Language of document : ECLI:EU:T:2023:833

Rechtssache T415/21

Banca Popolare di Bari SpA

gegen

Europäische Kommission

 Urteil des Gerichts (Vierte erweiterte Kammer) vom 20. Dezember 2023

„Außervertragliche Haftung – Staatliche Beihilfen – Beihilfe der italienischen Behörden zugunsten von Banca Tercas – Beschluss, mit dem die Beihilfe für mit dem Binnenmarkt unvereinbar erklärt wird – Verjährung – Sukzessiver Schaden – Teilweise Unzulässigkeit – Hinreichend qualifizierter Verstoß gegen eine Rechtsnorm, die bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen – Kausalzusammenhang“

1.      Schadensersatzklage – Verjährungsfrist – Beginn – Sukzessiv eintretender Schaden – Unterbrechung der Verjährung – Den mehr als fünf Jahre vor dem Zeitpunkt der Unterbrechungshandlung liegenden Zeitraum erfassende Verjährung

(Art. 340 Abs. 2 AEUV; Satzung des Gerichtshofs, Art. 46 und 53 Abs. 1)

(vgl. Rn. 28-54, 67)

2.      Schadensersatzklage – Verjährungsfrist – Beginn – Nicht sukzessiv eintretender Schaden – Maßgeblicher Zeitpunkt – Zeitpunkt, zu dem die Schadensfolgen der Handlung gegenüber der betroffenen Person eintreten

(Art. 340 Abs. 2 AEUV; Satzung des Gerichtshofs, Art. 46 und 53 Abs. 1)

(vgl. Rn. 57-66)

3.      Außervertragliche Haftung – Voraussetzungen – Rechtswidrigkeit – Schaden – Kausalzusammenhang – Kumulative Voraussetzungen – Nichtvorliegen einer der Voraussetzungen – Abweisung der Schadensersatzklage in vollem Umfang

(Art. 340 Abs. 2 AEUV)

(vgl. Rn. 70-72)

4.      Außervertragliche Haftung – Voraussetzungen – Rechtswidrigkeit – Hinreichend qualifizierter Verstoß gegen eine Rechtsnorm, die dem Einzelnen Rechte verleiht – Rechtsnorm, die dem Einzelnen Rechte verleiht – Begriff – Art. 107 Abs. 1 AEUV – Einbeziehung – Grundsatz der guten Verwaltung – Einbeziehung

(Art. 107 Abs. 1, Art. 108 Abs. 3 und Art. 340 Abs. 2 AEUV; Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 41)

(vgl. Rn. 75, 80-100)

5.      Außervertragliche Haftung – Voraussetzungen – Rechtswidrigkeit – Hinreichend qualifizierter Verstoß gegen das Unionsrecht – Voraussetzung einer offenkundigen und erheblichen Überschreitung der Grenzen des Ermessens durch die Organe – Beschluss der Kommission, mit dem unzutreffend das Vorliegen einer mit dem Binnenmarkt unvereinbaren Beihilfe festgestellt und ihre Rückforderung angeordnet wird – Besonders komplexer rechtlicher und tatsächlicher Kontext – Kein hinreichend qualifizierter Verstoß

(Art. 340 Abs. 2 AEUV)

(vgl. Rn. 103-125)

6.      Außervertragliche Haftung – Voraussetzungen – Kausalzusammenhang – Beweislast – Beschluss der Kommission, mit dem unzutreffend das Vorliegen einer mit dem Binnenmarkt unvereinbaren Beihilfe festgestellt und ihre Rückforderung angeordnet wird – Schaden aufgrund eines Vertrauensverlusts der Kundschaft des durch die Beihilfe begünstigten Unternehmens – Durch mehrere Faktoren verursachter Vertrauensverlust – Kein unmittelbarer Kausalzusammenhang zwischen dem Verhalten der Kommission und den geltend gemachten Schäden

(Art. 340 Abs. 2 AEUV)

(vgl. Rn. 132-153, 155-161)

Zusammenfassung

Im Jahr 2013 hatte die italienische Bank Banca Popolare di Bari SpA (BPB) ihr Interesse an der Zeichnung einer Kapitalerhöhung einer anderen italienischen Bank, der Banca Tercas (im Folgenden „Tercas“), die seit 2012 unter Sonderverwaltung stand, bekundet. Ihre Interessensbekundung war jedoch an die vollständige Abdeckung des Vermögensdefizits von Tercas durch den Interbankenfonds zur Einlagensicherung (im Folgenden: FITD) geknüpft.

Im Jahr 2014 unterstützte der FITD die Tercas mit Zustimmung der Zentralbank der Italienischen Republik, indem er ihr negatives Eigenkapital deckte und ihr zwei Garantien gewährte. In der Folge zeichnete die BPB zwei Kapitalerhöhungen bei Tercas.

Mit Beschluss vom 23. Dezember 2015(1) (im Folgenden: Tercas-Beschluss) stellte die Europäische Kommission fest, dass die genannte Intervention des FITD zur Unterstützung von Tercas, die seit dem 1. Oktober 2014 vollständig im Eigentum der BPB stand, eine mit dem Binnenmarkt unvereinbare staatliche Beihilfe im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV darstelle, die von der Italienischen Republik von der Begünstigten zurückzufordern sei.

Der Tercas-Beschluss wurde jedoch mit Urteil des Gerichts vom 19. März 2019(2), das im Rechtsmittelverfahren bestätigt worden ist(3), wegen Verstoßes gegen Art. 107 Abs. 1 AEUV für nichtig erklärt.

Mit Schreiben vom 28. April 2021 verlangte die BPB von der Kommission den Ersatz des Schadens, der ihr aufgrund des Tercas-Beschlusses entstanden sein soll, und bezifferte diesen Schaden auf 228 Mio. Euro. Nachdem die Kommission diesen Antrag abgelehnt hatte, erhob die BPB eine Klage wegen außervertraglicher Haftung der Union nach Art. 340 Abs. 2 AEUV.

Zur Stützung dieser Klage macht die BPB geltend, der Tercas-Beschluss habe zu einer Beschädigung des Vertrauens der Kundschaft ihr gegenüber geführt, was zu einem Verlust an Einlagen und Kundschaft (entgangener Gewinn), einer Beeinträchtigung ihres Rufs (immaterieller Schaden) sowie zu Ausgaben für Maßnahmen zur Minderung der negativen Auswirkungen des Tercas-Beschlusses (tatsächlicher Schaden) geführt habe.

Das Gericht weist die Klage ab und klärt dabei die Voraussetzungen für die außervertragliche Haftung der Union wegen fehlerhafter Anwendung der Vorschriften über staatliche Beihilfen durch die Kommission.

Würdigung durch das Gericht

Da sich die Kommission auf den Ablauf der in Art. 46 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union (im Folgenden: Satzung des Gerichtshofs) für die Erhebung von Klagen gegen die Union im Bereich der außervertraglichen Haftung(4) vorgesehenen Verjährungsfrist von fünf Jahren berufen hat, hat das Gericht darauf hingewiesen, dass diese Frist erst zu dem Zeitpunkt zu laufen beginnt, zu dem sich der zu ersetzende Schaden tatsächlich verwirklicht hat.

Das Gericht stellt fest, dass der mit Schreiben vom 28. April 2021 an die Kommission gerichtete Schadensersatzantrag eine die Verjährung unterbrechende Handlung darstellt, und außerdem hebt es hervor, dass die Verjährung dann, wenn es sich um einen sukzessiven Schaden handelt, den mehr als fünf Jahre vor der die Verjährung unterbrechenden Handlung liegenden Zeitraum erfasst, ohne die später entstandenen Ansprüche zu beeinflussen.

Hierzu führt das Gericht aus, dass die geltend gemachten materiellen Schäden, die sich sowohl aus dem Verlust an direkten Einlagen als auch aus dem Verlust an Kundschaft durch die BPB ergeben, sukzessiv eingetreten sind, da sie seit dem Erlass des Tercas-Beschlusses akkumuliert hätten und erneut eingetreten wären. Auch der geltend gemachte immaterielle Schaden wegen der Beeinträchtigung des Rufes von BPB ist sukzessiv eingetreten, da dieser Schaden auf dem Tercas-Beschluss beruht, der zunächst erlassen und mittels einer Pressemitteilung bekannt gemacht und anschließend im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht wurde.

Folglich ist der Schadensersatzantrag der BPB nicht verjährt, soweit er den Ersatz der Schäden betrifft, die sich aus dem Verlust an direkten Einlagen und Kundschaft und der Beeinträchtigung ihres Rufs ergeben und nach dem 28. April 2016, d. h. während des Zeitraums, der weniger als fünf Jahre vor dem Schadensersatzantrag vom 28. April 2021 liegt, entstanden sind.

Was den geltend gemachten tatsächlichen Schaden angeht, der in den Kosten bestehen soll, die der BPB durch Maßnahmen zur Minderung der negativen Auswirkungen des Tercas-Beschlusses entstanden sein sollen, hat das Gericht den sukzessiven Charakter mehrerer insoweit geltend gemachter Schäden verneint, da diese tatsächlich zu einem bestimmten Zeitpunkt eingetreten sind und sich ihre Beträge nicht im Verhältnis zur verstrichenen Zeit erhöht haben.

Zur Begründetheit weist das Gericht vorab darauf hin, dass die außervertragliche Haftung der Union von der Erfüllung dreier kumulativer Voraussetzungen abhängt, nämlich dem hinreichend qualifizierten Verstoß gegen eine Rechtsnorm, die dem Einzelnen Rechte verleiht, das tatsächliche Vorliegen eines Schadens und dem Bestehen eines unmittelbaren Kausalzusammenhangs zwischen dem Verstoß und dem entstandenen Schaden.

Zur ersten dieser Voraussetzungen stellt das Gericht zum einen fest, dass der Fehler der Kommission bei der Anwendung von Art. 107 Abs. 1 AEUV im Tercas-Beschluss einen Verstoß gegen eine Rechtsnorm darstellt, die bezweckt, Einzelnen wie der BPB Rechte zu verleihen. Denn Art. 107 Abs. 1 AEUV soll dadurch, dass er den Begriff der mit dem Binnenmarkt unvereinbaren „staatlichen Beihilfe“ zu dem Zweck definiert, einen fairen Wettbewerb zwischen den Unternehmen der Mitgliedstaaten zu gewährleisten, die Interessen Einzelner und insbesondere von Unternehmen schützen. Außerdem ist die Anwendung des Beihilfebegriffs in Art. 107 Abs. 1 AEUV eng mit der Anwendung von Art. 108 Abs. 3 AEUV verbunden, der die Pflicht zur Anmeldung von Beihilfemaßnahmen und das Verbot ihrer Durchführung vor Abschluss des Vorprüfungsverfahrens durch die Kommission festlegt. Da die zuletzt genannte Bestimmung unmittelbare Wirkung hat, kann sich der Einzelne auf sie berufen, um seine sich aus ihrer Anwendung ergebenden Rechte geltend zu machen. Aber gerade für die Zwecke der Anwendung des in Art. 107 Abs. 1 AEUV vorgesehenen Beihilfebegriffs ist der Kommission durch Art. 108 AEUV die Befugnis übertragen, über die Vereinbarkeit staatlicher Beihilfen mit dem Binnenmarkt zu entscheiden. Zudem können die Beihilfeempfänger, ihre Wettbewerber und die Mitgliedstaaten die Anwendung von Art. 107 Abs. 1 AEUV durch die Kommission vor den Unionsgerichten anfechten.

Zum Vorliegen eines hinreichend qualifizierten Verstoßes weist das Gericht zum anderen darauf hin, dass das die Rechtsprechung u. a. der Komplexität der zu regelnden Sachverhalte, den Schwierigkeiten bei der Anwendung oder Auslegung der Vorschriften und insbesondere dem Ermessensspielraum, über den der Urheber des betreffenden Aktes verfügt, Rechnung trägt. Wenn das betreffende Organ über ein weites Ermessen verfügt, besteht das entscheidende Kriterium für die Feststellung eines solchen Verstoßes darin, ob dieses Organ die Grenzen, die seinem Ermessen gesetzt sind, offenkundig und erheblich überschritten hat.

In Anbetracht dieser Kriterien stellt das Gericht fest, dass der von der Kommission im Tercas-Beschluss begangene Verstoß gegen Art. 107 Abs. 1 AEUV, der zwar in den Urteilen des Gerichts und des Gerichtshofs festgestellt wurde, nicht automatisch hinreichend qualifiziert ist. Das Gericht weist darauf hin, dass der Fehler der Kommission die Analyse der Elemente betraf, die für die Feststellung verwendet wurden, dass die italienischen Behörden an der Intervention des FITD beteiligt waren, und hebt außerdem hervor, dass die Kommission den Begriff der staatlichen Beihilfe im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV in einem besonders komplexen rechtlichen und tatsächlichen Kontext anwenden musste. Dass unter diesen Umständen die Kommission nicht rechtlich hinreichend nachgewiesen hat, dass die Intervention des FITD dem Staat zuzurechnen ist, reicht jedoch nicht aus, um diesen Fehler als eine offenkundige und erhebliche Überschreitung der Grenzen einzustufen, denen das Ermessen der Kommission unterliegt. Daher hat die Kommission in Bezug auf den Verstoß gegen Art. 107 Abs. 1 AEUV keinen hinreichend qualifizierten Verstoß begangen.

Sodann prüft das Gericht die Voraussetzung des Vorliegens eines unmittelbaren Kausalzusammenhangs zwischen dem Verstoß der Kommission gegen Art. 107 Abs. 1 AEUV und dem von der BPB geltend gemachten Schaden. Insoweit stellt es fest, dass der Tercas-Beschluss bei dem Vertrauensverlust der Kunden der BPB zwar eine gewisse Rolle gespielt haben mag, dieser Verlust aber auch durch andere Faktoren herbeigeführt wurde, so dass der Beschluss nicht als entscheidende und unmittelbare Ursache der geltend gemachten Schäden angesehen werden kann. BPB hat somit keinen Kausalzusammenhang zwischen dem angeblich rechtswidrigen Verhalten der Kommission und dem geltend gemachten Schaden nachgewiesen.

Das Gericht kommt daher zu dem Ergebnis, dass hinsichtlich der nicht verjährten Schäden, deren Ersatz BPB begehrt, die Voraussetzungen für die Begründung der außervertraglichen Haftung der Union in Bezug auf das Vorliegen eines hinreichend qualifizierten Verstoßes und das Bestehen eines Kausalzusammenhangs zwischen dem vorgeworfenen Verhalten und dem geltend gemachten Schaden nicht erfüllt sind.

Daher wird die Klage der BPB abgewiesen, ohne dass die Voraussetzung für die Begründung der außervertraglichen Haftung der Union, die das tatsächliche Vorliegen eines Schadens betrifft, geprüft zu werden braucht.


1      Beschluss (EU) 2016/1208 der Kommission vom 23. Dezember 2015 über die staatliche Beihilfe Italiens zugunsten der Banca Tercas (SA.39451 [2015/C] [ex 2015/NN]) (ABl. 2016, L 203, S. 1).


2      Urteil vom 19. März 2019, Italien u. a./Kommission (T‑98/16, T‑196/16 und T‑198/16, EU:T:2019:167).


3      Urteil vom 2. März 2021, Kommission/Italien u. a. (C‑425/19 P, EU:C:2021:154).


4      Nach Art. 53 Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs findet Art. 46 dieser Satzung auf das Verfahren vor dem Gericht Anwendung.