SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
GERARD HOGAN
vom 25. März 2021(1)
Rechtssache C‑768/19
Bundesrepublik Deutschland
gegen
SE,
Beteiligter:
Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht
(Vorabentscheidungsersuchen des Bundesverwaltungsgerichts [Deutschland])
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Internationaler Schutz – Subsidiärer Schutz – Richtlinie 2011/95/EU – Art. 2 Buchst. j dritter Gedankenstrich – Anspruch eines Erwachsenen nach nationalem Recht auf subsidiären Schutz als Elternteil eines nicht verheirateten Minderjährigen, dem subsidiärer Schutz zuerkannt worden ist – Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Minderjährigeneigenschaft“
I. Einleitung
1. Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen des Bundesverwaltungsgerichts vom 15. August 2019, das am 18. Oktober 2019 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, betrifft die Auslegung des Art. 2 Buchst. j dritter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes(2) und von Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta). Es wirft erneut recht heikle Fragen in Hinblick auf die Zeitpunkte auf, die für Anträge auf Familienzusammenführung maßgebend sind, die sich aus der Zuerkennung internationalen Schutzes zugunsten anderer Familienangehöriger ergeben.
2. Das Ersuchen wurde in einem Verfahren zwischen SE und der Bundesrepublik Deutschland vorgelegt; es betrifft deren Ablehnung, SE subsidiären Schutz als Elternteil eines nicht verheirateten Minderjährigen (des Sohnes von SE) zuzuerkennen, dem in diesem Mitgliedstaat subsidiärer Schutz zuerkannt worden ist.
3. SE und sein Sohn sind als „Familienangehörige“ im Sinne des Art. 2 Buchst. j dritter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 anzusehen, wenn der Sohn von SE u. a. minderjährig und nicht verheiratet(3) ist. Die Bundesrepublik Deutschland hat es abgelehnt, SE subsidiären Schutz zuzuerkennen, weil SE, während er in diesem Mitgliedstaat um Asyl nachgesucht hatte, als sein Sohn noch minderjährig war, erst einen Tag nach Ende von dessen Minderjährigkeit einen förmlichen Antrag auf internationalen Schutz in der Bundesrepublik Deutschland gestellt hat.
4. In der vorliegenden Rechtssache wird der Gerichtshof u. a. darum ersucht, zu bestimmen, auf welchen Zeitpunkt abzustellen ist, um zu beurteilen, ob die schutzberechtigte Person – in dieser Rechtssache der Sohn von SE – „minderjährig“ im Sinne von Art. 2 Buchst. j dritter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 ist.
5. Vor der Prüfung dieser Fragen ist es jedoch zunächst erforderlich, die einschlägigen Rechtsvorschriften und den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens darzulegen.
II. Rechtlicher Rahmen
A. Unionsrecht
1. Richtlinie 2011/95
6. Art. 1 („Zweck“) der Richtlinie 2011/95 sieht vor:
„Zweck dieser Richtlinie ist es, Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen, die Anspruch auf subsidiären Schutz haben, sowie für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes festzulegen.“
7. Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie 2011/95 sieht vor:
„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck
…
j) ‚Familienangehörige‘ die folgenden Mitglieder der Familie der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, die sich im Zusammenhang mit dem Antrag auf internationalen Schutz in demselben Mitgliedstaat aufhalten, sofern die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat:
– …;
– …;
– der Vater, die Mutter oder ein anderer Erwachsener, der nach dem Recht oder der Praxis des betreffenden Mitgliedstaats für die Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, verantwortlich ist, wenn diese Person minderjährig und nicht verheiratet ist;
k) ‚Minderjähriger‘ einen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen unter 18 Jahren;
…“
8. Art. 3 („Günstigere Normen“) der Richtlinie 2011/95 sieht vor:
„Die Mitgliedstaaten können günstigere Normen zur Entscheidung darüber, wer als Flüchtling oder Person gilt, die Anspruch auf subsidiären Schutz hat, und zur Bestimmung des Inhalts des internationalen Schutzes erlassen oder beibehalten, sofern sie mit dieser Richtlinie vereinbar sind.“
9. Art. 23 („Wahrung des Familienverbands“) der Richtlinie 2011/95 sieht vor:
„(1) Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass der Familienverband aufrechterhalten werden kann.
(2) Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass die Familienangehörigen der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, die selbst nicht die Voraussetzungen für die Gewährung dieses Schutzes erfüllen, gemäß den nationalen Verfahren Anspruch auf die in den Artikeln 24 bis 35 genannten Leistungen haben, soweit dies mit der persönlichen Rechtsstellung des Familienangehörigen vereinbar ist.
…“
10. Art. 24 („Aufenthaltstitel“) der Richtlinie 2011/95 sieht vor:
„…
(2) So bald wie möglich nach Zuerkennung des internationalen Schutzes stellen die Mitgliedstaaten Personen, denen der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt worden ist, und ihren Familienangehörigen einen verlängerbaren Aufenthaltstitel aus, der mindestens ein Jahr und im Fall der Verlängerung mindestens zwei Jahre gültig sein muss, es sei denn, dass zwingende Gründe der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung dem entgegenstehen.“
2. Richtlinie 2013/32/EU
11. Art. 6 („Zugang zum Verfahren“) der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes(4) lautet wie folgt:
„(1) Stellt eine Person einen Antrag auf internationalen Schutz bei einer Behörde, die nach nationalem Recht für die Registrierung solcher Anträge zuständig ist, so erfolgt die Registrierung spätestens drei Arbeitstage nach Antragstellung.
Wird der Antrag auf internationalen Schutz bei anderen Behörden gestellt, bei denen derartige Anträge wahrscheinlich gestellt werden, die aber nach nationalem Recht nicht für die Registrierung zuständig sind, so gewährleisten die Mitgliedstaaten, dass die Registrierung spätestens sechs Arbeitstage nach Antragstellung erfolgt.
…
(2) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass eine Person, die einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, tatsächlich die Möglichkeit hat, diesen so bald wie möglich förmlich zu stellen. Stellt der Antragsteller keinen förmlichen Antrag, so können die Mitgliedstaaten Artikel 28 entsprechend anwenden.
(3) Unbeschadet des Absatzes 2 können die Mitgliedstaaten verlangen, dass Anträge auf internationalen Schutz persönlich und/oder an einem bestimmten Ort gestellt werden.
(4) Ungeachtet des Absatzes 3 gilt ein Antrag auf internationalen Schutz als förmlich gestellt, sobald den zuständigen Behörden des betreffenden Mitgliedstaats ein vom Antragsteller vorgelegtes Formblatt oder ein behördliches Protokoll, sofern nach nationalem Recht vorgesehen, zugegangen ist.
…“
B. Deutsches Recht
12. § 13 Asylgesetz(5) (im Folgenden: AsylG) sieht vor:
„(1) Ein Asylantrag liegt vor, wenn sich dem schriftlich, mündlich oder auf andere Weise geäußerten Willen des Ausländers entnehmen lässt, dass er im Bundesgebiet Schutz vor politischer Verfolgung sucht oder dass er Schutz vor Abschiebung oder einer sonstigen Rückführung in einen Staat begehrt, in dem ihm eine Verfolgung im Sinne des § 3 Absatz 1 oder ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Absatz 1 droht.
…“
13. § 14 AsylG bestimmt:
„(1) Der Asylantrag ist bei der Außenstelle des Bundesamtes zu stellen, die der für die Aufnahme des Ausländers zuständigen Aufnahmeeinrichtung zugeordnet ist. …
…“
14. § 26 AsylG sieht vor:
„…
(2) Ein zum Zeitpunkt seiner Asylantragstellung minderjähriges lediges Kind eines Asylberechtigten wird auf Antrag als asylberechtigt anerkannt, wenn die Anerkennung des Ausländers als Asylberechtigter unanfechtbar ist und diese Anerkennung nicht zu widerrufen oder zurückzunehmen ist.
(3) Die Eltern eines minderjährigen ledigen Asylberechtigten oder ein anderer Erwachsener im Sinne des Artikels 2 Buchst. j der Richtlinie 2011/95 … werden auf Antrag als Asylberechtigte anerkannt, wenn
1. die Anerkennung des Asylberechtigten unanfechtbar ist,
2. die Familie im Sinne des Artikels 2 Buchst. j der Richtlinie 2011/95 … schon in dem Staat bestanden hat, in dem der Asylberechtigte politisch verfolgt wird,
3. sie vor der Anerkennung des Asylberechtigten eingereist sind oder sie den Asylantrag unverzüglich nach der Einreise gestellt haben,
4. die Anerkennung des Asylberechtigten nicht zu widerrufen oder zurückzunehmen ist und
5. sie die Personensorge für den Asylberechtigten innehaben.
Für zum Zeitpunkt ihrer Antragstellung minderjährige ledige Geschwister des minderjährigen Asylberechtigten gilt Satz 1 Nummer 1 bis 4 entsprechend.
…
(5) Auf Familienangehörige im Sinne der Absätze 1 bis 3 von international Schutzberechtigten sind die Absätze 1 bis 4 entsprechend anzuwenden. An die Stelle der Asylberechtigung tritt die Flüchtlingseigenschaft oder der subsidiäre Schutz. …
…“
15. § 77 AsylG sieht vor:
„(1) In Streitigkeiten nach diesem Gesetz stellt das Gericht auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ab; ergeht die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung, ist der Zeitpunkt maßgebend, in dem die Entscheidung gefällt wird. …
…“
III. Der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens und das Vorabentscheidungsersuchen
16. SE begehrt die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus mit der Begründung, er sei der Vater eines nicht verheirateten Minderjährigen mit einem solchen Status. SE ist seinen eigenen Angaben zufolge afghanischer Staatsangehöriger und Vater eines am 20. April 1998 geborenen Sohnes, der im Jahr 2012 in das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland eingereist sei und dort am 21. August 2012 einen Asylantrag gestellt habe(6).
17. Mit bestandkräftigen Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Deutschland) (im Folgenden: Bundesamt) vom 13. Mai 2016 wurde der Asylantrag des Sohnes des SE abgelehnt. Ihm wurde jedoch der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt.
18. SE reiste seinen eigenen Angaben zufolge im Januar 2016 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein. Er beantragte im Februar 2016 Asyl und stellte am 21. April 2016 einen förmlichen Antrag auf internationalen Schutz.
19. Das Bundesamt lehnte seine Anträge auf Anerkennung als Asylberechtigter und auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bzw. des subsidiären Schutzstatus sowie auf Feststellung des Vorliegens von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes ab.
20. Mit dem angegriffenen Urteil hat das Verwaltungsgericht die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet, SE auf der Grundlage des § 26 Abs. 5 in Verbindung mit § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG als Elternteil einer nicht verheirateten minderjährigen Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen.
21. Dem Verwaltungsgericht zufolge war der Sohn von SE zu dem insoweit maßgeblichen Zeitpunkt der Stellung des Asylantrags durch SE noch minderjährig. In diesem Zusammenhang sei ein Asylantrag als gestellt zu betrachten, sobald die zuständige Behörde Kenntnis von dem Asylbegehren des Schutzsuchenden erhalten habe.
22. Mit ihrer Revision rügt die Bundesrepublik Deutschland bei dem vorlegenden Gericht eine Verletzung von § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG. Gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG sei für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage grundsätzlich der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Tatsachengericht oder – in Ermangelung einer solchen – der verfahrensabschließenden Entscheidung des Tatsachengerichts maßgeblich. § 26 Abs. 3 AsylG enthalte insoweit keine ausdrückliche gesetzliche Ausnahme. Seine tatbestandlichen Voraussetzungen und seine Struktur stritten dafür, dass jedenfalls nur bei einem bei seiner eigenen Statuszuerkennung noch Minderjährigen ein abgeleiteter Anspruch entstehen könne. Die Vorschrift diene den Interessen des schutzberechtigten Minderjährigen, die grundsätzlich nur so lange bestünden, wie dieser minderjährig sei.
23. Die Bundesrepublik Deutschland macht außerdem geltend, dass, selbst wenn für die Minderjährigkeit auf den Zeitpunkt der Asylantragstellung des Elternteils abzustellen sein sollte, dafür nicht der Zeitpunkt des materiellen Asylgesuchs (§ 13 AsylG) maßgeblich wäre, sondern dass es auf den Zeitpunkt der förmlichen Asylantragstellung (§ 14 AsylG) ankomme. Für das in § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG statuierte Antragserfordernis genüge es nicht, dass die zuständige Stelle – hier das Bundesamt – lediglich Kenntnis von dem Asylgesuch habe. Zuerkennungsvoraussetzung sei ein (förmlicher) Antrag, der wirksam nur bei der zuständigen Stelle gestellt werden könne.
24. Unter diesen Umständen hat das Bundesverwaltungsgericht entschieden, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist bei einem Asylantragsteller, der vor Eintritt der Volljährigkeit seines Kindes, mit dem im Herkunftsstaat eine Familie bestanden hat und dem auf einen vor Eintritt der Volljährigkeit gestellten Schutzantrag nach Eintritt der Volljährigkeit der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt worden ist (nachfolgend: Schutzberechtigter), in den Aufnahmemitgliedstaat des Schutzberechtigten eingereist ist und dort ebenfalls einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat (nachfolgend: Asylantragsteller), bei einer nationalen Regelung, die für die Gewährung eines vom Schutzberechtigten abgeleiteten Anspruchs auf Zuerkennung subsidiären Schutzes Bezug auf Art. 2 Buchst. j der Richtlinie 2011/95 nimmt, für die Frage, ob der Schutzberechtigte „minderjährig“ im Sinne des Art. 2 Buchst. j dritter Gedankenstrich dieser Richtlinie ist, auf den Zeitpunkt der Entscheidung über den Asylantrag des Asylantragstellers oder aber auf einen früheren Zeitpunkt abzustellen, etwa den Zeitpunkt, in dem
a) dem Schutzberechtigten der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt worden ist,
b) der Asylantragsteller seinen Asylantrag gestellt hat,
c) der Asylantragsteller in den Aufnahmemitgliedstaat eingereist ist oder
d) der Schutzberechtigte seinen Asylantrag gestellt hat?
2. Für den Fall,
a) dass der Zeitpunkt der Antragstellung maßgeblich ist:
Ist insoweit auf das schriftlich, mündlich oder auf andere Weise geäußerte Schutzersuchen, das der für den Asylantrag zuständigen nationalen Behörde bekanntgeworden ist (Asylgesuch), oder auf den förmlich gestellten Antrag auf internationalen Schutz abzustellen?
b) dass der Zeitpunkt der Einreise des Asylantragstellers oder der Zeitpunkt der Stellung des Asylantrages durch diesen maßgeblich ist: Kommt es auch darauf an, ob zu diesem Zeitpunkt über den Schutzantrag des zu einem späteren Zeitpunkt als subsidiär schutzberechtigt anerkannten Schutzberechtigten noch nicht entschieden war?
3.a) Welche Anforderungen sind in der unter l. beschriebenen Situation zu stellen, damit es sich bei dem Asylantragsteller um einen „Familienangehörigen“ (Art. 2 Buchst. j der Richtlinie 2011/95) handelt, der sich „im Zusammenhang mit dem Antrag auf internationalen Schutz in demselben Mitgliedstaat“ aufhält, in dem sich die Person aufhält, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, und mit dem die Familie „bereits im Herkunftsstaat“ bestanden hat? Setzt dies insbesondere voraus, dass das Familienleben zwischen dem Schutzberechtigten und dem Asylantragsteller im Sinne des Art. 7 der Charta der Grundrechte im Aufnahmemitgliedstaat wiederaufgenommen worden ist, oder genügt insoweit die bloße zeitgleiche Anwesenheit des Schutzberechtigten und des Asylantragstellers im Aufnahmemitgliedstaat? Ist ein Elternteil auch dann Familienangehöriger, wenn die Einreise nach den Umständen des Einzelfalles nicht darauf gerichtet war, die Verantwortlichkeit im Sinne des Art. 2 Buchst. j dritter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 für eine Person tatsächlich wahrzunehmen, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist und die noch minderjährig und nicht verheiratet ist?
b) Soweit Frage 3a) dahin zu beantworten ist, dass das Familienleben zwischen dem Schutzberechtigten und dem Asylantragsteller im Sinne des Art. 7 der Charta der Grundrechte im Aufnahmemitgliedstaat wiederaufgenommen worden sein muss, kommt es darauf an, zu welchem Zeitpunkt die Wiederaufnahme erfolgt ist? Ist insoweit insbesondere darauf abzustellen, ob das Familienleben innerhalb einer bestimmten Frist nach Einreise des Asylantragstellers, im Zeitpunkt der Antragstellung des Asylantragstellers oder zu einem Zeitpunkt wiederhergestellt worden ist, zu dem der Schutzberechtigte noch minderjährig war?
4. Endet die Eigenschaft eines Asylantragstellers als Familienangehöriger im Sinne des Art. 2 Buchst. j dritter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 mit dem Eintritt der Volljährigkeit des Schutzberechtigten und einem damit verbundenen Wegfall der Verantwortlichkeit für eine Person, die minderjährig und nicht verheiratet ist? Sollte dies verneint werden: Besteht diese Eigenschaft als Familienangehöriger (und die damit verbundenen Rechte) über diesen Zeitpunkt hinaus zeitlich unbegrenzt fort oder entfällt sie nach einer bestimmten Frist (wenn ja: welcher?) oder bei Eintritt bestimmter Ereignisse (wenn ja: welcher?)?
IV. Das Verfahren vor dem Gerichtshof
25. Die deutsche und die ungarische Regierung haben schriftliche Erklärungen abgegeben. Am 26. Mai 2020 wurde das Verfahren mit Entscheidung des Präsidenten des Gerichtshofs gemäß Art. 55 Abs. 1 Buchst. b der Verfahrensordnung des Gerichtshofs bis zum Urteil vom 16. Juli 2020, B. M. M. u. a. (Familienzusammenführung – Minderjähriges Kind) (C‑133/19, C‑136/19 und C‑137/19, EU:C:2020:577), ausgesetzt. Dieses Urteil wurde dem vorlegenden Gericht des vorliegenden Verfahrens übermittelt, um in Erfahrung zu bringen, ob es sein Vorabentscheidungsersuchen aufrechtzuerhalten wünsche. Mit Beschluss vom 19. August 2020, der bei der Kanzlei des Gerichtshofs am 26. August 2020 eingegangen ist, hat das vorlegende Gericht dem Gerichtshof mitgeteilt, dass es sein Vorabentscheidungsersuchen aufrechtzuerhalten wünsche. Mit Entscheidung des Präsidenten des Gerichtshofs vom 28. August 2020 wurde die Aussetzung des Verfahrens in der vorliegenden Rechtssache aufgehoben.
26. Mit Entscheidung des Gerichtshofs vom 10. November 2020 wurde die deutsche Regierung aufgefordert, zu erläutern, welche Unterschiede im deutschen Recht zwischen dem formlosen Asylantrag im Sinne des Art. 13 Abs. 1 AsylG und der förmlichen Beantragung von Asyl im Sinne des Art. 14 Abs. 1 dieses Gesetzes – insbesondere in Bezug auf Verfahren, Fristen und Voraussetzungen – bestehen. Die deutsche Regierung hat auf diese Frage am 14. Dezember 2020 geantwortet.
27. Mit Entscheidung des Gerichtshofs vom 10. November 2020 wurden die Parteien und sonstigen Beteiligten gemäß Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs aufgefordert, zu den möglichen Konsequenzen Stellung zu nehmen, die aus dem Urteil vom 16. Juli 2020, B. M. M. u. a. (Familienzusammenführung – Minderjähriges Kind) (C‑133/19, C‑136/19 und C‑137/19, EU:C:2020:577), insbesondere für die Beantwortung der ersten Vorlagefrage zu ziehen sind. Die ungarische Regierung und die Kommission haben diesbezüglich Erklärungen abgegeben.
V. Zuständigkeit des Gerichtshofs
28. Die deutsche Regierung hat Zweifel an der Zuständigkeit des Gerichtshofs in Bezug auf die zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen geäußert. Dieser Regierung zufolge betreffen die Vorlagefragen die Auslegung einer nationalen Regelung, die unionsrechtlich so nicht vorgegeben sei und ihrem Wortlaut nach auf die im Unionsrecht in Art. 2 Buchst. j der Richtlinie 2011/95 vorgesehenen Begriffsbestimmungen nur in Hinblick auf die Begriffe „ein anderer Erwachsener“ und „Familie“ Bezug nehme.
29. Hierzu ist festzustellen, dass das vorlegende Gericht mit seinen Fragen um die Auslegung des Art. 2 Buchst. j dritter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 und des Art. 7 der Charta ersucht. In diesen Fragen wird nicht auf das nationale Recht verwiesen.
30. Aus dem Vorabentscheidungsersuchen ergibt sich jedoch, dass SE internationalen Schutz als Familienangehöriger – als Vater eines nicht verheirateten minderjährigen Kindes – auf der Grundlage von § 26 Abs. 5 in Verbindung mit § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG und nicht auf der Grundlage von Unionsrecht, insbesondere der Richtlinie 2011/95, beansprucht. Es ist indessen ersichtlich, dass die Frage, ob der Sohn von im maßgeblichen Zeitpunkt ein nicht verheirateter Minderjähriger und SE somit ein Familienangehöriger gemäß Art. 2 Buchst. j dritter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 ist, für die Bestimmung des Status des SE nach nationalem Recht ausschlaggebend ist. Dies beruht auf dem in § 26 Abs. 3 AsylG enthaltenen Verweis auf Art. 2 Buchst. j der Richtlinie 2011/95(7).
31. Der Gerichtshof hat in seinem Urteil vom 4. Oktober 2018, Ahmedbekova (C‑652/16, EU:C:2018:801, Rn. 68 bis 74), festgestellt, dass die Richtlinie 2011/95 eine Erstreckung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzstatus auf die Familienangehörigen derjenigen Person, der diese Eigenschaft oder dieser Status zuerkannt worden ist, nicht vorsieht. Aus Art. 23 dieser Richtlinie geht nämlich hervor, dass diese den Mitgliedstaaten nur aufgibt, ihr nationales Recht so anzupassen, dass die in Art. 2 Buchst. j der Richtlinie aufgeführten Familienangehörigen der anerkannten Person, wenn sie die Voraussetzungen für die Zuerkennung des betreffenden Status nicht selbst erfüllen, bestimmte Vorteile genießen, die der Wahrung des Familienverbands dienen, wie z. B. die Ausstellung eines Aufenthaltstitels und der Zugang zu Beschäftigung oder Bildung. Jedoch gestattet Art. 3 der Richtlinie 2011/95 einem Mitgliedstaat, wenn einem Familienangehörigen gemäß der von dieser Richtlinie geschaffenen Regelung internationaler Schutz zuerkannt wird, eine Erstreckung des Umfangs dieses Schutzes auf andere Familienangehörige vorzusehen, sofern sie nicht unter einen Ausschlussgrund nach Art. 12 dieser Richtlinie fallen und ihre Lage in Anbetracht der Notwendigkeit, den Familienverband zu wahren, mit dem Zweck des internationalen Schutzes in Einklang steht.
32. Der Gerichtshof hat auch festgestellt, dass die Zuerkennung des internationalen Schutzes zugunsten von Familienangehörigen als ein abgeleiteter Anspruch zur Wahrung des Familienverbands der Betreffenden mit dem Zweck des internationalen Schutzes, der der Zuerkennung dieses Status zugrunde liegt, in Einklang steht(8).
33. Aus der dem Gerichtshof vorliegenden Akte ist vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht ersichtlich(9), dass die Bundesrepublik Deutschland die Möglichkeit gemäß Art. 3 der Richtlinie 2011/95 genutzt hat, bestimmten in Art. 2 Buchst. j der Richtlinie 2011/95 genannten Familienangehörigen weitergehenderen Schutz zu gewähren.
34. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist dieser allerdings für die Entscheidung über Vorabentscheidungsersuchen zuständig, die Vorschriften des Unionsrechts in Fällen betreffen, in denen der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens zwar nicht unmittelbar in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, aber die genannten Vorschriften des Unionsrechts durch das nationale Recht aufgrund eines darin enthaltenen Verweises auf deren Inhalt für anwendbar erklärt worden sind. In solchen Fällen besteht nämlich ein klares Interesse der Europäischen Union daran, dass die aus dem Unionsrecht übernommenen Bestimmungen einheitlich ausgelegt werden, um künftige Auslegungsunterschiede zu vermeiden. Somit rechtfertigt sich eine Auslegung von Vorschriften des Unionsrechts durch den Gerichtshof bei Sachverhalten, die nicht in deren Anwendungsbereich fallen, wenn diese Vorschriften vom nationalen Recht unmittelbar und unbedingt für auf diese Sachverhalte anwendbar erklärt worden sind, um zu gewährleisten, dass diese Sachverhalte und die durch diese Vorschriften geregelten Sachverhalte gleichbehandelt werden(10).
35. Angesichts dessen, dass § 26 Abs. 3 AsylG ausdrücklich auf den Begriff „Familie“ im Sinne von Art. 2 Buchst. j der Richtlinie 2011/95 verweist und nichts darauf hindeutet, dass letztere Bestimmung nicht unmittelbar und unbedingt auf Sachverhalte wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden anwendbar wäre, besteht mithin ein klares Interesse der Europäischen Union daran, dass der Gerichtshof über das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen entscheidet.
36. Somit bin ich der Auffassung, dass der Gerichtshof für die Beantwortung der Vorlagefragen zuständig ist.
VI. Prüfung der Vorlagefragen
A. Erste und zweite Frage
1. Vorbemerkungen
37. Mit seiner ersten und seiner zweiten Frage, die der Einfachheit halber zusammen behandelt werden können, möchte das vorlegende Gericht wissen, auf welchen Zeitpunkt bei einem Sachverhalt wie demjenigen des Ausgangsverfahrens abzustellen ist, in dem ein Elternteil – hier SE – einen Anspruch auf subsidiären Schutz nach nationalem Recht von dem subsidiären Schutzstatus eines nicht verheirateten minderjährigen Kindes abzuleiten sucht, um festzustellen, ob die Person mit Anspruch auf internationalen Schutz – hier der Sohn von SE – „minderjährig“ im Sinne des Art. 2 Buchst. j dritter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 ist(11).
38. Wie die Kommission in ihren Erklärungen ausgeführt hat, bedarf es einer Antwort auf diese Frage unter dem Blickwinkel des Unionsrechts, um festzustellen, ob SE, wie in Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 vorgesehen, Anspruch auf die in den Art. 24 bis 35 dieser Richtlinie festgelegten Leistungen hat(12).
39. Die Bestimmung des Begriffs „Minderjähriger“ in Art. 2 Buchst. k der Richtlinie 2011/95, der auf „einen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen unter 18 Jahren“ verweist, steht im Ausgangsverfahren nicht Rede.
40. Fraglich ist jedoch der maßgebliche Zeitpunkt, zu dem die Eigenschaft einer Person als „Minderjähriger“ zu beurteilen ist, um zu bestimmen, ob dieser Minderjährige und eine andere Person „Familienangehörige“ im Sinne des Art. 2 Buchst. j dritter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 sind. Gemäß Art. 2 Buchst. j der Richtlinie 2011/95 umfasst der Begriff „Familienangehörige“ den Vater einer nicht verheirateten minderjährigen Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, der sich im Zusammenhang mit dem Antrag auf internationalen Schutz in demselben Mitgliedstaat aufhält, sofern die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat.
41. Das vorlegende Gericht hat dem Gerichtshof fünf möglicherweise in Frage kommende Zeitpunkte vorgeschlagen, nämlich
– den Zeitpunkt der Entscheidung über den Asylantrag von SE (Frage 1),
– den Zeitpunkt, in dem dem Sohn von SE subsidiärer Schutz zuerkannt worden ist (Frage 1a),
– den Zeitpunkt, in dem SE seinen Asylantrag gestellt hat (Frage 1b),
– den Zeitpunkt, in dem SE nach Deutschland eingereist ist (Frage 1c) oder
– den Zeitpunkt, in dem der Sohn von SE seinen Asylantrag gestellt hat (Frage 1d).
42. Die deutsche Regierung ist der Auffassung, der maßgebliche Zeitpunkt für die Beurteilung der Eigenschaft als „Minderjähriger“ gemäß Art. 2 Buchst. j dritter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 sei der Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag des Familienangehörigen, der ein von dem Recht des Schutzberechtigten abgeleitetes Recht geltend zu machen wünsche.
43. Die ungarische Regierung ist der Auffassung, die Verwendung der Gegenwartsform in Art. 2 Buchst. j dritter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 spreche gegen eine rückwirkende Auslegung der Minderjährigeneigenschaft. Die Sach- und Rechtslage, auf der eine Entscheidung beruhe, sei somit im Licht der Umstände zum Zeitpunkt des Erlasses der Entscheidung zu prüfen und zu beurteilen. In dem vorliegenden Verfahren würde eine andere Auslegung bedeuten, dass die Behörde ihre Entscheidung auf die Fiktion einer nicht mehr gegebenen Minderjährigkeit einer Person stützen müsste. Eine solche Fiktion könne aus dem Text der Richtlinie 2011/95 oder ihren Zielen nicht abgeleitet werden und laufe der Rechtssicherheit zuwider. Maßgeblich sei der Tag der Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz, der vom Familienangehörigen der Person gestellt worden sei, der internationaler Schutz zuerkannt worden sei.
44. Demgegenüber vertritt die Kommission die Auffassung, dass Art. 2 Buchst. j dritter Gedankenstrich und Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen seien, dass ein Drittstaatsangehöriger oder ein Staatenloser, der zur Zeit der Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz in einem Mitgliedstaat noch nicht 18 Jahre alt gewesen sei, jedoch während des Verfahrens volljährig geworden und dem der subsidiäre Schutzstatus später zuerkannt worden sei, als „minderjährig“ im Sinne des Art. 2 Buchst. j dritter Gedankenstrich anzusehen sei, wenn sein Vater in das Hoheitsgebiet desselben Mitgliedstaats eingereist sei, bevor der Schutzberechtigte die Volljährigkeit erreicht habe, und den in Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 genannten Antrag binnen angemessener Frist ab dem Tag gestellt habe, an dem der Schutzberechtigte als solcher anerkannt worden sei.
2. Das Urteil vom 12. April 2018, A und S (C‑550/16, EU:C:2018:248)
45. Aus dem Vorabentscheidungsersuchen ergibt sich, dass die vom vorlegenden Gericht unterbreiteten verschiedenen zeitlichen Alternativen zumindest teilweise an das Urteil vom 12. April 2018, A und S (C‑550/16, EU:C:2018:248), anknüpfen(13). Ich werde daher zum besseren Verständnis der unterschiedlichen, vom vorlegenden Gericht unterbreiteten zeitlichen Alternativen den Sachverhalt und die Entscheidung in dieser Rechtssache mit einer gewissen Ausführlichkeit darstellen.
46. Die Rechtssache, die zum Urteil vom 12. April 2018, A und S (C‑550/16, EU:C:2018:248), geführt hat, betraf die Rechte einer unbegleiteten Minderjährigen, die in die Niederlande einreiste und einen Asylantrag stellte, als sie minderjährig war, der aber die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde und die einen Antrag auf Familienzusammenführung mit ihren Eltern stellte, nachdem sie volljährig geworden war.
47. Dem Gerichtshof wurde die Frage vorgelegt, ob Art. 2 Buchst. f(14) der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung(15) dahin auszulegen ist, dass ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser, der im Zeitpunkt der Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats und der Stellung seines Asylantrags in diesem Staat unter 18 Jahre alt ist, aber im Laufe des Asylverfahrens in diesem Staat 18 Jahre alt wird und später Asyl rückwirkend zum Zeitpunkt der Antragstellung erhält, als „Minderjähriger“ im Sinne dieser Vorschrift anzusehen ist. Der Gerichtshof hat entschieden, dass Art. 2 Buchst. f in Verbindung mit Art. 10 Abs. 3 Buchst. a(16) der Richtlinie 2003/86 dahin auszulegen ist, dass ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser, der zum Zeitpunkt seiner Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats und der Stellung seines Asylantrags in diesem Staat unter 18 Jahre alt war, aber im Laufe des Asylverfahrens volljährig wird und dem später die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird, gleichwohl als „Minderjähriger“ im Sinne dieser Bestimmung anzusehen ist.
48. Dem Gerichtshof zufolge könnte, hinge das Recht auf Familienzusammenführung nach Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 davon ab, zu welchem Zeitpunkt die zuständige nationale Behörde förmlich über die Anerkennung des Betroffenen als Flüchtling entscheidet, eine solche Auslegung, anstatt die nationalen Behörden dazu anzuhalten, die Anträge auf internationalen Schutz unbegleiteter Minderjähriger vorrangig zu bearbeiten, um ihrer besonderen Schutzbedürftigkeit Rechnung zu tragen, den gegenteiligen Effekt haben und dabei dem Ziel sowohl dieser Richtlinie als auch der Richtlinien 2013/32 und 2011/95 entgegenwirken, nämlich sicherzustellen, dass für die Mitgliedstaaten bei der Anwendung dieser Richtlinien im Einklang mit Art. 24 Abs. 2 der Charta der Grundrechte das Wohl des Kindes tatsächlich eine vorrangige Erwägung ist(17).
49. Der Gerichtshof war somit der Auffassung, dass es das Anknüpfen an den Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf internationalen Schutz als denjenigen Zeitpunkt, auf den es für die Beurteilung des Alters eines Flüchtlings bei der Anwendung von Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 ankommt, ermöglicht, Gleichbehandlung und Vorhersehbarkeit für alle Antragsteller zu gewährleisten, die sich zeitlich in der gleichen Lage befinden, indem sichergestellt wird, dass der Erfolg des Antrags auf Familienzusammenführung in erster Linie von Umständen abhängt, die in der Sphäre der Antragsteller liegen, nicht aber von Umständen, die in der Behördensphäre liegen, wie etwa die Bearbeitungsdauer des Antrags auf internationalen Schutz oder des Antrags auf Familienzusammenführung. Der Gerichtshof hat allerdings festgestellt, dass ein Flüchtling, der zum Zeitpunkt seines Antrags seinem Status nach ein unbegleiteter Minderjährigen war, aber während des Verfahrens volljährig geworden ist, seinen Antrag auf Familienzusammenführung innerhalb einer angemessenen Frist stellen muss(18). Insoweit war der Gerichtshof der Auffassung, dass der Antrag innerhalb von drei Monaten ab dem Zeitpunkt zu stellen ist, in dem der „Minderjährige“ als Flüchtling anerkannt worden ist.
3. Das Urteil vom 16. Juli 2020, B. M. M. u. a. (Familienzusammenführung – Minderjähriges Kind) (C‑133/19, C‑136/19 und C‑137/19, EU:C:2020:577)
50. Ich bin außerdem der Auffassung, dass das Urteil vom 16. Juli 2020, B. M. M. u. a. (Familienzusammenführung – Minderjähriges Kind) (C‑133/19, C‑136/19 und C‑137/19, EU:C:2020:577), das nach der Vorlage zur Vorabentscheidung in der vorliegenden Rechtssache erging, von Relevanz ist.
51. In dieser Rechtssache wurde dem Gerichtshof u. a. die Frage vorgelegt, ob Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 dahin auszulegen ist, dass der Zeitpunkt, auf den abzustellen ist, um zu bestimmen, ob ein unverheirateter Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser ein „minderjähriges Kind“ im Sinne dieser Bestimmung ist, derjenige Zeitpunkt ist, in dem der Antrag auf Einreise und Aufenthalt zum Zwecke der Familienzusammenführung für minderjährige Kinder gestellt wird, oder derjenige Zeitpunkt, zu dem durch die zuständigen Behörden des Mitgliedstaats, gegebenenfalls nachdem ein Rechtsbehelf gegen die Ablehnung eines solchen Antrags eingelegt wurde, über den Antrag entschieden wird.
52. Der Gerichtshof hat in den Rn. 36 und 37 dieses Urteils unmissverständlich festgestellt, dass, wenn als der Zeitpunkt, auf den für die Beurteilung des Alters des Antragstellers bei der Anwendung von Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 abzustellen ist, derjenige zugrunde gelegt würde, in dem die zuständige Behörde des betreffenden Mitgliedstaats über den Antrag auf Einreise und Aufenthalt im Hoheitsgebiet dieses Staates zum Zweck der Familienzusammenführung entscheidet, dies weder mit den Zielen dieser Richtlinie noch mit den sich aus Art. 7 und Art. 24 Abs. 2 der Charta ergebenden Anforderungen vereinbar wäre, da die zuständigen nationalen Behörden und Gerichte dann nämlich keine Veranlassung hätten, die Anträge Minderjähriger mit der erforderlichen Dringlichkeit vorrangig zu bearbeiten, um ihrer Schutzbedürftigkeit Rechnung zu tragen, und somit in einer die Rechte dieser Minderjährigen auf Familienzusammenführung gefährdenden Weise handeln könnten. Der Gerichtshof war somit der Auffassung, dass Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 dahin auszulegen ist, dass der Zeitpunkt, auf den abzustellen ist, um zu bestimmen, ob ein unverheirateter Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser ein minderjähriges Kind im Sinne dieser Bestimmung ist, derjenige Zeitpunkt ist, in dem der Antrag auf Einreise und Aufenthalt zum Zwecke der Familienzusammenführung für minderjährige Kinder gestellt wird, und nicht der Zeitpunkt, zu dem durch die zuständigen Behörden des Mitgliedstaats über den Antrag entschieden wird.
4. Kurze Analyse der betreffenden Urteile
53. Wie ich bereits angedeutet habe, betrafen die Urteile vom 12. April 2018, A und S (C‑550/16, EU:C:2018:248), und vom 16. Juli 2020, B. M. M. u. a. (Familienzusammenführung – Minderjähriges Kind) (C‑133/19, C‑136/19 und C‑137/19, EU:C:2020:577), die Auslegung der Richtlinie 2003/86.
54. Eingangs ist zu betonen, dass die Richtlinie 2003/86 am 22. September 2003 erlassen wurde. Der Erlass dieser Richtlinie erfolgte somit ungefähr sechs Monate vor dem Erlass der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes(19). Die Richtlinie 2004/83, die später durch die Richtlinie 2011/95 ersetzt wurde, führte den Begriff subsidiärer Schutzstatus zum ersten Mal in das Unionsrecht ein. Diese zeitliche Abfolge vermag zu erklären, warum die Richtlinie 2003/86 nur auf Flüchtlinge und nicht auf Drittstaatsangehörige oder staatenlose Personen, die subsidiären Schutzstatus genießen, verweist. Während die Rechte der Familienangehörigen von Flüchtlingen weitgehend durch die Richtlinie 2003/86 und die Richtlinie 2011/95 geregelt werden(20), betrifft erstere Richtlinie nicht die Rechte der Familienangehörigen derjenigen, die subsidiären Schutzstatus genießen
55. In der Tat hat der Gerichtshof in Rn. 34 des Urteils vom 13. März 2019, E. (C‑635/17, EU:C:2019:192), bestätigt, dass die Richtlinie 2003/86 dahin auszulegen ist, dass sie nicht auf Drittstaatsangehörige Anwendung findet, die der Familie des subsidiär Schutzberechtigten angehören(21).
56. Meiner Auffassung nach ist die im Urteil vom 12. April 2018, A und S (C‑550/16, EU:C:2018:248), in Hinblick auf das Recht eines unbegleiteten Minderjährigen, dem die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden war, auf Familienzusammenführung gemäß Art. 2 Buchst. f und Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 gefundene Lösung für die vorliegende Rechtssache aufschlussreich. Die in dieser Rechtssache enthaltene Analyse ist jedoch nicht vollkommen auf die vorliegende Rechtssache übertragbar, da bestimmte, wesentliche tatsächliche und rechtliche Unterschiede bestehen. Insbesondere war es in der Rechtssache, die zum Urteil vom 12. April 2018, A und S (C‑550/16, EU:C:2018:248), führte, das unbegleitete minderjährige Kind, das gestützt auf Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 um Familienzusammenführung nachsuchte, und nicht – wie im vorliegenden Fall – ein Elternteil, der gestützt u. a. auf Art. 23 ff. der Richtlinie 2011/95 um Zusammenführung mit seinem Kind nachsucht.
57. Während die vorliegende Rechtssache die Frage der Rechte eines Elternteils einer Person betrifft, der der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt worden ist, unterscheidet sich die Rechtssache, die zum Urteil vom 16. Juli 2020, B. M. M. u. a. (Familienzusammenführung – Minderjähriges Kind) (C‑133/19, C‑136/19 und C‑137/19, EU:C:2020:577), führte, außerdem insofern, als sie die Auslegung von Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 betraf, der die Mitgliedstaaten verpflichtet, unverheirateten minderjährigen Kindern eines Flüchtlings die Einreise und den Aufenthalt zu gestatten.
5. Anwendung der Rechtsprechung auf die vorliegende Rechtssache
58. Es ist festzustellen, dass Art. 2 Buchst. j dritter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 den maßgeblichen Zeitpunkt nicht spezifiziert. Auch wenn der Unionsgesetzgeber diesen Punkt zweckmäßigerweise hätte klarstellen können, folgt daraus, obwohl dies unterblieben ist, nicht, dass jeder Mitgliedstaat einseitig bestimmen kann, auf welchen Zeitpunkt er für die Frage abstellen möchte, ob bestimmte Personen „Familienangehörige“ im Sinne des Art. 2 Buchst. j dritter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 sind. Zu dieser Folgerung gelange ich aus mehreren Gründen.
59. Erstens verweist Art. 2 Buchst. j dritter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 nicht auf nationales Recht oder auf Mitgliedstaaten, und zweitens enthält weder diese noch eine andere Bestimmung der Richtlinie 2011/95 einen Anhaltspunkt dafür, dass der Unionsgesetzgeber die Zuständigkeit für die Bestimmung des betreffenden maßgeblichen Zeitpunkts jedem Mitgliedstaat anheimstellen wollte.
60. Der Gerichtshof hat in seinen Urteilen vom 12. April 2018, A und S (C‑550/16, EU:C:2018:248, Rn. 41), und vom 16. Juli 2020, B. M. M. u. a. (Familienzusammenführung – Minderjähriges Kind) (C‑133/19, C‑136/19 und C‑137/19, EU:C:2020:577, Rn. 30), daran erinnert, dass aus den Anforderungen sowohl der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts als auch des Gleichheitsgrundsatzes folgt, dass eine Bestimmung des Unionsrechts, die für die Ermittlung ihres Sinns und ihrer Bedeutung nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten muss, die u. a. unter Berücksichtigung des Kontextes der Vorschrift und des mit der Regelung verfolgten Ziels gefunden werden muss.
61. Meines Erachtens ist Art. 2 Buchst. j dritter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 im Licht von Art. 23 dieser Richtlinie zu lesen, dessen erster Absatz sehr klar und eindeutig bestimmt, dass „[d]ie Mitgliedstaaten … dafür Sorge [tragen], dass der Familienverband aufrechterhalten werden kann“ (Hervorhebung nur hier). Außerdem heißt es im 16. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95, dass die Richtlinie die Grundrechte und die in der Charta anerkannten Grundsätze achtet und darauf abzielt, die Anwendung u. a. der Art. 7 und 24 der Charta zu fördern.
62. Es entspricht ständiger Rechtsprechung, dass Art. 7 der Charta, der das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens anerkennt, in Verbindung mit der Verpflichtung zur Berücksichtigung des Kindeswohls nach Art. 24 Abs. 2 der Charta und unter Beachtung des in deren Art. 24 Abs. 3 niedergelegten Erfordernisses zu lesen ist, dass das Kind regelmäßig persönliche Beziehungen zu beiden Eltern unterhält(22).
63. Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass Art. 2 Buchst. j dritter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 im Interesse des betroffenen Kindes mit dem Ziel auszulegen ist, das Familienleben zu fördern.
64. Meiner Auffassung nach entspräche es weder dem Interesse des betreffenden Kindes noch der Förderung des Familienlebens im Kontext eines Verfahrens wie dem in der vorliegenden Rechtssache und stünde auch nicht mit der Begründung der Urteile vom 12. April 2018, A und S (C‑550/16, EU:C:2018:248), und vom 16. Juli 2020, B. M. M. u. a. (Familienzusammenführung – Minderjähriges Kind) (C‑133/19, C‑136/19 und C‑137/19, EU:C:2020:577), in Einklang, wenn der maßgebliche Zeitpunkt für die Beurteilung der Minderjährigeneigenschaft nach Art. 2 Buchst. j dritter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 derjenige Zeitpunkt sein müsste, in dem tatsächlich über den Asylantrag von SE entschieden(23) oder in dem dessen Sohn subsidiärer Schutz zuerkannt wurde(24).
65. Aus den Urteilen vom 12. April 2018, A und S (C‑550/16, EU:C:2018:248, Rn. 55), und vom 16. Juli 2020, B. M. M. u. a. (Familienzusammenführung – Minderjähriges Kind) (C‑133/19, C‑136/19 und C‑137/19, EU:C:2020:577), ergibt sich, dass nach der Vorstellung des Gerichtshofs das Recht eines Antragstellers auf Familienleben nicht von der Geschwindigkeit und der Dauer der Bearbeitung eines nationalen Antrags und der Entscheidungsfindung abhängig gemacht werden sollte. Nach dem diesen beiden Entscheidungen zugrunde liegenden Prinzip kann der Erfolg eines Antrags auf Familienzusammenführung nicht von der Zufälligkeit dessen abhängig gemacht werden, in welchem Zeitpunkt Dritte bestimmte Entscheidungen treffen.
66. Meines Erachtens trifft dies unabhängig davon zu, ob die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nach der Richtlinie 2011/95 einen deklaratorischen Akt darstellt oder nicht. In dieser Hinsicht ist darauf hinzuweisen, dass es im 21. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95 heißt, dass die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ein deklaratorischer Akt ist. Es gibt jedoch in der Richtlinie 2011/95 keinen entsprechenden Erwägungsgrund in Hinblick auf den subsidiären Schutz(25). Während das Urteil vom 12. April 2018, A und S (C‑550/16, EU:C:2018:248), auf den Umstand verweist, dass die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft deklaratorisch ist(26), hat der Gerichtshof in diesem Urteil gleichwohl den Umstand betont, dass die praktische Wirksamkeit von Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 in Frage gestellt würde, wenn das Recht auf Familienzusammenführung aus dieser Bestimmung davon abhinge, zu welchem Zeitpunkt die zuständige nationale Behörde förmlich über die Anerkennung des Betroffenen als Flüchtling entscheidet, und damit von der mehr oder weniger schnellen Bearbeitung des Antrags auf internationalen Schutz durch diese Behörde. Dies liefe nicht nur dem Ziel dieser Richtlinie, die Familienzusammenführung zu begünstigen und dabei Flüchtlinge, insbesondere unbegleitete Minderjährige, besonders zu schützen, sondern auch den Grundsätzen der Gleichbehandlung und der Rechtssicherheit zuwider(27).
67. Der Gerichtshof hat in seinem Urteil vom 16. Juli 2020, B. M. M. u. a. (Familienzusammenführung – Minderjähriges Kind) (C‑133/19, C‑136/19 und C‑137/19, EU:C:2020:577), einen vergleichbaren Ansatz zugrunde gelegt. Der Gerichtshof hat sich allerdings in seiner Begründung nicht auf die deklaratorische Natur eines Aktes gestützt, der die Flüchtlingseigenschaft zuerkennt, sondern hat vielmehr die aus Art. 7 und Art. 24 Abs. 2 und 3 der Charta abgeleiteten Rechte und die Interessen der betreffenden Kinder betont. Er hat festgestellt, dass das Recht auf Familienzusammenführung nicht von im Wesentlichen zufälligen und nicht vorhersehbaren Umständen abhängen sollte, die in vollem Umfang den zuständigen nationalen Behörden und Gerichten des betreffenden Mitgliedstaats zuzurechnen sind(28).
68. Aus der dem Gerichtshof in dem vorliegenden Verfahren übersandten nationalen Akte ergibt sich, dass vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht eine Zeitspanne von nahezu vier Jahren zwischen der Stellung des Asylantrags durch den Sohn von SE (21. August 2012) und dem Zeitpunkt besteht, in dem ihm subsidiärer Schutz zuerkannt worden ist (13. Mai 2016). Das vorlegende Gericht hat für die fragliche erhebliche Zeitspanne keine Erklärungen angegeben. Möglicherweise ist, unter Vorbehalt der Überprüfung durch das vorlegende Gericht, zu vermuten, dass dies auf bestimmte Rechtsbehelfe zurückzuführen ist, die der genannte Sohn gegen die Ablehnung seines Asylantrags durch das Bundesamt eingelegt hat. Es reicht aus, festzustellen, dass der fragliche Asylantrag seit dem Jahr 2016 anhängig war.
69. Meines Erachtens liefe es abgesehen von der Gefahr der Erosion der nach Art. 7 und 24 der Charta garantierten Rechte(29) auch Art. 47 der Charta und dem Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf zuwider, wenn der Umstand, dass ein Antragsteller auf internationalen Schutz gezwungen war, die nach Art. 46 der Richtlinie 2013/32 vorgesehenen Rechtsbehelfe einzulegen, zu einer Situation führen könnte, in der Familienangehörige ihr Recht auf Aufrechterhaltung des Familienverbands und alle damit zusammenhängenden Rechte u. a. nach der Richtlinie 2011/95 infolge des Zeitverlusts einbüßten, der mit einem Rechtsstreit unweigerlich einhergeht und der außerhalb der Kontrolle des Antragstellers gelegen zu haben scheinen. Eine solche Situation könnte das Vertrauen in gerichtliche Rechtsbehelfe, die sonst zur Verfügung stehen könnten, auf unangemessene Weise erheblich erschüttern und von ihnen abschrecken(30).
70. Insoweit bin ich der Auffassung, dass der von der deutschen und der ungarischen Regierung(31) angeführte Umstand, dass Art. 46 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 eine umfassende Ex-nunc-Prüfung der Tatsachen und Rechtsfragen durch ein Gericht eines Mitgliedstaats erfordert, das in erster Instanz mit einem Rechtsbehelf gegen eine Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz befasst ist, u. a. nicht für die Entscheidung darüber maßgeblich ist, auf welchen Zeitpunkt für die Beurteilung dessen abzustellen ist, ob eine Person mit Anspruch auf Schutz (hier der Sohn von SE) „minderjährig“ im Sinne des Art. 2 Buchst. j dritter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 ist. Der Zweck von Art. 46 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 besteht darin, sicherzustellen, dass die Entscheidung des zuständigen Gerichts über den internationalen Schutz auf der aktuellen Sach- und Rechtslage beruht(32). Diese Vorschrift ist für das Recht der Familienangehörigen, gemäß Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 die in Art. 24 bis 35 dieser Richtlinie genannten Vorteile zu begehren, oder auch für den Zeitpunkt, anhand dessen diese Rechte abgeleitet werden, ohne Belang.
71. Was den in Frage 1c angedeuteten möglichen Zeitpunkt angeht, nämlich den Zeitpunkt, in dem SE in die Bundesrepublik Deutschland eingereist ist, so verlangt Art. 2 Buchst. j der Richtlinie 2011/95 eindeutig, dass sich die betreffenden Familienangehörigen „im Zusammenhang mit dem Antrag auf internationalen Schutz in demselben Mitgliedstaat aufhalten“(33). Zur Anwendung dieser Bestimmung muss SE somit in die Bundesrepublik Deutschland eingereist sein, bevor sein Sohn volljährig geworden ist, und muss der Sohn von SE internationalen Schutz beantragt haben, als er noch minderjährig war, da SE insoweit Rechte abzuleiten sucht.
72. Während der Aufenthalt in dem betreffenden Mitgliedstaat und ein Antrag des betreffenden „Minderjährigen“ auf internationalen Schutz notwendige Voraussetzungen darstellen, reichen sie als solche nicht aus, um einen Anspruch auf die in Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 genannten Leistungen zu vermitteln. Die Familienangehörigen der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, die nicht selbst die Voraussetzungen für die Gewährung dieses Schutzes erfüllen, müssen gemäß Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 den „Anspruch auf die in den Artikeln 24 bis 35 genannten Leistungen…“ tatsächlich geltend machen(34). Meines Erachtens ist es diese Geltendmachung des Anspruchs, die zur Prüfung des Anspruchs auf die betreffenden Leistungen führt und somit den maßgeblichen Zeitpunkt für die Beurteilung der Minderjährigeneigenschaft der in Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 genannten Person markiert, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist.
73. Daher bin ich der Auffassung, dass der fragliche Vater, um auf der Grundlage, dass er ein „Familienangehöriger“ einer „minderjährigen“ Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, in den Genuss der in Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 genannten Rechte zu gelangen, tatsächlich diese Rechte geltend machen oder Anspruch auf sie erheben muss, während die Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, noch minderjährig ist. In einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens ist somit der maßgebliche Zeitpunkt für die Beurteilung der Minderjährigeneigenschaft gemäß Art. 2 Buchst. j dritter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 grundsätzlich derjenige Zeitpunkt, in dem der Asylantragsteller (SE) seinen Asylantrag gestellt hat (Frage 1b – 2016). In Anbetracht des klaren Wortlauts von Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 bin ich daher nicht der Auffassung, dass der Zeitpunkt, in dem die Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist (der Sohn von SE), ihren Asylantrag gestellt hat(35), an sich für die Beurteilung der Minderjährigeneigenschaft gemäß Art. 2 Buchst. j dritter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 (Frage 1d – 2012) maßgeblich ist.
74. Der maßgebliche Zeitpunkt für die Beurteilung der Minderjährigeneigenschaft des Sohnes von SE gemäß Art. 2 Buchst. j dritter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 ist somit der Zeitpunkt, in dem SE Asyl beantragt hat (Frage 1b – 2016), sofern der fragliche Sohn internationalen Schutz beantragt hat, bevor er volljährig wurde, und sofern beide in Rede stehenden Familienangehörigen sich auch in demselben Mitgliedstaat aufhielten, bevor der Sohn von SE volljährig wurde.
75. Da ich der Auffassung bin, dass der Zeitpunkt entscheidend ist, in dem SE seinen Asylantrag gestellt hat, kommt folglich auch der zweiten Frage des vorlegenden Gerichts eine gewisse Bedeutung zu. Diese Frage geht dahin, ob der maßgebende Zeitpunkt derjenige ist, in dem um Asylantrag nachgesucht worden ist, oder der Zeitpunkt, in dem der Asylantrag förmlich gestellt worden ist(36).
76. Diese Frage erfordert eine Auslegung von Art. 6 der Richtlinie 2013/32. Meines Erachtens ist die Antwort auf die Frage des vorlegenden Gerichts in den Rn. 92 bis 94 des Urteils vom 25. Juni 2020, Ministerio Fiscal (Behörde, bei der ein Antrag auf internationalen Schutz wahrscheinlich gestellt wird) (C‑36/20 PPU, EU:C:2020:495), zu finden, in dem im Wesentlichen festgestellt wird, dass ein Drittstaatsangehöriger in Einklang mit Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 die Eigenschaft eines Antragstellers auf internationalen Schutz im Sinne von Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2013/32 ab dem Zeitpunkt erwirbt, zu dem er einen solchen Antrag „stellt“. Die Handlung, einen Antrag auf internationalen Schutz zu „stellen“, erfordert keine Verwaltungsformalitäten, da besagte Formalitäten bei der „förmlichen Stellung“ des Antrags zu beachten sind. Somit kann die Erlangung der Eigenschaft als Person, die internationalen Schutz beantragt, weder von der Registrierung noch von der förmlichen Stellung des Antrags abhängig gemacht werden, und der Umstand, dass ein Drittstaatsangehöriger bei einer „anderen Behörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2013/32 seine Absicht bekundet hat, internationalen Schutz zu beantragen, reicht aus, um ihm die Eigenschaft als Antragsteller auf internationalen Schutz zu verleihen. Die Stellung eines solchen Antrags reicht demnach aus, um die Frist von sechs Arbeitstagen auszulösen, innerhalb deren der betreffende Mitgliedstaat diesen Antrag registrieren muss.
77. Daher hat es, vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht, den Anschein, dass der maßgebliche Zeitpunkt in Hinblick auf den Asylantrag von SE im Februar 2016 liegt und nicht der Zeitpunkt seines förmlichen Antrags auf internationalen Schutz vom 21. April 2016 zugrunde zu legen ist. Da der Asylantrag von SE somit gestellt wurde, als sein Sohn noch minderjährig war, ergibt sich wiederum, dass SE ein Familienangehöriger im Sinne des Art. 2 Buchst. j dritter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 war.
78. In Beantwortung der ersten und der zweiten Frage des vorlegenden Gerichts bin ich daher der Auffassung, dass unter den Umständen eines Falles wie dem des Ausgangsverfahrens der maßgebliche Zeitpunkt für die Beurteilung der Minderjährigeneigenschaft einer Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, gemäß Art. 2 Buchst. j dritter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 derjenige Zeitpunkt ist, in dem ihr Vater einen Antrag auf internationalen Schutz gemäß Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 stellt, sofern die Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, diesen Schutz beantragt hat, bevor sie volljährig wird, und sofern sich beide betreffenden Familienangehörigen in demselben Mitgliedstaat aufhalten, bevor die Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, volljährig wird.
B. Dritte Vorlagefrage
79. Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 2 Buchst. j dritter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 in Verbindung mit Art. 23 Abs. 1 dieser Richtlinie von den in Rede stehenden „Familienangehörigen“ die Wiederaufnahme des Familienlebens im Sinne des Art. 7 der Charta verlangt oder ob der bloße gleichzeitige Aufenthalt des Schutzberechtigten und seines Familienangehörigen in dem betreffenden Mitgliedstaat für die Begründung der Eigenschaft als Familienangehöriger ausreicht(37).
80. Art. 2 Buchst. j dritter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 macht den Begriff des „Familienangehörigen“ in Bezug auf den Vater einer Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist(38), nur von drei Voraussetzungen abhängig, nämlich dass die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat(39), dass sich die Familienangehörigen des Schutzberechtigten im Zusammenhang mit dem Antrag auf internationalen Schutz in demselben Mitgliedstaat aufhalten und dass die Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, ein nicht verheirateter Minderjähriger ist.
81. Diese Bestimmung und insbesondere das Erfordernis des Aufenthalts in demselben Mitgliedstaat verlangt nicht die Wiederaufnahme des Familienlebens im Sinne des Art. 7 der Charta zwischen den betreffenden Familienangehörigen. Art. 7 der Charta verlangt, dass das Familienleben geachtet wird. Er erlegt den Familienangehörigen indessen keine bestimmten Anforderungen im Hinblick auf die Intensität ihrer Familienbeziehung auf.
82. Art. 23 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 sieht vor, dass die Mitgliedstaaten dafür Sorge tragen, dass der Familienverband aufrechterhalten werden kann. In dieser Hinsicht erlegt Art. 23 Abs. 2 dieser Richtlinie den Mitgliedstaaten konkrete Verpflichtungen auf, denen klar definierte individuelle und subjektive Rechte entsprechen. Diese Bestimmung verpflichtet die Mitgliedstaaten, dafür Sorge zu tragen, dass „Familienangehörige“ im Sinne der Definition des Art. 2 Buchst. j der Richtlinie 2011/95 Anspruch auf die in Art. 24 bis 35 dieser Richtlinie genannten Leistungen haben. Diese Leistungen sind den Familienangehörigen grundsätzlich zu gewähren(40). Insoweit wird den Mitgliedstaaten kein Wertungsspielraum eingeräumt(41).
83. Wie die Kommission in ihren Erklärungen zu Recht angeführt hat, könnte die Wiederaufnahme familiärer Beziehungen tatsächlich nicht nur von den Wünschen der betreffenden Familienangehörigen, sondern vielmehr auch von Bedingungen abhängen, die sich deren Kontrolle entziehen, wie etwa dem Ort ihrer Unterbringung. Noch wichtiger ist vielleicht, dass es angesichts dessen, dass die Richtlinie 2011/95 insoweit keinerlei Kriterien aufgestellt hat, nicht klar ist, wie die Wiederaufnahme familiärer Beziehungen von der zuständigen nationalen Behörde auf eine angemessene, objektive und verhältnismäßige Weise überprüft und beurteilt werden könnte.
84. Erklärt jedoch ein nicht verheirateter Minderjähriger, wenn er volljährig wird, ausdrücklich schriftlich, dass er es nicht wünscht, den Familienverband aufrechtzuerhalten, kann der Zweck des Art. 23 der Richtlinie 2011/95 nicht erreicht werden und sind die zuständigen nationalen Behörden nicht verpflichtet, Familienangehörigen die entsprechenden Leistungen nach Art. 24 bis 35 dieser Richtlinie zu gewähren.
85. Obwohl der Sohn von SE am 20. April 2016 18 Jahre alt und volljährig geworden ist, enthält die dem Gerichtshof vorliegende Akte, vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht, keinen Anhaltspunkt dafür, dass er zu irgendeinem Zeitpunkt der Aufrechterhaltung des Familienverbands oder der Zusammenführung mit seinem Vater widersprochen hätte.
C. Vierte Vorlagefrage
86. Mit seiner vierten Frage ersucht das vorlegende Gericht um Klarstellung, ob die Eigenschaft eines Asylantragstellers als Familienangehöriger (SE) im Sinne von Art. 2 Buchst. j dritter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 dann endet, wenn der Schutzberechtigte (der Sohn von SE) volljährig wird oder heiratet. Das vorlegende Gericht möchte für den Fall, dass die Eigenschaft des Vaters des Schutzberechtigten als Familienangehöriger im Sinne des Art. 2 Buchst. j dritter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95/EU grundsätzlich über den Zeitpunkt hinaus fortbesteht, in dem das Kind volljährig wird, außerdem wissen, ob diese Eigenschaft – über Konstellationen hinaus, in denen der Aufenthalt des Vaters im Aufnahmemitgliedstaat oder die Schutzberechtigung des Kindes ein Ende findet – zu einem bestimmten Zeitpunkt oder bei Eintritt eines bestimmen Ereignisses endet(42).
87. Ich bin der Auffassung, dass die Rechte der Familienangehörigen gemäß Art. 2 Buchst. j dritter Gedankenstrich und Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 nicht unbefristet fortbestehen.
88. Meines Erachtens besteht der Anspruch der Familienangehörigen gemäß Art. 2 Buchst. j dritter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 auf die in Art. 24 bis 35 dieser Richtlinie genannten Leistungen nach Eintritt der Volljährigkeit der Person, der subsidiärer Schutz zuerkannt worden ist, für die Dauer der Gültigkeit des ihnen gemäß Art. 24 Abs. 2 dieser Richtlinie ausgestellten Aufenthaltstitels fort.
89. Insoweit sieht Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 vor, dass „die Mitgliedstaaten Personen, denen der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt worden ist, und ihren Familienangehörigen einen verlängerbaren Aufenthaltstitel aus[stellen], der mindestens ein Jahr und im Fall der Verlängerung mindestens zwei Jahre gültig sein muss, es sei denn, dass zwingende Gründe der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung dem entgegenstehen“(43).
VII. Ergebnis
90. In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen schlage dem Gerichtshof vor, wie folgt auf die Fragen des Bundesverwaltungsgerichts (Deutschland) zu antworten:
Unter den Umständen eines Falles wie dem des Ausgangsverfahrens ist der maßgebliche Zeitpunkt für die Beurteilung der Minderjährigeneigenschaft einer Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, gemäß Art. 2 Buchst. j dritter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes derjenige Zeitpunkt, in dem ihr Vater einen Antrag auf internationalen Schutz gemäß Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes stellt, sofern die Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, diesen Schutz beantragt hat, bevor sie volljährig wurde, und sofern sich beide betreffenden Familienangehörigen in demselben Mitgliedstaat aufhalten, bevor die Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, volljährig wird.
Gemäß Art. 2 Buchst. j dritter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 hängt der Begriff „Familienangehörige“ in Hinblick auf den Vater einer Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, nur von drei Voraussetzungen ab, nämlich dass die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat, dass sich die Familienangehörigen der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, im Zusammenhang mit dem Antrag auf internationalen Schutz in demselben Mitgliedstaat aufhalten und dass die Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, ein nicht verheirateter Minderjähriger ist. Art. 2 Buchst. j dritter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 verlangt nicht die Wiederaufnahme des Familienlebens im Sinne des Art. 7 der Charta zwischen den betreffenden Familienangehörigen. Erklärt ein nicht verheirateter Minderjähriger gemäß Art. 2 Buchst. j dritter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95, wenn er volljährig wird, ausdrücklich schriftlich, dass er es nicht wünscht, den Familienverband aufrechtzuerhalten, kann der Zweck des Art. 23 der Richtlinie 2011/95 nicht erreicht werden und sind die zuständigen nationalen Behörden nicht verpflichtet, Familienangehörigen die entsprechenden Leistungen nach Art. 24 bis 35 dieser Richtlinie zu gewähren.
Die Rechte der Familienangehörigen gemäß Art. 2 Buchst. j dritter Gedankenstrich und Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 bestehen nicht unbefristet fort. Der Anspruch der Familienangehörigen gemäß Art. 2 Buchst. j dritter Gedankenstrich und Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 auf die in Art. 24 bis 35 dieser Richtlinie genannten Leistungen besteht nach Erreichen der Volljährigkeit der Person, der subsidiärer Schutz zuerkannt worden ist, für die Dauer der Gültigkeit des ihnen gemäß Art. 24 Abs. 2 dieser Richtlinie ausgestellten Aufenthaltstitels fort.