Language of document : ECLI:EU:C:2016:410

Rechtssache C‑155/15

George Karim

gegen

Migrationsverket

(Vorabentscheidungsersuchen des Kammarrätt i Stockholm – Migrationsöverdomstolen)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Verordnung (EU) Nr. 604/2013 – Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist – Art. 18 – Wiederaufnahme eines Asylbewerbers während der Prüfung seines Antrags – Art. 19 – Erlöschen der Zuständigkeit – Verlassen des Hoheitsgebiets der Mitgliedstaaten für mindestens drei Monate – Neues Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats – Art. 27 – Rechtsmittel – Umfang der gerichtlichen Kontrolle“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 7. Juni 2016

1.        Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Asylpolitik – Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist – Verordnung Nr. 604/2013 – Verpflichtung des zuständigen Mitgliedstaats, den Antrag im Fall der Wiederaufnahme einer internationalen Schutz beantragenden Person zu prüfen – Grenzen – Erlöschen der Zuständigkeit im Fall des Verlassens des Hoheitsgebiets dieses Mitgliedstaats für mindestens drei Monate – Folgen

(Verordnung Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 19 Abs. 2)

2.        Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Asylpolitik – Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist – Verordnung Nr. 604/2013 – Rechtsmittel gegen eine gegenüber einem Asylbewerber erlassene Überstellungsentscheidung – Möglichkeit, einen Verstoß gegen die Regel in Bezug auf das Erlöschen der Zuständigkeit des Mitgliedstaats geltend zu machen – Gerichtliche Nachprüfung – Umfang

(Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 4; Verordnung Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates, 19. Erwägungsrund und Art. 19 Abs. 2 und 27 Abs. 1)

1.        Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 604/2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, ist dahin auszulegen, dass diese Bestimmung, insbesondere ihr Unterabs. 2, auf einen Drittstaatsangehörigen anwendbar ist, der nach der Stellung eines ersten Asylantrags in einem Mitgliedstaat den Nachweis erbringt, dass er das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten für mindestens drei Monate verlassen hat, bevor er einen neuen Asylantrag in einem anderen Mitgliedstaat gestellt hat.

Gemäß Art. 19 Abs. 2 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 604/2013 erlöschen nämlich grundsätzlich die Verpflichtungen aus ihrem Art. 18 Abs. 1 zur Aufnahme und Wiederaufnahme eines Asylbewerbers, wenn der zuständige Mitgliedstaat, der um Wiederaufnahme eines Asylbewerbers ersucht wird, nachweisen kann, dass der Asylbewerber das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten für mindestens drei Monate verlassen hat. Jedoch wird durch Art. 19 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 604/2013 klargestellt, dass ein nach einer solchen Abwesenheitszeit gestellter Antrag als ein neuer Antrag gilt, der ein neues Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats auslöst. Folglich erlegt in einem Fall, in dem ein Drittstaatsangehöriger nach der Stellung eines ersten Asylantrags in einem Mitgliedstaat das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten für mindestens drei Monate verlassen hat, bevor er einen neuen Asylantrag in einem anderen Mitgliedstaat gestellt hat, Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 604/2013 dem Mitgliedstaat, bei dem der neue Asylantrag gestellt worden ist, die Verpflichtung auf, auf der Grundlage der Vorschriften der Verordnung das Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats durchzuführen, der für die Prüfung des neuen Asylantrags zuständig ist.

(vgl. Rn. 15-18, Tenor 1)

2.        Art. 27 Abs. 1 der Verordnung Nr. 604/2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, ist im Licht des 19. Erwägungsgrundes dieser Verordnung dahin auszulegen, dass ein Asylbewerber im Rahmen eines Rechtsbehelfs gegen eine Entscheidung über seine Überstellung einen Verstoß gegen die Regelung des Art. 19 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung geltend machen kann.

Art. 27 Abs. 1 der Verordnung Nr. 604/2013 im Licht des 19. Erwägungsgrundes gewährt einem Asylbewerber nämlich einen wirksamen Rechtsbehelf gegen eine Entscheidung über seine Überstellung, der insbesondere auf die Überprüfung der Anwendung dieser Verordnung abzielen und damit dazu führen kann, dass die Zuständigkeit eines Mitgliedstaats in Frage gestellt wird, auch wenn in diesem Mitgliedstaat keine systemischen Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber bestehen, die die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union mit sich bringen. Durch die Regelung des Art. 19 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung wird der Rahmen bestimmt, in dem dieses Verfahren durchzuführen ist, wenn der betreffende Drittstaatsangehörige nach der ersten Stellung eines Asylantrags in einem Mitgliedstaat das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten für mindestens drei Monate verlassen hat, bevor er einen neuen Asylantrag in einem anderen Mitgliedstaat gestellt hat. Dieser Regelung ist nämlich zu entnehmen, dass in einem solchen Fall der Mitgliedstaat, bei dem der neue Asylantrag gestellt worden ist, das Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats durchzuführen hat, der für die Prüfung dieses neuen Antrags zuständig ist. Dieses neue Verfahren der Zuständigkeitsbestimmung unterscheidet sich von dem ursprünglich durch den Mitgliedstaat, bei dem der erste Asylantrag gestellt worden war, durchgeführten Verfahren und kann zur Bestimmung eines neuen zuständigen Mitgliedstaats aufgrund der in Kapitel III der Verordnung Nr. 604/2013 normierten Kriterien führen.

Daher muss das mit einem Rechtsbehelf gegen eine Überstellungsentscheidung befasste Gericht, um sich zu vergewissern, dass diese Entscheidung nach einer fehlerfreien Durchführung des in der Verordnung vorgesehenen Verfahrens zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats ergangen ist, das Vorbringen eines Asylbewerbers prüfen können, mit dem ein Verstoß gegen die Regelung des Art. 19 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung geltend gemacht wird.

(vgl. Rn. 22-27, Tenor 2)