Language of document : ECLI:EU:C:2022:986

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

ANTHONY MICHAEL COLLINS

vom 15. Dezember 2022(1)

Verbundene Rechtssachen C615/20 und C671/20

Prokuratura Okręgowa w Warszawie

gegen

YP u. a. (C615/20),

M. M. (C671/20)

(Vorabentscheidungsersuchen des Sąd Okręgowy w Warszawie [Regionalgericht Warschau, Polen])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Rechtsstaatlichkeit – Wirksamer gerichtlicher Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Unabhängigkeit von Richtern – Zustimmung zur Einleitung eines Strafverfahrens gegen einen Richter und Suspendierung dieses Richters von seiner Diensttätigkeit durch die Izba Dyscyplinarna (Disziplinarkammer) des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) – Für nationale Gerichte geltendes Verbot einer Prüfung der Legitimität von Gerichten oder einer Prüfung der Rechtmäßigkeit der Ernennung von Richtern und der sich aus einer solchen Ernennung ergebenden richterlichen Befugnisse – Vorrang des Unionsrechts – Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit – Grundsätze der Rechtssicherheit und der Rechtskraft“






Inhaltsverzeichnis



I.      Einleitung

1.        Die vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen werfen erneut Fragen nach der Vereinbarkeit bestimmter Aspekte der jüngsten Reform des polnischen Justizsystems mit dem Unionsrecht auf. Sie betreffen von der Izba Dyscyplinarna (Disziplinarkammer) des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen)(2) erteilte Zustimmungen zur Strafverfolgung und zur Suspendierung eines Richters von seiner Diensttätigkeit, wodurch dieser daran gehindert wurde, über bestimmte ihm zugewiesene Strafsachen zu entscheiden. Hierzu ersucht das vorlegende Gericht(3) den Gerichtshof um Auslegung von Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union(4) sowie der Grundsätze des Vorrangs des Unionsrechts, der loyalen Zusammenarbeit(5) und der Rechtssicherheit. Sollte der Gerichtshof zu dem Ergebnis kommen, dass die Disziplinarkammer nach Maßgabe des Unionsrechts diese Zustimmungen nicht rechtmäßig erteilen konnte, möchte das vorlegende Gericht geklärt wissen, welche Folgen sich daraus für die Zusammensetzung des mit dem jeweiligen Strafverfahren befassten Gerichts ergeben.

II.    Rechtlicher Rahmen – Polnisches Recht

A.      Verfassung

2.        Art. 45 Abs. 1 der Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej (Verfassung der Republik Polen) bestimmt:

„Jedermann hat das Recht auf gerechte und öffentliche Verhandlung der Sache ohne unbegründete Verzögerung vor dem zuständigen, unabhängigen, unparteiischen Gericht.“

3.        Art. 144 Abs. 2 und 3 der Verfassung der Republik Polen bestimmt:

„2.      Amtsakte des Präsidenten der Republik bedürfen zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung des Vorsitzenden des Ministerrats, der infolge der Unterzeichnung die Verantwortung vor dem Sejm [(Abgeordnetenkammer des polnischen Parlaments, im Folgenden: Sejm)] trägt.

3.      Die Vorschrift des Abs. 2 gilt nicht für:

17)      die Ernennung von Richtern,

…“

4.        Art. 179 der Verfassung der Republik Polen lautet:

„Die Richter werden vom Präsidenten der Republik Polen auf Vorschlag der Krajowa Rada Sądownictwa [(Landesjustizrat, Polen, im Folgenden: KRS)] auf unbestimmte Zeit ernannt.“

5.        Nach Art. 180 Abs. 1 der Verfassung der Republik Polen sind die Richter unabsetzbar.

6.        Art. 181 der Verfassung der Republik Polen bestimmt:

„Ohne vorherige Zustimmung des gesetzlich bestimmten Gerichts darf ein Richter weder strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden noch ist ein Freiheitsentzug zulässig. Ein Richter darf weder festgenommen noch verhaftet werden, es sei denn, er wird auf frischer Tat betroffen und die Festnahme ist zur Gewährleistung des ordnungsgemäßen Verfahrensablaufs unentbehrlich. Von der Festnahme ist sofort der Präsident des örtlich zuständigen Gerichts zu unterrichten, der die sofortige Freilassung des Festgenommenen anordnen kann.“

7.        Art. 187 der Verfassung der Republik Polen bestimmt:

„1.      Die [KRS] besteht aus:

1)      dem Ersten Präsidenten des Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)], dem Justizminister, dem Präsidenten des Naczelny Sąd Administracyjny [(Oberstes Verwaltungsgericht, Polen)] und einer vom Präsidenten der Republik ernannten Person,

2)      fünfzehn Mitgliedern, die aus der Mitte der Richter des Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)], der ordentlichen Gerichte, der Verwaltungs- und der Militärgerichte gewählt worden sind,

3)      vier Mitgliedern, die vom Sejm aus der Mitte der Abgeordneten gewählt worden sind, und zwei Mitgliedern, die vom Senat aus der Mitte der Senatoren gewählt worden sind.

3.      Die Amtszeit der gewählten Mitglieder der [KRS] dauert vier Jahre.

4.      Die Ordnung, den Umfang der Tätigkeit und die Arbeitsweise der [KRS] sowie die Wahl ihrer Mitglieder regelt ein Gesetz.“

8.        Art. 190 Abs. 1 der Verfassung der Republik Polen bestimmt:

„Die Entscheidungen des Trybunał Konstytucyjny [(Verfassungsgerichtshof, Polen)] sind allgemein bindend und endgültig.“

B.      Geändertes Gesetz über das Oberste Gericht

9.        Art. 27 § 1 der Ustawa o Sądzie Najwyższym (Gesetz über das Oberste Gericht) vom 8. Dezember 2017 (Dz. U. 2018, Pos. 5) in der durch die Ustawa o zmianie ustawy – Prawo o ustroju sądów powszechnych, ustawy o Sądzie Najwyższym oraz niektórych innych ustaw (Gesetz zur Änderung des Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit, des Gesetzes über das Oberste Gericht und einiger anderer Gesetze) vom 20. Dezember 2019 (Dz. U. 2020, Pos. 190) (im Folgenden: Änderungsgesetz) geänderten Fassung (im Folgenden: geändertes Gesetz über das Oberste Gericht) bestimmt:

„Die Disziplinarkammer ist zuständig für:

1a)      Sachen betreffend die Zustimmung dazu, dass Richter, Gerichtsassessoren [(Richter auf Probe)], Staatsanwälte und Staatsanwaltsassessoren [(Staatsanwälte auf Probe)] strafrechtlich zur Verantwortung gezogen oder in Untersuchungshaft genommen werden.

…“

C.      Geändertes Gesetz über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit

10.      Art. 41b der Ustawa – Prawo o ustroju sądów powszechnych (Gesetz über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit) vom 27. Juli 2001 (Dz. U. 2001, Nr. 98, Pos. 1070) bestimmt:

„§ 1.      Für die Prüfung einer Beschwerde oder eines Antrags betreffend die Tätigkeit eines Gerichts ist der Präsident des Gerichts zuständig.

§ 3.      Für die Prüfung einer Beschwerde betreffend die Tätigkeit des Präsidenten eines Sąd Rejonowy [(Rayongericht)], des Präsidenten eines Sąd Okręgowy [(Regionalgericht)] oder des Präsidenten eines Sąd Apelacyjny [(Berufungsgericht)] ist der Präsident des Sąd Okręgowy [(Regionalgericht)] bzw. der Präsident des Sąd Apelacyjny [(Berufungsgericht)] bzw. die [KRS] zuständig.“

11.      Art. 42a dieses Gesetzes in der durch das Änderungsgesetz geänderten Fassung (im Folgenden: geändertes Gesetz über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit) lautet:

„§ 1.      Im Rahmen der Tätigkeiten der Gerichte oder der Organe der Gerichte darf die Legitimität der Gerichte und Gerichtshöfe, der Verfassungsorgane des Staates oder der Organe zur Kontrolle und zum Schutz des Rechts nicht in Frage gestellt werden.

§ 2.      Ein ordentliches Gericht oder anderes Organ der Staatsgewalt darf die Rechtmäßigkeit der Ernennung eines Richters oder die sich daraus ergebende Befugnis zur Wahrnehmung von Aufgaben im Bereich der Rechtsprechung weder feststellen noch beurteilen.“

12.      Nach Art. 47a § 1 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit werden die Rechtssachen den Richtern und den Gerichtsassessoren (Richter auf Probe) im Losverfahren zugeteilt. Nach Art. 47b § 1 dieses Gesetzes ist eine Änderung der Besetzung eines Spruchkörpers nur dann zulässig, wenn die Behandlung der Rechtssache in der gegebenen Besetzung unmöglich ist oder ihr ein dauerhaftes Hindernis entgegensteht. Für die Neuzuweisung der Rechtssache gilt in solchen Fällen Art. 47a. Nach Art. 47b § 3 dieses Gesetzes wird die Entscheidung über die Änderung der Besetzung eines Spruchkörpers vom Präsidenten des Gerichts oder von einem von diesem hierzu ermächtigten Richter getroffen.

13.      Art. 80 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit bestimmt:

„§ 1.      Ein Richter darf ohne Zustimmung des zuständigen Disziplinargerichts weder festgenommen noch strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Diese Bestimmung betrifft nicht die Festnahme eines Richters auf frischer Tat, wenn diese Festnahme unerlässlich ist, um die ordnungsgemäße Durchführung des Verfahrens zu gewährleisten. Bis zum Erlass des Beschlusses, mit dem die Zustimmung dazu gegeben wird, dass ein Richter strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wird, dürfen nur Maßnahmen getroffen werden, die keinen Aufschub dulden.

§ 2c.      Das Disziplinargericht erlässt einen Beschluss, mit dem die Zustimmung dazu gegeben wird, dass ein Richter strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wird, wenn der hinreichend begründete Verdacht besteht, dass er eine Straftat begangen hat. Der Beschluss enthält die Zustimmung dazu, dass der betreffende Richter strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wird, und die Begründung dafür.

§ 2d.      Das Disziplinargericht prüft einen Antrag auf Zustimmung dazu, dass ein Richter strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wird, innerhalb von 14 Tagen nach seinem Eingang.“

14.      Art. 107 § 1 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit bestimmt:

„Ein Richter kann für Fehlverhalten im Amt (Disziplinarvergehen) disziplinarisch belangt werden, u. a. für:

3)      Handlungen, mit denen das Bestehen des Dienstverhältnisses eines Richters, die Wirksamkeit der Ernennung eines Richters oder die Legitimität eines Verfassungsorgans der Republik Polen in Frage gestellt wird;

…“

15.      Art. 110 § 2a des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit lautet:

„Für die Prüfung der in Art. 37 § 5 und Art. 75 § 2 Nr. 3 genannten Sachen ist das Disziplinargericht örtlich zuständig, in dessen Bezirk der von dem Verfahren betroffene Richter sein Amt ausübt. In den Sachen nach den Art. 80 und 106zd entscheidet im ersten Rechtszug der Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] in der Besetzung mit einem Richter der Disziplinarkammer und im zweiten Rechtszug der Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] in der Besetzung mit drei Richtern der Disziplinarkammer.“

16.      Art. 129 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit bestimmt:

„§ 1.      Das Disziplinargericht kann einen Richter, gegen den ein Disziplinar- oder Entmündigungsverfahren eingeleitet wurde, von seinen Diensttätigkeiten suspendieren; dies gilt auch dann, wenn es mit einem Beschluss seine Zustimmung dazu gibt, dass ein Richter strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wird.

§ 2.      Wenn das Disziplinargericht mit einem Beschluss seine Zustimmung dazu gibt, dass ein Richter wegen einer vorsätzlichen Straftat, die von Amts wegen verfolgt wird, strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wird, suspendiert es diesen Richter von Amts wegen von seinen Diensttätigkeiten.

§ 3.      Suspendiert das Disziplinargericht einen Richter von seinen Diensttätigkeiten, kürzt es für die Zeit der Suspendierung den Betrag seiner Vergütung um 25 bis 50 %; dies gilt nicht für Personen, gegen die ein Entmündigungsverfahren eingeleitet wurde.

§ 3a.      Wenn das Disziplinargericht mit einem Beschluss seine Zustimmung dazu gibt, dass ein Richter im Ruhestand wegen einer vorsätzlichen Straftat, die von Amts wegen verfolgt wird, strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wird, kürzt es den Betrag seiner Bezüge für die Zeit des Disziplinarverfahrens um 25 bis 50 %.

§ 4.      Wenn das Disziplinarverfahren eingestellt oder ein Disziplinarvergehen verneint wurde, werden alle Bestandteile der Vergütung bzw. der Bezüge bis zu ihrer vollen Höhe ausgeglichen.“

D.      Gesetz über die KRS

17.      Art. 9a der Ustawa o Krajowej Radzie Sądownictwa (Gesetz über den Landesjustizrat) vom 12. Mai 2011 (Dz. U. 2011, Nr. 126, Pos. 714) in der durch die Ustawa o zmianie ustawy o Krajowej Radzie Sądownictwa oraz niektórych innych ustaw (Gesetz zur Änderung des Gesetzes über den Landesjustizrat und einiger anderer Gesetze) vom 8. Dezember 2017 (Dz. U. 2018, Pos. 3) geänderten Fassung (im Folgenden: Gesetz über die KRS) bestimmt:

„1.      Der Sejm wählt aus den Reihen der Richter am Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)], an den ordentlichen Gerichten, an den Verwaltungsgerichten und an den Militärgerichten 15 Mitglieder der [KRS] für eine gemeinsame Amtszeit von vier Jahren.

2.      Bei der Vornahme der Wahl nach Abs. 1 trägt der Sejm so weit wie möglich dem Erfordernis Rechnung, dass Richter verschiedener Arten und Ebenen von Gerichten in der [KRS] vertreten sind.

3.      Die gemeinsame Amtszeit der aus den Reihen der Richter gewählten neuen Mitglieder der [KRS] beginnt an dem auf ihre Wahl folgenden Tag. Die für die vorherigen Amtszeiten ernannten Mitglieder der [KRS] üben ihre Tätigkeit bis zu dem Tag aus, an dem die gemeinsame Amtszeit der neuen Mitglieder der [KRS] beginnt.“

18.      Die Übergangsvorschrift in Art. 6 des am 17. Januar 2018 in Kraft getretenen Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über den Landesjustizrat und einiger anderer Gesetze sieht vor:

„Die Amtszeit der in Art. 187 Abs. 1 Nr. 2 der Verfassung der Republik Polen genannten Mitglieder der [KRS], die nach den bisherigen Bestimmungen gewählt wurden, dauert bis zum Tag vor dem Beginn der Amtszeit der neuen Mitglieder der [KRS], höchstens jedoch 90 Tage ab dem Tag des Inkrafttretens dieses Gesetzes, sofern sie nicht vorher durch den Ablauf der Amtszeit endet.“

E.      Strafprozessordnung

19.      Art. 439 § 1 der Ustawa – Kodeks postępowania karnego (Gesetz über die Strafprozessordnung) vom 6. Juni 1997 (Dz. U. 1997, Pos. 555, im Folgenden: Strafprozessordnung) bestimmt:

„Das Berufungsgericht hebt die angefochtene Entscheidung in der Verhandlung unabhängig davon, inwieweit diese angefochten wurde und welche Gründe geltend gemacht werden, und unabhängig davon, inwieweit sich die Rechtsverletzung auf den Inhalt der Entscheidung auswirkt, auf, wenn

1.      bei der Entscheidung eine Person mitgewirkt hat, die hierzu nicht berufen oder nicht in der Lage oder gemäß Art. 40 wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt war;

2.      das Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war oder ein Mitglied des Gerichts nicht während der gesamten mündlichen Verhandlung anwesend war;

…“

20.      Nach Art. 523 § 1 der Strafprozessordnung kann eine Kassationsbeschwerde nur auf die in Art. 439 der Strafprozessordnung genannten Mängel oder auf eine andere offenkundige Rechtsverletzung, die sich maßgeblich auf den Inhalt der Entscheidung ausgewirkt haben kann, gestützt werden.

III. Sachverhalt der Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

A.      Rechtssache C615/20

21.      Die Prokuratura Okręgowa w Warszawie (Regionalstaatsanwaltschaft Warschau, Polen, im Folgenden: Regionalstaatsanwaltschaft) erhob Anklage gegen YP und 13 weitere Einzelpersonen wegen einer Reihe von Straftaten nach dem Strafgesetzbuch zum Nachteil von 229 Geschädigten. Das Verfahren(6) wird zurzeit gegen elf Angeklagte geführt. Die Akten dieser Rechtssache bestehen aus 197 Bänden und mehreren Dutzend Bänden mit Anhängen. Die Hauptverhandlung ist über 100 Verhandlungstage durchgeführt worden; die Angeklagten, die Geschädigten und über 150 Zeugen haben ausgesagt. Es müssen nur noch wenige Zeugen und drei Sachverständige vernommen werden. Richter I. T. gehörte dem erkennenden Spruchkörper für das Verfahren an und nahm an der Hauptverhandlung teil.

22.      Am 14. Februar 2020 beantragte der Wydział Spraw Wewnętrznych Prokuratury Krajowej  (Nationale Staatsanwaltschaft, Abteilung für innere Angelegenheiten, Polen, im Folgenden: Nationale Staatsanwaltschaft) bei der Disziplinarkammer(7) die Zustimmung dazu, Richter I. T. wegen öffentlicher Nichterfüllung seiner Amtspflichten und Überschreitung seiner Befugnisse strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen, weil er Medienvertretern erlaubt habe, eine Sitzung des Sąd Okręgowy w Warszawie (Regionalgericht Warschau, Polen), die Verlesung der Entscheidung in der betreffenden Rechtssache sowie deren mündliche Begründung aufzuzeichnen. Der Nationalen Staatsanwaltschaft zufolge soll Richter I. T. Informationen aus dem von der Regionalstaatsanwaltschaft geführten Ermittlungsverfahren an Unbefugte weitergegeben haben. Da Richter I. T. diese Informationen in Ausübung seiner Diensttätigkeit erlangt habe, habe er zum Nachteil des öffentlichen Interesses gehandelt.

23.      Diesen Antrag der Nationalen Staatsanwaltschaft auf Zustimmung zur Strafverfolgung von Richter I. T. wies die Disziplinarkammer am 9. Juni 2020 als erstinstanzliches Organ zurück. Gegen diese Entscheidung legte die Nationale Staatsanwaltschaft Beschwerde ein. Am 18. November 2020 hob die Disziplinarkammer, nunmehr als zweitinstanzliches Organ, die Immunität von Richter I. T. von der Strafverfolgung auf, suspendierte ihn vom Dienst und kürzte seine Bezüge für die Dauer seiner Suspendierung um 25 %(8). Die Suspendierung gilt bis zum Abschluss des gegen ihn geführten Strafverfahrens.

24.      Aufgrund der Suspendierung von der Ausübung seines Amtes sind Richter I. T. alle ihm zugewiesenen Rechtssachen, einschließlich der Rechtssache VIII K 105/17, entzogen. Nach dem in der Strafprozessordnung verankerten Grundsatz der Unveränderlichkeit des gerichtlichen Spruchkörpers kann eine Gerichtsentscheidung nur von dem Spruchkörper(9) erlassen werden, der die gesamte Hauptverhandlung durchgeführt hat. Das Verfahren in der Rechtssache VIII K 105/17 muss somit von Anfang an neu begonnen werden. Insbesondere muss der Richter, dem diese Rechtssache anstelle von Richter I. T. neu zugewiesen wird, alle in der bisherigen Verhandlung ermittelten Beweise erneut erheben. Diese Situation verstößt nach Auffassung des vorlegenden Gerichts gegen Art. 47 der Charta, insbesondere gegen das Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf und das Recht jeder Person darauf, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird(10).

25.      Im Vorabentscheidungsersuchen wird angeführt, dass der Sąd Najwyższy (Izba Pracy i Ubezpieczeń Społecznych) (Oberstes Gericht, Kammer für Arbeits- und Sozialversicherungssachen, Polen)(11) in seinem Urteil vom 5. Dezember 2019(12) und in seinen Beschlüssen vom 15. Januar 2020(13) in dem Verfahren, das zu dem Urteil A. K. geführt habe, festgestellt habe, dass die KRS in derzeitiger Zusammensetzung nicht von der Legislative und der Exekutive unabhängig sei und dass die Disziplinarkammer – deren Mitglieder auf Antrag der KRS in ihrer derzeitigen Zusammensetzung ernannt würden – kein „Gericht“ im Sinne von Art. 47 der Charta, Art. 6 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) und Art. 45 Abs. 1 der Verfassung der Republik Polen sei. Mit gemeinsamem Beschluss der Zivilkammer, der Strafkammer und der Kammer für Arbeits- und Sozialversicherungssachen des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) vom 23. Januar 2020 sei die Auffassung der Kammer für Arbeits- und Sozialversicherungssachen bestätigt und festgestellt worden, dass eine Besetzung der Disziplinarkammer, der eine Person angehöre, die auf Antrag der KRS in ihrer derzeitigen Zusammensetzung ernannt worden sei, fehlerhaft sei. Die gemeinsame Kammer habe ferner beschlossen, dass die Disziplinarkammer aufgrund ihrer strukturellen Merkmale kein „Gericht“ im Sinne der vorgenannten Bestimmungen sei und ihre Entscheidungen nicht den Charakter von „Gerichtsentscheidungen“ hätten. Die Disziplinarkammer habe mit Beschluss vom 23. September 2020(14) festgestellt, dass das Urteil A. K. „nicht als verbindlich für die polnische Rechtsordnung angesehen werden [kann]“, da die Kammer für Arbeits- und Sozialversicherungssachen in jenem, dem Vorabentscheidungsersuchen zugrunde liegenden Ausgangsverfahren „in rechtswidriger Besetzung“ tätig geworden sei.

26.      Das vorlegende Gericht, dem Richter I. T. angehöre, sei Bestandteil des polnischen Rechtsbehelfssystems und entscheide über Rechtssachen „in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen“ im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV(15). Aufgrund des Beschlusses der Disziplinarkammer, die Immunität von Richter I. T. von der Strafverfolgung aufzuheben und ihn von der Ausübung seiner Dienstpflichten zu suspendieren, mit der Folge, dass die Rechtssache VIII K 105/17 von einem anderen Spruchkörper von Anfang an neu durchgeführt werden müsse, hält es das vorlegende Gericht für zweifelhaft, ob die Disziplinarkammer ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht darstelle.

27.      Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts unterliegen die Regeln über die Disziplinarordnung(16) und die Abberufung(17) von Richtern dem Erfordernis eines wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV. Das vorlegende Gericht hat Zweifel, ob auch nationale Regelungen über die Erteilung der Zustimmung zur Strafverfolgung oder zu Maßnahmen der Freiheitsentziehung oder Festnahme gegen Richter dem Erfordernis eines wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes unterliegen. Seiner Auffassung nach müssen für die Einleitung eines Strafverfahrens gegen einen Richter die gleichen Anforderungen gelten wie für die Einleitung eines Disziplinarverfahrens, und zwar aus folgenden Gründen. Erstens dürfe die Zustimmung zur Strafverfolgung nur erteilt werden, wenn nach Auffassung des Disziplinargerichts ein hinreichend begründeter Verdacht der Begehung einer Straftat bestehe. Zweitens könne(18) das Disziplinargericht, sobald diese Zustimmung erteilt worden sei, den betreffenden Richter suspendieren und ihn damit bis zum Abschluss dieses Strafverfahrens daran hindern, seiner richterlichen Tätigkeit nachzugehen. Drittens müsse das Disziplinargericht die Bezüge des Richters für die Dauer der Suspendierung um 25 % bis 50 % kürzen. Viertens werde mit der Erteilung der Zustimmung zur Strafverfolgung gegen einen Richter keine Frist für die Erhebung einer Anklage in einer solchen Rechtssache gesetzt. Als Folge dieser Zustimmung könne eine Suspendierung des Richters und die Kürzung seiner Bezüge auf unbestimmte Zeit erfolgen. Eine Würdigung all dieser Umstände könne den Schluss rechtfertigen, dass das Verfahren zur Aufhebung der Immunität eines Richters von der Strafverfolgung und/oder von Maßnahmen der Freiheitsentziehung oder Festnahme ähnliche Auswirkungen habe wie Maßnahmen im Rahmen der disziplinarrechtlichen Verantwortlichkeit von Richtern. Dieses Verfahren müsse daher ebenso dem Erfordernis eines wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV unterliegen.

28.      Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts sind alle Staatsanwälte in Polen dem Justizminister unterstellt, der nach dem Gesetz das Amt des Prokurator Generalny (Generalstaatsanwalt) innehat. Auch wenn ein Staatsanwalt jedenfalls angeblich in der Ausübung seiner Tätigkeit unabhängig sei, sei er verpflichtet, die Anordnungen, Leitlinien und Weisungen des vorgesetzten Staatsanwalts, der auch der Justizminister sein könne, auszuführen, und zwar auch in Verfahren vor der Disziplinarkammer.

29.      Dem Vorabentscheidungsersuchen zufolge ist der Justizminister gemäß der Verfassung der Republik Polen auch Mitglied der KRS. Die meisten der 15 von 25 vom Sejm aus den Reihen der Richter gewählten Mitglieder der KRS hätten zum Zeitpunkt ihrer Wahl enge Verbindungen zum Justizminister gehabt und unterhielten diese weiterhin. Die so besetzte KRS sei dann an der Ernennung aller Mitglieder der Disziplinarkammer beteiligt gewesen, zu denen ehemalige Staatsanwälte oder Juristen gehört hätten, die das Handeln des Justizministers öffentlich unterstützt hätten.

30.      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs erfordere der Begriff der Unabhängigkeit, die dem Auftrag des Richters innewohne, dass eine Stelle gegenüber den Verfahrensparteien die Eigenschaft eines Dritten habe(19). Angesichts der Zusammensetzung der Disziplinarkammer, der derzeitigen Zusammensetzung der KRS, des hierarchischen Charakters des Systems der Staatsanwaltschaft und der Bestimmungen über die Erteilung der Zustimmung zur Strafverfolgung oder zu Maßnahmen der Freiheitsentziehung oder Festnahme gegen einen Richter hat das vorlegende Gericht erhebliche Zweifel daran, ob die Disziplinarkammer gegenüber dem Staatsanwalt die Eigenschaft eines Dritten habe.

31.      Außerdem hat das vorlegende Gericht im Licht des Beschlusses vom 8. April 2020 auch Zweifel, ob die Disziplinarkammer in Rechtssachen entscheiden sollte, in denen es um Anträge auf Zustimmung zur Strafverfolgung oder zu Maßnahmen der Freiheitsentziehung oder Festnahme gegen Richter gehe. Unter den Begriff „Disziplinarsachen gegen Richter“ in Nr. 1 erster Gedankenstrich des Tenors dieses Beschlusses müssten auch Rechtssachen fallen, die die Zustimmung zur Strafverfolgung oder zu Maßnahmen der Freiheitsentziehung oder Festnahme gegen Richter beträfen. Da die Zusammensetzung der Disziplinarkammer unverändert geblieben sei, würden jedenfalls alle bei dieser Kammer anhängigen Rechtssachen in einer Zusammensetzung geprüft, die nicht den Anforderungen an die Unabhängigkeit gemäß Nr. 1 zweiter Gedankenstrich des Tenors des Beschlusses vom 8. April 2020 genüge.

32.      Aufgrund der vorstehenden Erwägungen handelt es sich nach Auffassung des vorlegenden Gerichts bei der Zustimmung der Disziplinarkammer nicht um eine „Gerichtsentscheidung“, da diese Kammer weder dem Erfordernis eines wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes im Sinne des Unionsrechts genüge noch der Gewährleistung „des Rechtsfriedens und der Beständigkeit rechtlicher Beziehungen sowie einer geordneten Rechtspflege“ diene(20). Das vorlegende Gericht sieht sich demnach nicht an die Beschlüsse der Disziplinarkammer gebunden. Da die Gültigkeit der Zustimmung der Disziplinarkammer unmittelbare Auswirkungen darauf habe, ob das vorlegende Gericht selbst ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht sei, ersucht es um Hinweise des Gerichtshofs. Insoweit möchte das vorlegende Gericht geklärt wissen, ob sich die Verpflichtung, einer Entscheidung der Disziplinarkammer die Bindungswirkung zu versagen, auch auf andere staatliche Behörden(21) erstreckt und ob dementsprechend die ungerechtfertigte Weigerung, den Richter, in Bezug auf den die Zustimmung zu einer Strafverfolgung erteilt wurde, zu einem Spruchkörper zuzulassen, einen Verstoß gegen das Unionsrecht darstellen kann.

33.      Vor diesem Hintergrund hat der Sąd Okręgowy w Warszawie (Regionalgericht Warschau) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist das Unionsrecht – insbesondere Art. 47 der Charta sowie die darin vorgesehenen Rechte auf Einlegung eines wirksamen Rechtsbehelfs bei einem Gericht und darauf, dass eine Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird – dahin auszulegen, dass es den in den Vorlagefragen 2 und 3 detailliert dargestellten Bestimmungen des nationalen Rechts entgegensteht, d. h. Art. 80, Art. 110 § 2a, Art. 129 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit und Art. 27 § 1 Nr. 1a des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht, die es der Disziplinarkammer ermöglichen, die Immunität eines Richters aufzuheben und ihn von seiner Diensttätigkeit zu suspendieren und ihm dadurch de facto die ihm zugewiesenen Rechtssachen zu entziehen, insbesondere weil:

a)      die Disziplinarkammer kein „Gericht“ im Sinne von Art. 47 der Charta, Art. 6 EMRK und Art. 45 Abs. 1 der Verfassung der Republik Polen ist (Urteil vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts], C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982);

b)      die Mitglieder der Disziplinarkammer deutliche Verbindungen zur Legislative und Exekutive aufweisen (Beschluss vom 8. April 2020, Kommission/Polen, C‑791/19 R, EU:C:2020:277);

c)      die Republik Polen verpflichtet wurde, die Anwendung einiger Bestimmungen des Gesetzes über das Oberste Gericht betreffend die sogenannte Disziplinarkammer auszusetzen und es zu unterlassen, die bei der Disziplinarkammer anhängigen Verfahren an einen Spruchkörper zu verweisen, der die Anforderungen an die Unabhängigkeit nicht erfüllt (Beschluss vom 8. April 2020, Kommission/Polen, C‑791/19 R, EU:C:2020:277)?

2.      Ist das Unionsrecht – insbesondere Art. 2 EUV und der dort ausgedrückte Wert der Rechtsstaatlichkeit sowie das in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV geregelte Erfordernis eines wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes – dahin auszulegen, dass die „Regeln über die Disziplinarordnung für diejenigen, die mit der Aufgabe des Richtens betraut sind“, auch Bestimmungen umfassen, wonach ein Richter eines nationalen Gerichts strafrechtlich zur Verantwortung gezogen oder ihm seine Freiheit entzogen (er festgenommen) werden kann, wie Art. 181 der Verfassung der Republik Polen in Verbindung mit den Art. 80 und 129 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit, wonach:

a)      die Zustimmung des zuständigen Disziplinargerichts erforderlich ist, wenn ein Richter eines nationalen Gerichts – grundsätzlich auf Antrag eines Staatsanwalts – strafrechtlich zur Verantwortung gezogen oder ihm seine Freiheit entzogen (er festgenommen) wird;

b)      das Disziplinargericht – wenn es die Zustimmung dazu erteilt, einen Richter eines nationalen Gerichts strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen oder ihm seine Freiheit zu entziehen (ihn festzunehmen) – diesen Richter von seiner Diensttätigkeit suspendieren kann (und in einigen Fällen muss);

c)      das Disziplinargericht bei der Suspendierung eines Richters eines nationalen Gerichts von seiner Diensttätigkeit gleichzeitig verpflichtet ist, die Bezüge dieses Richters in den durch diese Bestimmungen festgelegten Grenzen für die Dauer der Suspendierung zu kürzen?

3.      Ist das Unionsrecht – insbesondere die in Frage 2 angeführten Bestimmungen – dahin auszulegen, dass es Bestimmungen eines Mitgliedstaats wie Art. 110 § 2a des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit und Art. 27 § 1 Nr. 1a des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht entgegensteht, wonach Rechtssachen betreffend die Zustimmung dazu, einen Richter am nationalen Gericht strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen oder ihm seine Freiheit zu entziehen (ihn festzunehmen), sowohl in erster, als auch in zweiter Instanz zur ausschließlichen Zuständigkeit eines Organs wie der Disziplinarkammer gehören, wenn man insbesondere berücksichtigt (einzeln oder kumulativ), dass:

a)      die Errichtung der Disziplinarkammer zeitgleich mit der Änderung der Regeln für die Ernennung von Mitgliedern eines Organs wie der KRS, das am Verfahren zur Ernennung von Richtern beteiligt ist und auf dessen Antrag alle Mitglieder der Disziplinarkammer ernannt wurden, erfolgte;

b)      der nationale Gesetzgeber die Möglichkeit ausgeschlossen hat, Richter eines nationalen letztinstanzlichen Gerichts wie des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), in dessen Strukturen die Disziplinarkammer tätig ist, in diese Kammer zu versetzen, so dass ihr nur neue, auf Antrag der KRS in geänderter Zusammensetzung ernannte Mitglieder angehören können;

c)      die Disziplinarkammer ein besonders hohes Maß an Autonomie innerhalb des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) hat;

d)      der Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) in seinen Entscheidungen, die zur Durchführung des Urteils vom 19. November 2019, A. K. u. a. (Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts) (C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982), erlassen wurden, bestätigt hat, dass die KRS in geänderter Zusammensetzung kein von der Legislative und Exekutive unabhängiges Organ und die Disziplinarkammer kein „Gericht“ im Sinne von Art. 47 der Charta, Art. 6 EMRK und Art. 45 Abs. 1 der Verfassung der Republik Polen ist;

e)      ein Antrag auf Zustimmung dazu, einen Richter am nationalen Gericht strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen oder ihm seine Freiheit zu entziehen (ihn festzunehmen), grundsätzlich von einem Staatsanwalt gestellt wird, dessen Dienstvorgesetzter ein Organ der Exekutive wie der Justizminister ist, der Staatsanwälten verbindliche Weisungen zum Inhalt von Prozessmaßnahmen erteilen kann, und zugleich die Mitglieder der Disziplinarkammer und der KRS in geänderter Zusammensetzung, wie der Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) in seinen in Frage 2 d genannten Entscheidungen festgestellt hat, deutliche Verbindungen zur Legislative und Exekutive aufweisen, weshalb die Disziplinarkammer gegenüber der Verfahrenspartei nicht als Dritter angesehen werden kann;

f)      die Republik Polen mit dem Beschluss vom 8. April 2020, Kommission/Polen (C‑791/19 R, EU:C:2020:277), verpflichtet wurde, die Anwendung einiger Bestimmungen des Gesetzes über das Oberste Gericht betreffend die sogenannte Disziplinarkammer auszusetzen und es zu unterlassen, die bei der Disziplinarkammer anhängigen Verfahren an einen Spruchkörper zu verweisen, der die Anforderungen an die Unabhängigkeit nicht erfüllt?

4.      Wenn die Zustimmung dazu erteilt wird, einen Richter eines nationalen Gerichts strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen, und er von seiner Diensttätigkeit suspendiert wird und gleichzeitig seine Bezüge für die Dauer der Suspendierung gekürzt werden, ist dann das Unionsrecht – insbesondere die in Frage 2 angeführten Bestimmungen sowie die Grundsätze des Vorrangs des Unionsrechts, der loyalen Zusammenarbeit nach Art. 4 Abs. 3 EUV und der Rechtssicherheit – dahin auszulegen, dass es der Bindungswirkung einer solchen Zustimmung insbesondere hinsichtlich der Suspendierung des Richters von seiner Diensttätigkeit entgegensteht, sofern die Zustimmung durch ein Organ wie die Disziplinarkammer erteilt wurde, so dass:

a)      alle staatlichen Organe (einschließlich des vorlegenden Gerichts, dessen Spruchkörper der von dieser Zustimmung betroffene Richter angehört, sowie der Organe, die zur Bestimmung und Änderung der Zusammensetzung nationaler Gerichte befugt sind) verpflichtet sind, diese Zustimmung außer Acht zu lassen und es dem Richter eines nationalen Gerichts, in Bezug auf den die Zustimmung erteilt wurde, zu ermöglichen, dem Spruchkörper dieses Gerichts anzugehören;

b)      das Gericht, dessen Spruchkörper der von dieser Zustimmung betroffene Richter angehört, ein zuvor durch Gesetz errichtetes bzw. unabhängiges und unparteiisches Gericht darstellt und deshalb – als „Gericht“ – über Fragen der Anwendung und Auslegung des Unionsrechts entscheiden kann?

B.      Rechtssache C671/20

34.      Der diesem Vorabentscheidungsersuchen zugrunde liegende Sachverhalt ähnelt demjenigen der Rechtssache C‑615/20.

35.      Der Regionalstaatsanwalt legte M. M. die Begehung von sieben Straftaten zur Last, darunter Nichteinreichung eines Insolvenzantrags, Vereitelung der Befriedigung von Gläubigern, Bankbetrug und Nichteinreichung des Jahresabschlusses einer Gesellschaft. Auf Anordnung des Staatsanwalts vom 9. Juni 2020 wurde als Sicherheit für eine drohende Geldstrafe und die zu zahlenden Gerichtskosten eine Zwangshypothek auf eine M. M. zusammen mit seiner Ehefrau G. M. gehörende Immobilie eingetragen. Gegen diese Anordnung legte M. M. Beschwerde ein.

36.      Auf den Beschluss der Disziplinarkammer hin ordnete der Präsident des Sąd Okręgowy w Warszawie (Regionalgericht Warschau) gegenüber dem Präsidenten der Kammer, der Richter I. T. angehörte, eine Änderung der Zusammensetzung des Gerichts in allen Rechtssachen(22) an(23), die ursprünglich diesem Richter zugewiesen waren(24). Der Präsident dieser Kammer wies die ursprünglich Richter I. T. zugewiesenen Sachen anderweitig zu. Im Anschluss an diese Neuzuweisung hat das vorlegende Gericht dem Gerichtshof mehrere Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt.

37.      Das vorlegende Gericht stellt fest, dass nach dem Urteil Simpson(25) jedes Gericht von Amts wegen zu überprüfen habe, ob es ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht sei. Es hat Zweifel, ob es „ein zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht“ sei, da die Änderung seiner Zusammensetzung durch Verfügung des Präsidenten des Sąd Okręgowy w Warszawie (Regionalgericht Warschau) nach der Suspendierung von Richter I. T. eine unmittelbare Folge des Beschlusses der Disziplinarkammer gewesen sei. Aufgrund ihrer „strukturellen Merkmale“ sei diese Kammer kein „Gericht“ im Sinne des nationalen Rechts oder des Unionsrechts. Nur im Fall einer wirksamen Überprüfung des Beschlusses der Disziplinarkammer könne es beurteilen, ob es ein zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht sei und in dem bei ihm anhängigen Verfahren entscheiden könne. Es könne gegen das Recht der Parteien auf ein Gericht verstoßen und zur Aufhebung seiner Entscheidung im Rechtsmittelverfahren führen(26), wenn dem das Urteil sprechenden Spruchkörper eine nicht berechtigte Person angehört habe, und zwar entweder wegen einer nicht ordnungsgemäßen Zusammensetzung des Gerichts(27) oder wegen eines Verstoßes gegen das Unionsrecht.

38.      Das vorlegende Gericht meint, um zu beurteilen, ob es der Anforderung der vorherigen Errichtung durch Gesetz genüge, müsse die Bindungswirkung des Beschlusses der Disziplinarkammer geprüft werden. Diese Prüfung sei sowohl nach den nationalen Rechtsvorschriften als auch nach der Rechtsprechung des Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) untersagt, wonach nationale Gerichte die Ernennung einer Person zum Richter, einschließlich der Rechtmäßigkeit der Rolle des Präsidenten der Republik Polen(28) und der KRS im Ernennungsverfahren, nicht überprüfen dürften(29). Ferner werde die Vornahme einer solchen Prüfung als Disziplinarvergehen angesehen. Dem vorlegenden Gericht erscheint fraglich, ob diesen nationalen Rechtsvorschriften und der vorgenannten Rechtsprechung des Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) das Unionsrecht entgegenstehe.

39.      Dem vorlegenden Gericht ist ferner unklar, ob es an den Beschluss der Disziplinarkammer und die Folgen, die sich aus ihm für seine Zusammensetzung ergeben könnten, einschließlich der Rechtswirksamkeit der Suspendierung von Richter I. T., gebunden sei. Der Gerichtshof habe wiederholt die Bedeutung des „Grundsatzes der Rechtskraft“ sowohl in der Unionsrechtsordnung als auch in den nationalen Rechtsordnungen hervorgehoben. Zur Gewährleistung des Rechtsfriedens und der Beständigkeit rechtlicher Beziehungen sowie einer geordneten Rechtspflege sollten unanfechtbar gewordene Gerichtsentscheidungen nicht in Frage gestellt werden können. Daher gebiete es das Unionsrecht einem nationalen Gericht nicht, von der Anwendung innerstaatlicher Verfahrensvorschriften, aufgrund deren eine Gerichtsentscheidung Rechtskraft erlange, abzusehen, selbst wenn dadurch einer mit dem Unionsrecht unvereinbaren nationalen Situation abgeholfen werden könnte(30).

40.      Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts hat aufgrund des Charakters der Disziplinarkammer deren Beschluss vom 18. November 2020 nicht die Eigenschaft einer „Gerichtsentscheidung“, da diese Eigenschaft nur Entscheidungen eines Organs, das dem Erfordernis eines wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes nach dem Unionsrecht genüge, zukomme. Die Möglichkeit, dass die Disziplinarkammer einen Richter suspendiere, und zwar in der Praxis auf unbestimmte Zeit, gewährleiste in keiner Weise den Rechtsfrieden und die Beständigkeit rechtlicher Beziehungen und trage sicherlich nicht zu einer geordneten Rechtspflege bei. Außerdem möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Verpflichtung, den Entscheidungen der Disziplinarkammer die Bindungswirkung zu versagen, auch für Entscheidungen anderer staatlicher Stellen wie den Justizminister, die Staatsanwaltschaft, die Präsidenten der Gerichte und das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) gelte. Es fragt demnach, ob die ungerechtfertigte Weigerung, einen Richter zum Spruchkörper zuzulassen, gegen den die Zustimmung zur Strafverfolgung erteilt wurde, einen Verstoß gegen das Unionsrecht darstellt.

41.      Vor diesem Hintergrund hat der Sąd Okręgowy w Warszawie (Regionalgericht Warschau) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist das Unionsrecht – insbesondere Art. 2 EUV und der dort ausgedrückte Wert der Rechtsstaatlichkeit, Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sowie die Grundsätze des Vorrangs des Unionsrechts, der loyalen Zusammenarbeit und der Rechtssicherheit – dahin auszulegen, dass es es ausschließt, eine Regelung eines Mitgliedstaats wie Art. 41b §§ 1 und 3 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit so anzuwenden, dass der Präsident eines Gerichts – eigenständig und ohne gerichtliche Kontrolle – eine Entscheidung über die Änderung der Zusammensetzung des Gerichts treffen kann, wenn ein Organ wie die Disziplinarkammer seine Zustimmung dazu erteilt hat, einen Richter des ursprünglich bestimmten Spruchkörpers dieses Gerichts (Richter I. T. am Sąd Okręgowy [Regionalgericht]) strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen, wodurch er zwingend von seiner Diensttätigkeit suspendiert wird und damit insbesondere nicht Spruchkörpern in ihm – auch vor Erteilung der genannten Zustimmung – zugewiesenen Rechtssachen angehören darf?

2.      Ist das Unionsrecht – insbesondere die in Frage 1 angeführten Bestimmungen – dahin auszulegen, dass es Folgendem entgegensteht:

a)      Regelungen eines Mitgliedstaats wie Art. 42a §§ 1 und 2 sowie Art. 107 § 1 Nr. 3 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit, nach denen einem nationalen Gericht – im Rahmen der Kontrolle, ob es das Erfordernis der vorherigen Errichtung durch Gesetz erfüllt – untersagt ist, die Bindungswirkung und die rechtlichen Umstände der in Frage 1 genannten Zustimmung der Disziplinarkammer, die den unmittelbaren Grund für die Änderung der Zusammensetzung des Gerichts bilden, zu prüfen, und in denen zugleich vorgesehen ist, dass der Versuch einer solchen Prüfung die Grundlage für eine disziplinarische Verantwortung eines Richters darstellt?

b)      der Rechtsprechung eines nationalen Organs wie des Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof), wonach Rechtsakte staatlicher Organe wie des Präsidenten der Republik Polen und der KRS betreffend die Ernennung von Personen in ein Organ wie die Disziplinarkammer unabhängig von Schwere und Ausmaß eines Verstoßes keiner gerichtlichen Kontrolle, einschließlich der Kontrolle unter unionsrechtlichen Gesichtspunkten, unterliegen und die Ernennung einer Person zum Richter endgültig und unwiderruflich ist?

3.      Ist das Unionsrecht – insbesondere die in Frage 1 angeführten Bestimmungen – dahin auszulegen, dass es einer Bindungswirkung der in Frage 1 genannten Zustimmung insbesondere hinsichtlich der Suspendierung eines Richters von seiner Diensttätigkeit entgegensteht, wenn die Zustimmung durch ein Organ wie die Disziplinarkammer erteilt wurde, und dass angesichts dessen:

a)      alle staatlichen Organe (einschließlich des vorlegenden Gerichts sowie der Organe, die zur Bestimmung und Änderung der Zusammensetzung nationaler Gerichte befugt sind, insbesondere des Gerichtspräsidenten) verpflichtet sind, diese Zustimmung außer Acht zu lassen und es dem Richter eines nationalen Gerichts, in Bezug auf den die Zustimmung erteilt wurde, zu ermöglichen, dem Spruchkörper dieses Gerichts anzugehören;

b)      das Gericht, dessen Spruchkörper der Richter, dem die Rechtssache ursprünglich zur Entscheidung zugewiesen war, nicht mehr angehört – und zwar ausschließlich deshalb, weil er von der oben genannten Zustimmung betroffen ist –, kein zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht darstellt und deshalb nicht als „Gericht“ über Fragen der Anwendung und Auslegung des Unionsrechts entscheiden kann?

4.      Ist es für die Beantwortung der vorstehenden Fragen von Bedeutung, dass die Disziplinarkammer und das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) wegen mangelnder Unabhängigkeit und festgestellter Verstöße gegen die Vorschriften über die Ernennung ihrer Mitglieder keinen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz gewährleisten?

IV.    Verfahren vor dem Gerichtshof

42.      Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 21. Januar 2021 sind die Rechtssachen C‑615/20 und C‑671/20 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden.

43.      Das vorlegende Gericht hat beantragt, für die Vorabentscheidungsersuchen in den Rechtssachen C‑615/20 und C‑671/20 das beschleunigte Verfahren nach Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs durchzuführen. Mit Beschlüssen vom 9. Dezember 2020 bzw. 21. Januar 2021 hat der Präsident des Gerichtshofs diese Anträge abgelehnt. Es wurde ihnen jedoch vorrangige Behandlung nach Art. 53 Abs. 3 der Verfahrensordnung zuerkannt.

44.      YP, der Regionalstaatsanwalt, die belgische, die dänische, die niederländische, die polnische, die finnische und die schwedische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Mit Ausnahme von YP haben alle vorgenannten Beteiligten in der Sitzung vom 28. Juni 2022 mündliche Ausführungen gemacht und Fragen des Gerichtshofs beantwortet.

V.      Würdigung

A.      Zulässigkeit

45.      Nach Ansicht des Regionalstaatsanwalts und der polnischen Regierung sind die zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen unzulässig. Mangels eines Bezugs zwischen den in den Verfahren vor dem vorlegenden Gericht in Rede stehenden Fragen und den Bestimmungen des Unionsrechts, um deren Auslegung es ersuche, sei eine Beantwortung dieser Fragen für die Entscheidung des Gerichts über die bei ihm anhängigen Verfahren nicht erforderlich(31). Die polnische Regierung trägt ergänzend vor, dass es selbst für den Fall, dass der Gerichtshof dem vorlegenden Gericht seine Zustimmung dazu gebe, den Beschluss der Disziplinarkammer außer Acht zu lassen, nach keiner Bestimmung des polnischen Rechts zulässig sei, einen Richter zu ersetzen, dem eine Rechtssache zugewiesen sei, oder diese Rechtssachen auf einen anderen Richter zu übertragen.

46.      Nach Ansicht der Kommission und der schwedischen Regierung sind die Vorabentscheidungsersuchen zulässig, da die Antwort des Gerichtshofs erforderlich sei, um es dem Spruchkörper des vorlegenden Gerichts zu ermöglichen, in limine litis über seine Zuständigkeit für die Entscheidung über die Strafsachen der Ausgangsverfahren zu entscheiden.

47.      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs gilt für Vorlagefragen eines nationalen Gerichts zur Auslegung des Unionsrechts eine Vermutung der Entscheidungserheblichkeit. Die Zurückweisung solcher Fragen ist dem Gerichtshof nur möglich, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind(32).

48.      Sowohl aus dem Wortlaut als auch aus dem Aufbau von Art. 267 AEUV folgt, dass das Vorabentscheidungsverfahren voraussetzt, dass bei den nationalen Gerichten tatsächlich ein Rechtsstreit anhängig ist, in dem sie eine Entscheidung erlassen müssen, bei der das Urteil des Gerichtshofs im Vorabentscheidungsverfahren berücksichtigt werden kann. Die Vorlage einer Frage zur Vorabentscheidung rechtfertigt sich durch die Erforderlichkeit für die Entscheidung über einen Rechtsstreit und nicht dadurch, zur Abgabe gutachterlicher Stellungnahmen zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen beizutragen(33). Der Gerichtshof hat ferner entschieden, dass eine Antwort auf Vorlagefragen erforderlich sein kann, um den vorlegenden Gerichten eine Auslegung des Unionsrechts zu liefern, die es ihnen ermöglicht, über Verfahrensfragen des innerstaatlichen Rechts zu entscheiden, um dann in den Rechtsstreitigkeiten, die bei ihnen anhängig sind, in der Sache entscheiden zu können(34).

49.      Mit den dem Gerichtshof im vorliegenden Verfahren vorgelegten Fragen soll geklärt werden, ob das Unionsrecht angesichts der Merkmale der Disziplinarkammer, insbesondere der Art und Weise der Ernennung ihrer Mitglieder, nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, nach denen diese Kammer der Strafverfolgung gegen einen Richter zustimmen kann, die damit zu seiner Suspendierung führt. Wenn dies der Fall ist, welche Folgen ergeben sich daraus unionsrechtlich für die Rechtmäßigkeit der Zusammensetzung des mit den Ausgangsverfahren befassten Gerichts? Vor diesem Hintergrund möchte das vorlegende Gericht geklärt wissen, ob es der Anforderung der vorherigen Errichtung durch Gesetz genügt. Da ein Gericht nach dem Urteil Simpson(35) verpflichtet sein kann, zu überprüfen, ob es in Anbetracht seiner Zusammensetzung ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht ist, wenn daran ein ernsthafter Zweifel besteht, ist die vom vorlegenden Gericht erbetene Auslegung des Unionsrechts erforderlich, um es ihm zu ermöglichen, in limine litis eine Verfahrensfrage zu klären, bevor es über die Strafverfahren, mit denen es befasst ist, entscheidet(36).

50.      Das Vorbringen, dass das polnische Recht für den Fall, dass der Beschluss der Disziplinarkammer als unionsrechtswidrig angesehen werden sollte, es nicht zulasse, einen Richter zu ersetzen, dem eine Rechtssache zugewiesen sei, oder Rechtssachen zu übertragen, betrifft den Inhalt der Vorabentscheidungsersuchen in der Sache im Hinblick auf Fragen der Tragweite und Wirkung sowie des Vorrangs des Unionsrechts. Vorbringen, das sich auf das Verfahren in der Sache bezieht, kann keine Grundlage dafür sein, ein Vorabentscheidungsersuchen für unzulässig zu erklären(37).

51.      Die polnische Regierung hat ihr Vorbringen, dass die Vorabentscheidungsersuchen unzulässig seien, in der mündlichen Verhandlung auf das Urteil Prokurator Generalny u. a. (Disziplinarkammer des Obersten Gerichts – Ernennung)(38) gestützt. In jenem Urteil hat der Gerichtshof ein Vorabentscheidungsersuchen u. a. deshalb für unzulässig erklärt, weil die Vorlagefragen zum Bestehen eines Dienstverhältnisses zwischen einem Richter und der Disziplinarkammer ein anderes Verfahren als den Ausgangsrechtsstreit betrafen. Um die Tragweite der Fragen zu beurteilen und sie in geeigneter Weise zu beantworten, wäre der Gerichtshof gezwungen gewesen, Fragen zu prüfen, die über den Umfang des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens hinausgingen. Der Gerichtshof hat ferner festgestellt, dass mit dem Vorabentscheidungsersuchen in jener Rechtssache letztlich die Nichtigerklärung erga omnes der Ernennung eines Richters des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) begehrt wurde, obwohl das nationale Recht es nicht gestattete, die Ernennung eines Richters mit einer direkten Klage auf Nichtigerklärung einer solchen Ernennung anzufechten. Wie in Nr. 49 der vorliegenden Schlussanträge verdeutlicht, ist dies vorliegend nicht der Fall.

52.      Ich schlage dem Gerichtshof daher vor, die Einwände gegen die Zulässigkeit der vom vorlegenden Gericht gestellten Fragen zurückzuweisen.

B.      Materielle Prüfung

1.      Vorbemerkungen

53.      Es gibt zum Teil inhaltliche Überschneidungen zwischen dem Vertragsverletzungsverfahren(39) in der Rechtssache Kommission/Polen (Unabhängigkeit und Privatleben von Richtern) (C‑204/21)(40) und dem vorliegenden Vorabentscheidungsverfahren. Auch wenn Vertragsverletzungsverfahren und Vorabentscheidungsersuchen verschiedene Verfahren mit unterschiedlichen Rechtswirkungen sind(41), werde ich, soweit dies angezeigt erscheint, auf meine am selben Tag wie die vorliegenden Schlussanträge vorgelegten Schlussanträge in jenem Vertragsverletzungsverfahren verweisen. Insbesondere sind in den Nrn. 46 bis 60 meiner Schlussanträge in der Rechtssache C‑204/21, Kommission/Polen (Unabhängigkeit und Privatleben von Richtern), Rechtsaussagen dargestellt, die meines Erachtens als gefestigt anzusehen und für die Entscheidung im vorliegenden Verfahren relevant sind.

2.      Erste, zweite und dritte Frage in der Rechtssache C615/20

54.      Mit seiner ersten, seiner zweiten und seiner dritten Frage in der Rechtssache C‑615/20 möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 2 EUV, Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta auf Verfahren einer Zustimmung u. a. zur Strafverfolgung oder zu Maßnahmen der Freiheitsentziehung oder Festnahme gegen Richter und Gerichtsassessoren (Richter auf Probe) sowie einer verpflichtenden Kürzung ihrer Bezüge anwendbar sind. Wenn ja, sind diese Bestimmungen dann dahin auszulegen, dass sie nationalen Regelungen, die die Zuständigkeit für die Entscheidung über diese Verfahren in erster und zweiter Instanz der Disziplinarkammer zuweisen, deshalb entgegenstehen, weil bestimmte Merkmale dieser Kammer, u. a. die Art und Weise der Ernennung ihrer Mitglieder, Anlass zu Zweifeln daran geben, ob sie ein „Gericht“ im Sinne von Art. 47 der Charta ist?

55.      Zur Prüfung dieser Fragen ist erstens zu klären, ob Art. 47 der Charta im Kontext der Rechtssache C‑615/20 und der Rechtssache C‑671/20 einschlägig ist. Nach ständiger Rechtsprechung kann eine Person das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf nach Art. 47 der Charta in einem bestimmten Einzelfall nur dann geltend machen, wenn sie sich auf durch das Unionsrecht garantierte Rechte oder Freiheiten beruft oder Gegenstand von Verfolgungsmaßnahmen ist, die eine Durchführung des Unionsrechts im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta darstellen. Aus den Vorabentscheidungsersuchen in den Rechtssachen C‑615/20 und C‑671/20 geht weder hervor, dass YP oder M. M. sich auf ein Recht beriefen, das ihnen aufgrund einer Bestimmung des Unionsrechts zusteht, noch, dass sie Gegenstand von Verfolgungsmaßnahmen wären, die eine Durchführung des Unionsrechts darstellen. Unter diesen Umständen ist Art. 47 der Charta auf die Ausgangsrechtssachen nicht anwendbar. Da Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV jedoch alle Mitgliedstaaten verpflichtet, die erforderlichen Rechtsbehelfe zu schaffen, damit in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen ein wirksamer Rechtsschutz insbesondere im Sinne von Art. 47 der Charta gewährleistet ist(42), ist bei jeder Auslegung der ersteren Bestimmung auch die letztere gebührend zu berücksichtigen(43).

56.      Zweitens komme ich nun zur Prüfung der Relevanz von zwei einstweiligen Anordnungen in zwei Vertragsverletzungsverfahren gegen die Republik Polen. Mit dem Beschluss vom 8. April 2020 ordnete der Gerichtshof die Aussetzung bestimmter Tätigkeiten der Disziplinarkammer an. Das vorlegende Gericht äußert im Rahmen der vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen Zweifel, ob die Disziplinarkammer im Licht des in jener Rechtssache ergangenen Beschlusses in Rechtssachen über Anträge auf Zustimmung zur Strafverfolgung und Suspendierung eines Richters entscheiden könne. Es hat auch mehrere Fragen nach der Relevanz der insoweit angeordneten Aussetzung für das vorliegende Verfahren vorgelegt(44).

57.      Im Tenor des Beschlusses vom 8. April 2020 wird die Aussetzung bestimmter Tätigkeiten der Disziplinarkammer nach spezifischen Bestimmungen(45) des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht angeordnet. Diese Bestimmungen bildeten die Rechtsgrundlage für die Zuständigkeit der Disziplinarkammer für die Entscheidung über Disziplinarverfahren gegen Richter. Es handelt sich um Bestimmungen, die von der Rechtsgrundlage für die Zuständigkeit der Disziplinarkammer für die Zustimmung zur Strafverfolgung oder zu Maßnahmen der Freiheitsentziehung oder Festnahme gegen Richter, ihrer Suspendierung sowie der Kürzung ihrer Bezüge, die Gegenstand der den vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen zugrunde liegenden Verfahren ist, völlig verschieden sind(46). Der Beschluss vom 8. April 2020 ist daher meines Erachtens für die vorliegend zur Entscheidung stehenden Fragen nicht relevant(47).

58.      Dagegen dürfte der Beschluss der Vizepräsidentin des Gerichtshofs vom 14. Juli 2021 in der Rechtssache Kommission/Polen (C‑204/21 R)(48) relevant sein. Nach dem Tenor des Beschlusses wird die Republik Polen u. a. verpflichtet, die Anwendung von Art. 27 § 1 Nr. 1a des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht sowie Bestimmungen des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit auszusetzen, die der Disziplinarkammer die Zuständigkeit für die Entscheidung über Anträge auf Zustimmung zur Einleitung von Strafverfahren gegen Richter oder Gerichtsassessoren zuweisen(49). Dieser Beschluss verpflichtet die Republik Polen außerdem, die Wirkungen aller von der Disziplinarkammer auf der Grundlage der vorgenannten Vorschriften bereits erlassenen Entscheidungen auszusetzen und es zu unterlassen, Rechtssachen an ein nicht unabhängiges(50) Gericht zu verweisen.

59.      Um die wirksame Durchführung des vorgenannten Beschlusses vom 14. Juli 2021 zu gewährleisten, hat der Vizepräsident des Gerichtshofs die Republik Polen mit Beschluss vom 27. Oktober 2021 zur Zahlung eines Zwangsgelds in Höhe von 1 000 000 Euro pro Tag ab dem Tag der Zustellung des letztgenannten Beschlusses bis zu dem Tag, an dem dieser Mitgliedstaat seinen Verpflichtungen aus dem Beschluss vom 14. Juli 2021 nachkommt, oder andernfalls bis zum Tag der Verkündung des Urteils, mit dem das Verfahren in der Rechtssache C‑204/21, Kommission/Polen (Unabhängigkeit und Privatleben von Richtern), beendet wird, verurteilt(51).

60.      In der mündlichen Verhandlung hat die Kommission bestätigt(52), dass die Republik Polen ihr keine Maßnahmen mitgeteilt habe, die sie ergriffen habe, um dem Beschluss der Vizepräsidentin des Gerichtshofs vom 14. Juli 2021 nachzukommen. Die Kommission hat ergänzend vorgetragen, dass Richter I. T. nach Ergehen dieses Beschlusses ab dem 14. Juli 2021 bis zur Verkündung des Urteils in der Rechtssache C‑204/21, Kommission/Polen (Unabhängigkeit und Privatleben von Richtern), wieder in sein Amt hätte eingesetzt werden müssen.

61.      Drittens hat die polnische Regierung in der mündlichen Verhandlung erklärt, dass die Disziplinarkammer durch die Ustawa o zmianie ustawy o Sądzie Najwyższym oraz niektórych innych ustaw (Gesetz zur Änderung des Gesetzes über das Oberste Gericht und einiger anderer Gesetze) vom 9. Juni 2022 (Dz. U. 2022, Pos. 1259, im Folgenden: Gesetz vom 9. Juni 2022) abgeschafft worden sei. Seitdem könne ein Richter einen endgültigen Beschluss der Disziplinarkammer, mit dem die Zustimmung zur Strafverfolgung gegen ihn erteilt werde, vor der neu geschaffenen Izba Odpowiedzialności Zawodowej (Kammer für dienstrechtliche Verantwortung) des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) (im Folgenden: Kammer für dienstrechtliche Verantwortung) anfechten.

62.      Durch Art. 8 des Gesetzes vom 9. Juni 2022 wird mit seinem Inkrafttreten(53) die Disziplinarkammer abgeschafft und die Kammer für dienstrechtliche Verantwortung eingerichtet. Die Kammer für dienstrechtliche Verantwortung führt alle am 15. Juli 2022 vor der Disziplinarkammer nicht abgeschlossenen Verfahren durch. Nach Art. 18 des Gesetzes vom 9. Juni 2022 kann ein Richter innerhalb von sechs Monaten nach Inkrafttreten des Gesetzes bei der Kammer für dienstrechtliche Verantwortung einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens für einen Beschluss des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) stellen, mit dem die Zustimmung zur Strafverfolgung gegen ihn erteilt und der von einem Spruchkörper erlassen wurde, dem ein Richter der Disziplinarkammer angehörte.

63.      Ungeachtet der Abschaffung der Disziplinarkammer ist Richter I. T. offenbar weiterhin nach nationalem Recht von der Ausübung seines Amtes suspendiert, wenngleich er den Beschluss der Disziplinarkammer durch einen Antrag bei der Kammer für dienstrechtliche Verantwortung anfechten kann(54). Die Fragen des vorlegenden Gerichts sind daher weiterhin relevant. Zur Frage der Rechtmäßigkeit der Suspendierung von Richter I. T. ist zum einen zu prüfen, ob die Disziplinarkammer die Anforderungen nach Art. 2 EUV und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta erfüllt, und zum anderen, welche Folgen eine etwaige Nichteinhaltung dieser Bestimmungen für die Zusammensetzung des vorlegenden Gerichts hätte.

64.      Vorbehaltlich entsprechender Feststellungen durch das vorlegende Gericht folgt aus den vorstehenden Ausführungen offenbar, dass Richter I. T. ungeachtet der Tatsache, dass die Disziplinarkammer ihren Beschluss in zweiter Instanz erlassen hat, dessen Gültigkeit jetzt nach polnischem Recht anfechten kann. Offenbar kommt dem Beschluss der Disziplinarkammer auch keine Rechtskraft mehr zu.

65.      Mit Blick auf die erste, die zweite und die dritte Frage in der Rechtssache C‑615/20 ist festzustellen, dass die Organisation der Justiz in den Mitgliedstaaten, einschließlich der Vorschriften über die Strafverfolgung von Richtern, zwar in deren Zuständigkeit fällt, die Ausübung dieser Zuständigkeit jedoch mit dem Unionsrecht vereinbar sein muss. Sieht ein Mitgliedstaat spezifische Vorschriften für Strafverfahren gegen Richter vor(55), so gebietet das Erfordernis des Zugangs zu einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht, um bei den Rechtsunterworfenen jeden berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit von Richtern für äußere Faktoren, insbesondere für unmittelbare oder mittelbare Einflussnahmen durch die Legislative und die Exekutive, die ihre Entscheidungen leiten könnten, auszuräumen, dass diese spezifischen Vorschriften durch objektive und überprüfbare Erfordernisse einer geordneten Rechtspflege gerechtfertigt sind. Diese Vorschriften müssen, ebenso wie die Vorschriften über die disziplinarische Haftung von Richtern, die notwendigen Garantien dafür vorsehen, dass Strafverfahren nicht als System der politischen Kontrolle der Tätigkeit von Richtern verwendet werden können und dass sie die in den Art. 47 und 48 der Charta verankerten Rechte in vollem Umfang gewährleisten(56).

66.      Nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV haben die Mitgliedstaaten dafür zu sorgen, dass Gerichte, die möglicherweise über die Anwendung oder Auslegung des Unionsrechts entscheiden, den Anforderungen an einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz gerecht werden(57). Die Rechtssachen, die nach Art. 80, Art. 110 § 2a und Art. 129 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit und Art. 27 § 1 Nr. 1a des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht(58) in die Zuständigkeit der Disziplinarkammer fallen, haben schon ihrem Wesen nach sofortige, unmittelbare und grundlegende Auswirkungen auf den Status und die Amtsausübung von Richtern(59). Daraus folgt, dass Maßnahmen, die nach diesen Vorschriften des polnischen Rechts gegenüber Richtern polnischer Gerichte erlassen werden, die möglicherweise über die Anwendung oder Auslegung des Unionsrechts entscheiden, einer Überprüfung durch eine Einrichtung zugänglich sein müssen, die ihrerseits die Garantien eines wirksamen Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV erfüllt(60). Da die Disziplinarkammer für die Anwendung der vorgenannten Vorschriften des polnischen Rechts zuständig war, muss sie jede Gewähr für ihre Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und vorherige Errichtung durch Gesetz bieten, um der Gefahr vorzubeugen, dass von ihr nach diesen Vorschriften getroffene Maßnahmen als System zur politischen Kontrolle des Inhalts gerichtlicher Entscheidungen eingesetzt werden könnten. Unter weitreichendem Verweis auf die von ihm zuvor in seinem Urteil A. K.(61) genannten Gesichtspunkte hat der Gerichtshof in seinem Urteil Disziplinarordnung für Richter aufgrund der in den Rn. 89 bis 110 des Urteils genannten Erwägungen kategorisch festgestellt, dass die Disziplinarkammer den Anforderungen an die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV nicht genügte. Der Gerichtshof hat sich u. a. darauf gestützt, dass die Schaffung der Disziplinarkammer, die ganz neu und mit ausschließlicher Zuständigkeit für die Entscheidung über bestimmte Disziplinarsachen erfolgt war, mit dem Erlass nationaler Rechtsvorschriften einhergegangen war, die die Unabsetzbarkeit und Unabhängigkeit der Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) beeinträchtigt hatten. In dem Urteil wurde festgestellt, dass die Disziplinarkammer im Vergleich zu den anderen Kammern des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) über eine besonders weitgehende organisatorische, funktionelle und finanzielle Autonomie verfügte. Ferner überstiegen die Bezüge der Richter, die der Disziplinarkammer angehörten, diejenigen der Richter, die den anderen Kammern des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) angehörten, um etwa 40 %, ohne dass für diese bevorzugte Behandlung eine objektive Begründung vorgetragen wurde.

67.      Bei ihrer Einrichtung durfte die Disziplinarkammer nur aus neuen, vom Präsidenten der Republik auf Vorschlag der KRS ernannten Richtern bestehen(62). Vor diesen Ernennungen wurde die KRS vollständig neu besetzt(63). Nach Auffassung des Gerichtshofs konnten derartige Änderungen die Gefahr mit sich bringen, dass die Legislative und die Exekutive ohne das bisher durchgeführte Auswahlverfahren einen größeren Einfluss auf die KRS ausübten und die Unabhängigkeit dieser Einrichtung untergraben würden. Die neu zusammengesetzte KRS wurde ferner unter Verkürzung der vierjährigen Amtszeit der bisherigen Mitglieder der KRS eingerichtet. Der Gerichtshof stellte außerdem fest, dass die die KRS betreffende Gesetzesreform gleichzeitig mit dem Erlass eines neuen Gesetzes über den Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)(64) durchgeführt wurde, mit dem dieser erheblich reformiert wurde(65).

68.      Nach Auffassung des Gerichtshofs konnten alle diese Gesichtspunkte bei den Rechtsunterworfenen berechtigte Zweifel an der Unempfänglichkeit der Disziplinarkammer für äußere Faktoren, insbesondere für unmittelbare oder mittelbare Einflussnahmen durch die Legislative und die Exekutive, und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen aufkommen lassen. Diese Gesichtspunkte waren daher geeignet, dazu zu führen, dass die Disziplinarkammer nicht den Eindruck vermittelte, unabhängig und unparteiisch zu sein, wodurch das Vertrauen beeinträchtigt werden konnte, das die Justiz in einer demokratischen Gesellschaft schaffen muss(66).

69.      Eine Gesamtwürdigung des Verfahrens zur Ernennung der der Disziplinarkammer angehörenden Richter und der Bedingungen, unter denen sie tätig war, lässt Raum für berechtigte Zweifel, was die Möglichkeit angeht, dass auf ihre Mitglieder von außen Druck ausgeübt werden kann(67). Zum Zeitpunkt der Abfassung der vorliegenden Schlussanträge bestehen die im Urteil Disziplinarordnung für Richter und im Urteil A .K. genannten berechtigten Zweifel an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Disziplinarkammer fort. Diese Zweifel berühren nicht nur die Disziplinarordnung für Richter in Polen, sondern auch die Regelungen über die Zustimmung zur Strafverfolgung oder zu Maßnahmen der Freiheitsentziehung oder Festnahme gegen Richter oder Gerichtsassessoren oder zu ihrer Suspendierung sowie der verpflichtenden Kürzung ihrer Bezüge.

70.      Das vorlegende Gericht hat ferner die Verbindungen zwischen dem polnischen Justizminister und der Staatsanwaltschaft, dem polnischen Justizminister und der KRS sowie der KRS und der Disziplinarkammer dargestellt(68). Es bezweifelt insoweit, ob die Disziplinarkammer gegenüber den Beteiligten des bei ihm anhängigen Verfahrens die Eigenschaft eines Dritten hat(69).

71.      Nach ständiger Rechtsprechung umfasst die Unabhängigkeit der Gerichte zwei Aspekte. Der erste, das Außenverhältnis betreffende Aspekt erfordert, dass eine Einrichtung ihre Funktionen autonom ausübt, ohne mit irgendeiner Stelle hierarchisch verbunden oder ihr untergeordnet zu sein und ohne von irgendeiner Stelle Anordnungen oder Anweisungen zu erhalten, so dass sie auf diese Weise vor Interventionen oder Druck von außen geschützt ist, die die Unabhängigkeit des Urteils ihrer Mitglieder gefährden und deren Entscheidungen beeinflussen könnten. Der zweite dieser Aspekte, der als das Innenverhältnis betreffend beschrieben wird, steht mit der Unparteilichkeit im Zusammenhang. Er bezieht sich darauf, dass Gerichte den Parteien eines Rechtsstreits und ihren jeweiligen Interessen mit dem gleichen Abstand begegnen. Die Gerichte müssen sachlich sein und dürfen neben der strikten Anwendung der Rechtsnormen keinerlei Interesse am Ausgang eines bei ihnen anhängigen Rechtsstreits haben(70).

72.      Die Zweifel des vorlegenden Gerichts betreffen den zweiten Aspekt der Frage, was ein unabhängiges Gericht ist, und die Auffassung, dass die Disziplinarkammer bei der Entscheidung über Zustimmungen zur Strafverfolgung und Suspendierung von Richtern weder unabhängig noch unparteiisch ist. Vorbehaltlich entsprechender Feststellungen durch das vorlegende Gericht wird durch die von diesem Gericht beschriebenen unmittelbaren und mittelbaren institutionellen Verbindungen zwischen dem polnischen Justizminister, der Staatsanwaltschaft(71), der KRS und der Disziplinarkammer, wie oben in den Nrn. 28 und 29 der vorliegenden Schlussanträge skizziert(72), die ohnehin schon beträchtliche Gefahr, dass die Disziplinarkammer bei Entscheidungen über diese Fragen nicht als völlig neutraler Richter wahrgenommen werden könnte, noch verstärkt. Diese Verbindungen sind geeignet, das Vertrauen, das die Justiz in einer demokratischen und rechtsstaatlichen Gesellschaft schaffen muss, weiter zu untergraben.

73.      Ich schlage dem Gerichtshof daher vor, festzustellen, dass Art. 2 EUV und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV im Licht von Art. 47 der Charta auf Fälle anwendbar sind, in denen ein Gericht nach nationalem Recht eine Zustimmung u. a. zur Strafverfolgung, zu Maßnahmen der Freiheitsentziehung oder Festnahme gegen Richter oder Gerichtsassessoren oder zu ihrer Suspendierung sowie der hieran anknüpfenden Kürzung ihrer Bezüge erteilt. Diese Vorschriften des Unionsrechts stehen nationalen Regelungen entgegen, nach denen einem Gericht, das die Anforderungen an die Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und vorherige Errichtung durch Gesetz nicht erfüllt, die Zuständigkeit für die Erteilung einer Zustimmung zur Strafverfolgung, zu Maßnahmen der Freiheitsentziehung oder Festnahme gegen Richter oder Gerichtsassessoren oder zu ihrer Suspendierung sowie der hieran anknüpfenden Kürzung ihrer Bezüge zugewiesen wird.

3.      Zweite Frage in der Rechtssache C671/20

74.      Das vorlegende Gericht möchte geklärt wissen, ob das Unionsrecht, insbesondere Art. 2 EUV und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, nationalen Vorschriften wie Art. 42a §§ 1 und 2 und Art. 107 § 1 Nr. 3 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit entgegensteht, wonach es erstens den nationalen Gerichten bei der Prüfung, ob sie in Anbetracht ihrer Zusammensetzung ein zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht darstellen, untersagt ist, die Rechtmäßigkeit und die Bindungswirkung von Entscheidungen der Disziplinarkammer zu prüfen, mit denen eine Zustimmung zur Strafverfolgung, zu Maßnahmen der Freiheitsentziehung oder Festnahme gegen Richter oder zu ihrer Suspendierung erteilt wird, und wonach zweitens eine solche Prüfung als Disziplinarvergehen behandelt wird. Das vorlegende Gericht möchte ferner wissen, ob diese Bestimmungen des Unionsrechts der Rechtsprechung des Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) entgegenstehen, wonach eine gerichtliche Kontrolle des Rechtsakts der Ernennung von Richtern durch den Präsidenten der Republik und der im Rahmen dieses Ernennungsverfahrens von der KRS erlassenen Rechtsakte untersagt ist.

75.      Aus dem Recht auf ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht folgt zwingend, dass der Einzelne die Möglichkeit hat, sich auf dieses Recht zu berufen(73). Wenn das Vorliegen eines unabhängigen und unparteiischen Gerichts aus einem Grund bestritten wird, der nicht von vornherein offensichtlich unbegründet ist(74), muss jedes Gericht(75) überprüfen, ob es in Anbetracht seiner Zusammensetzung ein solches Gericht ist. Diese Befugnis ist im Hinblick auf die Aufrechterhaltung des Vertrauens erforderlich, das die Gerichte einer demokratischen Gesellschaft bei den Rechtsuchenden wecken müssen. Eine solche Überprüfung stellt somit ein wesentliches Formerfordernis dar, das zwingend zu beachten und entweder auf eine Einrede der Parteien hin oder von Amts wegen zu prüfen ist(76). Art. 2 EUV und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sowie die im Urteil Simpson aufgestellten Anforderungen haben übergreifenden Charakter. Sie gelten, sobald ein Gericht zu einer Entscheidung über Rechtssachen in „den vom Unionsrecht erfassten Bereichen“ berufen sein kann(77).

76.      Die polnische Regierung ist der Ansicht, dass weder das Urteil A .K. noch irgendeine nationale Rechtsprechung, wonach die Disziplinarkammer kein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht sei, den Akt der Ernennung der Richter dieser Kammer durch den Präsidenten der Republik in Frage stellen könne.

77.      Der Wortlaut von Art. 42a §§ 1 und 2 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit, der in Nr. 11 der vorliegenden Schlussanträge wiedergegeben ist, beschränkt sich offensichtlich nicht darauf, einem Gericht die Befugnis zu nehmen, den Rechtsakt der Ernennung eines Richters durch den Präsidenten der Republik erga omnes für nichtig zu erklären. Vielmehr hindert er eindeutig sämtliche polnischen Gerichte unter allen Umständen und ungeachtet aller Gründe daran, von Amts wegen oder auf Einrede einer Partei zu prüfen oder darauf einzugehen, ob ein Gericht dem Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsbehelf vor einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht gerecht werden kann, ob ein Richter rechtmäßig ernannt wurde oder Aufgaben im Bereich der Rechtsprechung wahrnehmen kann, und zwar ungeachtet der Natur des geltend gemachten Rechtsverstoßes, des angefochtenen Rechtsakts oder Verfahrens oder des gegebenen Rechtsbehelfs. Meines Erachtens ist der Wortlaut der Bestimmungen des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit so weit gefasst, dass ein nationales Gericht daran gehindert ist, Fragen der Zusammensetzung jedweden Gerichts zu prüfen, was nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs erforderlich ist(78).

78.      Durch die Bestimmungen von Art. 107 § 1 Nr. 3 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit werden die Verbote in Art. 42a §§ 1 und 2 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit offenbar noch verschärft. Art. 107 § 1 Nr. 3 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit erfasst offenbar jedwedes Bemühen, einen Gesichtspunkt des zur Ernennung eines Richters führenden Verfahrens anzufechten(79), einschließlich etwa im Hinblick auf die Einhaltung der Anforderung eines zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts. Da Art. 42a §§ 1 und 2 und Art. 107 § 1 Nr. 3 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit die ordentlichen Gerichte an der Prüfung hindern, ob sie die Anforderungen von Art. 2 EUV und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV im Licht von Art. 47 der Charta in ihrer Auslegung durch das Urteil Simpson erfüllen, stehen diesen Vorschriften des nationalen Rechts die genannten Bestimmungen des Unionsrechts entgegen.

79.      Was die Rechtsprechung des Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof)(80) angeht, erkennt der Gerichtshof zwar an(81), dass der Umstand, dass Entscheidungen des Präsidenten der Republik zur Ernennung von Richtern am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) nach polnischem Recht nicht gerichtlich überprüft werden können, per se nicht problematisch ist(82), er hat jedoch mehrfach entschieden, dass eine effektive gerichtliche Kontrolle von Vorschlägen der KRS für die Ernennung zum Richter – die sich zumindest auf die Prüfung erstreckt, ob sie frei von Befugnisüberschreitung, Ermessensmissbrauch, Rechtsfehlern oder offensichtlichen Beurteilungsfehlern waren – erforderlich ist, wenn bei den Rechtsunterworfenen systemische Zweifel an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der nach diesem Verfahren ernannten Richter aufkommen können(83). Außerdem hat der Gerichtshof in den Rn. 104 bis 107 des Urteils Disziplinarordnung für Richter eine Reihe von Faktoren angeführt, darunter die wichtige Rolle, die die KRS bei der Ernennung der Mitglieder der Disziplinarkammer spielt, die bei Einzelnen begründete Zweifel an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit dieser Einrichtung aufkommen lassen. Aus dieser Rechtsprechung(84) ergibt sich eindeutig, dass die Vorschläge der KRS für die Ernennung von Richtern einer gerichtlichen Kontrolle unterliegen müssen, ohne die die Disziplinarkammer nicht als unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht anzusehen ist und den Anforderungen u. a. nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV nicht genügt(85). Diese Rechtsprechung ist für alle polnischen Gerichte, einschließlich des Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof), verbindlich. In seinem Urteil Grossmania hat der Gerichtshof festgestellt, dass dann, wenn er nach Art. 260 Abs. 1 AEUV feststellt, dass ein Mitgliedstaat gegen seine Verpflichtungen aus den Verträgen verstoßen hat, der Mitgliedstaat die sich aus dem Urteil des Gerichtshofs ergebenden Maßnahmen zu ergreifen hat, dessen Rechtskraft sich auf Tatsachen- und Rechtsfragen erstreckt, die tatsächlich oder notwendigerweise Gegenstand der betreffenden gerichtlichen Entscheidung waren. Aufgrund der verbindlichen Wirkung des Urteils des Gerichtshofs hat der nationale Richter bei der Bestimmung der Tragweite der Vorschriften des Unionsrechts den darin verbindlich festgelegten rechtlichen Kriterien Rechnung zu tragen. Sollten die jeweiligen nationalen Behörden ein Urteil des Gerichtshofs, mit dem das Vorliegen einer Vertragsverletzung festgestellt wird, nicht umsetzen, ist ein nationales Gericht verpflichtet, alle Maßnahmen zu ergreifen, um im Einklang mit dem Inhalt dieses Urteils die volle Geltung des Unionsrechts zu erleichtern(86).

80.      Nach Art. 267 AEUV ist das Urteil des Gerichtshofs, das in der vorliegenden Rechtssache ergehen wird, für das vorlegende Gericht hinsichtlich der Auslegung des Unionsrechts bei der Entscheidung über den Rechtsstreit, mit dem es befasst ist, verbindlich. Das vorlegende Gericht muss daher gegebenenfalls von der Beurteilung des Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) abweichen, wenn es angesichts des Urteils des Gerichtshofs der Auffassung ist, dass sie nicht dem Unionsrecht entspricht, indem es gegebenenfalls die nationale Vorschrift(87), die es verpflichtet, den Entscheidungen des Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) nachzukommen, unangewendet lässt(88).

81.      Ich schlage dem Gerichtshof daher vor, festzustellen, dass Art. 2 EUV und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV im Licht von Art. 47 der Charta nationalen Vorschriften wie Art. 42a §§ 1 und 2 und Art. 107 § 1 Nr. 3 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit entgegenstehen, wonach es erstens den nationalen Gerichten bei der Prüfung, ob sie in Anbetracht ihrer Zusammensetzung ein zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht darstellen, untersagt ist, die Rechtmäßigkeit und die Bindungswirkung von Entscheidungen der Disziplinarkammer zu prüfen, mit denen eine Zustimmung zur Strafverfolgung, zu Maßnahmen der Freiheitsentziehung oder Festnahme gegen Richter oder zu ihrer Suspendierung erteilt wird, und wonach zweitens eine solche Prüfung als Disziplinarvergehen behandelt wird.

4.      Vierte Frage in der Rechtssache C615/20 und erste, dritte und vierte Frage in der Rechtssache C671/20

82.      Die vierte Frage des vorlegenden Gerichts in der Rechtssache C‑671/20 enthält die Aussage, dass das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) keinen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz gewährleiste, ohne in hinreichender Weise näher darzulegen, wie nach Art. 94 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs erforderlich, warum dies seiner Auffassung nach der Fall ist. Der Gerichtshof ist daher nicht in der Lage, das vorlegende Gericht bei der Beurteilung der Frage zu unterstützen, ob das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) den Anforderungen u. a. nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV genügt. Ich schlage dem Gerichtshof daher vor, festzustellen, dass die vierte Frage in der Rechtssache C‑671/20, soweit mit ihr um diese Beurteilung ersucht wird, unzulässig ist.

83.      Mit seiner vierten Frage in der Rechtssache C‑615/20 und seiner ersten und seiner dritten Frage in der Rechtssache C‑671/20 möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen geklärt wissen, welche Folgen sich aus der Feststellung, dass die Disziplinarkammer den Anforderungen u. a. nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV im Licht von Art. 47 der Charta nicht genügte, für die Zuständigkeit dieser Kammer für die Erteilung einer Zustimmung zur Strafverfolgung, zu Maßnahmen der Freiheitsentziehung oder Festnahme gegen Richter und Gerichtsassessoren oder zu ihrer Suspendierung sowie der Kürzung ihrer Bezüge ergeben. Das vorlegende Gericht möchte insbesondere wissen, ob Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sowie die Grundsätze des Vorrangs des Unionsrechts, der loyalen Zusammenarbeit und der Rechtssicherheit nationalen Bestimmungen wie Art. 41b §§ 1 und 3 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit entgegenstehen, wonach die Zusammensetzung eines Gerichts aufgrund einer Entscheidung der Disziplinarkammer geändert werden kann, mit der eine Zustimmung zur Strafverfolgung, zu Maßnahmen der Freiheitsentziehung oder Festnahme gegen einen Richter, zu seiner Suspendierung sowie der Kürzung seiner Bezüge erteilt wird. Es möchte ferner wissen, ob nach Art. 2 EUV, Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und den Grundsätzen des Vorrangs des Unionsrechts, der loyalen Zusammenarbeit und der Rechtssicherheit alle staatlichen Organe, einschließlich des vorlegenden Gerichts, verpflichtet sind, Entscheidungen der Disziplinarkammer außer Acht zu lassen, so dass es einem Richter, dessen Immunität von der Strafverfolgung aufgehoben und der suspendiert wurde, ermöglicht wird, dem Spruchkörper dieses Gerichts anzugehören(89). Schließlich möchte es wissen, ob ein Richter, der an diesem Gericht an die Stelle des suspendierten Richters getreten ist, über Fragen der Anwendung und Auslegung des Unionsrechts entscheiden kann(90).

84.      In den Nrn. 66 bis 69 der vorliegenden Schlussanträge wird dargelegt, warum die Disziplinarkammer zu dem Zeitpunkt, zu dem sie ihren Richter I. T. betreffenden Beschluss erließ, kein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht war und somit den Anforderungen nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV im Licht von Art. 47 der Charta nicht genügte(91). Der Verstoß gegen diese Bestimmungen ist besonders schwerwiegend, da eine Gesamtwürdigung des Verfahrens zur Ernennung der der Disziplinarkammer angehörenden Richter und der Bedingungen, unter denen diese Kammer tätig war, Raum für berechtigte Zweifel lässt, was die Möglichkeit angeht, dass auf ihre Mitglieder von außen Druck ausgeübt werden konnte. Durch diese Ungewissheit wurde meines Erachtens die Integrität dieser Kammer und aller von ihr erlassenen Rechtsakte, einschließlich des Richter I. T. betreffenden Beschlusses, untergraben.

85.      Der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts verpflichtet alle mitgliedstaatlichen Stellen, den unionsrechtlichen Vorschriften volle Wirksamkeit zu verschaffen. Das Recht der Mitgliedstaaten darf somit die diesen verschiedenen Vorschriften zuerkannte Wirkung in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet nicht beeinträchtigen. Ein im Rahmen seiner Zuständigkeit angerufenes nationales Gericht ist verpflichtet, jede nationale Bestimmung, die einer Bestimmung des Unionsrechts mit unmittelbarer Wirkung, wie Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, entgegensteht, unangewendet zu lassen(92). Außerdem sind die Mitgliedstaaten nach dem in Art. 4 Abs. 3 EUV vorgesehenen Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit verpflichtet, die rechtswidrigen Folgen eines Verstoßes gegen das Unionsrecht zu beheben(93). In Anwendung des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts ist der Beschluss der Disziplinarkammer nichtig(94).

86.      Die Abschaffung der Disziplinarkammer durch das Gesetz vom 9. Juni 2022 hat nicht zur Folge, dass ihre Beschlüsse als nichtig gelten. Nach nationalem Recht bleiben die Suspendierung von Richter I. T. und die Kürzung seiner Bezüge bestehen. Um diesen Zustand zu beheben, muss er bei der neu eingerichteten Kammer für dienstrechtliche Verantwortung einen Antrag stellen und den Beschluss der Disziplinarkammer anfechten. Es obliegt der polnischen Regierung(95), nicht nur sicherzustellen, dass die Zuständigkeit der Disziplinarkammer durch ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht ausgeübt wird, sondern auch, die Wirkungen der von dieser Kammer erlassenen Beschlüsse unverzüglich(96) aufzuheben(97). Die unmittelbare und wirksame Anwendung des Unionsrechts kann nicht von der Voraussetzung der Erhebung einer Klage bei der Kammer für dienstrechtliche Verantwortung abhängig gemacht werden. Andernfalls wird die Wirksamkeit des Unionsrechts in zweifacher Hinsicht beeinträchtigt. Erstens hinge sie davon ab, ob die Beteiligten die Initiative dahin ergreifen, vor dieser Kammer ein neues Verfahren einzuleiten. Zweitens blieben die Beschlüsse der Disziplinarkammer in Kraft, bis dieses Verfahren abgeschlossen wäre.

87.      Wie in den Nrn. 62 und 64 der vorliegenden Schlussanträge ausgeführt, kommt dem Beschluss der Disziplinarkammer nach polnischem Recht offenbar keine Rechtskraft zu. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Rechtskraft findet demnach auf ihn keine Anwendung(98). Nach dieser Rechtsprechung(99)steht außerdem fest, dass angesichts dessen, dass der Beschluss der Disziplinarkammer von einem Spruchkörper erlassen wurde, der kein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht ist, der Grundsatz der Rechtssicherheit oder die behauptete Rechtskraft eines Urteils kein Hindernis darstellt, das den Gesetzgeber oder ein Gericht davon abhält, die rechtswidrigen Folgen dieses Verstoßes gegen das Unionsrecht als nichtig anzusehen(100).

88.      Ich schlage dem Gerichtshof daher vor, festzustellen, dass alle staatlichen Organe, einschließlich des vorlegenden Gerichts, zu dem auch Richter I. T. gehört(101) – sowie Organe, die zur Bestimmung und Änderung der Zusammensetzung nationaler Gerichte befugt sind(102), den Beschluss der Disziplinarkammer außer Acht lassen müssen und es ihm ermöglichen müssen, dem Spruchkörper des vorlegenden Gerichts anzugehören(103).

89.      Diese Feststellungen stehen unter dem wichtigen Vorbehalt, dass eine Rechtssache nicht einem anderen Spruchkörper neu zugewiesen wurde, der seinerseits ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht darstellt. Zwar wäre der Wirksamkeit des Unionsrechts zweifellos gedient, wenn alle schädlichen Wirkungen des Beschlusses der Disziplinarkammer beseitigt würden, einschließlich der Ex-nunc-Aufhebung von Entscheidungen, mit denen Richter I. T. zugewiesene Rechtssachen einem anderen Spruchkörper neu zugewiesen worden wären, dieser Ansatz – für den alle zuvor diesem Richter zugewiesenen Rechtssachen wieder aufgenommen und/oder neu verhandelt werden müssten – ließe jedoch das Recht der Rechtsuchenden auf Rechtssicherheit(104) und ein Verfahren innerhalb angemessener Frist nach Art. 47 der Charta außer Acht.

90.      Daraus folgt im Rahmen des Vorabentscheidungsersuchens in der Rechtssache C‑615/20, dass Richter I. T. dem mit dem Ausgangsverfahren befassten Spruchkörper weiterhin angehören sollte. Der Beschluss der Disziplinarkammer vom 18. November 2020, mit dem er suspendiert werden sollte, wurde am selben Tag erlassen wie das Vorabentscheidungsersuchen in der Rechtssache C‑615/20, mit dem das Verfahren vor dem vorlegenden Gericht ausgesetzt wurde. Den dem Gerichtshof vorliegenden Akten ist zu entnehmen, dass das der Rechtssache C‑615/20 zugrunde liegende Verfahren ungeachtet der Suspendierung von Richter I. T. nicht anderweitig zugewiesen wurde(105). Das dem Vorabentscheidungsersuchen in der Rechtssache C‑671/20 zugrunde liegende Verfahren wurde einem anderen Spruchkörper des vorlegenden Gerichts neu zugewiesen. Den dem Gerichtshof vorliegenden Akten ist kein Hinweis darauf zu entnehmen, dass es sich bei diesem Spruchkörper nicht um ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht handelt. In diesem Fall kann dieses Verfahren vor dem neuen Spruchkörper verbleiben(106).

91.      Ich schlage dem Gerichtshof daher vor, festzustellen, dass nach Art. 2 EUV und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sowie den Grundsätzen des Vorrangs des Unionsrechts, der loyalen Zusammenarbeit und der Rechtssicherheit alle staatlichen Organe, einschließlich des vorlegenden Gerichts, verpflichtet sind, die rechtswidrigen Folgen von Entscheidungen der Disziplinarkammer, wie deren Beschluss vom 18. November 2020, aufzuheben und es somit einem Richter, der suspendiert wurde, zu ermöglichen, diesem Gericht anzugehören, es sei denn, Rechtssachen sind einem anderen Spruchkörper neu zugewiesen worden, der ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht darstellt.

VI.    Ergebnis

92.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Fragen des Sąd Okręgowy w Warszawie (Regionalgericht Warschau, Polen) wie folgt zu beantworten:

Art. 2 EUV und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV im Licht von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union

–        sind auf Fälle anwendbar, in denen ein Gericht nach nationalem Recht eine Zustimmung u. a. zur Strafverfolgung, zu Maßnahmen der Freiheitsentziehung oder Festnahme gegen Richter oder Gerichtsassessoren (Richter auf Probe) oder zu ihrer Suspendierung sowie der hieran anknüpfenden Kürzung ihrer Bezüge erteilt. Diese Vorschriften des Unionsrechts stehen nationalen Regelungen entgegen, nach denen einem Gericht, das die Anforderungen an die Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und vorherige Errichtung durch Gesetz nicht erfüllt, die Zuständigkeit für die Erteilung einer Zustimmung zur Strafverfolgung, zu Maßnahmen der Freiheitsentziehung oder Festnahme gegen Richter oder Gerichtsassessoren oder zu ihrer Suspendierung sowie der hieran anknüpfenden Kürzung ihrer Bezüge zugewiesen wird;

–        stehen nationalen Vorschriften entgegen, wonach es erstens den nationalen Gerichten bei der Prüfung, ob sie in Anbetracht ihrer Zusammensetzung ein zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht darstellen, untersagt ist, die Rechtmäßigkeit und die Bindungswirkung von Entscheidungen der Izba Dyscyplinarna (Disziplinarkammer) des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) zu prüfen, mit denen eine Zustimmung zur Strafverfolgung, zu Maßnahmen der Freiheitsentziehung oder Festnahme gegen Richter oder zu ihrer Suspendierung erteilt wird, und wonach zweitens eine solche Prüfung als Disziplinarvergehen behandelt wird.

Art. 2 EUV und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sowie die Grundsätze des Vorrangs des Unionsrechts, der loyalen Zusammenarbeit und der Rechtssicherheit verpflichten alle staatlichen Organe, einschließlich des vorlegenden Gerichts, die rechtswidrigen Folgen von Entscheidungen der Disziplinarkammer, mit denen eine Zustimmung zur Strafverfolgung, zu Maßnahmen der Freiheitsentziehung oder Festnahme gegen Richter oder zu ihrer Suspendierung erteilt wurde, aufzuheben und es somit einem Richter, der suspendiert wurde, zu ermöglichen, diesem Gericht anzugehören, es sei denn, Rechtssachen sind einem anderen Spruchkörper neu zugewiesen worden, der ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht darstellt.


1      Originalsprache: Englisch.


2      Im Folgenden: Disziplinarkammer.


3      Das vorlegende Gericht ist in den Rechtssachen C‑615/20 und C‑671/20, wenngleich in unterschiedlicher Besetzung, dasselbe.


4      Im Folgenden: Charta.


5      Nach Art. 4 Abs. 3 EUV.


6      Rechtssache VIII K 105/17.


7      Nach den geltenden Rechtsvorschriften war für Anträge auf Zustimmung zur Strafverfolgung oder zu Maßnahmen der Freiheitsentziehung oder Festnahme eines Richters sowohl in erster als auch in zweiter Instanz die Disziplinarkammer zuständig.


8      Rechtssache II DO 74/20. Im Folgenden: Beschluss der Disziplinarkammer.


9      D. h. von denselben Richtern oder Richtern und Schöffen.


10      Vgl. u. a. Urteil vom 19. November 2019, A. K. u. a. (Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts) (C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982) (im Folgenden: Urteil A. K.).


11      Im Folgenden: Kammer für Arbeits- und Sozialversicherungssachen.


12      Rechtssache III PO 7/18.


13      Rechtssache III PO 8/18 und III PO 9/18.


14      II DO 52/20.


15      Vgl. Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny (C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).


16      Beschluss des Gerichtshofs vom 8. April 2020, Kommission/Polen (C‑791/19 R, EU:C:2020:277, Rn. 34 und 35 und die dort angeführte Rechtsprechung) (im Folgenden: Beschluss vom 8. April 2020).


17      Urteil vom 5. November 2019, Kommission/Polen (Unabhängigkeit der ordentlichen Gerichte) (C‑192/18, EU:C:2019:924, Rn. 114 und die dort angeführte Rechtsprechung).


18      Im Fall der gegen einen Richter erhobenen Anklage wegen einer vorsätzlichen Straftat, die von Amts wegen verfolgt wird, sei das Disziplinargericht hierzu verpflichtet.


19      Urteil vom 21. Januar 2020, Banco de Santander (C‑274/14, EU:C:2020:17, Rn. 62 und die dort angeführte Rechtsprechung).


20      Vgl. Urteil vom 2. April 2020, CRPNPAC und Vueling Airlines (C‑370/17 und C‑37/18, EU:C:2020:260, Rn. 88 und 89).


21      Etwa auf den Justizminister, die Präsidenten der Gerichte, das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) oder Disziplinarorgane.


22      Mit Ausnahme der Rechtssache VIII K 105/17.


23      Die Rechtsgrundlage dieses Beschlusses vom 24. November 2020 war Art. 47b §§ 1 und 3 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit.


24      Mit Ausnahme der Rechtssache VIII K 105/17, in der das Vorabentscheidungsersuchen in der Rechtssache C‑615/20 ergangen ist.


25      Urteil vom 26. März 2020, Überprüfung Simpson/Rat und HG/Kommission (C‑542/18 RX‑II und C‑543/18 RX‑II, EU:C:2020:232, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung) (im Folgenden: Urteil Simpson).


26      Durch den Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht).


27      Vgl. Art. 439 § 1 Nrn. 1 und 2 in Verbindung mit Art. 523 § 1 der Strafprozessordnung.


28      Im Folgenden: Präsident der Republik.


29      Vgl. Urteil vom 4. März 2020, TK (Rechtssache P 22/19), und Beschluss vom 20. April 2020, TK (Rechtssache U 1/20).


30      Urteil vom 2. April 2020, CRPNPAC und Vueling Airlines (C‑370/17 und C‑37/18, EU:C:2020:260, Rn. 88 und 89 und die dort angeführte Rechtsprechung).


31      Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny (C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 48). Nach Ansicht der polnischen Regierung sind die beim vorlegenden Gericht anhängigen Strafsachen rein innerstaatliche Angelegenheiten, auf die Art. 47 der Charta und Art. 19 Abs. 1 EUV keine Anwendung finden.


32      Urteil vom 6. September 2016, Petruhhin (C‑182/15, EU:C:2016:630, Rn. 20).


33      Urteile vom 8. September 2010, Winner Wetten (C‑409/06, EU:C:2010:503, Rn. 38), und vom 27. Februar 2014, Pohotovosť (C‑470/12, EU:C:2014:101, Rn. 28 und 29).


34      Urteil vom 16. November 2021, Prokuratura Rejonowa w Mińsku Mazowieckim u. a. (C‑748/19 bis C‑754/19, EU:C:2021:931, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).


35      Vgl. Rn. 57.


36      Vgl. entsprechend Urteil vom 16. November 2021, Prokuratura Rejonowa w Mińsku Mazowieckim u. a. (C‑748/19 bis C‑754/19, EU:C:2021:931, Rn. 49). Vgl. auch Urteil vom 6. Oktober 2021, W. Ż.  (Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung) (C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 93 und 94).


37      Vgl. entsprechend Urteil vom 16. November 2021, Prokuratura Rejonowa w Mińsku Mazowieckim u. a. (C‑748/19 bis C‑754/19, EU:C:2021:931, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung).


38      Urteil vom 22. März 2022 (C‑508/19, EU:C:2022:201, Rn. 60 bis 71).


39      Nach Art. 258 AEUV.


40      ABl. 2021, C 252, S. 9.


41      Die unterschiedlichen Wirkungen von Urteilen des Gerichtshofs nach den Art. 258 bzw. 267 AEUV dürfen nicht überbetont werden. So hat der Gerichtshof kürzlich in seinem Urteil vom 10. März 2022, Grossmania (C‑177/20, EU:C:2022:175), die Wirkungen beschrieben, die seine Urteile in beiden Verfahren in Verbindung miteinander haben können.


42      Es ist unstreitig, dass das vorlegende Gericht als Gericht im Sinne des Unionsrechts innerhalb der polnischen Rechtsordnung in den „vom Unionsrecht erfassten Bereichen“ nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV tätig wird und daher den Anforderungen an einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz genügen muss, Urteil vom 6. Oktober 2021, W. Ż.  (Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung) (C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 106 und die dort angeführte Rechtsprechung).


43      Urteil vom 22. Februar 2022, RS (Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts) (C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 34 bis 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).


44      Siehe Fragen 1 c) und 3 f) in der Rechtssache C‑615/20.


45      Nämlich Art. 3 Nr. 5, Art. 27 und Art. 73 § 1 des Gesetzes. Mit dem Beschluss vom 8. April 2020 wurde die Republik Polen weiter verpflichtet, es zu unterlassen, die bei der Disziplinarkammer anhängigen Verfahren an einen Spruchkörper zu verweisen, der die insbesondere im Urteil A. K. definierten Anforderungen an die Unabhängigkeit nicht erfüllt.


46      Vgl. Art. 27 § 1 Nr. 1a des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht und Art. 80, Art. 110 § 2a und Art. 129 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit.


47      In jedem Fall endete die Aussetzung mit der Verkündung des Urteils vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen (Disziplinarordnung für Richter) (C‑791/19, EU:C:2021:596) (im Folgenden: Urteil Disziplinarordnung für Richter). Die Feststellung, dass die polnische Regierung dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verstoßen hat, dass sie die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Disziplinarkammer nicht gewährleistet hatte, und insbesondere die Kriterien, auf die sich der Gerichtshof bei dieser Feststellung gestützt hat, sind für das vorliegende Verfahren von besonderer Relevanz, vgl. auch Urteil A. K.


48      Beschluss der Vizepräsidentin des Gerichtshofs vom 14. Juli 2021, Kommission/Polen (C‑204/21 R, EU:C:2021:593) (im Folgenden: Beschluss vom 14. Juli 2021).


49      Dies gilt unverzüglich und bis zur Verkündung des das Verfahren in der Rechtssache C‑204/21, Kommission/Polen (Unabhängigkeit und Privatleben von Richtern), beendenden Urteils.


50      Im Sinne der Definition im Urteil A. K.


51      Beschluss des Vizepräsidenten des Gerichtshofs vom 27. Oktober 2021, Kommission/Polen (C‑204/21 R, nicht veröffentlicht, EU:C:2021:878).


52      Was von der polnischen Regierung nicht bestritten wurde.


53      Vorbehaltlich entsprechender Feststellung durch das vorlegende Gericht ist dieses Gesetz am 15. Juli 2022 in Kraft getreten.


54      Etwa um die Aufhebung seiner Suspendierung zu erwirken.


55      Wie von der polnischen Regierung und der Kommission in ihren Erklärungen vorgetragen, ist es mangels einschlägiger Unionsregelungen Sache der Mitgliedstaaten, zu bestimmen, ob ein bestimmtes Handeln eines Richters disziplinarischen oder strafrechtlichen Charakter hat. Das Unionsrecht steht somit grundsätzlich einer Bestimmung wie Art. 181 der Verfassung der Republik Polen nicht entgegen, die die Aufhebung der Immunität eines Richters von der Strafverfolgung und von Maßnahmen der Freiheitsentziehung oder Festnahme gegen ihn durch ein durch Gesetz errichtetes Gericht vorsieht. Siehe Frage 2 in der Rechtssache C‑615/20.


56      Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia „Forumul Judecătorilor din România“ u. a. (C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 210 bis 213). Siehe Frage 2 a) in der Rechtssache C‑615/20.


57      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. März 2021, A. B. u. a. (Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf) (C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 112 und die dort angeführte Rechtsprechung).


58      Nämlich Sachen betreffend die Zustimmung dazu, dass Richter oder Gerichtsassessoren strafrechtlich zur Verantwortung gezogen oder in Untersuchungshaft genommen werden, arbeits- und sozialversicherungsrechtliche Sachen, die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) betreffen, und Sachen, die die Versetzung dieser Richter in den Ruhestand betreffen.


59      Vgl. auch Beschluss vom 14. Juli 2021 (Rn. 81).


60      Vgl. entsprechend Urteil Disziplinarordnung für Richter (Rn. 80 und 83).


61      Siehe Fragen 1 a) und 3 d) in der Rechtssache C‑615/20.


62      Es wurde also die Möglichkeit der Versetzung bereits beim Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) tätiger Richter in diese Kammer ausgeschlossen, obwohl solche Versetzungen grundsätzlich zulässig waren.


63      23 der 25 Mitglieder der KRS in ihrer neuen Zusammensetzung wurden von der polnischen Exekutive und Legislative benannt oder gehören ihnen an. Zuvor hatten die Richter 15 Mitglieder der KRS aus ihren eigenen Reihen gewählt.


64      Ustawa o Sądzie Najwyższym (Gesetz über das Oberste Gericht) vom 8. Dezember 2017 (Dz. U. 2018, Pos. 5), in konsolidierter Fassung, veröffentlicht im Dziennik Ustaw Rzeczypospolitej Polskiej von 2019 (Pos. 825).


65      Dazu gehörten u. a. die Schaffung von zwei neuen Kammern in diesem Gericht, darunter die Disziplinarkammer, sowie die Einführung einer Regelung zur Herabsetzung des Ruhestandsalters der Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) sowie eine Anwendung dieser Maßnahme auf die amtierenden Richter dieses Gerichts. Die vorzeitige Beendigung der Amtszeit einiger Mitglieder der KRS und die Umbildung dieser Einrichtung erfolgten in einem Kontext, in dem erwartet wurde, dass zahlreiche Stellen am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), insbesondere in seiner Disziplinarkammer, zu besetzen sein würden.


66      Der Gerichtshof hat ferner festgestellt, dass eine solche Entwicklung einen Rückschritt beim Schutz des Wertes der Rechtsstaatlichkeit darstellte, Urteil Disziplinarordnung für Richter (Rn. 112).


67      Vgl. Nr. 212 meiner Schlussanträge in der Rechtssache C‑204/21, Kommission/Polen (Unabhängigkeit und Privatleben von Richtern).


68      Siehe Nrn. 28 und 29 der vorliegenden Schlussanträge. Siehe auch Frage 3 e) in der Rechtssache C‑615/20. Der Gerichtshof hat festgestellt, dass die Rolle der KRS im Verfahren der Ernennung der Richter der Disziplinarkammer maßgeblich und dass ihre Unabhängigkeit von der Politik zweifelhaft ist, was berechtigte Zweifel an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Disziplinarkammer aufkommen lässt, Urteil Disziplinarordnung für Richter (Rn. 101 und 108).


69      Siehe Frage 3 f) in der Rechtssache C‑615/20.


70      Urteil A. K. (Rn. 120 bis 122).


71      Siehe Nr. 28 der vorliegenden Schlussanträge. Vielleicht kann insoweit eine Parallele gezogen werden zum Urteil vom 27. Mai 2019, OG und PI (Staatsanwaltschaften Lübeck und Zwickau) (C‑508/18, EU:C:2019:456, Rn. 73 bis 90), zu den Verbindungen zwischen dem deutschen Justizminister und der Staatsanwaltschaft im Hinblick auf die Gefahr, dass Letzterer durch Ersteren in konkreten Fällen Weisungen erteilt werden.


72      In Verbindung mit den anderen Gesichtspunkten, die der Gerichtshof in seinem Urteil Disziplinarordnung für Richter angeführt hat.


73      Urteil Simpson (Rn. 55).


74      Urteil vom 1. Juli 2008, Chronopost/UFEX u. a. (C‑341/06 P und C‑342/06 P, EU:C:2008:375, Rn. 46).


75      Vgl. Urteile Simpson (Rn. 57) und, vom 24. März 2022, Wagenknecht/Kommission (C‑130/21 P, EU:C:2022:226, Rn. 15), in Bezug auf den Gerichtshof und das Gericht. Vgl. Urteil vom 6. Oktober 2021, W. Ż. (Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung) (C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 126 bis 131), in Bezug auf die Gerichte der Mitgliedstaaten.


76      Urteile Simpson (Rn. 55 und 57) und, vom 1. Juli 2008, Chronopost/UFEX u. a. (C‑341/06 P und C‑342/06 P, EU:C:2008:375, Rn. 46).


77      Urteil vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses (C‑64/16, EU:C:2018:117, Rn. 29, 36 und 37).


78      Urteil Simpson (Rn. 55).


79      Vgl. Urteil vom 2. März 2021, A. B. u. a. (Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf) (C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 128 und die dort angeführte Rechtsprechung). So könnte z. B. geltend gemacht werden, dass eine Prüfung der Rolle der KRS in dem zur Ernennung eines Richters führenden Verfahren ein Disziplinarvergehen darstellt.


80      Im Urteil vom 4. März 2020 (Rechtssache P 22/19) (Dz. U. 2020, Pos. 413) hat das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) festgestellt, dass Bestimmungen des nationalen Rechts, die einen Antrag auf Ausschluss eines Richters von einem Verfahren mit der Begründung seiner fehlerhaften Ernennung durch den Präsidenten der Republik auf Vorschlag der KRS zulassen, mit Art. 179 in Verbindung mit Art. 144 Abs. 3 Nr. 17 der Verfassung der Republik unvereinbar sind.


81      Urteil A. K.  (Rn. 145).


82      Im Urteil des Gerichtshofs vom 2. März 2021, A. B. u. a. (Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf) (C‑824/18, EU:C:2021:153), wird in Rn. 129 festgestellt, dass sich „das etwaige Fehlen der Möglichkeit, im Zusammenhang mit einem Verfahren zur Ernennung von Richtern eines nationalen obersten Gerichts einen gerichtlichen Rechtsbehelf einzulegen, in bestimmten Fällen als unproblematisch im Hinblick auf die sich aus dem Unionsrecht, insbesondere aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, ergebenden Anforderungen erweisen kann“.


83      Vgl. Urteil vom 2. März 2021, A. B. u. a. (Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf) (C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 128 bis 136 und die dort angeführte Rechtsprechung).


84      Urteil A. K.  Vgl. auch Urteile vom 2. März 2021, A. B. u. a.  (Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf) (C‑824/18, EU:C:2021:153), und Disziplinarordnung für Richter.


85      Das Urteil Disziplinarordnung für Richter betrifft die Zuständigkeit der Disziplinarkammer für Disziplinarsachen, die Richter am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) und der ordentlichen Gerichtsbarkeit betreffen. Wie in Nr. 69 der vorliegenden Schlussanträge und in Nr. 212 meiner Schlussanträge in der Rechtssache C‑204/21, Kommission/Polen (Unabhängigkeit und Privatleben von Richtern), dargelegt, gilt die in dieser Rechtsprechung angeführte Begründung auch für die Zuständigkeit der Disziplinarkammer für die Zustimmung zur Strafverfolgung oder zu Maßnahmen der Freiheitsentziehung oder Festnahme gegen Richter und Gerichtsassessoren oder zu ihrer Suspendierung sowie der Kürzung ihrer Bezüge.


86      Urteil vom 10. März 2022, Grossmania (C‑177/20, EU:C:2022:175, Rn. 35, 36, 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).


87      Vgl. Art. 190 Abs. 1 der Verfassung der Republik Polen.


88      Vgl. entsprechend Urteil vom 22. Februar 2022, RS (Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts) (C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 73 bis 75). Vgl. auch Urteile vom 2. März 2021, A. B. u. a. (Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf) (C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 146), und vom 18. Mai 2021, Asociaţia „Forumul Judecătorilor din România“ u. a. (C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 250).


89      Siehe Fragen 4 a) und b) in der Rechtssache C‑615/20 und Frage 3 a) der Rechtssache C‑671/20.


90      Siehe Frage 3 b) in der Rechtssache C‑671/20. Nach Ansicht von YP darf eine Zustimmung zur Strafverfolgung gegen einen Richter nur von einem unabhängigen und unparteiischen Gericht und nach angemessener und transparenter Prüfung einer Rechtssache erteilt werden. Da die Disziplinarkammer keine dieser Anforderungen erfüllt habe, sei ihr Beschluss nichtig. Nach Ansicht der polnischen Regierung ist die Suspendierung von Richter I. T. gültig; seine Teilnahme am Strafverfahren würde daher das Recht der Parteien auf ein unabhängiges, zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht verletzen.


91      Unabhängig davon, welche Art von Zuständigkeit sie angeblich ausübte.


92      Da die bestehende Rechtsprechung des Gerichtshofs – insbesondere in seinem Urteil Disziplinarordnung für Richter – eine klare Antwort auf die Frage gibt, ob die Disziplinarkammer den Anforderungen nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV genügt, muss der nationale Richter im Rahmen seiner Zuständigkeit alles Erforderliche tun, damit diese Auslegung umgesetzt wird, vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. März 2022, Grossmania (C‑177/20, EU:C:2022:175, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).


93      Urteil vom 10. März 2022, Grossmania (C‑177/20, EU:C:2022:175, Rn. 63).


94      Vgl. entsprechend Urteil vom 6. Oktober 2021, W. Ż. (Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung) (C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 152 und 155).


95      Und allen der Republik Polen zuzurechnenden Einrichtungen, einschließlich des vorlegenden Gerichts.


96      Vgl. entsprechend Urteil vom 9. März 1978, Simmenthal (106/77, EU:C:1978:49, Rn. 23), wonach u. a. jede Bestimmung einer nationalen Rechtsordnung oder jede Gesetzgebungs‑, Verwaltungs- oder Gerichtspraxis mit den Erfordernissen des Unionsrechts unvereinbar ist, die dadurch zu einer Abschwächung der Wirksamkeit des Unionsrechts führen würde, dass einem für die Anwendung dieses Rechts zuständigen Gericht die Befugnis abgesprochen wird, bereits zum Zeitpunkt dieser Anwendung alles Erforderliche zu tun, um diejenigen innerstaatlichen Rechtsvorschriften auszuschalten, die unter Umständen ein Hindernis für die volle Wirksamkeit der Unionsnormen bilden. Vgl. auch Urteil vom 22. Juni 2010, Melki und Abdeli (C‑188/10 und C‑189/10, EU:C:2010:363, Rn. 43 und 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).


97      Vgl. Urteil vom 19. November 1991, Francovich u. a. (C‑6/90 und C‑9/90, EU:C:1991:428, Rn. 36).


98      Vgl. Urteile vom 2. April 2020, CRPNPAC und Vueling Airlines (C‑370/17 und C‑37/18, EU:C:2020:260, Rn. 88 und 89), und vom 17. September 2020, Rosneft u. a./Rat (C‑732/18 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2020:727, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).


99      Vgl. entsprechend Urteil vom 6. Oktober 2021, W. Ż. (Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung) (C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 160).


100      Dies bedeutet nicht, dass gegen Richter, gegen die ein Verfahren vor der Disziplinarkammer beispielsweise nach Art. 80 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit eingeleitet wurde, kein weiteres Verfahren nach dieser Bestimmung vor einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht eingeleitet werden kann. Es obliegt jedoch den zuständigen staatlichen Stellen, gegen die betreffenden Richter gegebenenfalls ein solches Verfahren (erneut) einzuleiten.


101      Wäre es unmöglich, Spruchkörper des vorlegenden Gerichts zu bilden, denen auch Richter I. T. angehört, wären Gerichte nicht in der Lage, zu prüfen, ob sie unabhängig, unparteiisch und zuvor durch Gesetz errichtet sind, womit das Urteil Simpson (Rn. 55 und 57) undurchführbar würde.


102      Insbesondere ein Gerichtspräsident, vgl. Art. 41b §§ 1 und 3 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit.


103      Dies lässt die Möglichkeit eines Richters unberührt, eine Schadensersatzklage zu erheben. Das polnische Recht sieht für suspendierte Richter offenbar in bestimmten Fällen eine Entschädigung vor. Vgl. Art. 129 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit.


104      In Anbetracht der beträchtlichen Zeit, die seit der Suspendierung von Richter I. T. am 18. November 2020 verstrichen ist, könnten viele der ihm ursprünglich zugewiesenen Rechtssachen bereits entschieden worden sein.


105      Vgl. Erklärungen des Regionalstaatsanwalts, Nr. 4.


106      Mir ist bewusst, dass zwischen dem Beschluss der Disziplinarkammer vom 18. November 2020 und dem Vorabentscheidungsersuchen in der Rechtssache C‑671/20 vom 9. Dezember 2020 – und somit der Aussetzung des Ausgangsverfahrens – nur wenig Zeit lag und das Ausgangsverfahren in dieser Rechtssache in der Zwischenzeit möglicherweise nicht weiter fortgeschritten ist. Dies ändert nichts an meiner Ansicht. Rechtssicherheit und eine klare, abstrakte, für alle Fälle geltende Ansicht zu diesen Fragen müssen vor Zweckmäßigkeitsforderungen im Einzelfall Vorrang haben.