Language of document : ECLI:EU:C:2011:777

Verbundene Rechtssachen C‑468/10 und C‑469/10

Asociación Nacional de Establecimientos Financieros de Crédito (ASNEF)

und

Federación de Comercio Electrónico y Marketing Directo (FECEMD)

gegen

Administración del Estado

(Vorabentscheidungsersuchen des Tribunal Supremo)

„Verarbeitung personenbezogener Daten – Richtlinie 95/46/EG – Art. 7 Buchst. f – Unmittelbare Wirkung“

Leitsätze des Urteils

1.        Rechtsangleichung – Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten – Richtlinie 95/46 – Vollständige Harmonisierung – Abschließende Liste der Fälle rechtmäßiger Verarbeitung personenbezogener Daten

(Richtlinie 95/46 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 7)

2.        Rechtsangleichung – Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten – Richtlinie 95/46 – Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen für die Verarbeitung personenbezogener Daten

(Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 7 und 8; Richtlinie 95/46 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 5 und 7 Buchst. f)

3.        Rechtsangleichung – Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten – Richtlinie 95/46 – Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten – Umfang

(Richtlinie 95/46 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 5)

4.        Rechtsangleichung – Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten – Richtlinie 95/46 – Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen für die Verarbeitung personenbezogener Daten

(Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 7 und 8; Richtlinie 95/46 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 7 Buchst. f)

5.        Grundrechte – Achtung des Privatlebens – Schutz personenbezogener Daten – Aufgrund der Charta der Grundrechte der Europäischen Union in Kauf genommene Beschränkungen

(Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 7, 8 und 52 Abs. 1)

6.        Handlungen der Organe – Richtlinien – Unmittelbare Wirkung – Voraussetzungen

(Art. 249, Abs. 3 EG; Richtlinie 95/46 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 7 Buchst. f)

1.        Die mit der Richtlinie 95/46 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr angestrebte Harmonisierung der nationalen Rechtsvorschriften ist nicht auf eine Mindestharmonisierung beschränkt, sondern führt zu einer grundsätzlich umfassenden Harmonisierung. Im Hinblick darauf will diese Richtlinie den freien Verkehr personenbezogener Daten sicherstellen, wobei sie zugleich ein hohes Niveau des Schutzes der Rechte und Interessen der von diesen Daten betroffenen Personen gewährleistet. Daher ergibt sich aus diesem Ziel, dass Art. 7 dieser Richtlinie eine erschöpfende und abschließende Liste der Fälle vorsieht, in denen eine Verarbeitung personenbezogener Daten als rechtmäßig angesehen werden kann. Folglich dürfen die Mitgliedstaaten weder neue Grundsätze in Bezug auf die Zulässigkeit der Verarbeitung personenbezogener Daten neben Art. 7 dieser Richtlinie einführen, noch zusätzliche Bedingungen stellen, die die Tragweite eines der in diesem Artikel vorgesehenen Grundsätze verändern würden.

      Diese Auslegung wird nicht durch die Möglichkeit der Mitgliedstaaten nach Art. 5 der Richtlinie 95/46 in Frage gestellt, die Voraussetzungen näher zu bestimmen, unter denen die Verarbeitung personenbezogener Daten rechtmäßig ist. Folglich dürfen die Mitgliedstaaten innerhalb des Ermessensspielraums, über den sie nach Art. 5 der Richtlinie 95/46 verfügen, keine anderen Grundsätze in Bezug auf die Zulässigkeit der Verarbeitung personenbezogener Daten als die in Art. 7 dieser Richtlinie aufgezählten Grundsätze einführen, und auch nicht durch zusätzliche Bedingungen die Tragweite der in diesem Art. 7 vorgesehenen Grundsätze verändern.

(vgl. Randnrn. 29-30, 32-33, 35-36)

2.        Art. 7 Buchst. f der Richtlinie 95/46 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die für die Verarbeitung personenbezogener Daten, die zur Verwirklichung eines berechtigten Interesses, das von dem für diese Verarbeitung Verantwortlichen oder von dem bzw. den Dritten wahrgenommen wird, denen diese Daten übermittelt werden, erforderlich ist, ohne Einwilligung der betroffenen Person nicht nur verlangt, dass deren Grundrechte und Grundfreiheiten nicht verletzt werden, sondern auch, dass diese Daten in öffentlich zugänglichen Quellen enthalten sind, und damit kategorisch und verallgemeinernd jede Verarbeitung von Daten ausschließt, die nicht in solchen Quellen enthalten sind.

Denn zum einen ergibt sich aus dem Ziel dieser Richtlinie, ein gleichwertiges Schutzniveau in allen Mitgliedstaaten sicherzustellen, dass ihr Art. 7 eine erschöpfende und abschließende Liste der Fälle vorsieht, in denen eine Verarbeitung personenbezogener Daten als rechtmäßig angesehen werden kann. Die Mitgliedstaaten dürfen daher weder neue Grundsätze in Bezug auf die Zulässigkeit der Verarbeitung personenbezogener Daten einführen, noch zusätzliche Bedingungen stellen, die die Tragweite eines der in diesem Art. 7 vorgesehenen Grundsätze verändern würden. Außerdem dürfen die Mitgliedstaaten nach Art. 5 der Richtlinie 95/46 auch keine anderen Grundsätze in Bezug auf die Zulässigkeit der Verarbeitung personenbezogener Daten als die in Art. 7 aufgezählten Grundsätze einführen, und auch nicht durch zusätzliche Bedingungen die Tragweite der in diesem Art. 7 vorgesehenen Grundsätze verändern.

Andererseits können die Mitgliedstaaten für die nach Art. 7 Buchst. f dieser Richtlinie erforderliche Abwägung der einander gegenüberstehenden Rechte und Interessen Leitlinien aufstellen. Sie können auch berücksichtigen, dass die Grundrechte der betroffenen Person durch diese Datenverarbeitung unterschiedlich stark beeinträchtigt sein können, je nachdem, ob die in Rede stehenden Daten bereits in öffentlich zugänglichen Quellen enthalten sind oder nicht. In letzterem Fall wird die Beeinträchtigung schwerer wiegen.

Es handelt sich jedoch nicht bloß um eine nähere Bestimmung, sondern um eine nach Art. 7 Buchst. f verbotene zusätzliche Bedingung, wenn eine nationale Regelung die Verarbeitung bestimmter Kategorien personenbezogener Daten ausschließt, indem sie für diese Kategorien das Ergebnis der Abwägung der einander gegenüberstehenden Rechte und Interessen abschließend vorschreibt, ohne Raum für ein Ergebnis zu lassen, das aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalls anders ausfällt.

(vgl. Randnrn. 29-30, 32, 36, 44-49, Tenor 1)

3.        Die Richtlinie 95/46 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr enthält Vorschriften, die durch eine gewisse Flexibilität gekennzeichnet sind, und überlässt es in vielen Fällen den Mitgliedstaaten, die Einzelheiten zu regeln oder zwischen Optionen zu wählen. Es ist somit wichtig, zwischen nationalen Maßnahmen, die zusätzliche Bedingungen vorsehen, mit denen die Tragweite eines in Art. 7 dieser Richtlinie enthaltenen Grundsatzes verändert wird, einerseits und nationalen Maßnahmen, die nur einen dieser Grundsätze näher bestimmen, andererseits zu unterscheiden. Die zuerst genannte Art von nationalen Maßnahmen ist verboten. Nur im Rahmen der zweiten Art von nationalen Maßnahmen verfügen die Mitgliedstaaten nach Art. 5 der Richtlinie über einen Ermessensspielraum.

(vgl. Randnr. 35)

4.        Art. 7 Buchst. f der Richtlinie 95/46 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr sieht zwei kumulative Voraussetzungen vor, damit eine Verarbeitung personenbezogener Daten rechtmäßig ist, nämlich zum einen, dass die Verarbeitung personenbezogener Daten zur Verwirklichung des berechtigten Interesses erforderlich ist, das von dem für die Verarbeitung Verantwortlichen oder von dem bzw. den Dritten wahrgenommen wird, denen die Daten übermittelt werden, und zum anderen, dass nicht die Grundrechte und Grundfreiheiten der betroffenen Person überwiegen. Die zweite dieser Voraussetzungen erfordert eine Abwägung der jeweiligen einander gegenüberstehenden Rechte und Interessen, die grundsätzlich von den konkreten Umständen des betreffenden Einzelfalls abhängt und in deren Rahmen die Person oder die Einrichtung, die die Abwägung vornimmt, die Bedeutung der Rechte der betroffenen Person, die sich aus den Art. 7 und 8 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ergeben, zu berücksichtigen hat.

(vgl. Randnrn. 38, 40)

5.        Die in den Art. 7 und 8 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannte Achtung des Privatlebens hinsichtlich der Verarbeitung personenbezogener Daten erstreckt sich auf jede Information, die eine bestimmte oder bestimmbare natürliche Person betrifft. Allerdings geht aus den Art. 8 Abs. 2 und 52 Abs. 1 der Charta hervor, dass dieses Recht unter bestimmten Voraussetzungen Beschränkungen unterworfen werden kann.

(vgl. Randnr. 42)

6.        Der Einzelne kann sich in all den Fällen, in denen die Bestimmungen einer Richtlinie inhaltlich unbedingt und hinreichend genau sind, vor den nationalen Gerichten gegenüber dem Staat auf diese Bestimmungen berufen, wenn der Staat die Richtlinie nicht fristgemäß oder unzulänglich in nationales Recht umgesetzt hat. Das ist bei Art. 7 Buchst. f der Richtlinie 95/46 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr der Fall. Auch wenn diese Richtlinie den Mitgliedstaaten ein mehr oder weniger großes Ermessen bei der Umsetzung einiger ihrer Bestimmungen einräumt, begründet Art. 7 Buchst. f eine unbedingte Verpflichtung.

(vgl. Randnrn. 51-52, 55, Tenor 2)