Language of document : ECLI:EU:C:2023:311

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Neunte Kammer)

20. April 2023(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen – Richtlinie 93/13/EWG – Art. 3 bis 6 – Kriterien für die Beurteilung der Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel – Transparenzerfordernis – Gruppenversicherungsvertrag – Dauernde Erwerbsunfähigkeit des Verbrauchers – Informationspflicht – Unterlassene Mitteilung einer Klausel über die Beschränkung oder den Ausschluss des Versicherungsschutzes“

In der Rechtssache C‑263/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Supremo Tribunal de Justiça (Oberster Gerichtshof, Portugal) mit Entscheidung vom 8. April 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 20. April 2022, in dem Verfahren

Ocidental – Companhia Portuguesa de Seguros de Vida SA

gegen

LP,

Beteiligte:

Banco Comercial Português SA,

Banco de Investimento Imobiliário SA,


erlässt

DER GERICHTSHOF (Neunte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin L. S. Rossi, des Richters S. Rodin und der Richterin O. Spineanu-Matei (Berichterstatterin),

Generalanwalt: P. Pikamäe,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von LP, vertreten durch E. Abreu, Advogada,

–        der portugiesischen Regierung, vertreten durch P. Barros da Costa, L. Medeiros, A. Pimenta und A. Rodrigues als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch I. Melo Sampaio, I. Rubene und N. Ruiz García als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 Abs. 1 und 3, Art. 4 Abs. 2 und Art. 5 der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen (ABl. 1993, L 95, S. 29).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Ocidental – Companhia Portuguesa de Seguros de Vida SA (im Folgenden: Ocidental), einer Versicherungsgesellschaft mit Sitz in Portugal, und LP, einer Verbraucherin, wegen der Weigerung von Ocidental, nach dem Eintritt der dauernden Erwerbsunfähigkeit von LP als versicherter Person die Raten eines Darlehensvertrags zu zahlen, und zwar mit der Begründung, dass der zwischen Ocidental und LP bestehende Versicherungsvertrag nichtig bzw. unanwendbar sei.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        In den Erwägungsgründen 16 und 20 der Richtlinie 93/13 heißt es:

„… Bei der Beurteilung von Treu und Glauben ist besonders zu berücksichtigen, welches Kräfteverhältnis zwischen den Verhandlungspositionen der Parteien bestand, ob auf den Verbraucher in irgendeiner Weise eingewirkt wurde, seine Zustimmung zu der Klausel zu geben, und ob die Güter oder Dienstleistungen auf eine Sonderbestellung des Verbrauchers hin verkauft bzw. erbracht wurden. Dem Gebot von Treu und Glauben kann durch den Gewerbetreibenden Genüge getan werden, indem er sich gegenüber der anderen Partei, deren berechtigten Interessen er Rechnung tragen muss, loyal und billig verhält.

Die Verträge müssen in klarer und verständlicher Sprache abgefasst sein. Der Verbraucher muss tatsächlich die Möglichkeit haben, von allen Vertragsklauseln Kenntnis zu nehmen. Im Zweifelsfall ist die für den Verbraucher günstigste Auslegung anzuwenden.“

4        Art. 3 dieser Richtlinie sieht vor:

„(1)      Eine Vertragsklausel, die nicht im Einzelnen ausgehandelt wurde, ist als missbräuchlich anzusehen, wenn sie entgegen dem Gebot von Treu und Glauben zum Nachteil des Verbrauchers ein erhebliches und ungerechtfertigtes Missverhältnis der vertraglichen Rechte und Pflichten der Vertragspartner verursacht.

(3)      Der Anhang enthält eine als Hinweis dienende und nicht erschöpfende Liste der Klauseln, die für missbräuchlich erklärt werden können.“

5        Art. 4 dieser Richtlinie lautet:

„(1)      Die Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel wird unbeschadet des Artikels 7 unter Berücksichtigung der Art der Güter oder Dienstleistungen, die Gegenstand des Vertrages sind, aller den Vertragsabschluss begleitenden Umstände sowie aller anderen Klauseln desselben Vertrages oder eines anderen Vertrages, von dem die Klausel abhängt, zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses beurteilt.

(2)      Die Beurteilung der Missbräuchlichkeit der Klauseln betrifft weder den Hauptgegenstand des Vertrages noch die Angemessenheit zwischen dem Preis bzw. dem Entgelt und den Dienstleistungen bzw. den Gütern, die die Gegenleistung darstellen, sofern diese Klauseln klar und verständlich abgefasst sind.“

6        In Art. 5 der Richtlinie heißt es:

„Sind alle dem Verbraucher in Verträgen unterbreiteten Klauseln oder einige dieser Klauseln schriftlich niedergelegt, so müssen sie stets klar und verständlich abgefasst sein. Bei Zweifeln über die Bedeutung einer Klausel gilt die für den Verbraucher günstigste Auslegung. Diese Auslegungsregel gilt nicht im Rahmen der in Artikel 7 Absatz 2 vorgesehenen Verfahren.“

7        Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass missbräuchliche Klauseln in Verträgen, die ein Gewerbetreibender mit einem Verbraucher geschlossen hat, für den Verbraucher unverbindlich sind, und legen die Bedingungen hierfür in ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften fest; sie sehen ferner vor, dass der Vertrag für beide Parteien auf derselben Grundlage bindend bleibt, wenn er ohne die missbräuchlichen Klauseln bestehen kann.“

8        Im Anhang („Klauseln gemäß Artikel 3 Absatz 3“) dieser Richtlinie heißt es:

„1.      Klauseln, die darauf abzielen oder zur Folge haben, dass

i)      die Zustimmung des Verbrauchers zu Klauseln unwiderlegbar festgestellt wird, von denen er vor Vertragsabschluss nicht tatsächlich Kenntnis nehmen konnte;

…“

 Portugiesisches Recht

 Gesetzesdekret Nr. 176/95

9        Art. 4 („Gruppenversicherung“) des Decreto-Lei n° 176/95 (Estabelece regras de transparência para a actividade seguradora e disposições relativas ao regime jurídico do contrato de seguro) (Gesetzesdekret Nr. 176/95 zur Festlegung von Transparenzregeln für die Versicherungstätigkeit und von Vorschriften über den Versicherungsvertrag) vom 26. Juli 1995 (Diário da República I, Serie I‑A, Nr. 171 vom 26. Juli 1995, S. 4740) bestimmt:

„1.      Bei Gruppenversicherungen ist der Versicherungsnehmer verpflichtet, die Versicherten nach einem von der Versicherungsgesellschaft erstellten Muster über die vereinbarte Deckung und die vereinbarten Ausschlüsse, die Pflichten und Rechte im Schadensfall sowie in diesem Bereich später eintretende Änderungen zu informieren.

2.      Die Beweislast für die Mitteilung der in Abs. 1 genannten Informationen obliegt dem Versicherungsnehmer.

3.      Bei beitragsbezogenen Gruppenversicherungen muss der Versicherungsnehmer, wenn er seiner Verpflichtung aus Abs. 1 nicht nachkommt, auf seine Kosten den Teil des Beitrags übernehmen, der auf den Versicherten entfällt, ohne dass dieser bis zum Nachweis über die Erfüllung dieser Verpflichtung seinen Versicherungsschutz verliert.

4.      Der Vertrag kann vorsehen, dass die Versicherungsgesellschaft die Verpflichtung gemäß Abs. 1 übernimmt, die Versicherten zu informieren.

5.      Bei Gruppenversicherungen muss die Versicherungsgesellschaft den Versicherten auf deren Anfrage hin alle für das richtige Verständnis des Vertrags erforderlichen Informationen zur Verfügung stellen.“

 Gesetzesdekret Nr. 446/85

10      Art. 5 („Mitteilung“) des Decreto-Lei n° 446/85 (Institui o regime jurídico das cláusulas contratuais gerais) (Gesetzesdekret Nr. 446/85 zur Einführung der rechtlichen Regelung allgemeiner Vertragsklauseln) vom 25. Oktober 1985 (Diário da República I, Serie I‑A, Nr. 246 vom 25. Oktober 1985, S. 3533) sieht vor:

„1.      Die allgemeinen Vertragsbedingungen sind in vollem Umfang den beitretenden Personen mitzuteilen, die sie lediglich unterzeichnen oder annehmen.

2.      Diese Mitteilung erfolgt in geeigneter Weise und so rechtzeitig, dass jede Person bei normaler Sorgfalt unter Berücksichtigung der Bedeutung des Vertrags sowie des Umfangs und der Komplexität der Klauseln tatsächlich und vollständig von ihnen Kenntnis nehmen kann.

3.      Die Vertragspartei, die der anderen Partei ihre allgemeinen Vertragsbedingungen vorlegt, hat nachzuweisen, dass sie diese in geeigneter Weise und tatsächlich mitgeteilt hat.“

11      Art. 8 dieses Gesetzesdekrets bestimmt:

„Als von Einzelverträgen ausgeschlossen gelten:

a)      Klauseln, die nicht gemäß Art. 5 mitgeteilt wurden;

…“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

12      LP und ihr Ehemann schlossen einen Darlehensvertrag mit der Banco de Investimento Imobiliário SA (im Folgenden: Bank). In diesem Zusammenhang traten sie einem Gruppenversicherungsvertrag (im Folgenden: Versicherungsvertrag) bei, der zwischen dieser Bank als Versicherungsnehmerin und Ocidental, einer Versicherungsgesellschaft, geschlossen worden war. Nach diesem Vertrag ist Ocidental verpflichtet, im Fall der dauernden Erwerbsunfähigkeit von LP die im Rahmen des Darlehensvertrags fälligen Raten zu zahlen.

13      Während der Durchführung des Darlehensvertrags trat bei LP eine dauernde Erwerbsunfähigkeit ein. Ocidental verweigerte jedoch die Erfüllung des Versicherungsvertrags mit der Begründung, dass dieser wegen unrichtiger und/oder unvollständiger Angaben über den Gesundheitszustand von LP zum Zeitpunkt des Abschlusses des Versicherungsvertrags nichtig sei. Zudem bestehe nach diesem Vertrag kein Versicherungsschutz für das Risiko der dauernden Erwerbsunfähigkeit der versicherten Person aufgrund von Krankheiten, die bereits bei Vertragsschluss vorgelegen hätten.

14      LP erhob Klage und beantragte im Wesentlichen, Ocidental zu verurteilen, den nach Feststellung ihrer dauernden Erwerbsunfähigkeit noch ausstehenden Darlehensbetrag an die Bank zu zahlen und ihr die Darlehensraten zu erstatten, die sie und ihr Ehemann seit diesem Zeitpunkt selbst an die Bank hatten zahlen müssen. Nach den Angaben im Vorabentscheidungsersuchen machte LP zur Stützung ihrer Klage geltend, dass der im Angebot des Beitritts zum Versicherungsvertrag enthaltene Fragebogen zu medizinischen Daten von dem Bankmitarbeiter ausgefüllt worden sei, der ihr den Vertrag zur Unterschrift vorgelegt habe. Sie selbst habe keinen Fragebogen zu ihrem Gesundheitszustand ausgefüllt, sondern das Beitrittsangebot nur unterschrieben. Ihr sei auch keinerlei Klausel über einen Ausschluss des Versicherungsschutzes vorgelesen oder erläutert worden. Daher seien die fraglichen Ausschlussklauseln als inexistent und rechtlich unwirksam anzusehen.

15      Die Bank wurde in diesem Verfahren als Streithelferin zur Unterstützung der Anträge von LP zugelassen.

16      Das erstinstanzliche Gericht hielt den Versicherungsvertrag wegen unrichtiger oder unvollständiger Angaben von LP für nichtig und wies deren Klage ab.

17      Das Tribunal da Relação do Porto (Berufungsgericht Porto, Portugal) gab der Berufung von LP gegen diese ablehnende Entscheidung teilweise statt. In Anwendung des Gesetzesdekrets Nr. 446/85, jedoch ohne Prüfung des Falles anhand der speziellen Gruppenversicherungsvorschriften im Gesetzesdekret Nr. 176/95, gelangte das Gericht im Wesentlichen zu der Auffassung, dass der Versicherungsvertrag gültig sei, die Klauseln über den Ausschluss des Versicherungsschutzes aber als inexistent anzusehen seien, da sie LP nicht mitgeteilt worden seien.

18      Gegen diese Entscheidung legte Ocidental beim Supremo Tribunal de Justiça (Oberster Gerichtshof, Portugal), dem vorlegenden Gericht, Revision ein.

19      Dieses Gericht führt aus, die zentrale Frage im Ausgangsverfahren sei, ob eine Versicherungsgesellschaft unter Umständen wie den hier in Rede stehenden verpflichtet sei, der Partei, die einem Versicherungsvertrag beitrete, die Klauseln dieses Vertrags mitzuteilen, einschließlich der Klauseln betreffend dessen Unwirksamkeit und der Klauseln über den Ausschluss oder die Beschränkung des Versicherungsschutzes. Falls eine solche Mitteilungspflicht dem Versicherungsnehmer obliege, müsse außerdem geklärt werden, ob eine Verletzung dieser Pflicht durch den Versicherungsnehmer (hier: die Bank) der Versicherungsgesellschaft entgegengehalten werden könne.

20      Die portugiesische Rechtsprechung sei insoweit nicht einheitlich. Nach einer der vertretenen Auffassungen handele es sich bei der durch das Gesetzesdekret Nr. 176/95 eingeführten gesetzlichen Regelung von Gruppenversicherungen um eine Sonderregelung, die die Anwendung der im Gesetzesdekret Nr. 446/85 vorgesehenen allgemeinen Regelung über nicht individuell ausgehandelte Klauseln ausschließe. Daraus folge, dass der Versicherer nicht den Informations- und Mitteilungspflichten in Bezug auf die allgemeinen Vertragsbedingungen eines Gruppenversicherungsvertrags unterliege – die nach Art. 4 des Gesetzesdekrets Nr. 176/95 vielmehr den Versicherungsnehmer träfen –, so dass die versicherte Person eine Verletzung dieser Pflichten nicht dem Versicherer entgegenhalten könne.

21      Nach einer anderen in der Rechtsprechung vertretenen Auffassung schließe diese Sonderregelung die Anwendung der im Gesetzesdekret Nr. 446/85 vorgesehenen allgemeinen Regelung nicht aus. Dieses Gesetzesdekret bestimme, dass die allgemeinen Vertragsbedingungen den beitretenden Personen mitzuteilen seien und keine Anwendung fänden, wenn diese Pflicht verletzt werde. Daher sei davon auszugehen, dass der Versicherer den fraglichen Informations- und Mitteilungspflichten unterliege oder ihm die Verletzung dieser Pflichten durch den Versicherungsnehmer jedenfalls entgegengehalten werden könne.

22      Unter Verweis auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs führt das vorlegende Gericht aus, es sei zweifelhaft, ob sich mit der ersten, in Rn. 20 des vorliegenden Urteils dargelegten Auffassung die praktische Wirksamkeit erzielen lasse, die ein nationales Gericht – insbesondere im Hinblick auf seine Verpflichtung, die Transparenz und die Missbräuchlichkeit von Vertragsklauseln zu beurteilen – dem durch die Richtlinie 93/13 gewährten Verbraucherschutz verschaffen müsse.

23      Unter diesen Umständen hat das Supremo Tribunal de Justiça (Oberster Gerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Art. 5 der Richtlinie 93/13, wonach „[die] dem Verbraucher … unterbreiteten Klauseln … stets klar und verständlich abgefasst sein [müssen]“, im Licht des 20. Erwägungsgrundes dieser Richtlinie dahin auszulegen, dass der Verbraucher stets die Möglichkeit haben muss, von allen Klauseln Kenntnis zu nehmen?

2.      Ist Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 93/13, der als Voraussetzung für den Ausschluss der Kontrolle von Klauseln, die sich auf den Hauptgegenstand des Vertrags beziehen, vorsieht, dass „diese Klauseln klar und verständlich abgefasst sind“, dahin auszulegen, dass der Verbraucher stets die Möglichkeit haben muss, von diesen Klauseln Kenntnis zu nehmen?

3.      Steht im Rahmen einer nationalen Regelung, die die gerichtliche Kontrolle der Missbräuchlichkeit nicht individuell ausgehandelter Klauseln, die sich auf die Definition des Hauptgegenstands des Vertrags beziehen, zulässt, i) Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 in Verbindung mit Nr. 1 Buchst. i der in Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie genannten als Hinweis dienenden Liste dem entgegen, dass die Versicherungsgesellschaft dem Versicherten im Rahmen eines Vertrags über eine beitragsbezogene Gruppenversicherung eine Klausel über den Ausschluss oder die Beschränkung des versicherten Risikos, die ihm nicht mitgeteilt wurde und von der er daher nicht die Möglichkeit hatte, Kenntnis zu nehmen, entgegenhalten kann, ii) und zwar auch dann, wenn die nationale Regelung dem Versicherungsnehmer gleichzeitig bei Nichterfüllung der Pflicht zur Mitteilung und Information über die Klauseln die Haftung für den Ersatz des der versicherten Person entstandenen Schadens zuweist, was die versicherte Person jedoch in der Regel nicht in die Lage versetzt, in der sie sich befunden hätte, wenn der Versicherungsschutz bestanden hätte?

 Zu den Vorlagefragen

 Zur ersten und zur zweiten Frage

24      Mit seinen ersten beiden Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 4 Abs. 2 und Art. 5 der Richtlinie 93/13 im Licht des 20. Erwägungsgrundes dieser Richtlinie dahin auszulegen sind, dass ein Verbraucher stets die Möglichkeit haben muss, vor Abschluss eines Vertrags von den Klauseln, die den Hauptgegenstand dieses Vertrags betreffen, oder sogar von allen Klauseln dieses Vertrags Kenntnis zu nehmen.

25      Nach Art. 5 Satz 1 dieser Richtlinie müssen Klauseln in schriftlich geschlossenen Verbraucherverträgen stets klar und verständlich abgefasst sein. Der Gerichtshof hat bereits klargestellt, dass dieses Erfordernis dieselbe Tragweite hat wie das Erfordernis nach Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie, wonach die in letzterer Bestimmung vorgesehene Ausnahme – die dahin geht, dass ein nationales Gericht die Missbräuchlichkeit solcher Klauseln insbesondere dann nicht kontrolliert, wenn die Klauseln den Hauptgegenstand des Vertrags betreffen – davon abhängt, dass die betreffenden Klauseln klar und verständlich abgefasst sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 30. April 2014, Kásler und Káslerné Rábai, C‑26/13, EU:C:2014:282, Rn. 69, sowie vom 3. März 2020, Gómez del Moral Guasch, C‑125/18, EU:C:2020:138, Rn. 46).

26      Der Gerichtshof hat ferner klargestellt, dass das durch diese Vorschriften aufgestellte Erfordernis der Transparenz von Vertragsklauseln umfassend zu verstehen ist und nicht auf die bloße Verständlichkeit der Klauseln in formeller und grammatikalischer Hinsicht beschränkt werden kann. Erforderlich ist danach, dass ein normal informierter, angemessen aufmerksamer und verständiger Durchschnittsverbraucher in die Lage versetzt wird, die konkrete Funktionsweise einer solchen Klausel zu verstehen und somit auf der Grundlage genauer und nachvollziehbarer Kriterien die möglicherweise beträchtlichen wirtschaftlichen Folgen der betreffenden Klausel für seine Verpflichtungen einzuschätzen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 10. Juni 2021, BNP Paribas Personal Finance, C‑609/19, EU:C:2021:469, Rn. 42 und 43, sowie vom 10. Juni 2021, BNP Paribas Personal Finance, C‑776/19 bis C‑782/19, EU:C:2021:470, Rn. 63 und 64 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

27      Was die Frage anbelangt, wann dem Verbraucher entsprechende Informationen zu erteilen sind, hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass es für den Verbraucher von grundlegender Bedeutung ist, dass er vor Abschluss des Vertrags über die Vertragsbedingungen und die Folgen des Vertragsschlusses informiert wird, da er namentlich auf der Grundlage dieser Information entscheidet, ob er durch die vom Gewerbetreibenden vorformulierten Bedingungen gebunden sein möchte (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. Dezember 2016, Gutiérrez Naranjo u. a., C‑154/15, C‑307/15 und C‑308/15, EU:C:2016:980, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 12. Januar 2023, D. V. [Rechtsanwaltsvergütung – Abrechnung nach dem Zeitaufwand], C‑395/21, EU:C:2023:14, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).

28      So hat der Gerichtshof in einem Fall, in dem ein Verbraucher, wie hier im Ausgangsverfahren, im Zuge des Abschlusses eines Darlehensvertrags einem Gruppenversicherungsvertrag beigetreten war, festgestellt, dass es im Hinblick auf das Erfordernis der Transparenz von Vertragsklauseln von wesentlicher Bedeutung ist, dass der Verbraucher vor dem Vertragsschluss über die Bedingungen der vertraglichen Bindung sowie insbesondere über die Besonderheiten des Mechanismus, nach dem die gegenüber dem Darlehensgeber bestehenden Zahlungsverpflichtungen im Fall der vollständigen Erwerbsunfähigkeit des Darlehensnehmers übernommen werden, informiert wird, damit er in der Lage ist, auf der Grundlage genauer und nachvollziehbarer Kriterien die sich für ihn daraus ergebenden wirtschaftlichen Folgen einzuschätzen. Diese Informationen sind erforderlich, damit der Verbraucher die Tragweite der betreffenden Klausel verstehen kann; von ihm kann nämlich beim Abschluss verbundener Verträge nicht die gleiche Wachsamkeit hinsichtlich des Umfangs der vom betreffenden Versicherungsvertrag abgedeckten Risiken verlangt werden wie bei einem getrennten Abschluss dieses Vertrags und des Darlehensvertrags (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. April 2015, Van Hove, C‑96/14, EU:C:2015:262, Rn. 41 und 48).

29      Da das Erfordernis der Transparenz von Vertragsklauseln in dieser Auslegung durch den Gerichtshof die Verpflichtung impliziert, dem Verbraucher vor Vertragsschluss sämtliche Informationen zu geben, die er benötigt, um die wirtschaftlichen Folgen der betreffenden Klauseln zu verstehen und in voller Kenntnis der Sachlage zu entscheiden, ob er sich vertraglich binden will, setzt es notwendigerweise voraus, dass der Verbraucher von allen Klauseln eines Vertrags Kenntnis nehmen kann, bevor er diesen abschließt.

30      Inwiefern diese Klauseln den Hauptgegenstand des Vertrags betreffen, ist insoweit unerheblich. Damit der Verbraucher im Einklang mit dem Ziel des Transparenzerfordernisses in Kenntnis der Sachlage entscheiden kann, ob er an die vom Gewerbetreibenden vorformulierten Bedingungen gebunden sein möchte, muss er nämlich, bevor er eine solche Entscheidung trifft, unbedingt von dem gesamten Vertrag Kenntnis nehmen können, da dessen Klauseln in ihrer Gesamtheit insbesondere dafür maßgeblich sind, welche Rechte und Pflichten dem Verbraucher aus dem Vertrag erwachsen. Der Gerichtshof hat im Übrigen bereits klargestellt, dass das Transparenzerfordernis auch dann gilt, wenn eine Klausel den Hauptgegenstand des Vertrags betrifft (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. März 2020, Gómez del Moral Guasch, C‑125/18, EU:C:2020:138, Rn. 46 und 47 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

31      Dieses Erfordernis der vorherigen Kenntnisnahme von sämtlichen Klauseln eines Vertrags wird überdies im 20. Erwägungsgrund der Richtlinie 93/13 klar hervorgehoben, wonach Verträge nicht nur in klarer und verständlicher Sprache abgefasst sein müssen, sondern der Verbraucher auch tatsächlich die Möglichkeit haben muss, von allen Vertragsklauseln Kenntnis zu nehmen. Der Unionsgesetzgeber hat somit unterstrichen, wie bedeutsam die vorherige Kenntnisnahme von allen Klauseln eines Vertrags ist, damit der Verbraucher in Kenntnis der Sachlage entscheiden kann, ob er an diese Klauseln gebunden sein möchte.

32      Soweit das vorlegende Gericht im Übrigen feststellt, dass die portugiesische Regelung über Gruppenversicherungen nach einer bestimmten in der Rechtsprechung vertretenen Auslegung eine lex specialis darstelle, die die Anwendung der allgemeinen Regelung über nicht im Einzelnen ausgehandelte Klauseln ausschließe, so ist darauf hinzuweisen, dass das in der Richtlinie 93/13 vorgesehene Erfordernis der Transparenz von Vertragsklauseln nicht mit der Begründung außer Acht gelassen werden kann, dass es eine spezielle rechtliche Regelung gebe, die auf eine bestimmte Art von Verträgen anwendbar sei. Nach ständiger Rechtsprechung definiert die Richtlinie 93/13 nämlich die Verträge, auf die sie anwendbar ist, unter Bezugnahme auf die Eigenschaft der Vertragspartner (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. März 2019, Pouvin und Dijoux, C‑590/17, EU:C:2019:232, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie Beschluss vom 10. Juni 2021, X Bank, C‑198/20, nicht veröffentlicht, EU:C:2021:481, Rn. 24).

33      Insoweit ist auch darauf hinzuweisen, dass der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung verlangt, dass die nationalen Gerichte unter Berücksichtigung des gesamten innerstaatlichen Rechts und unter Anwendung der dort anerkannten Auslegungsmethoden alles tun, was in ihrer Zuständigkeit liegt, um die volle Wirksamkeit der fraglichen Richtlinie zu gewährleisten und zu einem Ergebnis zu gelangen, das mit dem von der Richtlinie verfolgten Ziel im Einklang steht (Urteil vom 6. November 2018, Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, C‑684/16, EU:C:2018:874, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung).

34      Nach alledem ist auf die ersten beiden Fragen zu antworten, dass Art. 4 Abs. 2 und Art. 5 der Richtlinie 93/13 im Licht des 20. Erwägungsgrundes dieser Richtlinie dahin auszulegen sind, dass ein Verbraucher stets die Möglichkeit haben muss, vor Abschluss eines Vertrags von allen darin enthaltenen Klauseln Kenntnis zu nehmen.

 Zur dritten Frage

35      Nach ständiger Rechtsprechung ist es im Rahmen der durch Art. 267 AEUV begründeten Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof dessen Aufgabe, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat er die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren und in diesem Zusammenhang alle Bestimmungen des Unionsrechts auszulegen, die die nationalen Gerichte benötigen, um die bei ihnen anhängigen Rechtsstreitigkeiten zu entscheiden, auch wenn diese Bestimmungen in den dem Gerichtshof von ihnen vorgelegten Fragen nicht ausdrücklich genannt sind (vgl. u. a. Urteil vom 4. Oktober 2018, Kamenova, C‑105/17, EU:C:2018:808, Rn. 21 und die dort angeführte Rechtsprechung).

36      Insoweit ist erstens festzustellen, dass das vorlegende Gericht mit seiner dritten Frage wissen möchte, wie Art. 3 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 93/13 in Verbindung mit Nr. 1 Buchst. i ihres Anhangs auszulegen ist und welche Folgen diese Auslegung für die Frage hat, ob ein Versicherungsunternehmen einem Verbraucher im Rahmen eines Gruppenversicherungsvertrags eine den Versicherungsschutz ausschließende oder beschränkende Klausel entgegenhalten kann, von der der Verbraucher vor Abschluss dieses Vertrags nicht Kenntnis nehmen konnte. Auch wenn aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervorgeht, dass der Verbraucher im vorliegenden Fall vor Abschluss des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Versicherungsvertrags keine Kenntnis von den betreffenden Klauseln erlangen konnte, stellt das vorlegende Gericht nicht fest, dass dieser Vertrag eine Klausel enthält, die, wie es in Nr. 1 Buchst. i dieses Anhangs heißt, darauf abzielt oder zur Folge hat, dass „die Zustimmung des Verbrauchers zu Klauseln unwiderlegbar festgestellt wird, von denen er vor Vertragsabschluss nicht tatsächlich Kenntnis nehmen konnte“. Folglich ist es nicht erforderlich, die oben genannte Frage nach Maßgabe von Art. 3 Abs. 3 und dem Anhang der Richtlinie 93/13 zu prüfen.

37      Zweitens ist dem Vorabentscheidungsersuchen zu entnehmen, dass das vorlegende Gericht mit dieser Frage zum einen wissen möchte, welche Folgen es für die Beurteilung der Missbräuchlichkeit von den Hauptgegenstand eines Vertrags betreffenden Klauseln wie solchen über den Ausschluss oder die Beschränkung des Versicherungsschutzes hat, wenn vor Abschluss des Vertrags keine Kenntnis von diesen Klauseln erlangt wurde. Zum anderen möchte das Gericht wissen, ob solche Klauseln, wenn sie dem Verbraucher nicht vorab mitgeteilt wurden, diesem entgegengehalten werden können, obwohl er von ihnen nicht Kenntnis nehmen konnte, und ob der Umstand, dass der Versicherungsnehmer für die fehlende Kenntnisnahme verantwortlich gemacht werden könnte, einen Faktor darstellt, der bei dieser Beurteilung zu berücksichtigen ist.

38      Folglich ist davon auszugehen, dass es in der dritten Frage des vorlegenden Gerichts im Kern darum geht, ob Art. 3 Abs. 1 und die Art. 4 bis 6 der Richtlinie 93/13 dahin auszulegen sind, dass eine den Ausschluss oder die Beschränkung des Versicherungsschutzes betreffende Klausel eines Versicherungsvertrags, von der der Verbraucher vor Abschluss dieses Vertrags nicht Kenntnis nehmen konnte, ihm entgegengehalten werden kann, und zwar auch dann, wenn der Versicherungsnehmer für eine solche fehlende Kenntnisnahme haftbar gemacht werden kann, diese Haftung den Verbraucher aber nicht in die gleiche Lage versetzt wie die, in der er sich befunden hätte, wenn der Versicherungsschutz bestanden hätte.

39      Nach ständiger Rechtsprechung erstreckt sich die Zuständigkeit des Gerichtshofs, was die Prüfung der Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 anbelangt, auf die Auslegung der Kriterien, die das nationale Gericht bei der Prüfung dieser Klausel im Hinblick auf die Bestimmungen dieser Richtlinie anwenden darf oder muss. Es ist also Sache des nationalen Gerichts, unter Berücksichtigung dieser Kriterien über die konkrete Bewertung einer bestimmten Vertragsklausel anhand der Umstände des Einzelfalls zu entscheiden. Infolgedessen muss sich der Gerichtshof in seiner Antwort darauf beschränken, dem vorlegenden Gericht Hinweise an die Hand zu geben, die es bei der Beurteilung der Missbräuchlichkeit der betreffenden Klausel zu beachten hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. September 2020, Profi Credit Polska, C‑84/19, C‑222/19 und C‑252/19, EU:C:2020:631, Rn. 91 und die dort angeführte Rechtsprechung).

40      Insoweit ist erstens in Bezug auf Art. 5 der Richtlinie 93/13 darauf hinzuweisen, dass die Transparenz einer Vertragsklausel einen der Gesichtspunkte darstellt, die bei der vom nationalen Gericht anhand von Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie vorzunehmenden Beurteilung der Missbräuchlichkeit der Klausel zu berücksichtigen sind (Urteil vom 12. Januar 2023, D. V. [Rechtsanwaltsvergütung – Abrechnung nach dem Zeitaufwand], C‑395/21, EU:C:2023:14, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung).

41      Wenn aber bereits die Intransparenz einer Vertragsklausel, die auf mangelnde Klarheit oder Verständlichkeit dieser Klausel zurückzuführen ist, einen Gesichtspunkt darstellen kann, der bei der Beurteilung der Missbräuchlichkeit der Klausel zu berücksichtigen ist, so gilt dies erst recht für einen Mangel an Transparenz, der damit zusammenhängt, dass es dem Verbraucher überhaupt nicht möglich war, von dieser Klausel vor Abschluss des betreffenden Vertrags Kenntnis zu nehmen.

42      Zweitens hat das nationale Gericht bei der Beurteilung der Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel, die es nach Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 vorzunehmen hat, zunächst zu prüfen, ob ein Verstoß gegen das Gebot von Treu und Glauben vorliegt, und dann, ob ein erhebliches und ungerechtfertigtes Missverhältnis zum Nachteil des Verbrauchers im Sinne dieser Bestimmung besteht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. Oktober 2019, Kiss und CIB Bank, C‑621/17, EU:C:2019:820, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung). Nach Art. 4 Abs. 1 dieser Richtlinie hat das nationale Gericht bei dieser Beurteilung u. a. den Zeitpunkt des Vertragsabschlusses und alle den Vertragsabschluss begleitenden Umstände zu berücksichtigen.

43      Zum Gebot von Treu und Glauben ist darauf hinzuweisen, dass das nationale Gericht, wie sich aus dem 16. Erwägungsgrund der Richtlinie 93/13 ergibt, bei der Beurteilung von Treu und Glauben insbesondere zu berücksichtigen hat, welches Kräfteverhältnis zwischen den Verhandlungspositionen der Parteien bestand und ob auf den Verbraucher in irgendeiner Weise eingewirkt wurde, seine Zustimmung zu der betreffenden Klausel zu geben.

44      Im vorliegenden Fall hat LP – was das vorlegende Gericht noch zu überprüfen haben wird – in ihren schriftlichen Erklärungen insoweit geltend gemacht, es sei „verlangt“ worden, dass sie und ihr Ehemann den Versicherungsvertrag abschlössen, um das fragliche Bankdarlehen zum Zweck des Erwerbs einer Immobilie zu erhalten. Dabei hätten sie lediglich das ihnen von der Bank unterbreitete Angebot des Beitritts zu diesem Vertrag unterschrieben, ohne jemals über dessen gesamten Inhalt informiert worden zu sein. Dieses Beitrittsangebot sei von dem Bankmitarbeiter ausgefüllt worden, der ihnen den zu unterzeichnenden Vertrag vorgelegt habe. LP habe dieses Angebot unterschrieben, ohne dass ihr irgendeine Klausel über den Ausschluss des Versicherungsschutzes vorgelesen worden wäre.

45      Was sodann die Frage betrifft, ob eine Vertragsklausel entgegen dem Gebot von Treu und Glauben zum Nachteil des Verbrauchers ein erhebliches und ungerechtfertigtes Missverhältnis der vertraglichen Rechte und Pflichten der Vertragspartner verursacht, so muss das nationale Gericht nach ständiger Rechtsprechung prüfen, ob der Gewerbetreibende bei loyalem und billigem Verhalten gegenüber dem Verbraucher vernünftigerweise erwarten durfte, dass sich dieser nach individuellen Verhandlungen auf die betreffende Klausel einlässt (vgl. u. a. Urteile vom 3. September 2020, Profi Credit Polska, C‑84/19, C‑222/19 und C‑252/19, EU:C:2020:631, Rn. 93 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 10. Juni 2021, BNP Paribas Personal Finance, C‑776/19 bis C‑782/19, EU:C:2021:470, Rn. 98 und die dort angeführte Rechtsprechung).

46      Um zu beurteilen, ob Vertragsklauseln wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden zum Nachteil des Verbrauchers ein solches Missverhältnis verursachen, sind daher sämtliche Umstände zu berücksichtigen, von denen der Gewerbetreibende bzw. sein Vertreter zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses Kenntnis haben konnte und die dazu angetan waren, die spätere Erfüllung des Vertrags zu beeinflussen. Das nationale Gericht muss also ermitteln, ob der Verbraucher alle Informationen erhalten hat, die für den Umfang seiner vertraglichen Verpflichtungen maßgeblich sein könnten und ihm die Möglichkeit geben, insbesondere die sich aus dem Vertrag ergebenden Folgen einzuschätzen.

47      Insoweit stellt der Umstand, dass der Verbraucher von einer Vertragsklausel vor Abschluss des betreffenden Vertrags nicht Kenntnis nehmen konnte, bei der Prüfung der Missbräuchlichkeit dieser Klausel einen wesentlichen Gesichtspunkt dar, da der Verbraucher hierdurch veranlasst worden sein könnte, Verpflichtungen einzugehen, die er andernfalls nicht akzeptiert hätte, was ein erhebliches und ungerechtfertigtes Missverhältnis zwischen den gegenseitigen Verpflichtungen der Vertragsparteien begründen könnte.

48      Im vorliegenden Fall macht LP geltend, sie habe weder die Möglichkeit gehabt, von den Klauseln des Versicherungsvertrags über den Ausschluss oder die Beschränkung des Versicherungsschutzes Kenntnis zu nehmen, noch habe sie Ocidental über ihren Gesundheitszustand zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses informieren können, da sie im Zuge des Beitritts zu diesem Vertrag keinerlei Fragebogen zu ihrem Gesundheitszustand ausgefüllt habe.

49      Unter diesen Umständen, die vom vorlegenden Gericht zu überprüfen sind, hat die Anwendung solcher Klauseln über den Ausschluss oder die Beschränkung des Versicherungsschutzes zur Folge, dass der Verbraucher im Fall der Verwirklichung des versicherten Risikos keinen Versicherungsschutz mehr genießt und im Prinzip ab dem Zeitpunkt der Feststellung der dauernden Erwerbsunfähigkeit aufgrund eines bereits bestehenden Gesundheitsproblems, für dessen Mitteilung an den Versicherer er keine Gelegenheit hatte, selbst die ausstehenden Darlehensraten zahlen muss. Gegebenenfalls müsste er zumindest einen Teil dieser Raten zahlen, wenn die Bank nach einer anwendbaren nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden für den Schaden haftet, der durch die unterbliebene Mitteilung der fraglichen Klauseln entstanden ist, ohne dass dies den Verbraucher jedoch in die gleiche Lage versetzen würde wie die, in der er sich befunden hätte, wenn der Versicherungsschutz bestanden hätte. Der Verbraucher kann also in eine Situation geraten, in der es für ihn angesichts eines Einkommensverlusts infolge seiner dauernden Erwerbsunfähigkeit schwierig oder sogar unmöglich ist, die Raten zurückzuzahlen, obwohl er sich durch den Beitritt zu einem Versicherungsvertrag wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden gerade gegen dieses Risiko absichern wollte.

50      Indem der Gewerbetreibende dem betroffenen Verbraucher nicht die Möglichkeit gibt, vor Vertragsschluss von den fraglichen Vertragsklauseln und allen Folgen des Vertragsschlusses Kenntnis zu nehmen, erlegt er dieses Risiko, das sich aus einer etwaigen dauernden Erwerbsunfähigkeit ergibt, vollständig oder zumindest teilweise dem Verbraucher auf.

51      Sollte das vorlegende Gericht im Wege der Würdigung der konkreten Umstände zu der Auffassung gelangen, dass Ocidental im vorliegenden Fall, anders als nach dem Gebot von Treu und Glauben erforderlich, vernünftigerweise nicht erwarten konnte, dass LP, wenn ihr gegenüber das Transparenzerfordernis beachtet würde, nach individuellen Verhandlungen die fraglichen Vertragsklauseln akzeptieren würde, so wird es die Missbräuchlichkeit dieser Klauseln bejahen müssen.

52      Nach ständiger Rechtsprechung hat ein nationales Gericht, nachdem eine Klausel für missbräuchlich und folglich nichtig erklärt worden ist, diese Klausel gemäß Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 für unanwendbar zu erklären, damit sie den Verbraucher nicht bindet, sofern der Verbraucher dem nicht widerspricht (Urteil vom 16. Juli 2020, Caixabank und Banco Bilbao Vizcaya Argentaria, C‑224/19 und C‑259/19, EU:C:2020:578, Rn. 50).

53      Im vorliegenden Fall würde daraus folgen, dass die Klausel über den Ausschluss oder die Beschränkung des Versicherungsschutzes LP nicht entgegengehalten werden könnte. Diese Schlussfolgerung gilt ungeachtet einer nationalen Regelung wie der vom vorlegenden Gericht angeführten, nach der ein Versicherungsnehmer, der seine nach dieser Regelung bestehende Pflicht zur Mitteilung der Vertragsklauseln nicht erfüllt hat, gegebenenfalls den durch die unterbliebene Mitteilung entstandenen Schaden ersetzen muss, ohne dass dies jedoch die Wiederherstellung der Sach- und Rechtslage ermöglichen würde, in der sich der Verbraucher befunden hätte, wenn der Versicherungsschutz bestanden hätte. Eine solche Regelung, die die zivilrechtlichen Haftungsfolgen der unterbliebenen Mitteilung betrifft, kann nichts daran ändern, dass eine als missbräuchlich eingestufte Vertragsklausel gemäß der Richtlinie 93/13 dem Verbraucher nicht entgegengehalten werden kann.

54      Im Übrigen muss nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs die Feststellung der Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel es ermöglichen, dass die Sach- und Rechtslage wiederhergestellt wird, in der sich der Verbraucher ohne die missbräuchliche Klausel befunden hätte (Urteil vom 12. Januar 2023, D. V. [Rechtsanwaltsvergütung – Abrechnung nach dem Zeitaufwand], C‑395/21, EU:C:2023:14, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung).

55      Der Umstand, dass eine solche als missbräuchlich eingestufte Vertragsklausel dem Verbraucher nicht entgegengehalten werden kann, lässt jedoch die Folgen unberührt, die sich in Bezug auf die zivilrechtliche Haftung des Versicherungsnehmers gegenüber dem Versicherer möglichweise daraus ergeben, dass der Versicherungsnehmer diese Klausel dem Verbraucher nicht mitgeteilt hat.

56      Nach alledem sind Art. 3 Abs. 1 und die Art. 4 bis 6 der Richtlinie 93/13 dahin auszulegen, dass ein nationales Gericht, wenn es eine den Ausschluss oder die Beschränkung des Versicherungsschutzes betreffende Klausel eines Versicherungsvertrags, von der der betreffende Verbraucher vor Abschluss dieses Vertrags nicht Kenntnis nehmen konnte, als missbräuchlich einstuft, diese Klausel für unanwendbar erklären muss, damit sie den Verbraucher nicht bindet.

 Kosten

57      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Neunte Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 4 Abs. 2 und Art. 5 der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen sind im Licht des 20. Erwägungsgrundes dieser Richtlinie

dahin auszulegen, dass

ein Verbraucher stets die Möglichkeit haben muss, vor Abschluss eines Vertrags von allen darin enthaltenen Klauseln Kenntnis zu nehmen.

2.      Art. 3 Abs. 1 und die Art. 4 bis 6 der Richtlinie 93/13

sind dahin auszulegen, dass

ein nationales Gericht, wenn es eine den Ausschluss oder die Beschränkung des Versicherungsschutzes betreffende Klausel eines Versicherungsvertrags, von der der betreffende Verbraucher vor Abschluss dieses Vertrags nicht Kenntnis nehmen konnte, als missbräuchlich einstuft, diese Klausel für unanwendbar erklären muss, damit sie den Verbraucher nicht bindet.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Portugiesisch.