Vorläufige Fassung
SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
JEAN RICHARD DE LA TOUR
vom 16. Mai 2024(1)
Rechtssache C‑156/23 [Ararat](i)
K,
L,
M,
N
gegen
Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid
(Vorabentscheidungsersuchen der Rechtbank Den Haag, zittingsplaats Roermond [Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort Roermond, Niederlande])
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – Richtlinie 2008/115/EG – Art. 5 – Grundsatz der Nichtzurückweisung – Maßnahme, mit der die zuständige nationale Behörde einen Antrag auf einen im nationalen Recht vorgesehenen Aufenthaltstitel ablehnt und auf eine frühere, bestandskräftig gewordene Rückkehrentscheidung verweist – Rechtmäßigkeit der Durchführung der Rückkehrentscheidung – Verpflichtung zur Vornahme einer aktualisierten Risikobeurteilung im Fall einer Abschiebung – Art. 13 – Rechtsbehelfe – Verpflichtung der Justizbehörde, einen Verstoß gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung von Amts wegen festzustellen – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 19 Abs. 2 – Schutz bei Abschiebung – Art. 47 – Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf“
I. Einleitung
1. Die Einhaltung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung im Kontext der Rückführung eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen wirft eine besondere Problematik auf, wenn der Mitgliedstaat seine gegen diesen Drittstaatsangehörigen erlassene Rückkehrentscheidung nicht binnen kürzester Zeit vollstreckt. Denn auch wenn die Entscheidung für den Drittstaatsangehörigen nach einer bestimmten Zeit Bestandskraft erlangt, wird die ihr zugrunde liegende Beurteilung, insbesondere die Bewertung der Risiken, denen er im Falle einer Abschiebung in das vorgesehene Zielland ausgesetzt wäre, obsolet.
2. Der Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Ledi Bianku hat insoweit festgestellt, dass „die Frage der Nichtzurückweisung und der Rolle der Gerichte bei deren Umsetzung [ein Thema ist, das] eine besondere Schwierigkeit aufweist, weil sie sich auf Rechtssachen bezieht, in denen es vor allem um absolute Rechte geht, die durch die [Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten(2)] geschützt sind. Zudem müssen sich Richter – ob national oder international – zu sehr weit entfernten Sachverhalten äußern, die ihnen nicht unbedingt direkt und umfassend bekannt sind. Darüber hinaus sind Non-Refoulement-Sachen in der Regel Rechtssachen, die fluktuierende, sich verändernde Sachverhalte betreffen“(3).
3. Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen bezieht sich auf die Auslegung der Art. 5 und 13 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger(4), in denen die Einhaltung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung bzw. ein effektiver gerichtlicher Rechtsschutz für diese Staatsangehörigen gewährleistet ist.
4. Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen den armenischen Staatsangehörigen K, L, M und N sowie dem Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Staatssekretär für Justiz und Sicherheit, Niederlande) (im Folgenden: Staatssekretär) über die Rechtmäßigkeit einer Maßnahme, mit der dieser den Antrag der Kläger auf Erteilung eines im niederländischem Recht vorgesehenen Aufenthaltstitels abgelehnt und in der er zwecks Fortsetzung des Rückkehrverfahrens auf eine frühere, bestandskräftig gewordene Rückkehrentscheidung verwiesen hat.
5. Das Ersuchen beinhaltet im Wesentlichen zwei Fragen.
6. Erstens möchte die Rechtbank Den Haag, zittingsplaats Roermond (Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort Roermond, Niederlande) vom Gerichtshof wissen, ob eine zuständige nationale Behörde, wenn sie die Rechtswidrigkeit des Aufenthalts eines Drittstaatsangehörigen feststellt, gegen den eine frühere, bestandskräftig gewordene Rückkehrentscheidung ergangen ist, vor Fortsetzung des Rückkehrverfahrens eine aktualisierte Beurteilung der Risiken vorzunehmen hat, denen der Drittstaatsangehörige im Falle einer Rückkehr in das vorgesehene Zielland ausgesetzt wäre.
7. Zweitens fragt das vorlegende Gericht den Gerichtshof, ob die Justizbehörde im Rahmen der Rechtmäßigkeitskontrolle, mit der sie befasst ist, und auf der Grundlage der ihr zur Verfügung stehenden Informationen verpflichtet ist, einen Verstoß gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung von Amts wegen festzustellen, wenn die zuständige nationale Behörde eine solche Beurteilung nicht vorgenommen hat.
8. In den vorliegenden Schlussanträgen werde ich dem Gerichtshof vorschlagen, für Recht zu erkennen, dass die zuständige nationale Behörde, wenn das Rückkehrverfahren für einen erheblichen Zeitraum ausgesetzt gewesen ist, vor der Vollstreckung der früheren Rückkehrentscheidung zu ermitteln hat, ob sich die Situation des Drittstaatsangehörigen nicht in einer Weise verändert hat, dass stichhaltige Gründe für die Annahme vorliegen, dass er bei Vollstreckung dieser Entscheidung der Gefahr von Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung im vorgesehenen Zielland ausgesetzt wäre. Ich werde auch darlegen, weshalb ich der Ansicht bin, dass die nationalen Gerichte ohne eine solche Beurteilung verpflichtet sind, einen Verstoß gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung, der von diesem Staatsangehörigen möglicherweise nicht geltend gemacht worden ist, von Amts wegen festzustellen, sofern sie über entsprechende Informationen verfügen.
II. Rechtlicher Rahmen
A. Unionsrecht
9. Die Richtlinie 2008/115 sieht in ihrem Art. 5 vor: „Bei der Umsetzung dieser Richtlinie [halten] die Mitgliedstaaten … den Grundsatz der Nichtzurückweisung ein.“
10. Art. 6 Abs. 1 und 6 dieser Richtlinie hat folgenden Wortlaut:
„(1) Unbeschadet der Ausnahmen nach den Absätzen 2 bis 5 erlassen die Mitgliedstaaten gegen alle illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung.
…
(6) Durch diese Richtlinie sollen die Mitgliedstaaten nicht daran gehindert werden, entsprechend ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften und unbeschadet der nach Kapitel III und nach anderen einschlägigen Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts und des einzelstaatlichen Rechts verfügbaren Verfahrensgarantien mit einer einzigen behördlichen oder richterlichen Entscheidung eine Entscheidung über die Beendigung eines legalen Aufenthalts sowie eine Rückkehrentscheidung und/oder eine Entscheidung über eine Abschiebung und/oder ein Einreiseverbot zu erlassen.“
11. Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der genannten Richtlinie bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten schieben die Abschiebung auf,
a) wenn diese gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung verstoßen würde …“.
12. In Art. 13 Abs. 1 und 2 derselben Richtlinie heißt es schließlich:
„(1) Die betreffenden Drittstaatsangehörigen haben das Recht, bei einer zuständigen Justiz- oder Verwaltungsbehörde oder einem zuständigen Gremium, dessen Mitglieder unparteiisch sind und deren Unabhängigkeit garantiert wird, einen wirksamen Rechtsbehelf gegen Entscheidungen in Bezug auf die Rückkehr nach Artikel 12 Absatz 1 einzulegen oder die Überprüfung solcher Entscheidungen zu beantragen.
(2) Die in Absatz 1 genannte Behörde oder dieses Gremium ist befugt, Entscheidungen in Bezug auf die Rückkehr nach Artikel 12 Absatz 1 zu überprüfen, und hat auch die Möglichkeit, ihre Vollstreckung einstweilig auszusetzen, sofern eine einstweilige Aussetzung nicht bereits im Rahmen der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften anwendbar ist.“
B. Niederländisches Recht
13. Art. 8:69 der Algemene wet bestuursrecht (Allgemeines Verwaltungsrechtsgesetz)(5) vom 4. Juni 1992 sieht vor:
„(1) Das Verwaltungsgericht entscheidet auf der Grundlage der Klageschrift, der vorgelegten Unterlagen, der Voruntersuchung und der mündlichen Verhandlung.
(2) Das Verwaltungsgericht ergänzt die Rechtsgründe von Amts wegen.
(3) Das Verwaltungsgericht kann den Sachverhalt von Amts wegen ergänzen.“
III. Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits und Vorlagefragen
14. Am 16. März 2011 stellten die Kläger, eine Familie bestehend aus zwei Schwestern, K und L, sowie ihren Eltern, M und N, die allesamt die armenische Staatsangehörigkeit besitzen, einen Antrag auf internationalen Schutz. Dieser Antrag wurde mit Bescheid vom 9. August 2012 abgelehnt. Außerdem wurde den Klägern eine Rückkehrentscheidung zugestellt, die nach einer Beurteilung der Risiken erlassen worden war, denen sie im Falle einer Abschiebung nach Armenien ausgesetzt wären. Diese Entscheidung wurde bestandskräftig.
15. Am 10. Mai 2016 stellten die Kläger einen Antrag auf Erteilung eines im niederländischem Recht vorgesehenen Aufenthaltstitels. Dieser Antrag wurde mit Bescheid vom 16. Juni 2016, der infolge der Zurückweisung ihrer Widersprüche ebenfalls bestandskräftig wurde, abgelehnt.
16. Am 18. Februar 2019 beantragten die Kläger einen weiteren, ebenfalls im niederländischen Recht vorgesehenen Aufenthaltstitel für langfristig aufhältige Kinder („afsluitingsregeling langdurig verblijvende kinderen“ [abschließende Regelung für langfristig aufhältige Kinder])(6). Mit einer Maßnahme vom 8. Oktober 2019 lehnte der Staatssekretär ihren Antrag ab und stellte zum einen die Rechtswidrigkeit ihres Aufenthalts und zum anderen die Gültigkeit der am 9. August 2012 gegen sie ergangenen Rückkehrentscheidung fest (im Folgenden: streitige Maßnahme). Diese Maßnahme wurde am 12. November 2020 bestätigt, nachdem der Widerspruch der Kläger zurückgewiesen worden war.
17. Die Kläger erhoben hiergegen Klage bei der Rechtbank Den Haag, zittingsplaats Roermond (Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort Roermond), die beschloss, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union[(7)] in Verbindung mit Art. 4 und Art. 19 Abs. 2 der Charta sowie [mit] Art. 5 der [Richtlinie 2008/115] dahin auszulegen, dass ein Gericht von Amts wegen auf der Grundlage der ihm zur Kenntnis gebrachten Angaben in der Akte, so wie sie in dem bei ihm anhängigen kontradiktorischen Verfahren ergänzt oder verdeutlicht wurden, die mögliche Nichteinhaltung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung prüfen muss? Hängt der Umfang dieser Pflicht davon ab, ob das kontradiktorische Verfahren durch einen Antrag auf internationalen Schutz eingeleitet wurde, und fällt der Umfang dieser Pflicht daher bei einer Beurteilung des Refoulement-Risikos im Rahmen einer Aufnahme anders aus als bei dessen Beurteilung im Rahmen einer Rückführung?
2. Ist Art. 5 der [Richtlinie 2008/115] in Verbindung mit Art. 19 Abs. 2 der [Charta] dahin auszulegen, dass, wenn eine Rückkehrentscheidung in einem Verfahren erlassen wird, das nicht durch einen Antrag auf internationalen Schutz eingeleitet wurde, die Beurteilung, ob das Refoulement-Verbot einer Rückführung entgegensteht, vor Erlass einer Rückkehrentscheidung vorzunehmen ist, und steht ein festgestelltes Refoulement-Risiko dann dem Erlass einer Rückkehrentscheidung entgegen oder stellt es in dieser Situation ein Abschiebehindernis dar?
3. Lebt eine Rückkehrentscheidung wieder auf, wenn sie aufgrund eines neuen Verfahrens ausgesetzt ist, das nicht durch einen Antrag auf internationalen Schutz eingeleitet wurde, oder ist Art. 5 der [Richtlinie 2008/115] in Verbindung mit Art. 19 Abs. 2 der [Charta] dahin auszulegen, dass bei Nichtbeurteilung des Refoulement-Risikos in dem Verfahren, das zur erneuten Feststellung des illegalen Aufenthalts führt, eine aktuelle Beurteilung dieses Risikos erfolgen muss, und ist dann eine neue Rückkehrentscheidung zu erlassen? Fällt die Antwort auf diese Frage anders aus, wenn keine ausgesetzte Rückkehrentscheidung vorliegt, sondern eine Rückkehrentscheidung, die über eine geraume Zeit weder vom Drittstaatsangehörigen noch von den Behörden umgesetzt wurde?
18. Die niederländische, die deutsche und die schweizerische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Die niederländische Regierung und die Kommission sowie die Kläger und die dänische Regierung haben an der mündlichen Verhandlung vom 21. März 2024 teilgenommen, in der sie auch die zur mündlichen Beantwortung gestellten Fragen des Gerichtshofs beantwortet haben.
IV. Vorbemerkung
19. Bevor ich mit der Prüfung der Vorlagefragen beginne, erscheint es mir sinnvoll, eine einleitende Bemerkung zu ihrem Gegenstand, ihrer Zulässigkeit sowie zur Reihenfolge zu machen, in der ich sie prüfen werde.
20. Zunächst sollte nach meinem Dafürhalten die dritte Frage beantwortet werden, die sich auf die behördliche Phase des Rückkehrverfahrens bezieht. Das vorlegende Gericht fragt sich nämlich, wie sich die Stellung eines neuen Antrags auf Erteilung eines im nationalen Recht vorgesehenen Aufenthaltstitels durch einen Drittstaatsangehörigen auf das zuvor gegen diesen Staatsangehörigen eingeleitete Rückkehrverfahren und insbesondere auf die Frage auswirkt, ob die zuständige nationale Behörde verpflichtet ist, eine aktuelle Beurteilung der im Fall einer Abschiebung bestehenden Risiken vorzunehmen.
21. Sodann wird die erste Frage zu beantworten sein, die insbesondere die gerichtliche Phase des Rückkehrverfahrens und die Verpflichtung der Justizbehörde betrifft, einen etwaigen Verstoß gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung im Rahmen der Rechtmäßigkeitskontrolle, mit der sie befasst ist, von Amts wegen festzustellen. Auch wenn das vorlegende Gericht den Gerichtshof in diesem Zusammenhang ersucht, Art. 5 der Richtlinie 2008/115 im Licht von Art. 4 und Art. 19 Abs. 2 der Charta auszulegen, schlage ich vor, die Frage anhand der Bestimmungen von Art. 13 der Richtlinie zu prüfen, in dem das Recht auf einen effektiven gerichtlichen Rechtsschutz bei der Durchführung des Rückkehrverfahrens verankert ist.
22. Schließlich bin ich der Ansicht, dass die zweite Vorlagefrage nicht geprüft zu werden braucht, da sie – abgesehen von ihrer verwirrenden Formulierung – in keinerlei Zusammenhang mit dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits zu stehen scheint. Das vorlegende Gericht ersucht den Gerichtshof nämlich um Präzisierung bestimmter Modalitäten der Einhaltung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung für den Fall, dass noch keine Rückkehrentscheidung ergangen ist. In der vorliegenden Rechtssache ist am 9. August 2012 aber unstreitig eine Rückkehrentscheidung gegen die Kläger ergangen. Diese Entscheidung ist bestandskräftig geworden. Der Ausgangsrechtsstreit bezieht sich somit nicht auf die Frage, ob der Grundsatz der Nichtzurückweisung im Kontext des Erlasses einer Rückkehrentscheidung eingehalten wird, sondern vielmehr darauf, ob deren Vollstreckung bei einer möglichen Fortsetzung des Rückkehrverfahrens zu einem Verstoß gegen diesen Grundsatz führt.
23. Wie sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt, ist diese Frage daher unzulässig, da sie eine Aufforderung an den Gerichtshof enthält, unter Missachtung der ihm im Rahmen der mit Art. 267 AEUV eingeführten Zusammenarbeit der Gerichte zugewiesenen Aufgabe ein Gutachten zu einer hypothetischen Frage abzugeben(8).
V. Würdigung
24. Es sollte umrissen werden, worum es bei der streitigen Maßnahme geht, deren Rechtmäßigkeit vor der Justizbehörde angefochten wird.
25. Die streitige Maßnahme ist eine hybride Maßnahme. Sie fällt sowohl in den Anwendungsbereich des niederländischen Rechts, da den Klägern mit ihr ein in diesem Recht vorgesehener Aufenthaltstitel versagt wird, als auch des Unionsrechts, da sie zum Wiederaufleben des Rückkehrverfahrens führt, das ursprünglich gegen sie eingeleitet worden war, und mit ihr die Gültigkeit der am 9. August 2012 ergangenen Rückkehrentscheidung festgestellt wird(9).
26. Die an den Gerichtshof gerichteten Fragen betreffen ausschließlich die Rechtmäßigkeit der Vollstreckung dieser Entscheidung, soweit sie eine Rückkehrentscheidung im Sinne von Art. 3 Nr. 4 der Richtlinie 2008/115 darstellt(10).
A. Zur Verpflichtung der zuständigen nationalen Behörde, eine aktuelle Beurteilung der im Falle einer Abschiebung bestehenden Risiken vorzunehmen (dritte Vorlagefrage)
27. Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht vom Gerichtshof im Wesentlichen wissen, ob, wenn eine zuständige nationale Behörde die Rechtswidrigkeit des Aufenthalts eines Drittstaatsangehörigen feststellt, gegen den eine frühere, bestandskräftig gewordene Rückkehrentscheidung ergangen ist, Art. 5 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen ist, dass diese Behörde das Rückkehrverfahren im Stadium der Vollstreckung der Entscheidung fortzusetzen hat, oder ob sie zuvor verpflichtet ist, unter Berücksichtigung der erheblichen Dauer, während der das Rückkehrverfahren ausgesetzt gewesen ist, eine aktuelle Beurteilung der Risiken vorzunehmen, denen der Drittstaatsangehörige im Falle einer Abschiebung in das vorgesehene Zielland ausgesetzt wäre.
28. Ich stelle zunächst fest, dass das Unionsrecht, insbesondere die Richtlinie 2008/115, keine Bestimmungen enthält, die ausdrücklich festlegen, wie sich die Stellung eines Antrags auf Erteilung eines im nationalen Recht vorgesehenen Aufenthaltstitels durch einen Drittstaatsangehörigen und dessen spätere Ablehnung auf eine zuvor gegen den Drittstaatsangehörigen ergangene Rückkehrentscheidung auswirken sollen.
29. Auch wenn der Gerichtshof im Urteil vom 15. Februar 2016, N.(11), einige Grundsätze aufgestellt hat, ist dieses Urteil in einem anderen Sachverhaltskontext ergangen. In der dem Urteil zugrunde liegenden Rechtssache war das gegen die betroffene Person eingeleitete Rückkehrverfahren nämlich nicht deshalb unterbrochen worden, weil ein Antrag auf Erteilung eines im nationalem Recht vorgesehenen Aufenthaltstitels gestellt worden wäre, sondern weil ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt worden war. In seinem Vorabentscheidungsersuchen hatte der Raad van State (Staatsrat, Niederlande) hervorgehoben, dass im Einklang mit seiner Rechtsprechung infolge der Stellung eines solchen Antrags eine zuvor im Rahmen dieses Verfahrens ergangene Rückkehrentscheidung von Rechts wegen kraftlos werde. Der Gerichtshof hat demgegenüber die Auffassung vertreten, dass die Mitgliedstaaten, wenn ein nach der Richtlinie 2008/115 eingeleitetes Verfahren, in dessen Rahmen eine Rückkehrentscheidung ergangen ist, wegen der Stellung eines neuen Antrags auf internationalen Schutz unterbrochen wurde, dieses Verfahren nicht von vorne beginnen dürfen, sondern es in dem Stadium, in dem es unterbrochen wurde, fortsetzen müssen, sobald der Antrag abgelehnt wurde(12). Der Gerichtshof hat seine Beurteilung auf die vom Unionsgesetzgeber auferlegten Erfordernisse der Wirksamkeit bei der Durchführung eines Rückkehrverfahrens und insbesondere auf die den Mitgliedstaaten obliegende Verpflichtung gestützt, die Abschiebung binnen kürzester Zeit vorzunehmen.
30. In der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rechtssache scheint der Staatssekretär das zuvor gegen die Kläger eingeleitete Rückkehrverfahren nicht von vorne begonnen, sondern gerade in dem Stadium fortgesetzt zu haben, in dem es unterbrochen worden war, und die Gültigkeit der früheren Rückkehrentscheidung festgestellt zu haben.
31. In einer solchen Situation entspricht die Verwirklichung des im Urteil vom 15. Februar 2016, N.(13), herausgearbeiteten Grundsatzes zwar den u. a. im vierten Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/115 genannten Erfordernissen der Wirksamkeit, kann aber nicht die Einhaltung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung gewährleisten.
32. Dies hängt erstens mit der Art des beantragten Aufenthaltstitels zusammen. Auch wenn die zuständige nationale Behörde bei der Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz gemäß Art. 21 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU(14) verpflichtet ist, den Grundsatz der Nichtzurückweisung zu achten, wäre es hingegen nach den Angaben des vorlegenden Gerichts in der niederländischen Rechtspraxis nicht üblich, von Amts wegen eine Beurteilung der Risiken vorzunehmen, denen eine Person im Falle einer Abschiebung infolge der Ablehnung eines Antrags auf Erteilung eines im niederländischem Recht vorgesehenen Aufenthaltstitels ausgesetzt wäre.
33. Zweitens hängt das mit der Dauer der Aussetzung des Rückkehrverfahrens zusammen. Im vorliegenden Fall hat der Staatssekretär die Rückkehrentscheidung zwar zu einem Zeitpunkt erlassen, zu dem die Abschiebung der Kläger in ihr Herkunftsland im Hinblick auf den Grundsatz der Nichtzurückweisung zulässig war, den Angaben des vorlegenden Gerichts lässt sich aber entnehmen, dass dieses Verfahren sieben Jahre lang, also über einen beträchtlichen Zeitraum, unterbrochen gewesen ist, bevor es nach Ablehnung des letzten Antrags auf Erteilung eines Aufenthaltstitels fortgesetzt wurde. Es liegt auf der Hand, dass sich mit dem Verstreichen eines solchen Zeitraums wahrscheinlich die Situation des betreffenden Staatsangehörigen und/oder die im vorgesehenen Zielland herrschenden Umstände geändert haben werden.
34. Mit der Richtlinie 2008/115 soll aber eine Rückkehr- und Rückübernahmepolitik eingeführt werden, die nicht nur wirksam ist, sondern auch unter vollständiger Wahrung der Grundrechte und der Würde der betroffenen Personen betrieben wird(15).
35. Jede Rückkehrentscheidung, die auf der Grundlage von Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 erlassen und auf der Grundlage von deren Art. 8 Abs. 1 vollstreckt wird, muss die Rechte achten, die durch die Charta garantiert werden und zu denen deren Art. 4 und Art. 19 Abs. 2 gehören(16). Diese verbieten die Folter sowie unmenschliche oder erniedrigende Strafe und Behandlung ebenso wie die Abschiebung in einen Staat, in dem das ernsthafte Risiko besteht, dass eine Person einer solchen Behandlung unterzogen wird(17). Nach Auffassung des Gerichtshofs verankert ein solches Verbot „eine[n] der Grundwerte der Union und ihrer Mitgliedstaaten“ und hat absoluten Charakter, da es eng mit der Würde des Menschen verbunden ist, auf die sich Art. 1 der Charta bezieht(18).
36. In diesem Zusammenhang verlangt Art. 5 der Richtlinie 2008/115 von den Mitgliedstaaten, dass die den Grundsatz der Nichtzurückweisung „in jedem Stadium des Rückkehrverfahrens“ einhalten(19), und zwar bis zur Abschiebung der betreffenden Person (d. h. ihrer tatsächlichen Verbringung aus dem Mitgliedstaat(20)). Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs müssen es die Mitgliedstaaten den Betroffenen daher ermöglichen, sich auf jede nach Erlass der Rückkehrentscheidung eingetretene Änderung der Umstände zu berufen, die in Anbetracht dieser Richtlinie und insbesondere ihres Art. 5 erheblichen Einfluss auf die Beurteilung ihrer Situation haben kann(21), da Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der genannten Richtlinie verlangt, dass sie die Abschiebung aufschieben, „wenn diese gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung verstoßen würde“.
37. In einer Situation, in der das Rückkehrverfahren für geraume Zeit ausgesetzt gewesen ist, muss die zuständige nationale Behörde vor Fortsetzung des Rückkehrverfahrens zwingend eine neue Beurteilung der Risiken vornehmen, denen die betreffende Person im Falle einer Abschiebung ausgesetzt wäre, die sich von der Beurteilung unterscheidet, die zum Zeitpunkt des Erlasses der früheren Rückkehrentscheidung durchgeführt worden ist. Eine Aussetzung des Verfahrens während eines so langen Zeitraums schließt nämlich aus, dass die zuständige nationale Behörde eine endgültige Schlussfolgerung hinsichtlich der Risiken ziehen kann, denen diese Person im vorgesehenen Zielland ausgesetzt wäre, wenn sie nicht Gefahr laufen will, gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung zu verstoßen(22). Ohne eine solche Beurteilung bestünde die Gefahr, dass die Rückkehrverpflichtung nicht mehr die nach dem Unionsrecht erforderlichen Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen erfüllt und vollstreckt wird, obwohl stichhaltige Gründe für die Annahme vorliegen, dass die betroffene Person im Falle einer Abschiebung in dieses Land tatsächlich Gefahr liefe, Folter oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung ausgesetzt zu werden.
38. Falls diese neue Beurteilung die Schlussfolgerungen bestätigt, zu denen die zuständige nationale Behörde beim Erlass der früheren Rückkehrentscheidung gelangt war, hat sie das Rückkehrverfahren in dem Stadium fortzusetzen, in dem sie es unterbrochen hatte, und die Rückkehrverpflichtung zu vollstrecken.
39. Im umgekehrten Fall wäre die zuständige nationale Behörde verpflichtet, die Abschiebung der betroffenen Person in das vorgesehene Zielland gemäß Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2008/115 aufzuschieben(23). Gleichwohl hindert sie nichts daran, im Einklang mit den Bestimmungen des nationalen Rechts die frühere Rückkehrentscheidung zu überprüfen oder eine neue Rückkehrentscheidung zu erlassen, sofern die in dieser Richtlinie vorgesehenen materiellen und verfahrensrechtlichen Garantien beachtet werden(24).
40. Nach alledem bin ich der Ansicht, dass, wenn eine zuständige nationale Behörde die Rechtswidrigkeit des Aufenthalts eines Drittstaatsangehörigen feststellt, gegen den eine frühere, bestandskräftig gewordene Rückkehrentscheidung ergangen ist, Art. 5 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen ist, dass diese Behörde verpflichtet ist, vor Fortsetzung des Rückkehrverfahrens zu ermitteln, ob sich die Situation des Drittstaatsangehörigen unter Berücksichtigung des erheblichen Zeitraums, während dessen das Verfahren ausgesetzt gewesen ist, nicht in einer Weise verändert hat, dass stichhaltige Gründe für die Annahme vorliegen, dass er im Falle einer Vollstreckung der Entscheidung der Gefahr von Folter oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung im vorgesehenen Zielland ausgesetzt wäre.
B. Zur Verpflichtung der Justizbehörde, einen Verstoß gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung von Amts wegen festzustellen (erste Vorlagefrage)
41. Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht vom Gerichtshof im Wesentlichen wissen, ob, wenn ein Gericht mit der Kontrolle der Rechtmäßigkeit einer Maßnahme befasst ist, mit der die zuständige nationale Behörde ein für geraume Zeit ausgesetztes Rückkehrverfahren fortsetzt, ohne jedoch eine aktuelle Beurteilung der Risiken vorgenommen zu haben, denen der Drittstaatsangehörige im Falle einer Abschiebung ausgesetzt wäre, Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit Art. 5 dieser Richtlinie sowie mit Art. 4, Art. 19 Abs. 2 und Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass das nationale Gericht einen Verstoß gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung, der vom Drittstaatsangehörigen nicht geltend gemacht worden ist, im Rahmen dieser Kontrolle auf der Grundlage der ihm zur Kenntnis gebrachten Angaben in der Akte, so wie sie in dem bei ihm anhängigen kontradiktorischen Verfahren ergänzt oder verdeutlicht worden sind, von Amts wegen festzustellen hat.
42. Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts wäre es nämlich undenkbar, dass die Justizbehörde schweigt, wenn die Gefahr eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung unmittelbar bevorstehen könnte oder nicht beurteilt worden ist und sich Drittstaatsangehörige dieser Gefahr – wie in der Ausgangsrechtssache – nicht bewusst sind und sie zur Begründung ihres Antrags auf Erteilung eines Aufenthaltstitels oder im Rahmen ihrer Anfechtung der Entscheidung, mit der die Rechtswidrigkeit ihres Aufenthalts festgestellt wird, oder der Rückkehrentscheidung nicht geltend machen(25).
43. Außerdem ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof um Klarstellung, ob der Umfang dieser Verpflichtung unterschiedlich ausfällt, je nachdem, ob die Rückkehrentscheidung mit der Ablehnung eines Antrags auf internationalen Schutz oder mit der Ablehnung eines Antrags auf Erteilung eines im nationalen Recht vorgesehenen Aufenthaltstitels begründet wird.
1. Zum Bestehen einer Verpflichtung
44. Das Unionsrecht verlangt vom nationalen Gericht grundsätzlich nicht, von Amts wegen die Frage eines Verstoßes gegen Unionsvorschriften zu prüfen, wenn es für die Prüfung dieser Frage die Grenzen des Rechtsstreits zwischen den Parteien überschreiten müsste. Diese Beschränkung der Befugnisse des nationalen Gerichts ist durch den Grundsatz gerechtfertigt, dass die Initiative in einem Prozess den Parteien zusteht. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs darf das Gericht folglich nur in Ausnahmefällen von Amts wegen tätig werden, wenn sein Einschreiten im Interesse der öffentlichen Ordnung erforderlich ist(26).
45. Was die Richtlinie 2008/115 angeht, so hat der Gerichtshof die Pflicht des nationalen Gerichts zur Prüfung von Amts wegen in Bezug auf die Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit einer während der Durchführung eines Rückkehrverfahrens angeordneten Inhaftierungsmaßnahme anerkannt. In seinem Urteil vom 8. November 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Von Amts wegen erfolgende Prüfung der Haft)(27) – auf das sich das vorlegende Gericht ausdrücklich bezieht –, hat er entschieden, dass die Justizbehörde verpflichtet ist, sämtliche ihr zur Kenntnis gebrachten, insbesondere tatsächlichen Umstände zu berücksichtigen, wie sie im Rahmen von Prozessmaßnahmen ergänzt oder aufgeklärt werden, die sie gemäß ihrem nationalen Recht für geboten hält, und anhand dieser Umstände gegebenenfalls den Verstoß gegen eine sich aus dem Unionsrecht ergebende Rechtmäßigkeitsvoraussetzung festzustellen, auch wenn dieser Verstoß von der betroffenen Person nicht geltend gemacht wurde. Zu diesem Zweck hat der Gerichtshof auf die Bedeutung des in Art. 6 der Charta garantierten Rechts auf Freiheit und die Schwere des Eingriffs in dieses Recht, den die Inhaftnahme darstellt, sowie auf das Erfordernis eines hohen gerichtlichen Schutzes verwiesen(28). Er hat außerdem zwischen einem Rechtsstreit, der sich auf die Inhaftnahme eines Drittstaatsangehörigen bezieht, für die vom Unionsgesetzgeber ein strenger Rahmen festgelegt worden ist, und einem Verwaltungsrechtsstreit unterschieden, in dem die Initiative und die Bestimmung des Streitgegenstands den Parteien zustehen(29).
46. Die vorstehende Argumentation kann meines Erachtens auf eine Situation ausgeweitet werden, in der das Gericht in Anbetracht der ihm zur Kenntnis gebrachten Umstände feststellt, dass die Vollstreckung einer gegen einen Drittstaatsangehörigen erlassenen Rückkehrentscheidung gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung verstößt. Denn aus ähnlichen Gründen wie denen, die ich in meinen Schlussanträgen in der Rechtssache dargelegt habe, in der jenes Urteil ergangen ist(30), erfordert der Schutz dieses Grundsatzes, dass das nationale Gericht von Amts wegen feststellen kann, dass die zuständige nationale Behörde keine aktuelle Beurteilung der Risiken vorgenommen hat, die im Falle einer Abschiebung in das in der Rückkehrentscheidung vorgesehene Zielland bestehen.
47. In den Nrn. 35 und 36 der vorliegenden Schlussanträge habe ich Art und Tragweite des Grundsatzes der Nichtzurückweisung im Kontext der Durchführung eines Rückkehrverfahrens in Erinnerung gerufen. Ich habe auf seinen zwingenden Charakter hingewiesen und seine Bedeutung hervorgehoben. Ich habe auch daran erinnert, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, die Einhaltung dieses Grundsatzes „in jedem Stadium des Rückkehrverfahrens“ zu gewährleisten, d. h. sowohl in der behördlichen Phase des Verfahrens, in der Entscheidungen in Bezug auf die Rückkehr getroffen werden, als auch in seiner gerichtlichen Phase, in der die Rechtmäßigkeit dieser Entscheidungen geprüft wird, wobei das Rückkehrverfahren erst mit der tatsächlichen Abschiebung der betroffenen Person in ihr Herkunftsland, ein Transitland oder ein anderes Land endet.
48. Ich möchte hinzufügen, dass die Mitgliedstaaten gemäß Art. 47 der Charta dafür Sorge tragen müssen, dass ein wirksamer gerichtlicher Schutz der aus der Unionsrechtsordnung erwachsenden Rechte der Einzelnen gewährleistet ist(31). Was die Kontrolle der Rechtmäßigkeit von Entscheidungen in Bezug auf die Rückkehr betrifft, so verlangt Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 von den Mitgliedstaaten, dass sie der betroffenen Person einen wirksamen Rechtsbehelf bei einer zuständigen Justiz- oder Verwaltungsbehörde zur Verfügung stellen. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs sind die Merkmale dieses Rechtsbehelfs im Einklang mit Art. 47 der Charta sowie mit dem in deren Art. 18 und Art. 19 Abs. 2 verankerten Grundsatz der Nichtzurückweisung zu bestimmen(32). So muss ein Rechtsbehelf nach dieser Rechtsprechung notwendigerweise aufschiebende Wirkung haben, wenn er gegen eine Rückkehrentscheidung eingelegt wird, durch deren Vollstreckung der betreffende Drittstaatsangehörige tatsächlich der Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt sein könnte, damit gegenüber dem Drittstaatsangehörigen die Einhaltung der Anforderungen aus Art. 19 Abs. 2 und Art. 47 der Charta gewährleistet ist(33).
49. Außerdem sieht Art. 13 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115 vor, dass die Justiz- oder Verwaltungsbehörde, vor der die Rechtmäßigkeit einer Entscheidung in Bezug auf die Rückkehr angefochten wird, die Befugnis hat, diese Entscheidung zu überprüfen und die Abschiebung gegebenenfalls aufzuschieben(34). Hierbei handelt es sich um eine zwingende Bestimmung, wie die Verwendung des Ausdrucks „shall have the power“ (und nicht „may have the power“) in der englischen Sprachfassung zeigt.
50. Die in Art. 13 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2008/115 festgelegten Verfahrensmodalitäten sollen verhindern, dass eine Person, gegen die eine Rückkehrentscheidung ergangen ist, in das vorgesehene Zielland abgeschoben wird, obwohl die in Art. 5 dieser Richtlinie festgelegten Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen, darunter die Einhaltung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung, aufgrund nach Erlass der Entscheidung eingetretener Umstände nicht oder nicht mehr erfüllt sind.
51. Der von Art. 47 der Charta geforderte gerichtliche Schutz wäre aber weder wirksam noch vollständig, wenn das nationale Gericht nicht verpflichtet wäre, einen Verstoß gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung von Amts wegen festzustellen, sofern die ihm zur Verfügung gestellten Informationen darauf hindeuten, dass die Rückkehrentscheidung auf einer veralteten Risikobeurteilung beruht, und daraus alle Konsequenzen für die Vollstreckung dieser Entscheidung zu ziehen, indem es von der zuständigen nationalen Behörde verlangt, vor Durchführung der Entscheidung eine aktuelle Risikobeurteilung vorzunehmen. Andernfalls könnte eine Beschränkung seiner Aufgaben zur Folge haben, dass eine solche Entscheidung vollstreckt wird, obwohl die betroffene Person Gefahr läuft, im vorgesehenen Zielland Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung und damit Handlungen unterworfen zu werden, die nach Art. 4 der Charta absolut verboten sind.
52. Die niederländische Regierung hat in ihren Erklärungen insoweit vorgetragen, dass die Justizbehörde die betroffene Person an die für die Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz zuständige Behörde – d. h. die „Asylbehörde“ im Sinne von Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2013/32/EU(35) – verweisen sollte, damit diese die Risiken im Falle einer Abschiebung beurteile. Auch wenn die Wahl der hierfür zuständigen nationalen Behörde in die Verfahrensautonomie der einzelnen Mitgliedstaaten fällt und es, wie die niederländische Regierung bemerkt hat, zutrifft, dass die Asylbehörde mit angemessenen Mitteln und sachkundigem Personal ausgestattet ist, kann von der betroffenen Person gleichwohl nicht verlangt werden, dass sie einen Antrag auf internationalen Schutz stellt, damit die vollständige Einhaltung des in Art. 5 der Richtlinie 2008/115 verankerten Grundsatzes der Nichtzurückweisung gewährleistet ist.
53. Außerdem setzt ein solches Vorgehen notwendigerweise voraus, dass die Justizbehörde in der Lage ist, einen Verstoß gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung festzustellen sowie Art und Schwere der Behandlung, der die betroffene Person im vorgesehenen Zielland ausgesetzt sein kann, im Großen und Ganzen zu beurteilen, bevor sie diese Person auffordert, einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen. Wie die niederländische Regierung in der mündlichen Verhandlung vorgetragen hat, wäre ein solcher Antrag nämlich zwar vorrangig(36), würde im vorliegenden Fall aber gleichwohl dazu führen, dass das gegen die betroffene Person eingeleitete Rückkehrverfahren erneut ausgesetzt(37) und der Zeitraum verlängert würde, während dessen sich diese Person im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats in einer Übergangssituation befände und weder Rechte noch einen Aufenthaltstitel hätte.
54. Nach alledem ist, wenn ein Gericht mit der Kontrolle der Rechtmäßigkeit einer Maßnahme befasst ist, mit der die zuständige nationale Behörde ein für geraume Zeit ausgesetztes Rückkehrverfahren fortsetzt, ohne jedoch eine aktuelle Beurteilung der Risiken vorgenommen zu haben, denen der Drittstaatsangehörige im Falle einer Abschiebung ausgesetzt wäre, Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit Art. 5 dieser Richtlinie sowie mit Art. 4, Art. 19 Abs. 2 und Art. 47 der Charta meines Erachtens dahin auszulegen, dass das nationale Gericht im Rahmen dieser Kontrolle verpflichtet ist, auf der Grundlage der ihm zur Kenntnis gebrachten Angaben in der Akte, so wie sie in dem bei ihm anhängigen kontradiktorischen Verfahren ergänzt oder verdeutlicht worden sind, einen Verstoß gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung, der vom Drittstaatsangehörigen nicht geltend gemacht worden ist, von Amts wegen festzustellen.
2. Zum Umfang der Verpflichtung
55. Das vorlegende Gericht ersucht den Gerichtshof um Klarstellung, ob der Umfang der Verpflichtung, einen Verstoß gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung von Amts wegen festzustellen, unterschiedlich ausfällt, je nachdem, ob die Rückkehrentscheidung mit der Ablehnung eines Antrags auf internationalen Schutz oder mit der Ablehnung eines Antrags auf Erteilung eines im nationalen Recht vorgesehenen Aufenthaltstitels begründet wird. Nach Auffassung dieses Gerichts ist die zuständige nationale Behörde nämlich gemäß Art. 21 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 verpflichtet, den Grundsatz der Nichtzurückweisung immer dann einzuhalten, wenn sie einen Antrag auf internationalen Schutz prüft, wohingegen es in der niederländischen Rechtspraxis nicht üblich ist, dass sie seine Einhaltung von Amts wegen vor Ablehnung eines Antrags auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach niederländischem Recht prüft.
56. Meines Erachtens sollten die Rolle der Justizbehörde bei Entscheidungen über die Rechtmäßigkeit einer gegen einen Drittstaatsangehörigen ergangenen Rückkehrentscheidung und der Umfang der dieser Behörde obliegenden Verpflichtung, einen Verstoß gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung von Amts wegen festzustellen, nicht nach der Art des beantragten Aufenthaltstitels und insbesondere nicht danach unterschieden werden, ob eine solche Entscheidung mit der Ablehnung eines Antrags auf internationalen Schutz oder mit der Ablehnung eines Antrags auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach nationalem Recht begründet wird.
57. Aus dem Wortlaut von Art. 19 Abs. 2 der Charta und insbesondere aus der Formulierung „[n]iemand darf … abgeschoben werden“ geht nämlich hervor, dass der Schutz vor Zurückweisung in vollem Umfang für alle Drittstaatsangehörigen gilt, unabhängig von ihrem Status oder den Gründen für ihre Zurückweisung.
58. Außerdem hat der Gerichtshof im Urteil vom 3. Juni 2021, Westerwaldkreis(38), darauf hingewiesen, dass der Anwendungsbereich der Richtlinie 2008/115 allein unter Bezugnahme auf die Situation des illegalen Aufenthalts, in der sich ein Drittstaatsangehöriger befindet, definiert wird, unabhängig von den Gründen, die dieser Situation zugrunde liegen, oder den Maßnahmen, die gegen ihn getroffen werden können“(39). So ergibt sich aus Art. 6 Abs. 6 der Richtlinie 2008/115 und Rn. 60 des Urteils vom 19. Juni 2018, Gnandi(40), dass die Rückkehrentscheidung zwar gleichzeitig oder unmittelbar nach der Entscheidung über die Ablehnung eines Antrags auf internationalen Schutz getroffen werden kann, es sich dabei aber um zwei gesonderte Entscheidungen handelt, wobei jede Rückkehrentscheidung die in Kapitel III dieser Richtlinie festgelegten Verfahrensgarantien sowie die anderen einschlägigen Bestimmungen des Unionsrechts und des nationalen Rechts einhalten muss.
59. Das Urteil vom 6. Juli 2023, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Flüchtling, der eine schwere Straftat begangen hat)(41), ist dafür ein perfektes Beispiel. In diesem Urteil hat der Gerichtshof nämlich entschieden, dass die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft nach Art. 14 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95 keine Stellungnahme zu der gesonderten Frage impliziert, ob die betroffene Person in ihr Herkunftsland abgeschoben werden darf, und dass die Folgen, die eine etwaige Rückkehr des Drittstaatsangehörigen in sein Herkunftsland für ihn hätte, nicht bei Erlass der Entscheidung, die Flüchtlingseigenschaft abzuerkennen, sondern gegebenenfalls dann zu berücksichtigen sind, wenn die zuständige Behörde beabsichtigt, gegen diesen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung zu erlassen(42).
60. Daraus ergibt sich, dass der Grundsatz der Nichtzurückweisung immer dann eingehalten werden muss, wenn ein Mitgliedstaat die Rechtswidrigkeit des Aufenthalts eines Drittstaatsangehörigen in seinem nationalen Hoheitsgebiet feststellt und eine Rückkehrentscheidung erlässt, und zwar unabhängig von der Art der Gründe für den Erlass dieser Entscheidung oder der Form der Maßnahme.
61. Demnach kann bei der Rolle der Justizbehörde, die über die Rechtmäßigkeit der Vollstreckung einer gegen einen Drittstaatsangehörigen ergangenen Rückkehrentscheidung zu befinden hat, und beim Umfang der dieser Behörde obliegenden Verpflichtung, einen Verstoß gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung von Amts wegen festzustellen, nach meinem Dafürhalten nicht danach unterschieden werden, ob die Entscheidung mit der Ablehnung eines Antrags auf internationalen Schutz oder mit der Ablehnung eines Antrags auf Erteilung eines im nationalen Recht vorgesehenen Aufenthaltstitels begründet wird.
VI. Ergebnis
62. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefragen der Rechtbank Den Haag, zittingsplaats Roermond (Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort Roermond, Niederlande) wie folgt zu beantworten:
1. Art. 5 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger in Verbindung mit Art. 19 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union
ist dahin auszulegen, dass,
wenn eine zuständige nationale Behörde die Rechtswidrigkeit des Aufenthalts eines Drittstaatsangehörigen feststellt, gegen den eine frühere, bestandskräftig gewordene Rückkehrentscheidung ergangen ist, diese Behörde verpflichtet ist, vor Fortsetzung des Rückkehrverfahrens zu ermitteln, ob sich die Situation des Drittstaatsangehörigen unter Berücksichtigung des erheblichen Zeitraums, während dessen das Verfahren ausgesetzt gewesen ist, nicht in einer Weise verändert hat, dass stichhaltige Gründe für die Annahme vorliegen, dass er im Falle einer Vollstreckung der Entscheidung der Gefahr von Folter oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung im vorgesehenen Zielland ausgesetzt wäre.
2. Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit Art. 5 dieser Richtlinie sowie mit Art. 4, Art. 19 Abs. 2 und Art. 47 der Charta der Grundrechte
ist dahin auszulegen, dass,
wenn ein Gericht mit der Kontrolle der Rechtmäßigkeit einer Maßnahme befasst ist, mit der die zuständige nationale Behörde ein für geraume Zeit ausgesetztes Rückkehrverfahren fortsetzt, ohne jedoch eine aktuelle Beurteilung der Risiken vorgenommen zu haben, denen der Drittstaatsangehörige im Falle einer Abschiebung ausgesetzt wäre, das nationale Gericht im Rahmen dieser Kontrolle verpflichtet ist, auf der Grundlage der ihm zur Kenntnis gebrachten Angaben in der Akte, so wie sie in dem bei ihm anhängigen kontradiktorischen Verfahren ergänzt oder verdeutlicht worden sind, einen Verstoß gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung, der vom Drittstaatsangehörigen nicht geltend gemacht worden ist, von Amts wegen festzustellen.
Bei der Rolle der Justizbehörde, die über die Rechtmäßigkeit der Vollstreckung einer gegen einen Drittstaatsangehörigen ergangenen Rückkehrentscheidung zu befinden hat, und beim Umfang der dieser Behörde obliegenden Verpflichtung, einen Verstoß gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung von Amts wegen festzustellen, kann nicht danach unterschieden werden, ob die Entscheidung mit der Ablehnung eines Antrags auf internationalen Schutz oder mit der Ablehnung eines Antrags auf Erteilung eines im nationalen Recht vorgesehenen Aufenthaltstitels begründet wird.