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URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

9. Juli 2020(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Humanarzneimittel – Ergänzendes Schutzzertifikat für Arzneimittel – Verordnung (EG) Nr. 469/2009 – Art. 3 Buchst. d – Voraussetzungen für die Erteilung eines Zertifikats – Erhalt der ersten Genehmigung für das Inverkehrbringen des Erzeugnisses als Arzneimittel – Genehmigung für das Inverkehrbringen einer neuen therapeutischen Verwendung eines bekannten Wirkstoffs“

In der Rechtssache C‑673/18

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris, Frankreich) mit Entscheidung vom 9. Oktober 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 30. Oktober 2018, in dem Verfahren

Santen SAS

gegen

Directeur général de l’Institut national de la propriété industrielle

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten J.‑C. Bonichot, M. Vilaras, E. Regan, M. Safjan, S. Rodin und P. G. Xuereb sowie der Richter T. von Danwitz, D. Šváby und F. Biltgen, der Richterin K. Jürimäe (Berichterstatterin) und des Richters C. Lycourgos,

Generalanwalt: G. Pitruzzella,

Kanzler: V. Giacobbo, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 5. November 2019,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Santen SAS, vertreten durch T. Bouvet und L. Romestant, avocats, und Rechtsanwalt C. Fulda,

–        der französischen Regierung, vertreten durch A.‑L. Desjonquères und A. Daniel als Bevollmächtigte,

–        der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér als Bevollmächtigten,

–        der niederländischen Regierung, vertreten durch K. Bulterman und C. Schillemans als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch É. Gippini Fournier, S. L. Kalėda und J. Samnadda als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 23. Januar 2020

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 Buchst. d der Verordnung (EG) Nr. 469/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Mai 2009 über das ergänzende Schutzzertifikat für Arzneimittel (ABl. 2009, L 152, S. 1).

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Santen SAS und dem Directeur général de l’Institut National de la Propriété Industrielle (Generaldirektor des Nationalen Instituts für gewerbliches Eigentum, im Folgenden: Generaldirektor des INPI) über dessen Entscheidung, die Anmeldung des ergänzenden Schutzzertifikats zurückzuweisen, die Santen für ein unter dem Namen „Ikervis“ vertriebenes Arzneimittel mit dem Wirkstoff Cyclosporin eingereicht hatte.

 Rechtlicher Rahmen

 Verordnung (EWG) Nr. 1768/92

3        Art. 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1768/92 des Rates vom 18. Juni 1992 über die Schaffung eines ergänzenden Schutzzertifikats für Arzneimittel (ABl. 1992, L 182, S. 1), die durch die Verordnung Nr. 469/2009 aufgehoben und ersetzt wurde, bestimmte:

„Für jedes im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats durch ein Patent geschützte Erzeugnis, das vor seinem Inverkehrbringen als Arzneimittel Gegenstand eines verwaltungsrechtlichen Genehmigungsverfahrens gemäß der Richtlinie 65/65/EWG [des Rates vom 26. Januar 1965 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften über Arzneispezialitäten (ABl. 1965, 22, S. 369)] oder der Richtlinie 81/851/EWG [des Rates vom 28. September 1981 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Tierarzneimittel (ABl. 1981, L 317, S. 1)] ist, kann nach den in dieser Verordnung festgelegten Bedingungen und Modalitäten ein Zertifikat erteilt werden.“

4        Art. 19 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1768/92 in der durch die Akte über die Bedingungen des Beitritts des Königreichs Norwegen, der Republik Österreich, der Republik Finnland und des Königreichs Schweden und die Anpassungen der die Europäische Union begründenden Verträge (ABl. 1994, C 241, S. 21) geänderten Fassung sah vor:

„Für jedes Erzeugnis, das zum Zeitpunkt des Beitritts durch ein in Kraft befindliches Patent geschützt ist und für das als Arzneimittel eine erste Genehmigung für das Inverkehrbringen in der Gemeinschaft oder in Österreich, Finnland oder Schweden nach dem 1. Januar 1985 erteilt wurde, kann ein Zertifikat erteilt werden.

…“

 Verordnung Nr. 469/2009

5        In den Erwägungsgründen 3, 4 und 7 bis 10 der Verordnung Nr. 469/2009 heißt es:

„(3)      Arzneimittel, vor allem solche, die das Ergebnis einer langen und kostspieligen Forschungstätigkeit sind, werden in der Gemeinschaft und in Europa nur weiterentwickelt, wenn für sie eine günstige Regelung geschaffen wird, die einen ausreichenden Schutz zur Förderung einer solchen Forschung vorsieht.

(4)      Derzeit wird durch den Zeitraum zwischen der Einreichung einer Patentanmeldung für ein neues Arzneimittel und der Genehmigung für das Inverkehrbringen desselben Arzneimittels der tatsächliche Patentschutz auf eine Laufzeit verringert, die für die Amortisierung der in der Forschung vorgenommenen Investitionen unzureichend ist.

(7)      Auf Gemeinschaftsebene sollte eine einheitliche Lösung gefunden werden, um auf diese Weise einer heterogenen Entwicklung der nationalen Rechtsvorschriften vorzubeugen, die neue Unterschiede zur Folge hätte, welche geeignet wären, den freien Verkehr von Arzneimitteln innerhalb der Gemeinschaft zu behindern und dadurch das Funktionieren des Binnenmarktes unmittelbar zu beeinträchtigen.

(8)      Es ist deshalb notwendig, ein ergänzendes Schutzzertifikat für Arzneimittel, deren Vermarktung genehmigt ist, vorzusehen, das der Inhaber eines nationalen oder europäischen Patents unter denselben Voraussetzungen in jedem Mitgliedstaat erhalten kann. Die Verordnung ist deshalb die geeignetste Rechtsform.

(9)      Die Dauer des durch das Zertifikat gewährten Schutzes sollte so festgelegt werden, dass dadurch ein ausreichender tatsächlicher Schutz erreicht wird. Hierzu müssen demjenigen, der gleichzeitig Inhaber eines Patents und eines Zertifikats ist, insgesamt höchstens fünfzehn Jahre Ausschließlichkeit ab der ersten Genehmigung für das Inverkehrbringen des betreffenden Arzneimittels in der Gemeinschaft eingeräumt werden.

(10)      In einem so komplexen und empfindlichen Bereich wie dem pharmazeutischen Sektor sollten jedoch alle auf dem Spiel stehenden Interessen einschließlich der Volksgesundheit berücksichtigt werden. Deshalb kann das Zertifikat nicht für mehr als fünf Jahre erteilt werden. Der von ihm gewährte Schutz sollte im Übrigen streng auf das Erzeugnis beschränkt sein, für das die Genehmigung für das Inverkehrbringen als Arzneimittel erteilt wurde.“

6        Art. 1 dieser Verordnung bestimmt:

„Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck

a)      ‚Arzneimittel‘ einen Stoff oder eine Stoffzusammensetzung, der (die) als Mittel zur Heilung oder zur Verhütung menschlicher oder tierischer Krankheiten bezeichnet wird, sowie einen Stoff oder eine Stoffzusammensetzung, der (die) dazu bestimmt ist, im oder am menschlichen oder tierischen Körper zur Erstellung einer ärztlichen Diagnose oder zur Wiederherstellung, Besserung oder Beeinflussung der menschlichen oder tierischen Körperfunktionen angewandt zu werden;

b)      ,Erzeugnis‘ den Wirkstoff oder die Wirkstoffzusammensetzung eines Arzneimittels;

c)      ,Grundpatent‘ ein Patent, das ein Erzeugnis als solches, ein Verfahren zur Herstellung eines Erzeugnisses oder eine Verwendung eines Erzeugnisses schützt und das von seinem Inhaber für das Verfahren zur Erteilung eines Zertifikats bestimmt ist;

…“

7        Art. 2 dieser Verordnung sieht vor:

„Für jedes im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats durch ein Patent geschützte Erzeugnis, das vor seinem Inverkehrbringen als Arzneimittel Gegenstand eines verwaltungsrechtlichen Genehmigungsverfahrens gemäß der Richtlinie 2001/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. November 2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel [(ABl. 2001, L 311, S. 67)] oder der Richtlinie 2001/82/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. November 2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Tierarzneimittel [(ABl. 2001, L 311, S. 1)] ist, kann nach den in dieser Verordnung festgelegten Bedingungen und Modalitäten ein Zertifikat erteilt werden.“

8        In Art. 3 („Bedingungen für die Erteilung des Zertifikats“) dieser Verordnung heißt es:

„Das Zertifikat wird erteilt, wenn in dem Mitgliedstaat, in dem die Anmeldung nach Artikel 7 eingereicht wird, zum Zeitpunkt dieser Anmeldung

a)      das Erzeugnis durch ein in Kraft befindliches Grundpatent geschützt ist;

b)      für das Erzeugnis als Arzneimittel eine gültige Genehmigung für das Inverkehrbringen gemäß der Richtlinie [2001/83] bzw. der Richtlinie [2001/82] erteilt wurde;

c)      für das Erzeugnis nicht bereits ein Zertifikat erteilt wurde;

d)      die unter Buchstabe b erwähnte Genehmigung die erste Genehmigung für das Inverkehrbringen dieses Erzeugnisses als Arzneimittel ist.“

9        Art. 4 („Schutzgegenstand“) der Verordnung Nr. 469/2009 lautet:

„In den Grenzen des durch das Grundpatent gewährten Schutzes erstreckt sich der durch das Zertifikat gewährte Schutz allein auf das Erzeugnis, das von der Genehmigung für das Inverkehrbringen des entsprechenden Arzneimittels erfasst wird, und zwar auf diejenigen Verwendungen des Erzeugnisses als Arzneimittel, die vor Ablauf des Zertifikats genehmigt wurden.“

10      Art. 5 („Wirkungen des Zertifikats“) dieser Verordnung bestimmt:

„Vorbehaltlich der Bestimmungen des Artikels 4 gewährt das Zertifikat dieselben Rechte wie das Grundpatent und unterliegt denselben Beschränkungen und Verpflichtungen.“

11      Art. 7 der Verordnung sieht in Abs. 1 vor:

„Die Anmeldung des Zertifikats muss innerhalb einer Frist von sechs Monaten, gerechnet ab dem Zeitpunkt, zu dem für das Erzeugnis als Arzneimittel die Genehmigung für das Inverkehrbringen nach Artikel 3 Buchstabe b erteilt wurde, eingereicht werden.“

12      In Art. 13 („Laufzeit des Zertifikats“) der Verordnung heißt es:

„(1)      Das Zertifikat gilt ab Ablauf der gesetzlichen Laufzeit des Grundpatents für eine Dauer, die dem Zeitraum zwischen der Einreichung der Anmeldung für das Grundpatent und dem Zeitpunkt der ersten Genehmigung für das Inverkehrbringen in der Gemeinschaft entspricht, abzüglich eines Zeitraums von fünf Jahren.

(2)      Ungeachtet des Absatzes 1 beträgt die Laufzeit des Zertifikats höchstens fünf Jahre vom Zeitpunkt seines Wirksamwerdens an.

(3)      Die in den Absätzen 1 und 2 festgelegten Zeiträume werden im Falle der Anwendung von Artikel 36 der Verordnung (EG) Nr. 1901/2006 [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Kinderarzneimittel und zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1768/92, der Richtlinien 2001/20/EG und 2001/83/EG sowie der Verordnung (EG) Nr. 726/2004 (ABl. 2006, L 378, S. 1)] um sechs Monate verlängert. In diesem Fall kann die in Absatz 1 dieses Artikels festgelegte Laufzeit nur einmal verlängert werden.

(4)      Wird ein Zertifikat für ein Erzeugnis erteilt, das durch ein Patent geschützt ist, für welches vor dem 2. Januar 1993 nach den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften eine Verlängerung gewährt oder ein Verlängerungsantrag gestellt wurde, so wird die Laufzeit dieses Zertifikats um die Zahl der Jahre verkürzt, die eine zwanzigjährige Laufzeit des Patents übersteigt.“

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

13      Santen ist ein auf Augenheilkunde spezialisiertes Pharmaunternehmen. Es ist Inhaber des am 10. Oktober 2005 angemeldeten Europäischen Patents (FR) Nr. 057959306 (im Folgenden: in Rede stehendes Grundpatent), das u. a. eine ophtalmische Emulsion schützt, deren Wirkstoff Cyclosporin, ein Immunsuppressivum, ist.

14      Santen erhielt eine Genehmigung für das Inverkehrbringen (im Folgenden auch: Verkehrsgenehmigung), die am 19. März 2015 von der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) für das unter dem Namen „Ikervis“ vertriebene Arzneimittel mit dem Wirkstoff Cyclosporin erteilt wurde (im Folgenden: fragliche Verkehrsgenehmigung). Dieses Arzneimittel dient der Behandlung von schweren Hornhautentzündungen bei Erwachsenen mit Augentrockenheit, die sich trotz der Gabe von Mitteln zur Tränensubstitution nicht verbessert und eine Entzündung der Hornhaut verursacht.

15      Auf der Grundlage des in Rede stehenden Grundpatents und der fraglichen Verkehrsgenehmigung meldete Santen am 3. Juni 2015 ein ergänzendes Schutzzertifikat für ein „Cyclosporin zur Verwendung bei der Behandlung von Hornhautentzündungen“ genanntes Erzeugnis an. Mit Entscheidung vom 6. Oktober 2017 wies der Generaldirektor des INPI diese Anmeldung mit der Begründung zurück, dass die fragliche Verkehrsgenehmigung nicht die erste Genehmigung für das Inverkehrbringen im Sinne von Art. 3 Buchst. d der Verordnung Nr. 469/2009 für Cyclosporin sei.

16      Der Generaldirektor des INPI führte insoweit aus, dass am 23. Dezember 1983 eine Genehmigung für das Inverkehrbringen eines unter dem Namen „Sandimmun“ vertriebenen Arzneimittels erteilt worden sei, dessen Wirkstoff ebenfalls Cyclosporin sei. Dieses Arzneimittel war in flüssiger Form einzunehmen und für die Verhinderung von Abstoßungsreaktionen bei Organ- oder Knochenmarktransplantationen sowie für weitere therapeutische Anwendungen indiziert, u. a. für die Behandlung der endogenen Uveitis, einer Entzündung der gesamten Uvea, eines zentralen Bereichs des Augapfels, oder eines Teils davon.

17      Santen erhob gegen die Entscheidung des Generaldirektors des INPI Klage beim vorlegenden Gericht, der Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris, Frankreich), und beantragte, diese Entscheidung aufzuheben und, hilfsweise, dem Gerichtshof eine Frage nach der Auslegung von Art. 3 der Verordnung Nr. 469/2009 zur Vorabentscheidung vorzulegen.

18      Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass der Gerichtshof im Urteil vom 19. Juli 2012, Neurim Pharmaceuticals (1991) (C‑130/11, im Folgenden: Urteil Neurim, EU:C:2012:489), entschieden habe, dass die Art. 3 und 4 der Verordnung Nr. 469/2009 dahin auszulegen seien, dass in einem Fall wie dem des Verfahrens, in dem dieses Urteil ergangen sei, die Erteilung eines ergänzenden Schutzzertifikats für eine bestimmte Verwendung eines Erzeugnisses, für die eine Genehmigung für das Inverkehrbringen erteilt worden sei, nicht bereits deshalb ausscheide, weil für eine andere Verwendung dieses Erzeugnisses schon eine Genehmigung für das Inverkehrbringen als Tierarzneimittel erteilt worden sei, sofern diese Verwendung in den Schutzbereich des Grundpatents falle, auf das sich die Anmeldung des ergänzenden Schutzzertifikats beziehe.

19      Der Generaldirektor des INPI und Santen seien sich uneinig darüber, wie die vom Gerichtshof im Urteil Neurim bei der Auslegung insbesondere von Art. 3 der Verordnung Nr. 469/2009 herangezogenen Begriffe „andere Verwendung dieses Erzeugnisses“ und „Verwendung[, die] in den Schutzbereich des Grundpatents fällt“ auszulegen seien.

20      In Bezug auf den Begriff „andere Verwendung“ dieses Erzeugnisses sei der Generaldirektor des INPI der Auffassung, dass dieser Begriff eng auszulegen sei. Die geltend gemachte Verkehrsgenehmigung müsse entweder eine Indikation betreffen, die einem neuen Anwendungsgebiet in dem Sinne, dass es sich im Verhältnis zur älteren Verkehrsgenehmigung um eine neue medizinische Spezialität handele, zuzurechnen sei oder ein Arzneimittel betreffen, in dem der Wirkstoff eine andere Wirkung entfalte als in dem Arzneimittel, das Gegenstand der ersten Verkehrsgenehmigung gewesen sei. Dem Gerichtshof sei auch die Frage vorzulegen, ob der Begriff „neue therapeutische Verwendung“ in Anbetracht der Ziele der Verordnung Nr. 469/2009, mit der ein ausgewogenes System habe eingeführt werden sollen, das alle berührten Interessen, darunter auch die der öffentlichen Gesundheit, berücksichtige, anhand strengerer Kriterien zu beurteilen sei als sie für die Beurteilung der Patentierbarkeit einer neuen therapeutischen Verwendung gälten.

21      Santen hingegen mache geltend, dass der Begriff „andere [therapeutische] Verwendung“ im Sinne des Urteils Neurim weit zu verstehen sei und nicht nur therapeutische Indikationen und Anwendungen für andere Krankheiten, sondern auch andere Rezepturen, Dosierungen und Verabreichungsformen einschließe.

22      Hinsichtlich der vom Gerichtshof im Urteil Neurim aufgestellten Voraussetzung, dass die therapeutische Verwendung, die von der der Anmeldung des ergänzenden Schutzzertifikats zugrunde liegenden Verkehrsgenehmigung erfasst sei, in den Schutzbereich des Grundpatents fallen müsse, frage sich der Generaldirektor des INPI zum einen, wie die Verbindung zwischen der anderen therapeutischen Verwendung und diesem Patent herzustellen sei, und zum anderen, ob der Umfang dieses Patents dem der geltend gemachten Verkehrsgenehmigung entsprechen und sich damit auf die neue therapeutische Verwendung beschränken müsse, die der Indikation dieser Verkehrsgenehmigung entspreche.

23      Unter diesen Umständen hat die Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist der Begriff „andere Verwendung“ im Sinne des Urteils Neurim eng auszulegen, d. h.:

–        Ist er auf den alleinigen Fall einer Anwendung als Humanarzneimittel nach einer Anwendung im Veterinärbereich zu beschränken,

–        oder muss er eine Indikation betreffen, die einem neuen Anwendungsgebiet zuzurechnen ist, in dem Sinne, dass es sich im Verhältnis zur früheren Genehmigung für das Inverkehrbringen um eine neue medizinische Spezialität handelt, oder ein Arzneimittel, in dem der Wirkstoff eine andere Wirkung entfaltet als in dem Arzneimittel, das Gegenstand der ersten Genehmigung war,

–        oder muss er ganz allgemein im Hinblick auf die Ziele der Verordnung Nr. 469/2009, mit der ein ausgeglichenes System eingeführt werden sollte, das alle berührten Interessen berücksichtigt, darunter auch die der öffentlichen Gesundheit, anhand strengerer Kriterien als derjenigen, die für die Patentierbarkeit der Erfindung gelten, beurteilt werden,

–        oder muss er vielmehr weit ausgelegt werden, d. h. so, dass nicht nur verschiedene therapeutische Indikationen und Krankheiten erfasst werden, sondern auch verschiedene Rezepturen, Dosierungen und/oder Anwendungsweisen?

2.      Impliziert der Begriff „Verwendung[, die] in den Schutzbereich des Grundpatents fällt“ im Sinne des Urteils Neurim, dass der Umfang des Grundpatents mit dem der geltend gemachten Genehmigung für das Inverkehrbringen übereinstimmen muss und sich infolgedessen auf die neue medizinische Verwendung beschränken muss, die der therapeutischen Indikation der genannten Genehmigung entspricht?

 Zu den Vorlagefragen

 Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens

24      In ihren schriftlichen Erklärungen macht die niederländische Regierung geltend, das Vorabentscheidungsersuchen sei unzulässig, da die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Situation nicht in den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 469/2009 falle.

25      Der Gerichtshof habe nämlich in Rn. 48 des Urteils vom 28. Juli 2011, Synthon (C‑195/09, EU:C:2011:518), entschieden, dass sich aus Art. 19 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1768/92 ergebe, dass diese Verordnung nicht auf Erzeugnisse anwendbar sei, die vor dem 1. Januar 1985 in Frankreich auf den Markt gebracht worden seien. Diese Auslegung der Verordnung Nr. 1768/92 sei uneingeschränkt auf die Verordnung Nr. 469/2009 übertragbar, da diese lediglich eine Kodifizierung der Verordnung Nr. 1768/92 darstelle. Da am 23. Dezember 1983 in Frankreich eine Genehmigung für das Inverkehrbringen eines Arzneimittels mit dem Wirkstoff Cyclosporin erteilt worden sei, falle die Anmeldung von Santen somit nicht in den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 469/2009. Die Vorlagefragen seien daher hypothetisch.

26      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass es allein Sache des nationalen Gerichts ist, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, anhand der Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der Fragen zu beurteilen, die es dem Gerichtshof vorlegt. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn diese die Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts betreffen (Urteil vom 10. Dezember 2018, Wightman u. a., C‑621/18, EU:C:2018:999, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).

27      Folglich gilt für Fragen, die das Unionsrecht betreffen, eine Vermutung der Entscheidungserheblichkeit. Der Gerichtshof kann die Beantwortung einer Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur ablehnen, wenn die erbetene Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 10. Dezember 2018, Wightman u. a., C‑621/18, EU:C:2018:999, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

28      Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass die Vorlagefragen im Wesentlichen die Auslegung von Art. 3 Buchst. d der Verordnung Nr. 469/2009 und insbesondere die Definition und die Tragweite des Begriffs „erste Genehmigung für das Inverkehrbringen dieses Erzeugnisses als Arzneimittel“ im Sinne dieser Bestimmung und vor dem Hintergrund des Urteils Neurim betreffen.

29      Mit ihrem Vorbringen zur Unzulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens geht die niederländische Regierung von der Prämisse aus, dass die am 23. Dezember 1983 in Frankreich für Sandimmun, das den Wirkstoff Cyclosporin enthält, erteilte Verkehrsgenehmigung die erste Genehmigung für das Inverkehrbringen dieses Erzeugnisses als Arzneimittel ist und dass die Verordnung Nr. 469/2009 daher auf dieses im Ausgangsverfahren in Rede stehende Erzeugnis nicht anwendbar ist.

30      Die Prüfung, ob diese Prämisse zutreffend ist, erfordert jedoch, dass zunächst die Vorlagefragen beantwortet werden, die die Auslegung von Art. 3 Buchst. d der Verordnung Nr. 469/2009 betreffen. Daraus folgt, dass das in Rn. 25 des vorliegenden Urteils angeführte Vorbringen der niederländischen Regierung nicht den Schluss zulässt, dass diese Fragen deshalb hypothetischer Natur sind, weil sie in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits stehen.

31      Folglich ist das Vorabentscheidungsersuchen zulässig.

 Zu den Fragen

32      Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof darum, den Begriff „erste Genehmigung für das Inverkehrbringen dieses Erzeugnisses als Arzneimittel“ im Sinne von Art. 3 Buchst. d der Verordnung Nr. 469/2009 auszulegen, was seiner Ansicht nach erfordert, dass der Gerichtshof die in Nr. 1 des Tenors des Urteils Neurim angeführten Begriffe „andere [therapeutische] Verwendung“ und „[therapeutische] Verwendung[, die] in den Schutzbereich des Grundpatents fällt“ präzisiert.

33      In Nr. 1 des Tenors dieses Urteils hat der Gerichtshof entschieden, dass die Art. 3 und 4 der Verordnung Nr. 469/2009 dahin auszulegen sind, dass in einem Fall wie dem des Verfahrens, in dem dieses Urteil ergangen ist, die Erteilung eines ergänzenden Schutzzertifikats für eine bestimmte therapeutische Verwendung eines Erzeugnisses, für die eine Genehmigung für das Inverkehrbringen erteilt wurde, nicht bereits deshalb ausscheidet, weil für eine andere therapeutische Verwendung dieses Erzeugnisses schon eine Genehmigung für das Inverkehrbringen als Tierarzneimittel wie dem, das in dieser Rechtssache in Rede stand, erteilt worden war, sofern diese Verwendung in den Schutzbereich des Grundpatents fällt, auf das sich die Anmeldung des ergänzenden Schutzzertifikats bezieht.

34      Die Vorlagefragen beruhen also auf der sich aus dem Urteil Neurim ergebenden Prämisse, dass es unter bestimmten Umständen, die nach Ansicht des vorlegenden Gerichts noch zu präzisieren sind, möglich ist, ein ergänzendes Schutzzertifikat für eine neue therapeutische Verwendung eines Wirkstoffs zu erhalten, der bereits Gegenstand einer Genehmigung für das Inverkehrbringen war, die vor derjenigen erteilt wurde, auf die sich die Anmeldung des ergänzenden Schutzzertifikats bezieht.

35      Auch wenn das vorlegende Gericht seine Fragen formal auf die Auslegung bestimmter Aspekte des Unionsrechts beschränkt hat, hindert dies den Gerichtshof nach ständiger Rechtsprechung nicht daran, diesem Gericht alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts zu geben, die ihm bei der Entscheidung des bei ihm anhängigen Verfahrens von Nutzen sein können, und zwar unabhängig davon, ob es bei seiner Fragestellung darauf Bezug genommen hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Juni 2018, Coman u. a., C‑673/16, EU:C:2018:385, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung).

36      Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass das vorlegende Gericht im Ausgangsverfahren entscheiden muss, ob der Anmeldung des ergänzenden Schutzzertifikats für Cyclosporin zur Verwendung bei der Behandlung von Hornhautentzündungen auf der Grundlage der fraglichen Verkehrsgenehmigung, die am 19. März 2015 für Ikervis erteilt wurde, stattgegeben werden kann, obwohl am 23. Dezember 1983 bereits eine Genehmigung für das Inverkehrbringen einer anderen therapeutischen Verwendung von Cyclosporin erteilt worden war.

37      Um dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort geben zu können, ist somit zu prüfen, ob Art. 3 Buchst. d der Verordnung Nr. 469/2009 dahin auszulegen ist, dass eine Genehmigung für das Inverkehrbringen als erste Genehmigung für das Inverkehrbringen im Sinne dieser Bestimmung angesehen werden kann, wenn sie eine neue therapeutische Verwendung eines Wirkstoffs oder einer Wirkstoffzusammensetzung betrifft, der bzw. die bereits Gegenstand einer Genehmigung für das Inverkehrbringen einer anderen therapeutischen Verwendung war.

38      Die Genehmigung für das Inverkehrbringen, um die es in Art. 3 Buchst. d der Verordnung Nr. 469/2009 geht, muss für ein bestimmtes Erzeugnis erteilt werden, wie es in Art. 1 Buchst. b dieser Verordnung definiert wird.

39      Es ist daher als Erstes zu ermitteln, ob der Begriff „Erzeugnis“, wie er in Art. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 469/2009 definiert wird, von der therapeutischen Verwendung des Wirkstoffs abhängt, und insbesondere, ob eine neue therapeutische Verwendung eines Wirkstoffs als Erzeugnis angesehen werden kann, das sich von einer anderen, bereits bekannten therapeutischen Verwendung dieses Wirkstoffs unterscheidet.

40      Nach dem Wortlaut dieser Bestimmung ist unter „Erzeugnis“ der Wirkstoff oder die Wirkstoffzusammensetzung eines Arzneimittels zu verstehen.

41      Mangels einer Definition des Begriffs „Wirkstoff“ in der Verordnung Nr. 469/2009 sind die Bedeutung und die Tragweite dieses Begriffs unter Berücksichtigung des allgemeinen Zusammenhangs, in dem er verwendet wird, und entsprechend dem Sinn, den er nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch hat, zu bestimmen (Urteile vom 4. Mai 2006, Massachusetts Institute of Technology, C‑431/04, EU:C:2006:291, Rn. 17, und vom 21. März 2019, Abraxis Bioscience, C‑443/17, EU:C:2019:238, Rn. 25).

42      Hierzu hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass der Begriff „Wirkstoff“ in seiner gewöhnlichen Bedeutung in der Pharmakologie zu der Zusammensetzung eines Arzneimittels gehörende Stoffe, die keine eigene Wirkung auf den menschlichen oder den tierischen Organismus haben, nicht einschließt (Urteile vom 4. Mai 2006, Massachusetts Institute of Technology, C‑431/04, EU:C:2006:291, Rn. 18, und vom 15. Januar 2015, Forsgren, C‑631/13, EU:C:2015:13, Rn. 23) und dass sich dieser Begriff für die Zwecke der Anwendung der Verordnung Nr. 469/2009 auf Stoffe bezieht, die eine eigene pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung ausüben (Urteil vom 15. Januar 2015, Forsgren, C‑631/13, EU:C:2015:13, Rn. 25). Daraus folgt, dass dieser Begriff auf die Stoffe verweist, die mindestens eine eigene therapeutische Wirkung haben.

43      Ferner ergibt sich aus Art. 1 Buchst. b in Verbindung mit Art. 4 der Verordnung Nr. 469/2009, dass der Begriff „Erzeugnis“ für die Zwecke der Anwendung dieser Verordnung den Wirkstoff oder die Wirkstoffzusammensetzung eines Arzneimittels bezeichnet, ohne dass seine Tragweite auf eine der therapeutischen Verwendungen zu beschränken wäre, zu der ein solcher Wirkstoff oder eine solche Wirkstoffzusammensetzung führen kann.

44      Denn gemäß diesem Art. 4 erstreckt sich der durch das ergänzende Schutzzertifikat gewährte Schutz zwar allein auf das Erzeugnis, das von der Genehmigung für das Inverkehrbringen erfasst wird, er gilt jedoch für alle Verwendungen des Erzeugnisses als Arzneimittel, die vor Ablauf des ergänzenden Schutzzertifikats genehmigt wurden. Daraus folgt, dass der Begriff „Erzeugnis“ im Sinne der Verordnung Nr. 469/2009 nicht von der Art und Weise abhängt, wie das Erzeugnis verwendet wird, und dass die Zweckbestimmung des Arzneimittels kein entscheidendes Kriterium für die Erteilung eines ergänzenden Schutzzertifikats darstellt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Oktober 2004, Pharmacia Italia, C‑31/03, EU:C:2004:641, Rn. 19 und 20).

45      Diese Auslegung wird durch die Analyse der Entstehungsgeschichte der Verordnung Nr. 469/2009 bestätigt. So heißt es in Nr. 11 der Begründung des Vorschlags für eine Verordnung (EWG) des Rates vom 11. April 1990 über die Schaffung eines ergänzenden Schutzzertifikats für Arzneimittel [KOM(90) 101 endg.], auf den die Verordnung Nr. 1768/92 zurückgeht, die dann durch die Verordnung Nr. 469/2009 aufgehoben und ersetzt wurde, dass es sich bei dem Begriff „Erzeugnis“ im engeren Sinne um einen Wirkstoff handeln muss und dass, wenn an dem Arzneimittel unbedeutende Änderungen vorgenommen werden, z. B. eine neue Dosierung, die Verwendung eines anderen Salzes oder Esters oder auch eine andere pharmazeutische Form, kein neues ergänzendes Schutzzertifikat erteilt wird (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 4. Mai 2006, Massachusetts Institute of Technology, C‑431/04, EU:C:2006:291, Rn. 19, und vom 21. März 2019, Abraxis Bioscience, C‑443/17, EU:C:2019:238, Rn. 26).

46      Diese enge Konzeption des Begriffs „Erzeugnis“ hat ihren Niederschlag in Art. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 469/2009 gefunden, der diesen Begriff unter Bezugnahme auf einen Wirkstoff oder eine Wirkstoffzusammensetzung und nicht unter Bezugnahme auf die therapeutische Verwendung eines durch das Grundpatent geschützten Wirkstoffs oder einer durch dieses Patent geschützten Wirkstoffzusammensetzung definiert.

47      Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass Art. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 469/2009 dahin auszulegen ist, dass einem Wirkstoff oder einer Wirkstoffzusammensetzung dadurch, dass er bzw. sie für eine neue therapeutische Verwendung verwendet wird, nicht die Eigenschaft eines anderen Erzeugnisses verliehen wird, wenn dieser Wirkstoff oder diese Wirkstoffzusammensetzung für eine andere, bereits bekannte therapeutische Verwendung verwendet worden ist.

48      Als Zweites ist zu ermitteln, ob eine für eine neue therapeutische Verwendung eines Wirkstoffs oder einer Wirkstoffzusammensetzung erteilte Verkehrsgenehmigung als die erste Genehmigung für das Inverkehrbringen dieses Erzeugnisses als Arzneimittel im Sinne von Art. 3 Buchst. d der Verordnung Nr. 469/2009 angesehen werden kann, wenn sie die erste Genehmigung für das Inverkehrbringen innerhalb des Schutzbereichs des Grundpatents ist, auf das sich die Anmeldung des ergänzenden Schutzzertifikats bezieht.

49      Gemäß der in dieser Bestimmung aufgestellten Voraussetzung für die Erteilung eines ergänzenden Schutzzertifikats muss die Genehmigung für das Inverkehrbringen des Erzeugnisses, das Gegenstand der Anmeldung des ergänzenden Schutzzertifikats ist, zum Zeitpunkt dieser Anmeldung die erste Genehmigung für das Inverkehrbringen dieses Erzeugnisses als Arzneimittel in dem Mitgliedstaat sein, in dem die Anmeldung eingereicht wird.

50      Der Wortlaut dieser Bestimmung verweist insoweit nicht auf den Schutzbereich des Grundpatents.

51      In Anbetracht der sich aus den Rn. 40 bis 45 des vorliegenden Urteils ergebenden engen Definition des Begriffs „Erzeugnis“ im Sinne von Art. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 469/2009 setzt die Analyse des Wortlauts von Art. 3 Buchst. d dieser Verordnung ferner voraus, dass die erste Genehmigung für das Inverkehrbringen des Erzeugnisses als Arzneimittel im Sinne dieser Vorschrift die erste Genehmigung für das Inverkehrbringen eines Arzneimittels bezeichnet, das den betreffenden Wirkstoff oder die betreffende Wirkstoffzusammensetzung enthält (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. März 2019, Abraxis Bioscience, C‑443/17, EU:C:2019:238, Rn. 34), und zwar unabhängig von der therapeutischen Verwendung dieses Wirkstoffs oder dieser Wirkstoffzusammensetzung, für die diese Verkehrsgenehmigung erteilt wurde.

52      Die Auffassung, dass der Begriff „erste Genehmigung für das Inverkehrbringen dieses Erzeugnisses als Arzneimittel“ im Sinne von Art. 3 Buchst. d der Verordnung Nr. 469/2009 ausschließlich auf die erste Verkehrsgenehmigung abzielt, die in den Schutzbereich des in der Anmeldung des ergänzenden Schutzzertifikats angeführten Grundpatents fällt, würde dagegen zwangsläufig dazu führen, dass diese enge Definition des Begriffs „Erzeugnis“ im Sinne von Art. 1 Buchst. b der Verordnung in Frage gestellt wird, da es, wie Art. 1 Buchst. c dieser Verordnung präzisiert, möglich ist, dass das betreffende Grundpatent nur eine therapeutische Verwendung des in Rede stehenden Erzeugnisses schützt. Wäre dies der Fall, könnte diese therapeutische Verwendung nämlich die Erteilung eines ergänzenden Schutzzertifikats rechtfertigen, obwohl derselbe Wirkstoff oder dieselbe Wirkstoffzusammensetzung Gegenstand einer anderen therapeutischen Verwendung ist, die bereits bekannt ist und zu einer älteren Verkehrsgenehmigung geführt hat.

53      Daraus folgt, dass der Schutzbereich des Grundpatents entgegen den Ausführungen des Gerichtshofs in Rn. 27 des Urteils Neurim bei der Definition des Begriffs „erste Genehmigung für das Inverkehrbringen dieses Erzeugnisses als Arzneimittel“ im Sinne von Art. 3 Buchst. d der Verordnung Nr. 469/2009 nicht zu berücksichtigen ist.

54      Diese Auslegung wird auch durch eine Analyse der Ziele der Verordnung Nr. 469/2009 bestätigt.

55      So geht aus Nr. 11 der in Rn. 45 des vorliegenden Urteils erwähnten Begründung hervor, dass der Unionsgesetzgeber bei der Einführung der Regelung über das ergänzende Schutzzertifikat nicht den Schutz jedweder pharmazeutischen Forschung begünstigen wollte, die zur Erteilung eines Patents und zum Inverkehrbringen eines neuen Arzneimittels führt, sondern lediglich derjenigen, die zum erstmaligen Inverkehrbringen eines Wirkstoffs oder einer Wirkstoffzusammensetzung als Arzneimittel führt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. März 2019, Abraxis Bioscience, C‑443/17, EU:C:2019:238, Rn. 37).

56      Dieses Ziel würde jedoch verfehlt, wenn es zur Erfüllung der in Art. 3 Buchst. d der Verordnung Nr. 469/2009 vorgesehenen Voraussetzung möglich wäre, allein die erste Verkehrsgenehmigung innerhalb des Schutzbereichs des Grundpatents, das eine neue therapeutische Verwendung eines bestimmten Wirkstoffs oder einer bestimmten Wirkstoffzusammensetzung schützt, zu berücksichtigen und eine zuvor für eine andere therapeutische Verwendung dieses Wirkstoffs oder dieser Wirkstoffzusammensetzung erteilte Verkehrsgenehmigung unbeachtet zu lassen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. März 2019, Abraxis Bioscience, C‑443/17, EU:C:2019:238, Rn. 38).

57      Diese Auslegung ermöglicht es außerdem, das Ziel der Regelung über das ergänzende Schutzzertifikat, wie es aus den Erwägungsgründen 3 bis 5 und 9 der Verordnung Nr. 469/2009 hervorgeht, nämlich dem unzureichenden Schutz, den das Patent zur Amortisierung der in der Forschung betreffend neue Arzneimittel vorgenommenen Investitionen gewährt, abzuhelfen und damit diese Forschung zu fördern, einerseits und die Absicht des Unionsgesetzgebers, wie sie sich aus dem zehnten Erwägungsgrund dieser Verordnung ergibt, nämlich dieses Ziel in einer Weise zu erreichen, die in einem so komplexen und empfindlichen Bereich wie dem pharmazeutischen Sektor alle auf dem Spiel stehenden Interessen einschließlich der Volksgesundheit berücksichtigt, andererseits in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. März 2019, Abraxis Bioscience, C‑443/17, EU:C:2019:238, Rn. 36).

58      Im Übrigen wird diese Auslegung nicht durch Nr. 12 der in Rn. 45 des vorliegenden Urteils angeführten Begründung in Frage gestellt, aus der hervorgeht, dass die Verordnung Nr. 469/2009 nicht auf neue Erzeugnisse, ein neues Verfahren zur Herstellung eines Erzeugnisses oder eine neue Verwendung eines Erzeugnisses, die ebenfalls durch ein ergänzendes Schutzzertifikat geschützt werden können, beschränkt ist. Denn die in Art. 3 Buchst. d der Verordnung Nr. 469/2009 genannte Voraussetzung kann auch dann erfüllt sein, wenn die Verkehrsgenehmigung, die der Anmeldung des ergänzenden Schutzzertifikats zugrunde liegt, ein Erzeugnis betrifft, das vor der Erteilung des Grundpatents bereits bekannt war, aber nie zu einer Genehmigung für das Inverkehrbringen als Arzneimittel geführt hat.

59      Wie der Generalanwalt in den Nrn. 55 und 56 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, bestünde bei einer Auslegung von Art. 3 Buchst. d der Verordnung Nr. 469/2009, wie sie in Rn. 56 des vorliegenden Urteils angesprochen wird, ferner die Gefahr, dass die Einfachheit und die Vorhersehbarkeit des Systems, die der Unionsgesetzgeber vorgesehen hat, um sicherzustellen, dass die nationalen Patentämter eine auf Unionsebene einheitliche Lösung umsetzen, konterkariert wird. Die Einführung einer Unterscheidung zwischen verschiedenen therapeutischen Verwendungen, ohne dass dieser Begriff in der Verordnung definiert wäre, könnte nämlich dazu führen, dass die nationalen Patentämter komplexe und divergierende Auslegungen der in dieser Vorschrift aufgestellten Voraussetzung vornehmen.

60      Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass die in Rn. 34 des vorliegenden Urteils genannte Prämisse, auf die sich das vorlegende Gericht stützt, zu verwerfen ist und dass eine Verkehrsgenehmigung für eine therapeutische Verwendung eines Erzeugnisses nicht als erste Genehmigung für das Inverkehrbringen dieses Erzeugnisses als Arzneimittel im Sinne von Art. 3 Buchst. d der Verordnung Nr. 469/2009 angesehen werden kann, wenn zuvor für eine andere therapeutische Verwendung dieses Erzeugnisses eine andere Verkehrsgenehmigung erteilt wurde. Dass die jüngere Verkehrsgenehmigung die erste Genehmigung für das Inverkehrbringen ist, die in den Schutzbereich des Grundpatents fällt, auf das sich die Anmeldung des ergänzenden Schutzzertifikats bezieht, kann diese Auslegung nicht in Frage stellen.

61      Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 3 Buchst. d der Verordnung Nr. 469/2009 dahin auszulegen ist, dass eine Genehmigung für das Inverkehrbringen nicht als erste Genehmigung für das Inverkehrbringen im Sinne dieser Bestimmung angesehen werden kann, wenn sie eine neue therapeutische Verwendung eines Wirkstoffs oder einer Wirkstoffzusammensetzung betrifft, der bzw. die bereits Gegenstand einer Genehmigung für das Inverkehrbringen einer anderen therapeutischen Verwendung war.

 Kosten

62      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

Art. 3 Buchst. d der Verordnung (EG) Nr. 469/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Mai 2009 über das ergänzende Schutzzertifikat für Arzneimittel ist dahin auszulegen, dass eine Genehmigung für das Inverkehrbringen nicht als erste Genehmigung für das Inverkehrbringen im Sinne dieser Bestimmung angesehen werden kann, wenn sie eine neue therapeutische Verwendung eines Wirkstoffs oder einer Wirkstoffzusammensetzung betrifft, der bzw. die bereits Gegenstand einer Genehmigung für das Inverkehrbringen einer anderen therapeutischen Verwendung war.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Französisch.