Begründung enthalten; sie ist in einer geeigneten amtlichen Bekanntmachung zu veröffentlichen.“

 Französisches Recht

9        Art. L. 162-16-4-3 des Code de la sécurité sociale (Gesetzbuch über die soziale Sicherheit) in der durch die Loi no 2019‑1446, du 24 décembre 2019, de financement de la sécurité sociale pour 2020 (Gesetz Nr. 2019‑1446 vom 24. Dezember 2019 über die Finanzierung der sozialen Sicherheit für das Jahr 2020, JORF vom 27. Dezember 2019, Text Nr. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Gesetzbuch über die soziale Sicherheit) bestimmt:

„I. –      Die für das Gesundheitswesen und die soziale Sicherheit zuständigen Minister können im Erlasswege für bestimmte Arzneimittel … oder für bestimmte Gesundheitserzeugnisse … einen Höchstpreis für den Verkauf an Gesundheitseinrichtungen festsetzen, wenn mindestens einer der folgenden Fälle vorliegt:

1°      im Fall der Gefahr ungerechtfertigter Ausgaben, insbesondere im Hinblick auf eine erhebliche Erhöhung der festgestellten Verkaufspreise oder im Hinblick auf die Preise vergleichbarer Gesundheitserzeugnisse;

2°      im Fall von Gesundheitserzeugnissen, die als Einzelstück oder unter Berücksichtigung ihres Gesamtvolumens für bestimmte Einrichtungen in vorhersehbarer oder festgestellter Weise besonders kostspielig sind.

II. –      Der in I vorgesehene Höchstpreis wird festgesetzt, nachdem dem Unternehmen Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben wurde:

III. –      Die Durchführungsbestimmungen zu diesem Artikel werden per Dekret nach Anhörung des Conseil d’État [Staatsrat] festgesetzt.“

10      In Art. R. 163-11-2 des Gesetzbuchs über die soziale Sicherheit, der durch Art. 1 des streitigen Dekrets eingeführt wurde, heißt es:

„I. –      Beabsichtigen die für Gesundheit und soziale Sicherheit zuständigen Minister, gemäß Art. L. 162‑16‑4‑3 für ein Fertigarzneimittel oder für ein anderes Gesundheitserzeugnis einen Höchstpreis für den Verkauf an Gesundheitseinrichtungen festzusetzen, teilen sie dies den das betroffene Gesundheitserzeugnis anbietenden Unternehmen in einer Form mit, die die Feststellung erlaubt, wann diese Information ihnen zugegangen ist. Sie geben die betroffenen Gesundheitserzeugnisse, die Gründe für die Festsetzung eines Höchstverkaufspreises und die Höhe der avisierten Preise genau an.

II. –      Die gemäß Art. L. 162‑16‑4‑3 festgesetzten Höchstverkaufspreise können durch Erlass der für Gesundheit und soziale Sicherheit zuständigen Minister entweder auf Antrag des das betroffene Gesundheitserzeugnis anbietenden Unternehmens oder auf Initiative der Minister folgendermaßen geändert werden:

1.      Wird die Änderung infolge einer Initiative der Minister vorgenommen, so geschieht dies gemäß dem in I vorgesehenen Verfahren.

2.      Erfolgt die Preisänderung auf Antrag des anbietenden Unternehmens, fügt dieses seinem an die Minister gerichteten Antrag eine Akte mit den zu dessen Prüfung erforderlichen Informationen bei. …

…“

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

11      Am 25. Januar 2021 erhob der Verband LEEM beim Conseil d’État (Staatsrat, Frankreich) Klage auf Aufhebung des streitigen Dekrets.

12      Das streitige Dekret und Art. L. 162‑16‑4‑3 des Gesetzbuchs über die soziale Sicherheit, zu dessen Durchführung das Dekret dient, enthalten dem Vorabentscheidungsersuchen zufolge eine Regelung zur Festsetzung eines Höchstpreises für den Verkauf bestimmter Arzneimittel oder Gesundheitserzeugnisse. Mit dieser Regelung sollen die erheblichen Preisdiskrepanzen verringert werden, die bei den Gesundheitseinrichtungen bisweilen für ein und dasselbe Arzneimittel, das als zum Gebrauch durch öffentliche Einrichtungen zugelassenes Fertigarzneimittel gelistet ist, oder für ein und dasselbe Gesundheitserzeugnis festgestellt werden können.

13      Der Verband LEEM trägt zur Begründung seiner Klage u. a. vor, dass das streitige Dekret und Art. L. 162‑16‑4‑3 des Gesetzbuchs über die soziale Sicherheit gegen Art. 4 der Richtlinie 89/105 verstießen. Der Mechanismus zur Begrenzung des Verkaufspreises bestimmter Arzneimittel, den dieser Artikel einführe, stelle einen Mechanismus des „Preisstopp[s] für alle Arzneimittel oder für bestimmte Arzneimittelkategorien“ im Sinne von Art. 4 dieser Richtlinie dar. Nach dieser Vorschrift müsse mithin zur Wahrung der Rechtmäßigkeit des genannten Mechanismus für ihn alljährlich eine Bewertung der gesamtwirtschaftlichen Lage angestellt werden und dieser Bewertung zufolge die Beibehaltung des fraglichen Preisstopps gerechtfertigt sein, und dem Anbieter des betroffenen Fertigarzneimittels müsse der Mechanismus die Möglichkeit geben, in Ausnahmefällen, und wenn dies durch besondere Gründe gerechtfertigt sei, eine Abweichung von diesem Preisstopp zu beantragen.

14      Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts hängen die Beurteilung des Klagegrundes, wonach ein Verstoß gegen Art. 4 der Richtlinie 89/105 vorliege, und damit die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits davon ab, ob der in diesem Art. 4 verwendete Begriff „Preisstopp für alle Arzneimittel oder für bestimmte Arzneimittelkategorien“ dahin auszulegen ist, dass er auf eine Maßnahme Anwendung findet, deren Zweck in der Kontrolle der Preise bestimmter einzelner Arzneimittel besteht. Der Conseil d’État (Staatsrat) fasst nämlich den durch Art. L. 162‑16‑4‑3 des Gesetzbuchs über die soziale Sicherheit eingeführten Mechanismus zur Begrenzung des Preises bei einem Verkauf an Gesundheitseinrichtungen als eine Regelung auf, die nur bestimmte einzelne Arzneimittel betreffe und die folglich nicht zur Anwendung auf alle Arzneimittel oder auch nur auf bestimmte Arzneimittelkategorien bestimmt sei.

15      Außerdem scheine es vorliegend ohne Bedeutung zu sein, mindestens einmal jährlich durch eine Bewertung der gesamtwirtschaftlichen Lage die unveränderte Beibehaltung des in Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 89/105 vorgesehenen Preisstopps zu rechtfertigen, da eine nach Art. L. 162‑16‑4‑3 erlassene Maßnahme nicht gesamtwirtschaftlicher Art sei, sondern auf den festgestellten Verkaufspreisen des betreffenden Arzneimittels beruhe, das isoliert oder im Verhältnis zu vergleichbaren Arzneimitteln betrachtet werde. In Ausnahmefällen, wenn dies durch besondere Gründe gerechtfertigt sei, gemäß Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie dem Inhaber einer Genehmigung für das Inverkehrbringen eines Arzneimittels die Möglichkeit zu bieten, eine Abweichung von dem Preisstopp zu beantragen, scheine vorliegend keinem Zweck zu dienen, weil es sich bei einer nach Art. L. 162-16-4-3 erlassenen Maßnahme um eine Einzelfallentscheidung handele.

16      Unter diesen Umständen hat der Conseil d’État (Staatsrat) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist Art. 4 der Richtlinie 89/105 dahin auszulegen, dass der Begriff „Preisstopp für alle Arzneimittel oder für bestimmte Arzneimittelkategorien“ auf eine Maßnahme Anwendung findet, deren Zweck in der Kontrolle der Arzneimittelpreise besteht, die aber nur bestimmte einzelne Arzneimittel betrifft und nicht für alle Arzneimittel oder auch nur für bestimmte Arzneimittelkategorien gelten soll, wobei die Garantien, die dieser Artikel an das Bestehen einer Maßnahme des Preisstopps, wie er sie definiert, knüpft, für eine solche Maßnahme ohne Bedeutung bzw. zwecklos zu sein scheinen?

 Zur Vorlagefrage

17      Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 89/105 dahin auszulegen ist, dass der Begriff „Preisstopp für alle Arzneimittel oder für bestimmte Arzneimittelkategorien“ auf eine Maßnahme Anwendung findet, deren Zweck in der Kontrolle der Preise bestimmter einzelner Arzneimittel besteht.

18      Erstens sind nach ständiger Rechtsprechung bei der Auslegung einer Unionsvorschrift nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (Urteil vom 30. Juni 2022, Allianz Elementar Versicherung, C‑652/20, EU:C:2022:514, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).

19      In Bezug auf den Wortlaut von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 89/105 ist darauf hinzuweisen, dass diese Vorschrift Preisstoppmaßnahmen betrifft, die von den Behörden eines Mitgliedstaats für „alle Arzneimittel oder für bestimmte Arzneimittelkategorien“ verfügt werden. Da der Begriff „Arzneimittelkategorien“ in der Richtlinie nicht definiert wird, ist auf dessen Sinn nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch abzustellen (vgl. entsprechend Urteil vom 16. Juli 2020, AFMB u. a., C‑610/18, EU:C:2020:565, Rn. 52 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

20      Insoweit ist zu betonen, dass der Begriff „Kategorie“ im allgemeinen Sprachgebrauch eine Gesamtheit von Gegenständen meint, die ein oder mehrere gemeinsame Merkmale aufweisen (vgl. entsprechend Urteil vom 12. Oktober 2017, Shields & Sons Partnership, C‑262/16, EU:C:2017:756, Rn. 47). Somit fallen unter den Begriff „Arzneimittelkategorien“ im Sinne von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 89/105 keine einzelnen Arzneimittel, sondern nur Gruppen von Arzneimitteln, die mindestens ein gemeinsames Merkmal aufweisen.

21      Zum Kontext, in den sich Art. 4 der Richtlinie 89/105 einfügt, und den mit dieser Richtlinie verfolgten Zielen ist festzustellen, dass die Richtlinie vom Gedanken eines minimalen Einwirkens auf die mitgliedstaatliche Organisation der internen Sozialversicherungspolitiken getragen ist (Urteil vom 14. Januar 2010, AGIM u. a., C‑471/07 und C‑472/07, EU:C:2010:9, Rn. 16 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). Gemäß dem sechsten Erwägungsgrund dieser Richtlinie beeinflussen die sich aus ihr ergebenden Anforderungen die Politik der Mitgliedstaaten betreffend die Arzneimittelpreisfestsetzung sowie die einzelstaatliche Politik in Bezug auf Preisfestsetzung und Sozialversicherungssystem nur in dem Maße, in dem dies für die Transparenz im Sinne der Richtlinie notwendig ist.

22      Folglich ist der Begriff „Preisstopp für alle Arzneimittel oder für bestimmte Arzneimittelkategorien“ im Sinne von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 89/105 dahin auszulegen, dass er sich auf alle Arzneimittel oder auf Arzneimittelgruppen, die mindestens ein gemeinsames Merkmal haben, bezieht und damit Einzelmaßnahmen ausschließt, mit denen für einzelne Arzneimittel ein Preisstopp verfügt wird.

23      Zweitens findet eine solche Auslegung von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 89/105 in der Systematik dieser Bestimmung ihre Bestätigung.

24      Denn die Mitgliedstaaten sind gemäß dieser Vorschrift, wenn sie „einen Preisstopp für alle Arzneimittel oder für bestimmte Arzneimittelkategorien [verfügen]“, dazu verpflichtet, zu überprüfen, „ob nach der gesamtwirtschaftlichen Lage die Beibehaltung des Preisstopps … gerechtfertigt ist“. Wie aber sowohl die französische Regierung als auch die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen betonen, ergibt eine solche Verpflichtung zur Überprüfung der gesamtwirtschaftlichen Lage nur bei Maßnahmen einen Sinn, die alle Arzneimittel oder Arzneimittelkategorien betreffen. Die Beibehaltung eines Preisstopps für ein einzelnes Arzneimittel kann nicht mit der gesamtwirtschaftlichen Lage gerechtfertigt werden, weil eine solche Maßnahme keine gesamtwirtschaftliche Wirkung hervorzurufen vermag. Folglich bedeutet diese Verpflichtung zwangsläufig, dass Preisstoppmaßnahmen für einzelne Medikamente nicht unter Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 89/105 fallen.

25      Dass Art. 4 Abs. 2 dieser Richtlinie die Möglichkeit vorsieht, einen Antrag zu stellen, um von einem Preisstopp abzuweichen, bestätigt im Übrigen, dass nach der Intention des Gesetzgebers der Europäischen Union die einzelne Arzneimittel betreffenden Preisstoppmaßnahmen vom Anwendungsbereich dieses Art. 4 ausgenommen sind. Anders als eine Befreiung setzt nämlich eine Abweichung einen differenzierten und individualisierten Ansatz voraus, nach dem für den Antragsteller, wenn er bestimmte Voraussetzungen erfüllt, die Anforderungen einer allgemeinen Regelung entfallen.

26      Somit lässt die Systematik von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 89/105 nicht den Schluss zu, dass sich unter den Begriff „Arzneimittelkategorie“ im Sinne dieser Bestimmung Maßnahmen zum Preisstopp fassen lassen, die nicht in Bezug auf eine Arzneimittelkategorie, sondern hinsichtlich eines einzelnen Arzneimittels erlassen wurden.

27      Drittens und letztens ergibt eine systematische Betrachtung dieser Richtlinie, dass der Unionsgesetzgeber, wenn er sich auf Einzelfallmaßnahmen zum Preisstopp beziehen wollte, dies ausdrücklich angegeben hat.

28      Art. 2 und 3 der Richtlinie – in denen es einerseits um Situationen geht, in denen das Inverkehrbringen eines Arzneimittels einer vorherigen Genehmigung seines Preises bedarf, und andererseits um Situationen, in denen die Erhöhung des Preises für ein Arzneimittel nur nach vorheriger Genehmigung zulässig ist – betreffen insoweit den „Preis, der für das Arzneimittel verlangt werden kann“, und den „Preis … für ein Arzneimittel“. Folglich wollte der Unionsgesetzgeber jeden Zweifel daran ausräumen, dass diese Artikel nur auf einzelne Arzneimittel betreffende Maßnahmen anwendbar sind.

29      Überdies hat der Unionsgesetzgeber, wenn eine Bestimmung der Richtlinie 89/105 sowohl Preisstoppmaßnahmen mit allgemeiner Geltung als auch Einzelfallmaßnahmen zum Preisstopp erfassen soll, darauf geachtet, dass sich dies dem Wortlaut der fraglichen Bestimmung klar entnehmen lässt. So geht es in Art. 6 der Richtlinie, der die Verfahrensvorschriften festlegt, die bei der Aufnahme von Arzneimitteln in die Liste der unter das Krankenversicherungssystem fallenden Arzneimittel zu beachten sind, in den Abs. 1 bis 5 um die Anträge auf Aufnahme „eines Arzneimittels“ während Abs. 6 besondere Bestimmungen für Entscheidungen über die Streichung „eine[r] Arzneimittelkategorie“ aus dieser Liste enthält.

30      Folglich hat der Unionsgesetzgeber mit dem Begriff „Preisstopp für alle Arzneimittel oder für bestimmte Arzneimittelkategorien“ im Sinne von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 89/105 Einzelfallmaßnahmen zum Preisstopp vom Anwendungsbereich dieses Art. 4 ausgenommen.

31      Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 89/105 dahin auszulegen ist, dass der Begriff „Preisstopp für alle Arzneimittel oder für bestimmte Arzneimittelkategorien“ auf eine Maßnahme, deren Zweck in der Kontrolle der Preise bestimmter einzelner Arzneimittel besteht, keine Anwendung findet.

 Kosten

32      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Siebte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 89/105/EWG des Rates vom 21. Dezember 1988 betreffend die Transparenz von Maßnahmen zur Regelung der Preisfestsetzung bei Arzneimitteln für den menschlichen Gebrauch und ihre Einbeziehung in die staatlichen Krankenversicherungssysteme

ist dahin auszulegen,

dass der Begriff „Preisstopp für alle Arzneimittel oder für bestimmte Arzneimittelkategorien“ auf eine Maßnahme, deren Zweck in der Kontrolle der Preise bestimmter einzelner Arzneimittel besteht, keine Anwendung findet.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Französisch.