Language of document : ECLI:EU:T:2021:586

Rechtssache T-24/19

INC SpA

und

Consorzio Stabile Sis SCpA

gegen

Europäische Kommission

 Urteil des Gerichts (Neunte erweiterte Kammer) vom 15. September 2021

„Staatliche Beihilfen – Italienische Autobahnen – Verlängerung von Konzessionen zum Zweck der Ausführung von Bauarbeiten – Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse – Deckelung der Mautgebühren – Beschluss, keine Einwände zu erheben – Art. 106 Abs. 2 AEUV – Klagen von Wettbewerbern des Begünstigten – Aufgabe des Vorhabens der Beihilfegewährung durch den Mitgliedstaat – Vorhaben, das in der genehmigten Form nicht durchgeführt werden kann – Nichtigerklärung, die den Klägerinnen keinen Vorteil verschafft – Wegfall des Rechtsschutzinteresses – Erledigung“

1.      Nichtigkeitsklage – Natürliche oder juristische Personen – Rechtsschutzinteresse – Erfordernis eines bestehenden und gegenwärtigen Interesses – Beschluss der Kommission, mit dem ohne Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens die Vereinbarkeit einer staatlichen Beihilfe mit dem Binnenmarkt festgestellt wird – Klage von Beteiligten im Sinne von Art. 108 Abs. 2 AEUV – Endgültige und unwiderrufliche Aufgabe der geplanten Beihilfegewährung durch den Mitgliedstaat vor der Verkündung der gerichtlichen Entscheidung – Wegfall des Rechtsschutzinteresses – Erledigung

(Art. 108 Abs. 2 und 3 und Art. 263 Abs. 4 AEUV)

(vgl. Rn. 35‑66, 86‑88, Tenor 1)

2.      Nichtigkeitsklage – Natürliche oder juristische Personen – Rechtsschutzinteresse – Erfordernis eines bestehenden und gegenwärtigen Interesses – Beschluss der Kommission, mit dem ohne Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens die Vereinbarkeit einer staatlichen Beihilfe mit dem Binnenmarkt festgestellt wird – Klage von Beteiligten im Sinne von Art. 108 Abs. 2 AEUV – Endgültige und unwiderrufliche Aufgabe der geplanten Beihilfegewährung durch den Mitgliedstaat vor der Verkündung der gerichtlichen Entscheidung – Rechtsschutzinteresse der Beteiligten angesichts der Gefahr einer Wiederholung der geltend gemachten Rechtswidrigkeit – Fehlen

(Art. 108 Abs. 2 und 3 und Art. 263 Abs. 4 AEUV)

(vgl. Rn. 80‑84)

Zusammenfassung

Im Oktober 2017 meldeten die italienischen Behörden bei der Europäischen Kommission eine Reihe von Maßnahmen an, die einen Investitionsplan für von privaten Betreibern im Rahmen von Konzessionen betriebene italienische Autobahnen betrafen. Dieser Investitionsplan bestand im Wesentlichen in der Verlängerung der Laufzeit bestimmter, den privaten Betreibern Autostrade per l’Italia SpA und Società Iniziative Autostradali e Servizi SpA erteilten Konzessionen, um von ihnen zu tätigende zusätzliche Investitionen zu finanzieren.

Mit Beschluss vom 27. April 2018(1) stellte die Kommission fest, dass bestimmte im Rahmen des angemeldeten Investitionsplans getroffene Maßnahmen staatliche Beihilfen im Sinne von Art. 107 AEUV darstellten, die gleichwohl gemäß Art. 106 Abs. 2 AEUV mit dem Binnenmarkt vereinbar seien (im Folgenden: streitige Maßnahmen). Daher beschloss die Kommission, ohne das förmliche Prüfverfahren nach Art. 108 Abs. 2 AEUV zu eröffnen, gegen diese Maßnahmen keine Einwände zu erheben.

Die INC SpA und die Consorzio Stabile Sis SCpA (im Folgenden: Klägerinnen), zwei in den Bereichen des Baus von Autobahnen und der Konzession für Autobahnen tätige Gesellschaften, haben beim Gericht Klage auf Nichtigerklärung dieses Beschlusses erhoben. Zur Stützung ihrer Klage haben sie u. a. geltend gemacht, dass die Kommission ernsthafte Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit der streitigen Maßnahmen mit dem Binnenmarkt hätte haben und folglich das förmliche Prüfverfahren hätte eröffnen müssen. Indem die Kommission die fraglichen Maßnahmen für mit dem Binnenmarkt vereinbar erklärt habe, ohne das förmliche Prüfverfahren zu eröffnen, habe sie folglich ihre Verfahrensrechte verletzt.

Während des mündlichen Verfahrens hat die Kommission dem Gericht jedoch die Entscheidung der italienischen Behörden mitgeteilt, die streitigen Maßnahmen nicht durchzuführen. In Anbetracht der schriftlichen Bestätigungen des Ministero delle Infrastructure e dei Trasporti (Ministerium für Infrastruktur und Verkehr, Italien) wies die Kommission darauf hin, dass die streitigen Maßnahmen von den italienischen Behörden nicht durchgeführt werden könnten und nicht durchgeführt würden, so dass die Klägerinnen kein Rechtsschutzinteresse mehr hätten.

Unter Bestätigung, dass die Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses den Klägerinnen keinen Vorteil mehr verschaffen kann, hat die Neunte erweiterte Kammer des Gerichts festgestellt, dass sich die Hauptsache in Anbetracht des Wegfalls ihres Rechtsschutzinteresses in der Tat erledigt hat.

Würdigung durch das Gericht

Das Gericht weist zunächst darauf hin, dass eine Nichtigkeitsklage einer natürlichen oder juristischen Person nur zulässig ist, wenn diese ein Interesse an der Nichtigerklärung der angefochtenen Handlung hat. Ein solches Interesse, das bestehend und gegenwärtig sein muss, setzt voraus, dass die Nichtigerklärung dieser Handlung als solche Rechtswirkungen haben kann und der Rechtsbehelf der Partei, die ihn eingelegt hat, damit im Ergebnis einen Vorteil verschaffen kann.

Was insbesondere die Vorschriften über staatliche Beihilfen anbelangt, muss dieses Interesse im Hinblick auf den Klagegegenstand bei Klageerhebung gegeben sein – andernfalls ist die Klage unzulässig – und bis zum Erlass der gerichtlichen Entscheidung weiter vorliegen, andernfalls ist der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt.

In diesem Kontext haben die Wettbewerber des durch eine Beihilfe Begünstigten ein Interesse, die Nichtigerklärung des Beschlusses zu beantragen, mit dem die Kommission diese Beihilfe, ohne das förmliche Prüfverfahren zu eröffnen, gemäß Art. 4 Abs. 3 der Verordnung 2015/1589(2) für mit dem Binnenmarkt vereinbar erklärt. Diese Nichtigerklärung würde die Kommission nämlich verpflichten, das förmliche Prüfverfahren zu eröffnen und die Wettbewerber des durch die Maßnahme Begünstigten aufzufordern, als „Beteiligte“ gemäß Art. 6 Abs. 1 dieser Verordnung Stellung zu nehmen.

Dieses Interesse kann jedoch nur dann als bis zur Verkündung der gerichtlichen Entscheidung fortbestehend angesehen werden, wenn es zum Zeitpunkt einer etwaigen Entscheidung über die Nichtigerklärung des Beschlusses, keine Einwände zu erheben, immer noch ein Vorhaben zur Gewährung einer Beihilfe gibt, das vom anmeldenden Mitgliedstaat durchgeführt werden und somit Gegenstand eines förmlichen Prüfverfahrens sein kann.

Im vorliegenden Fall ergab sich indessen aus den verschiedenen von der Kommission vorgelegten Dokumenten, dass die Italienische Republik das Vorhaben zur Verlängerung der streitigen Konzessionen endgültig und unwiderruflich aufgegeben hatte, wobei die Verlängerung der Umstand war, auf dessen Grundlage die Kommission die streitigen Maßnahmen als staatliche Beihilfen im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV eingestuft hatte.

Da die italienische Regierung das fragliche Beihilfevorhaben endgültig und unwiderruflich aufgegeben hat, würde die etwaige Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses durch das Gericht die Kommission nur verpflichten, ein förmliches Prüfverfahren zu eröffnen, das von vornherein gegenstandslos wäre, was auch die Abgabe von Stellungnahmen der Klägerinnen zu einem Vorhaben, das nicht mehr durchgeführt werden kann, gegenstandslos macht.

Da die Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses den Klägerinnen somit nicht den von ihnen begehrten Vorteil verschaffen kann, nämlich die Möglichkeit, im Rahmen eines förmlichen Prüfverfahrens Stellung zu nehmen, bestätigt das Gericht, dass diese Nichtigerklärung den Klägerinnen im Ergebnis keinen Vorteil verschaffen kann. Es stellt daher fest, dass ihre Nichtigkeitsklage in der Hauptsache erledigt ist.


1      Beschluss C(2018) 2435 final der Kommission vom 27. April 2018 über die für die Zwecke des Investitionsplans bezüglich der italienischen Autobahnen gewährte staatliche Beihilfe (Sachen SA.49335 [2017/N] und SA.49336 [2017/N]), im Folgenden: angefochtener Beschluss.


2      Verordnung (EU) 2015/1589 des Rates vom 13. Juli 2015 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (ABl. 2015, L 248, S. 9).