Language of document : ECLI:EU:C:2022:563

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)

14. Juli 2022(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Internationale Übereinkünfte – Schienenverkehr – Übereinkommen über den internationalen Eisenbahnverkehr (COTIF) – Einheitliche Rechtsvorschriften für den Vertrag über die Nutzung der Infrastruktur im internationalen Eisenbahnverkehr (CUI) – Art. 4 – Zwingendes Recht – Art. 8 – Haftung des Betreibers – Art. 19 – Sonstige Ansprüche – Zuständigkeit des Gerichtshofs – Beschädigung von Lokomotiven des Beförderers aufgrund einer Entgleisung – Anmietung von Ersatzlokomotiven – Verpflichtung des Infrastrukturbetreibers zur Erstattung der Mietkosten – Vertrag, der durch einen Verweis auf das nationale Recht die Erweiterung der Haftung der Parteien vorsieht“

In der Rechtssache C‑500/20

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Obersten Gerichtshof (Österreich) mit Entscheidung vom 6. August 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 6. Oktober 2020, in dem Verfahren

ÖBB-Infrastruktur Aktiengesellschaft

gegen

Lokomotion Gesellschaft für Schienentraktion mbH

erlässt

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan sowie der Richter I. Jarukaitis (Berichterstatter), M. Ilešič, D. Gratsias und Z. Csehi,

Generalanwältin: T. Ćapeta,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der ÖBB-Infrastruktur Aktiengesellschaft, vertreten durch Rechtsanwältin J. Andras und Rechtsanwalt A. Egger,

–        der Lokomotion Gesellschaft für Schienentraktion mbH, vertreten durch die Rechtsanwälte G. Horak und A. Stolz,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch W. Mölls, C. Vrignon und G. Wilms als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 3. Februar 2022

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Übereinkommens über den internationalen Eisenbahnverkehr vom 9. Mai 1980 in der Fassung des Änderungsprotokolls von Vilnius vom 3. Juni 1999 (im Folgenden: COTIF), insbesondere der Art. 4, Art. 8 § 1 Buchst. b und Art. 19 § 1 des Anhangs E zum COTIF („Einheitliche Rechtsvorschriften für den Vertrag über die Nutzung der Infrastruktur im internationalen Eisenbahnverkehr [CUI]“) (im Folgenden: Anhang E [CUI]).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der ÖBB-Infrastruktur AG, die ein österreichisches Unternehmen und Schieneninfrastrukturbetreiberin ist, und der Lokomotion Gesellschaft für Schienentraktion mbH (im Folgenden: Lokomotion Gesellschaft), einem deutschen Eisenbahnunternehmen, über einen Schadenersatzanspruch infolge eines Unfalls auf einer von ÖBB-Infrastruktur betriebenen Schienenanlage.

 Rechtlicher Rahmen

 Internationales Recht

 COTIF

3        Das COTIF ist am 1. Juli 2006 in Kraft getreten. Die 49 Staaten, die Parteien des COTIF sind, darunter alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union mit Ausnahme der Republik Zypern und der Republik Malta, bilden die Zwischenstaatliche Organisation für den internationalen Eisenbahnverkehr (OTIF).

4        Gemäß Art. 2 § 1 COTIF besteht das Ziel der OTIF darin, den internationalen Eisenbahnverkehr in jeder Hinsicht zu fördern, zu verbessern und zu erleichtern; zu diesem Zweck stellt sie insbesondere einheitliche Regime für verschiedene Rechtsbereiche des internationalen Eisenbahnverkehrs auf, wie etwa in Bezug auf Verträge über die Nutzung der Infrastruktur.

5        In Art. 6 („Einheitliche Rechtsvorschriften“) § 1 COTIF heißt es:

„Sofern keine Erklärungen oder Vorbehalte gemäß Artikel 42 § 1 Satz 1 abgegeben oder eingelegt worden sind, finden im internationalen Eisenbahnverkehr und bei der technischen Zulassung von Eisenbahnmaterial zur Verwendung im internationalen Verkehr Anwendung:

e)      die ‚Einheitlichen Rechtsvorschriften für den Vertrag über die Nutzung der Infrastruktur im internationalen Eisenbahnverkehr (CUI)‘, Anhang E [(CUI)],

…“

6        Art. 4 des Anhangs E (CUI) sieht vor:

„Soweit diese Einheitlichen Rechtsvorschriften es nicht ausdrücklich zulassen, ist jede Vereinbarung, die unmittelbar oder mittelbar von diesen Einheitlichen Rechtsvorschriften abweicht, nichtig und ohne Rechtswirkung. Die Nichtigkeit solcher Vereinbarungen hat nicht die Nichtigkeit der übrigen Bestimmungen des Vertrages zur Folge. Dessen ungeachtet können die Parteien des Vertrages ihre Haftung und ihre Verpflichtungen, die sich aus diesen Einheitlichen Rechtsvorschriften ergeben, erweitern oder die Haftung für Sachschäden der Höhe nach begrenzen.“

7        Art. 8 des Anhangs E (CUI) bestimmt:

„§ 1      Der Betreiber haftet für

a)      Personenschäden (Tötung, Verletzung oder sonstige Beeinträchtigung der körperlichen oder geistigen Gesundheit),

b)      Sachschäden (Zerstörung oder Beschädigung beweglicher und unbeweglicher Sachen),

c)      Vermögensschäden, die sich daraus ergeben, dass der Beförderer Entschädigungen gemäß den Einheitlichen Rechtsvorschriften [für den Vertrag über die internationale Eisenbahnbeförderung von Personen und Gepäck (CIV)] und den Einheitlichen Rechtsvorschriften [für den Vertrag über die internationale Eisenbahnbeförderung von Gütern (CIM)] zu leisten hat,

die der Beförderer oder seine Hilfspersonen während der Nutzung der Infrastruktur erleiden und die ihre Ursache in der Infrastruktur haben.

§ 4      Die Parteien des Vertrages können Vereinbarungen darüber treffen, ob und inwieweit der Betreiber für Schäden, die dem Beförderer durch Verspätung oder Betriebsstörungen entstehen, haftet.“

8        Art. 19 § 1 des Anhangs E (CUI) lautet:

„In allen Fällen, auf welche diese Einheitlichen Rechtsvorschriften Anwendung finden, kann ein Anspruch auf Schadenersatz, auf welchem Rechtsgrund er auch beruht, gegen den Betreiber oder gegen den Beförderer nur unter den Voraussetzungen und Beschränkungen dieser Einheitlichen Rechtsvorschriften geltend gemacht werden.“

 Erläuternde Bemerkungen zu Anhang E (CUI)

9        In den Erläuternden Bemerkungen zu Anhang E (CUI) der OTIF-Generalversammlung (AG 12/13 Add. 8) vom 30. September 2015 (im Folgenden: Erläuternde Bemerkungen) wird zu Art. 4 des Anhangs E (CUI) ausgeführt:

„1.      Grundsätzlich haben die [Einheitlichen Rechtsvorschriften] CUI zwingenden Rechtscharakter und gehen damit landesrechtlichen Bestimmungen vor. Die Formulierung lehnt sich an den Wortlaut des Artikels 5 [der Einheitlichen Rechtsvorschriften] CIM an.

2.      Hinsichtlich der wirtschaftlichen Bedingungen des Nutzungsvertrages herrscht Vertragsfreiheit.

3.      Der letzte Satz, der wörtlich aus Artikel 5 [der Einheitlichen Rechtsvorschriften] CIM übernommen wurde, ermöglicht es den Parteien des Vertrages, ihre Haftung zu erweitern. …“

10      Zu Art. 8 des Anhangs E (CUI) heißt es in den Erläuternden Bemerkungen:

„1.      § 1 legt den Grundsatz der objektiven (strikten) Haftung des Betreibers der Infrastruktur fest. Der Geschädigte (Beförderer oder seine Hilfsperson) hat die Schadensursache (Mängel beim Betrieb der oder an der Infrastruktur) und die Schadenshöhe zu beweisen; er hat ferner zu beweisen, dass der Schaden während der Dauer der Nutzung der Infrastruktur verursacht wurde. …

2.      § 1 Buchst. b) stellt klar, dass die Haftung für Sachschäden die Haftung für sogenannte (reine) Vermögensschäden nicht umfasst. Ausgenommen sind gemäß § 1 Buchst. c) Vermögensschäden, die sich daraus ergeben, dass der Beförderer Entschädigungen gemäß den [Einheitlichen Rechtsvorschriften] CIV oder [den Einheitlichen Rechtsvorschriften] CIM zu leisten hat. Schäden an Beförderungsmitteln sind Sachschäden, die der Beförderer unmittelbar erleidet, selbst wenn diese Beförderungsmittel nicht sein zivilrechtliches Eigentum sind, sondern er darüber auf Grund eines Vertrages gemäß den [Einheitlichen Rechtsvorschriften für Verträge über die Verwendung von Wagen im internationalen Eisenbahnverkehr (CUV)] verfügt.“

11      In den Erläuternden Bemerkungen wird zu Art. 19 des Anhangs E (CUI) außerdem festgehalten:

„Dieser Artikel bezweckt, das gesetzlich geregelte Haftungssystem für die vertraglichen Ansprüche durch die Einschränkung außervertraglicher Ansprüche auch Dritter umfassend vor einer Aushöhlung in den Fällen zu schützen, in denen andernfalls eine Vertragspartei auf außervertraglicher Grundlage unbegrenzt in Anspruch genommen werden könnte. …“

 Beitrittsvereinbarung

12      Die am 23. Juni 2011 in Bern unterzeichnete Vereinbarung zwischen der Europäischen Union und der Zwischenstaatlichen Organisation für den Internationalen Eisenbahnverkehr über den Beitritt der Europäischen Union zum COTIF (ABl. 2013, L 51, S. 8, im Folgenden: Beitrittsvereinbarung) trat gemäß ihrem Art. 9 am 1. Juli 2011 in Kraft.

13      Art. 2 der Beitrittsvereinbarung bestimmt:

„Unbeschadet des Ziels und des Zwecks des [COTIF], den grenzüberschreitenden Eisenbahnverkehr zu fördern, zu verbessern und zu erleichtern, sowie unbeschadet seiner uneingeschränkten Anwendung gegenüber anderen Vertragsparteien des [COTIF] wenden Vertragsparteien des [COTIF], die Mitgliedstaaten der Union sind, in ihren Beziehungen untereinander die Rechtsvorschriften der Union an und wenden dementsprechend nicht die Vorschriften aufgrund des [COTIF] an, außer wenn für den betreffenden Gegenstand keine Unionsvorschriften bestehen.“

14      Art. 7 der Beitrittsvereinbarung lautet:

„Der Umfang der Zuständigkeiten der Union wird in allgemeiner Form in einer schriftlichen Erklärung festgehalten, welche die Union zum Zeitpunkt des Abschlusses dieser Vereinbarung abgibt. Diese Erklärung kann bei Bedarf durch eine entsprechende Notifikation der Union an die OTIF geändert werden. Sie ersetzt oder beschränkt nicht die Angelegenheiten, zu denen gegebenenfalls Notifikationen über die Zuständigkeit der Union erfolgen, bevor bei der OTIF durch förmliche Abstimmung oder ein anderes Verfahren ein Beschluss gefasst wird.“

 Unionsrecht

 Beschluss 2013/103/EU

15      Die Beitrittsvereinbarung wurde durch den Beschluss 2013/103/EU des Rates vom 16. Juni 2011 über die Unterzeichnung und den Abschluss der Vereinbarung zwischen der Europäischen Union und der Zwischenstaatlichen Organisation für den Internationalen Eisenbahnverkehr über den Beitritt der Europäischen Union zum Übereinkommen über den Internationalen Eisenbahnverkehr (COTIF) vom 9. Mai 1980 in der Fassung des Änderungsprotokolls von Vilnius vom 3. Juni 1999 (ABl. 2013, L 51, S. 1) im Namen der Union genehmigt.

16      Anhang I des Beschlusses 2013/103 enthält eine Erklärung der Union über die Ausübung der Zuständigkeiten, die anlässlich der Unterzeichnung der Beitrittsvereinbarung abgegeben wurde (im Folgenden: Erklärung der Union).

17      Die Erklärung der Union sieht vor:

„Im Eisenbahnbereich ist die Europäische Union … nach den Artikeln 90 und 91… in Verbindung mit Artikel 100 Absatz 1 und den Artikeln 171 und 172 [AEUV] gemeinsam mit den Mitgliedstaaten der Union … zuständig.

Auf der Grundlage [der Art. 91 und 171 AEUV] hat die Union eine beträchtliche Zahl von Rechtsinstrumenten verabschiedet, die auf den Eisenbahnverkehr Anwendung finden.

Das Unionsrecht verleiht der Union die ausschließliche Zuständigkeit in Angelegenheiten des Eisenbahnverkehrs, in denen das [COTIF] oder auf seiner Grundlage verabschiedete [Rechtsakte] diese bestehenden Vorschriften der Union berühren oder deren Anwendungsbereich abändern könnten.

In Angelegenheiten, die unter das [COTIF] fallen und bei denen die Union über ausschließliche Zuständigkeit verfügt, sind die Mitgliedstaaten nicht zuständig.

In Angelegenheiten, zu denen Vorschriften der Union bestehen, die aber vom [COTIF] oder [Rechtsakten], die auf seiner Grundlage verabschiedet wurden, nicht berührt werden, nimmt die Union die Zuständigkeiten in Bezug auf das [COTIF] gemeinsam mit den Mitgliedstaaten wahr.

Eine Liste der bei Inkrafttreten dieser Vereinbarung geltenden einschlägigen Rechtsakte der Union ist als Anlage zu diesem Anhang beigefügt. Der Umfang der Zuständigkeit der Union ist jeweils aufgrund des genauen Inhalts dieser Rechtsakte und insbesondere danach zu beurteilen, ob darin gemeinsame Regeln festgelegt werden. Die Zuständigkeit der Union unterliegt einer ständigen Entwicklung. Im Rahmen des Vertrags über die Europäische Union und des AEU[‑Vertrags] können die zuständigen Organe der Union Entscheidungen treffen, die den Umfang der Zuständigkeiten der Union bestimmen. Die Union behält sich daher das Recht vor, diese Erklärung entsprechend abzuändern, ohne dass dies eine Voraussetzung für die Ausübung ihrer Zuständigkeit für unter das [COTIF] fallende Angelegenheiten wäre.“

 Richtlinie 2012/34/EU

18      Die Erwägungsgründe 1 bis 3 der Richtlinie 2012/34/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. November 2012 zur Schaffung eines einheitlichen europäischen Eisenbahnraums (ABl. 2012, L 343, S. 32) bestimmen:

„(1)      Die Richtlinie 91/440/EWG des Rates vom 29. Juli 1991 zur Entwicklung der Eisenbahnunternehmen der Gemeinschaft [ABl. 1991, L 237, S. 25], die Richtlinie 95/18/EG des Rates vom 19. Juni 1995 über die Erteilung von Genehmigungen an Eisenbahnunternehmen [ABl. 1995, L 143, S. 70] sowie die Richtlinie 2001/14/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2001 über die Zuweisung von Fahrwegkapazität der Eisenbahn, die Erhebung von Entgelten für die Nutzung von Eisenbahninfrastruktur und die Sicherheitsbescheinigung [ABl. 2001, L 75, S. 29] wurden in wesentlichen Punkten geändert. Da noch weitere Änderungen erforderlich sind, sollten diese Richtlinien aus Gründen der Klarheit neu gefasst und zu einem einzigen Rechtsakt verschmolzen werden.

(2)      Ein stärkeres Zusammenwachsen des Verkehrsmarktes der Union ist für die Vollendung des Binnenmarkts von wesentlicher Bedeutung und die Eisenbahnen sind ein wichtiger Bestandteil der Bestrebungen zur Gewährleistung einer nachhaltigen Mobilität im Verkehrsmarkt der Union.

(3)      Die Leistungsfähigkeit des Eisenbahnsystems sollte unter Berücksichtigung seiner Besonderheiten verbessert werden, damit es sich in einen Wettbewerbsmarkt einfügt.“

19      Art. 1 („Gegenstand und Anwendungsbereich“) der Richtlinie 2012/34 lautet:

„(1)      Diese Richtlinie legt Folgendes fest:

a)      die Vorschriften für den Betrieb der Eisenbahninfrastruktur und das Erbringen von Eisenbahnverkehrsleistungen durch Eisenbahnunternehmen, die ihren Sitz in einem Mitgliedstaat haben oder haben werden (Kapitel II);

…“

20      Art. 3 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie 2012/34 bestimmt in seinen Nrn. 1 und 2:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

1.      ‚Eisenbahnunternehmen‘ jedes nach dieser Richtlinie zugelassene öffentlich-rechtliche oder private Unternehmen, dessen Haupttätigkeit im Erbringen von Eisenbahnverkehrsdiensten zur Beförderung von Gütern und/oder Personen besteht, wobei dieses Unternehmen die Traktion sicherstellen muss; dies schließt auch Unternehmen ein, die ausschließlich die Traktionsleistung erbringen;

2.      ‚Infrastrukturbetreiber‘ jede Stelle oder jedes Unternehmen, die bzw. das insbesondere für die Einrichtung, die Verwaltung und die Unterhaltung der Fahrwege der Eisenbahn, einschließlich Verkehrsmanagement, Zugsteuerung/Zugsicherung und Signalgebung, zuständig ist; mit den bei einem Netz oder Teilen eines Netzes wahrzunehmenden Funktionen des Infrastrukturbetreibers können verschiedene Stellen oder Unternehmen betraut werden;“.

21      Kapitel IV der Richtlinie 2012/34, das die Art. 26 bis 57 umfasst, betrifft die „Erhebung von Wegeentgelten und Zuweisung von Fahrwegkapazität im Schienenverkehr“. Art. 28 („Vereinbarungen zwischen Eisenbahnunternehmen und Infrastrukturbetreibern“) sieht vor:

„Die Eisenbahnunternehmen, die Eisenbahnverkehrsleistungen erbringen, schließen mit den Betreibern der genutzten Eisenbahninfrastruktur auf öffentlich-rechtlicher oder privatrechtlicher Grundlage die erforderlichen Vereinbarungen. Die Bedingungen dieser Vereinbarungen müssen nichtdiskriminierend und transparent sein, gemäß dieser Richtlinie.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

22      Lokomotion Gesellschaft ist ein privates Eisenbahnverkehrsunternehmen mit Sitz in Deutschland. Es stellt seinen Kunden Lokomotiven für verschiedene Arten von Beförderungen zur Verfügung.

23      ÖBB-Infrastruktur ist ein österreichisches Eisenbahninfrastrukturunternehmen, das u. a. die Eisenbahninfrastruktur im Bereich des Bahnhofs Kufstein in Österreich betreibt.

24      Im Dezember 2014 schlossen diese Unternehmen einen Vertrag über die Nutzung der von ÖBB-Infrastruktur bereitgestellten Eisenbahninfrastruktur für den internationalen Verkehr, wonach Lokomotion Gesellschaft zu deren Nutzung gegen Entgelt gemäß der jeweiligen Zugtrassenvereinbarung berechtigt ist.

25      Die Allgemeinen Geschäftsbedingungen zum Infrastrukturnutzungsvertrag (im Folgenden: AGB) sind integraler Bestandteil dieses Vertrags. Deren Punkt 20 sieht vor, dass die Vertragspartner nach den gesetzlichen und völkerrechtlichen Bestimmungen haften, insbesondere jenen des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuchs, des Unternehmensgesetzbuchs, des Eisenbahn- und Kraftfahrzeughaftpflichtgesetzes und des Anhangs E (CUI), sofern in diesen AGB nicht hiervon abweichende Regelungen enthalten sind.

26      Nach Punkt 34 dieser AGB unterliegt der Vertrag österreichischem Recht mit Ausnahme der Verweisungsnormen des Internationalen Privatrechtsgesetzes sowie des am 11. April 1980 in Wien unterzeichneten Übereinkommens der Vereinten Nationen über Verträge über den internationalen Warenkauf.

27      Am 15. Juli 2015 entgleiste im Bahnhof Kufstein ein Lokomotion Gesellschaft gehörender und aus sechs Lokomotiven bestehender Lokzug, wobei zwei der Lokomotiven beschädigt wurden. Diese waren während der Dauer der Reparatur nicht einsatzfähig, weshalb Lokomotion Gesellschaft zwei Lokomotiven ersatzweise anmietete. Sie erhob sodann bei einem erstinstanzlichen Gericht Klage gegen ÖBB-Infrastruktur auf Erstattung der Mietkosten, die sich auf 629 110 Euro zuzüglich Zinsen und Kosten beliefen.

28      Lokomotion Gesellschaft vertritt zum einen der Ansicht, dass der Unfall auf eine Mangelhaftigkeit der von ÖBB-Infrastruktur betriebenen Eisenbahninfrastruktur zurückzuführen sei. Diese habe ihre in den eisenbahnrechtlichen Vorschriften normierten Pflichten zur Herstellung, Überprüfung, Wartung, Instandsetzung und Reparatur der Schienen rechtswidrig und schuldhaft nicht erfüllt. Zum anderen seien die Kosten für die Anmietung der Ersatzlokomotiven als „Sachschäden“ im Sinne von Art. 8 § 1 Buchst. b des Anhangs E (CUI) anzusehen.

29      ÖBB-Infrastruktur trägt vor, dass die Eisenbahninfrastruktur nicht mangelhaft gewesen sei. Der Unfall sei durch einen ausgezogenen Kupplungshaken der entgleisten Lokomotive verursacht worden, der bereits vor der Entgleisung überbeansprucht gewesen sei, wofür Lokomotion Gesellschaft das Verschulden treffe. Außerdem werde ein reiner Vermögensschaden geltend gemacht, für den Lokomotion Gesellschaft nach den anwendbaren Rechtsvorschriften von Anhang E (CUI) kein Anspruch auf Schadenersatz zustehe.

30      Das erstinstanzliche Gericht wies die Klage von Lokomotion Gesellschaft mit Teilurteil ab, da Anhang E (CUI) gemäß seinem Art. 19 § 1 als alleiniges Haftungsregime sämtliche weiteren innerstaatlichen Haftungsordnungen verdränge. Die Definition eines „Sachschadens“ in Art. 8 § 1 Buchst. b des Anhangs E (CUI) sei auf die Zerstörung oder Beschädigung beweglicher oder unbeweglicher Sachen beschränkt. Die im Ausgangsverfahren geltend gemachten Mietkosten seien aber ein reiner Vermögensschaden, der weder von den Bestimmungen von Art. 8 § 1 Buchst. b noch von jenen von Art. 8 § 1 Buchst. c des Anhangs E (CUI) umfasst werde und deshalb nicht ersatzfähig sei. Das erstinstanzliche Gericht hielt außerdem fest, dass Punkt 20 der AGB keine Vereinbarung der Parteien nach Art. 8 § 4 des Anhangs E (CUI) darstelle, aus der sich eine Haftung von ÖBB-Infrastruktur nach innerstaatlichen Bestimmungen ergebe.

31      Das Berufungsgericht hob dieses Teilurteil auf und verwies die Klage von Lokomotion Gesellschaft zur neuerlichen Entscheidung zurück an die erste Instanz. Es vertrat die Ansicht, dass der Ausdruck „Sachschäden“ in Art. 8 § 1 Buchst. b des Anhangs E (CUI) weit zu verstehen sei und auch einen „abgeleiteten Sachschaden“ wie die für den Ersatz der beschädigten Lokomotiven angefallenen Mietkosten umfasse, auf deren Erstattung sich die Forderung gegen ÖBB-Infrastruktur richte.

32      ÖBB-Infrastruktur erhob gegen den Aufhebungsbeschluss des Berufungsgerichts Rekurs an den Obersten Gerichtshof (Österreich), das vorlegende Gericht.

33      Das vorlegende Gericht geht zunächst davon aus, dass das zwischen der Union und der OTIF geschlossene Beitrittsübereinkommen zum COTIF ein gemischtes Übereinkommen darstelle, wobei aus der Erklärung der Union nicht eindeutig hervorgehe, in welchen Bereichen des COTIF der Union die ausschließliche Zuständigkeit zukomme und in welchen Bereichen sie die Zuständigkeit mit den Mitgliedstaaten teile. Die Zuständigkeit des Gerichtshofs erstrecke sich im Hinblick auf diese Erklärung offenbar auf alle Bereiche des COTIF.

34      Unter Berücksichtigung der im Schrifttum zum Ausdruck kommenden Unsicherheiten hinsichtlich der Zuständigkeit des Gerichtshofs für Vorabentscheidungsersuchen in Bezug auf gemischte Abkommen hat das vorlegende Gericht indessen Zweifel, ob eine solche Zuständigkeit im Ausgangsverfahren gegeben ist.

35      Außerdem ist das vorlegende Gericht der Ansicht, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Mietkosten für die Lokomotiven für sich genommen keinen „Sachschaden“ darstellen, der gemäß Art. 8 § 1 Buchst. b des Anhangs E (CUI) in der Zerstörung oder Beschädigung beweglicher oder unbeweglicher Sachen besteht. Da diese Kosten jedoch mit einem solchen Schaden in einem engen Zusammenhang stehen, stellt sich dem vorlegenden Gericht die Frage, ob sie als „abgeleiteter Sachschaden“ betrachtet werden könnten.

36      Sollte der Gerichtshof zu der Auffassung gelangen, dass die Kosten für die Anmietung der betreffenden Lokomotiven nicht unter die genannte Bestimmung fallen, wäre nach der Ansicht des vorlegenden Gerichts schließlich zu klären, ob ein pauschaler Verweis auf ein nationales Gesetzeswerk als von den Einheitlichen Rechtsvorschriften abweichende Vereinbarung im Sinne von Art. 4 des Anhangs E (CUI) verstanden werden kann und ob ein solcher Verweis in diesem Fall tatsächlich als „Erweiterung“ der Haftung im Sinne von Art. 4 anzusehen ist, wenn dieses Gesetzeswerk in Bezug auf die Voraussetzungen für den Eintritt der Haftung, insbesondere in Bezug auf die Voraussetzung des Verschuldens, strenger als das COTIF ist.

37      Vor diesem Hintergrund hat der Oberste Gerichtshof beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist der Gerichtshof für die Auslegung von Anhang E (CUI) zuständig?

2.      Für den Fall, dass die erste Frage bejaht wird:

Ist Art. 8 § 1 Buchst. b des Anhangs E (CUI) so auszulegen, dass unter die dort normierte Haftung des Betreibers für Sachschäden auch die Kosten fallen, die dem Beförderer dadurch entstehen, dass er wegen der Beschädigung seiner Lokomotiven ersatzweise andere Lokomotiven anmieten muss?

3.      Für den Fall, dass die erste Frage bejaht und die zweite Frage verneint wird:

Sind Art. 4 und Art. 19 § 1 des Anhangs E (CUI) dahin auszulegen, dass die Parteien des Vertrags ihre Haftung wirksam durch den pauschalen Verweis auf nationales Recht erweitern können, wenn danach zwar der Haftungsumfang weiter ist, jedoch – abweichend von der verschuldensunabhängigen Haftung nach Anhang E (CUI) – für die Haftung Verschulden Voraussetzung ist?

 Zuständigkeit des Gerichtshofs

38      Nach Art. 267 AEUV ist der Gerichtshof für die Auslegung der Handlungen der Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union zuständig.

39      Aus einer ständigen Rechtsprechung ergibt sich indessen, dass ein vom Rat gemäß den Art. 217 und 218 AEUV geschlossenes Übereinkommen für die Union eine Handlung eines Unionsorgans ist, dass die Bestimmungen eines solchen Übereinkommens ab dessen Inkrafttreten einen Bestandteil der Rechtsordnung der Union bilden und dass der Gerichtshof im Rahmen dieser Rechtsordnung dafür zuständig ist, im Wege der Vorabentscheidung über die Auslegung dieses Übereinkommens zu entscheiden (Urteile vom 30. April 1974, Haegeman, 181/73, EU:C:1974:41, Rn. 3 bis 6, und vom 2. September 2021, Republik Moldau, C‑741/19, EU:C:2021:655, Rn. 23).

40      Bei gemischten Übereinkommen, die von der Union und ihren Mitgliedstaaten auf der Grundlage einer geteilten Zuständigkeit geschlossen werden, ist der Gerichtshof, wenn er gemäß Art. 267 AEUV angerufen wird, dafür zuständig, die von der Union übernommenen Verpflichtungen von denjenigen abzugrenzen, für die allein die Mitgliedstaaten verantwortlich bleiben, und zu diesem Zweck die Bestimmungen eines solchen Übereinkommens auszulegen (vgl. entsprechend Urteile vom 14. Dezember 2000, Dior u. a., C‑300/98 und C‑392/98, EU:C:2000:688, Rn. 33, und vom 8. März 2011, Lesoochranárske zoskupenie, C‑240/09, EU:C:2011:125, Rn. 31).

41      Folglich ist der Gerichtshof für die Auslegung der Bestimmungen eines gemischten Übereinkommens zu den von der Union übernommenen Verpflichtungen zuständig, wenn diese in einen Bereich fallen, in dem die Union ihre Zuständigkeit ausgeübt hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. März 2011, Lesoochranárske zoskupenie, C‑240/09, EU:C:2011:125, Rn. 32 und 34).

42      Aus einer ständigen Rechtsprechung ergibt sich außerdem, dass, wenn eine Vorschrift eines internationalen Übereinkommens sowohl auf dem nationalen Recht unterliegende als auch auf dem Unionsrecht unterliegende Sachverhalte anwendbar sein kann, ein klares Interesse daran besteht, dass diese Vorschrift unabhängig davon, unter welchen Voraussetzungen sie angewandt werden soll, einheitlich ausgelegt wird, um in der Zukunft voneinander abweichende Auslegungen zu verhindern (vgl. insbesondere Urteil vom 2. September 2021, Republik Moldau, C‑741/19, EU:C:2021:655, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

43      Nur der Gerichtshof, der nach Artikel 267 AEUV in Zusammenarbeit mit den Gerichten der Mitgliedstaaten tätig wird, ist in der Lage, diese einheitliche Auslegung zu gewährleisten (vgl. entsprechend Urteil vom 14. Dezember 2000, Dior u. a., C‑300/98 und C‑392/98, EU:C:2000:688, Rn. 38).

44      Im vorliegenden Fall ergibt sich aus Art. 2 COTIF, dass „es [Ziel der OTIF ist], den internationalen Eisenbahnverkehr in jeder Hinsicht zu fördern, zu verbessern und zu erleichtern“, indem insbesondere einheitliche Rechtsvorschriften für verschiedene Bereiche des internationalen Eisenbahnverkehrs aufgestellt werden (Urteil vom 5. Dezember 2017, Deutschland/Rat, C‑600/14, EU:C:2017:935, Rn. 54).

45      Anhang E (CUI) regelt in diesem Rahmen die Verträge über die Nutzung der Eisenbahninfrastruktur (CUI) zum Zweck der Durchführung von Beförderungen, einschließlich der Form und der Rahmenbedingungen solcher Verträge. Insbesondere enthalten Art. 8 § 1, Art. 4 und Art. 19 § 1 des Anhangs E (CUI), die Gegenstand der Fragen an den Gerichtshof sind, u. a. die Regelungen zur Haftung des Infrastrukturbetreibers. Anhang E bezieht sich also auf das Vertragsrecht im Zusammenhang mit dem internationalen Eisenbahnverkehr. Somit können diese Bestimmungen u. a. das rechtliche Regime betreffen, das für Vereinbarungen zwischen Eisenbahnunternehmen und den Betreibern der genutzten Eisenbahninfrastruktur gilt.

46      Diese Materie fällt in einen Bereich, nämlich den des Verkehrs, für den die Union gemäß Art. 4 Abs. 2 Buchst. g AEUV über eine geteilte Zuständigkeit verfügt, die sie durch den Erlass der Richtlinie 2012/34 wahrgenommen hat.

47      Insoweit enthält diese Richtlinie zwar keine Vorschriften, die mit jenen von Anhang E (CUI) vergleichbar wären, doch stellt sie, wie sich aus ihrem ersten Erwägungsgrund ergibt, eine Neufassung der Richtlinien 91/440, 95/18 und 2001/14 dar, die in der Anlage zur Erklärung der Union ausdrücklich zu den Instrumenten gezählt werden, durch die die Union die mit den Mitgliedstaaten geteilte Zuständigkeit im Bereich des Verkehrs ausgeübt hat.

48      Außerdem werden im zweiten und dritten Erwägungsgrund der Richtlinie 2012/34 die Bedeutung eines stärkeren Zusammenwachsens des Verkehrsmarkts der Union und eine Verbesserung der Leistungsfähigkeit des Eisenbahnsystems unter Berücksichtigung seiner Besonderheiten hervorgehoben.

49      Hierzu geht aus Art. 1 der Richtlinie 2012/34 insbesondere hervor, dass sie die Vorschriften für den Betrieb der Eisenbahninfrastruktur und das Erbringen von Eisenbahnverkehrsleistungen durch Eisenbahnunternehmen, die ihren Sitz in einem Mitgliedstaat haben oder haben werden, sowie die Grundsätze und Verfahren für die Festlegung und Erhebung von Wegeentgelten im Eisenbahnverkehr und die Zuweisung von Fahrwegkapazität der Eisenbahn (Kapitel IV) festlegt. So werden die Begriffe „Eisenbahnunternehmen“ und „Infrastrukturbetreiber“ in Art. 3 Nrn. 1 und 2 der Richtlinie definiert. Außerdem bezieht sich Art. 28, der Teil von Kapitel IV dieser Richtlinie ist, auf zwischen Eisenbahnunternehmen und Infrastrukturbetreibern geschlossene Vereinbarungen und weist darauf hin, dass diese Vereinbarungen nicht diskriminierend und transparent sein müssen.

50      Insbesondere ist festzustellen, dass das Diskriminierungsverbot von Art. 28 der Richtlinie 2012/34 für alle Bestimmungen gilt, die im Rahmen des Vertragsverhältnisses zwischen dem Infrastrukturbetreiber und dem Eisenbahnunternehmen zur Anwendung kommen, einschließlich der Bestimmungen über die Haftung.

51      Mithin können die in Anhang E (CUI) enthaltenen Rechtsvorschriften und insbesondere die Rechtsvorschriften von Art. 4, Art. 8 § 1 und Art. 19 § 1 dieses Anhangs über die Haftung des Betreibers sowohl auf Sachverhalte Anwendung finden, die dem nationalen Recht unterliegen, als auch auf Sachverhalte, die dem Unionsrecht unterliegen, so dass nach der in Rn. 42 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ein klares Interesse an ihrer einheitlichen Auslegung besteht.

52      Folglich ist der Gerichtshof für die Auslegung von Art. 4, Art. 8 § 1 und Art. 19 § 1 des Anhangs E (CUI) zuständig.

 Zu den Vorlagefragen

 Zur ersten Frage

53      In Anbetracht der Feststellungen, die anlässlich der Prüfung der Zuständigkeit des Gerichtshofs getroffen wurden, ist auf die erste Frage zu antworten, dass der Gerichtshof, wenn er gemäß Art. 267 AEUV angerufen wird, für die Auslegung von Art. 4, Art. 8 § 1 Buchst. b und Art. 19 § 1 des Anhangs E (CUI) zuständig ist.

 Zur zweiten Frage

54      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 8 § 1 Buchst. b des Anhangs E (CUI) dahin auszulegen ist, dass die Haftung des Infrastrukturbetreibers für Sachschäden auch die Kosten umfasst, die dem Eisenbahnunternehmen durch die Anmietung von Ersatzlokomotiven für die Dauer der Reparatur der beschädigten Lokomotiven entstanden sind.

55      In diesem Zusammenhang stellt sich das vorlegende Gericht die Frage, ob Art. 8 § 1 Buchst. b des Anhangs E (CUI) auch die Haftung des Infrastrukturbetreibers für die Kosten vorsieht, die zwar keine eigentlichen Sachschäden decken, aber mit solchen in engem Zusammenhang stehen.

56      Nach ständiger Rechtsprechung ist ein internationaler Vertrag wie das COTIF nach allgemeinem Völkerrecht, an das die Union gebunden ist, nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Licht seines Ziels und Zwecks auszulegen, wie durch Art. 31 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969 (United Nations Treaty Series, Bd. 1155, S. 331) kodifiziert (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Mai 2021, Altenrhein Luftfahrt, C‑70/20, EU:C:2021:379, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).

57      Nach Art. 8 § 1 Buchst. b des Anhangs E (CUI) haftet der Infrastrukturbetreiber für Sachschäden (Zerstörung oder Beschädigung beweglicher und unbeweglicher Sachen).

58      Da diese Bestimmung eine objektive und damit verschuldensunabhängige Haftung des Infrastrukturbetreibers begründet, ist sie eng auszulegen.

59      Was die wörtliche Auslegung von Art. 8 § 1 Buchst. b des Anhangs E (CUI) betrifft, so deutet die Verwendung des Begriffs „Sachschäden“, gefolgt von einem in Klammern gesetzten Verweis auf die Zerstörung oder Beschädigung beweglicher oder unbeweglicher Sachen, darauf hin, dass die Haftung dieses Betreibers auf Schäden beschränkt ist, die an der eigentlichen Substanz der beschädigten Sache entstehen, und dass sie keine Schäden umfasst, die aufgrund der Nichtverfügbarkeit dieser Sache eintreten.

60      Diese Auslegung wird durch den Zusammenhang bestätigt, in dem Art. 8 § 1 Buchst. b des Anhangs E (CUI) steht. Denn Art. 8 § 1 des Anhangs E (CUI) führt die drei Arten von Schäden auf, für die eine objektive Haftung des Betreibers gilt. Der Umfang dieser Haftung ist also klar abgegrenzt. Sie umfasst Personenschäden nach Art. 8 § 1 Buchst. a des Anhangs E (CUI), Sachschäden nach Art. 8 § 1 Buchst. b dieses Anhangs und Vermögensschäden nach Art. 8 § 1 Buchst. c dieses Anhangs. Im Hinblick auf die in Art. 8 § 1 getroffene Unterscheidung zwischen den drei genannten Schadensarten ist davon auszugehen, dass sich diese Kategorien gegenseitig ausschließen und dass somit namentlich die Haftung des Betreibers für Sachschäden im Sinne von Art. 8 § 1 Buchst. b des Anhangs E (CUI) keine Vermögensschäden umfasst.

61      Diese Schlussfolgerung wird durch die Erläuternden Bemerkungen untermauert, in denen in Bezug auf Art. 8 § 1 Buchst. b des Anhangs E (CUI) darauf hingewiesen wird, dass die in dieser Bestimmung vorgesehene Haftung für Sachschäden die Haftung für Vermögensschäden nicht umfasst.

62      In diesem Zusammenhang ist zu den Sachschäden insbesondere hervorzuheben, dass sich aus den Ausführungen dieser Erläuternden Bemerkungen zu Art. 8 des Anhangs E (CUI) ergibt, dass die in Art. 8 § 1 Buchst. b des Anhangs E (CUI) vorgesehene Haftung für Schäden an Beförderungsmitteln nur Schäden betrifft, die der Beförderer „unmittelbar“ erleidet.

63      Allerdings kann nicht ausgeschlossen werden, dass weitere Schäden auf der Grundlage anderer Bestimmungen ersatzfähig sind. Hierzu ist festzustellen, dass gemäß Art. 8 § 1 Buchst. c des Anhangs E (CUI) der Betreiber für Vermögensschäden haftet, die sich daraus ergeben, dass der Beförderer Entschädigungen gemäß den Einheitlichen Rechtsvorschriften CIV und den Einheitlichen Rechtsvorschriften CIM zu leisten hat.

64      Außerdem spricht, wie die Generalanwältin in Nr. 111 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, Art. 8 § 4 des Anhangs E (CUI) für eine enge Auslegung des Umfangs der den Betreiber treffenden Haftung für Sachschäden im Sinne von Art. 8 § 1 Buchst. b dieses Anhangs. Diese Bestimmung ermöglicht es den Parteien des Vertrags nämlich, Vereinbarungen darüber zu treffen, ob und inwieweit der Betreiber für Schäden, die dem Beförderer durch Verspätung oder Betriebsstörungen entstehen, haftet. Es kann sich dabei insbesondere um Schäden handeln, die einem Eisenbahnunternehmen dadurch entstanden sind, dass es ein beschädigtes Fahrzeug nicht benutzen kann.

65      Im vorliegenden Fall begehrt Lokomotion Gesellschaft den Ersatz der Kosten für die Anmietung von zwei Lokomotiven, die gemietet werden mussten, um die beschädigten Lokomotiven für die Dauer von deren Reparatur zu ersetzen. Die Klage im Ausgangsverfahren ist somit nicht auf Ersatz des Sachschadens gerichtet, der durch die Beschädigung der Lokomotiven entstanden ist, sondern auf den Ersatz der Kosten, die sich daraus ergeben, dass Lokomotion Gesellschaft ihre Dienstleistungen weiterhin ohne Unterbrechung erbringen wollte. Kosten, die angefallen sind, um die Folgen von Sachschäden auszugleichen, wie u. a. die Kosten für die Anmietung von Lokomotiven, stellen einen Vermögensschaden und keinen Sachschaden im Sinne von Art. 8 § 1 Buchst. b des Anhangs E (CUI) dar und fallen unbeschadet der etwaigen Anwendung anderer Bestimmungen nicht unter die objektive Haftung des Infrastrukturbetreibers nach Art. 8 § 1 Buchst. b.

66      Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 8 § 1 Buchst. b des Anhangs E (CUI) dahin auszulegen ist, dass die Haftung des Infrastrukturbetreibers für Sachschäden nicht die Kosten umfasst, die dem Eisenbahnunternehmen durch die Anmietung von Ersatzlokomotiven für die Dauer der Reparatur der beschädigten Lokomotiven entstanden sind.

 Zur dritten Frage

67      Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 4 und Art. 19 § 1 des Anhangs E (CUI) dahin auszulegen sind, dass die Vertragsparteien ihre Haftung durch einen pauschalen Verweis auf nationales Recht, nach dem der Infrastrukturbetreiber in weiterem Umfang haftet, das aber diese Haftung vom Vorliegen eines Verschuldens abhängig macht, erweitern können.

68      Nach Art. 4 des Anhangs E (CUI) ist, soweit die Einheitlichen Rechtsvorschriften es nicht ausdrücklich zulassen, jede Vereinbarung, die unmittelbar oder mittelbar von den Einheitlichen Rechtsvorschriften abweicht, nichtig. Der genannte Artikel sieht allerdings vor, dass die Parteien des Vertrags ihre Haftung und ihre Verpflichtungen, die sich aus diesen Rechtsvorschriften ergeben, erweitern oder die Haftung für Sachschäden der Höhe nach begrenzen können.

69      Gemäß den Erläuternden Bemerkungen zu Art. 4 des Anhangs E (CUI) sieht dieser Artikel vor, dass die Bestimmungen des Anhangs E zwingenden Rechtscharakter haben und landesrechtlichen Bestimmungen vorgehen.

70      Die Bestimmungen von Anhang E (CUI) sind daher in allen von diesem Anhang umfassten Fällen zwingend. Dies betrifft u. a. die Haftung des Betreibers, die in Art. 8 § 1 dieses Anhangs geregelt ist.

71      In den Erläuternden Bemerkungen wird zu Art. 4 jedoch ausgeführt, dass die Vertragsparteien ihre Haftung auf Fälle erweitern können, die nicht bereits unter Anhang E (CUI) fallen. Folglich sind die Bestimmungen von Art. 8 § 1 dieses Anhangs nur insoweit als zwingend zu verstehen, als sie den Mindestumfang der Haftung des Betreibers festlegen.

72      Die Vertragsparteien können sich also auf eine Erweiterung ihrer Haftung einigen und diese in den Nutzungsvertrag aufnehmen. Es ist der Vertragsfreiheit der Parteien anheimgestellt, zu entscheiden, ob sie im Vertrag eine Klausel selbst formulieren wollen, die eine solche Erweiterung ihrer Haftung vorsieht, oder ob sie auf das nationale Recht verweisen wollen.

73      Wie die Generalanwältin in Nr. 127 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, beschränkt Art. 4 des Anhangs E (CUI) in keiner Weise die den Parteien eines Vertrags gemäß dieser Bestimmung zukommende Befugnis, eine Haftungserweiterung zu vereinbaren. Es spricht auch nichts dagegen, dass die Erweiterung der Haftung einer Vertragspartei in Form eines Verweises auf nationales Recht erfolgt.

74      Außerdem stellt die in Art. 4 des Anhangs E (CUI) vorgesehene Erweiterung der Haftung für Konstellationen, die nicht bereits diesem Anhang unterliegen, eine Ergänzung zur in Art. 8 § 1 dieses Anhangs vorgesehenen objektiven Haftung dar.

75      Art. 4 des Anhangs E (CUI) verwehrt es daher nicht, dass ein Verweis auf das nationale Recht zur Folge hat, dass zusätzlich zu den Haftungsregelungen nach Anhang E (CUI) ein anderes Haftungssystem als das der objektiven Haftung vorgesehen wird.

76      Diese Schlussfolgerung wird durch Art. 19 § 1 des Anhangs E (CUI) nicht in Frage gestellt, wonach ein Anspruch auf Schadenersatz, auf welchem Rechtsgrund er auch beruht, gegen den Betreiber oder gegen den Beförderer nur unter den Voraussetzungen und Beschränkungen von Anhang E (CUI) geltend gemacht werden kann. Aus den Erläuternden Bemerkungen zu Art. 19 geht hervor, dass diese Bestimmung die außervertragliche Haftung der Vertragsparteien gegenüber Dritten und nicht die Haftung der Vertragsparteien untereinander betrifft.

77      Im vorliegenden Fall ergibt sich aus dem vom vorlegenden Gericht dargelegten Sachverhalt, dass sich die Parteien auf AGB geeinigt haben, die einen integralen Vertragsbestandteil bilden. Nach Punkt 20 dieser AGB haften die Vertragspartner nach den gesetzlichen und völkerrechtlichen Bestimmungen, insbesondere jenen des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuchs, des Unternehmensgesetzbuchs und des Eisenbahn- und Kraftfahrzeughaftpflichtgesetzes. Vor diesem Hintergrund ist es Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob dieser Verweis dazu führt, dass die Haftung zumindest einer der Vertragsparteien erweitert wird, ohne die sich aus den Bestimmungen von Anhang E (CUI) ergebenden Rechte der anderen Vertragspartei zu beeinträchtigen.

78      Nach alledem ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 4 und Art. 19 § 1 des Anhangs E (CUI) dahin auszulegen sind, dass die Vertragsparteien ihre Haftung durch einen pauschalen Verweis auf nationales Recht, nach dem der Infrastrukturbetreiber in weiterem Umfang haftet und das diese Haftung vom Vorliegen eines Verschuldens abhängig macht, erweitern können.

 Kosten

79      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:

1.      Der Gerichtshof der Europäischen Union ist, wenn er gemäß Art. 267 AEUV angerufen wird, für die Auslegung von Art. 4, Art. 8 § 1 Buchst. b und Art. 19 § 1 des Anhangs E („Einheitliche Rechtsvorschriften für den Vertrag über die Nutzung der Infrastruktur im internationalen Eisenbahnverkehr [CUI]“) des Übereinkommens über den internationalen Eisenbahnverkehr vom 9. Mai 1980 in der Fassung des Änderungsprotokolls von Vilnius vom 3. Juni 1999 zuständig.

2.      Art. 8 § 1 Buchst. b des Anhangs E des Übereinkommens über den internationalen Eisenbahnverkehr vom 9. Mai 1980 in der Fassung des Änderungsprotokolls von Vilnius vom 3. Juni 1999 ist dahin auszulegen, dass die Haftung des Infrastrukturbetreibers für Sachschäden nicht die Kosten umfasst, die dem Eisenbahnunternehmen durch die Anmietung von Ersatzlokomotiven für die Dauer der Reparatur der beschädigten Lokomotiven entstanden sind.

3.      Art. 4 und Art. 19 § 1 des Anhangs E des Übereinkommens über den internationalen Eisenbahnverkehr vom 9. Mai 1980 in der Fassung des Änderungsprotokolls von Vilnius vom 3. Juni 1999 sind dahin auszulegen, dass die Vertragsparteien ihre Haftung durch einen pauschalen Verweis auf nationales Recht, nach dem der Infrastrukturbetreiber in weiterem Umfang haftet und das diese Haftung vom Vorliegen eines Verschuldens abhängig macht, erweitern können.

Regan

Jarukaitis

Ilešič

Gratsias

 

Csehi

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 14. Juli 2022.

Der Kanzler

 

Der Präsident der Fünften Kammer

A. Calot Escobar

 

E. Regan


*      Verfahrenssprache: Deutsch.