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Rechtssache C472/21

Monz Handelsgesellschaft International mbH & Co. KG

gegen

Büchel GmbH & Co. Fahrzeugtechnik KG

(Vorabentscheidungsersuchen des Bundesgerichtshofs)

 Urteil des Gerichtshofs (Fünfte Kammer) vom 16. Februar 2023

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Geistiges Eigentum – Muster – Richtlinie 98/71/EG – Art. 3 Abs. 3 und 4 – Voraussetzungen für die Erlangung des Schutzes für ein Bauelement eines komplexen Erzeugnisses – Begriffe ‚Sichtbarkeit‘ und ‚bestimmungsgemäße Verwendung‘ – Sichtbarkeit eines Bauelements eines komplexen Erzeugnisses bei bestimmungsgemäßer Verwendung dieses Erzeugnisses durch den Endbenutzer“

1.        Rechtsangleichung – Muster – Richtlinie 98/71 – Schutzvoraussetzungen – Muster, das Bauelement eines komplexen Erzeugnisses ist – Bauelement, das neu ist und Eigenart hat – Bauelement, das bei bestimmungsgemäßer Verwendung des Erzeugnisses sichtbar bleiben muss – Sichtbarkeit des Bauelements – Beurteilungskriterien

(Richtlinie 98/71 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 3 Abs. 3)

(vgl. Rn. 38‑46)

2.        Rechtsangleichung – Muster – Richtlinie 98/71 – Schutzvoraussetzungen – Muster, das Bauelement eines komplexen Erzeugnisses ist – Bauelement, das neu ist und Eigenart hat – Bauelement, das bei bestimmungsgemäßer Verwendung des Erzeugnisses sichtbar bleiben muss – Bestimmungsgemäße Verwendung des Erzeugnisses – Begriff

(Richtlinie 98/71 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 3 Abs. 3 und 4)

(vgl. Rn. 49, 52‑55 und Tenor)

Zusammenfassung

Monz, eine Gesellschaft deutschen Rechts, ist Inhaberin eines Designs, das die Unterseite eines Fahrrad- oder Motorradsattels darstellt und seit 2011 beim Deutschen Patent- und Markenamt (im Folgenden: DPMA) eingetragen ist.

Am 27. Juli 2016 beantragte Büchel, eine Gesellschaft deutschen Rechts, beim DPMA die Feststellung der Nichtigkeit dieses Designs und machte zur Begründung geltend, dass es die für die Erlangung rechtlichen Designschutzes erforderlichen Voraussetzungen(1) nicht erfülle. Dieses Design, das bei einem Sattel benutzt werde, bei dem es sich um ein Bauelement eines komplexen Erzeugnisses wie eines Fahrrads oder eines Motorrads handele, sei nämlich bei bestimmungsgemäßer Verwendung dieses Erzeugnisses nicht sichtbar.

Das DPMA wies den Nichtigkeitsantrag zurück und führte zur Begründung aus, dass beim fraglichen Design kein Ausschlussgrund vorliege, der dem rechtlichen Designschutz entgegenstünde. Das Bauelement, bei dem das Design benutzt werde, bleibe bei bestimmungsgemäßer Verwendung des komplexen Erzeugnisses sichtbar; zu einer solchen Verwendung zähle auch ein nicht der Instandhaltung, Wartung oder Reparatur dienendes Ab- und Aufmontieren des Sattels.

Auf eine Beschwerde gegen diese Entscheidung hin erklärte das Bundespatentgericht (Deutschland) das fragliche Design für nichtig, da es nicht den Erfordernissen der Neuheit und der Eigenart genüge. Ein Bauelement, das erst bei Trennung von einem komplexen Erzeugnis sichtbar werde, erfülle nicht die Voraussetzung der Sichtbarkeit, so dass es keinen rechtlichen Schutz genießen könne. Als bestimmungsgemäße Verwendung seien nur das Fahren mit dem Fahrrad sowie das Auf- und Absteigen anzusehen. Im Rahmen dieser Verwendungen sei die Sattelunterseite aber nicht sichtbar.

In diesem Zusammenhang hat der Bundesgerichtshof (Deutschland), bei dem Monz Rechtsbeschwerde eingelegt hat, den Gerichtshof im Wesentlichen zum einen gefragt, ob das Erfordernis der Sichtbarkeit von Mustern, die bei einem Erzeugnis, das Bauelement eines komplexen Erzeugnisses ist, benutzt oder in dieses Erzeugnis eingefügt werden, im Hinblick auf bestimmte Bedingungen der Nutzung des komplexen Erzeugnisses zu prüfen ist oder ob es vielmehr allein auf die objektive Möglichkeit ankommt, das Muster zu erkennen, das bei dem Bauelement in der Form, wie es in das komplexe Erzeugnis eingebaut ist, benutzt wird. Zum anderen hat der Bundesgerichtshof die Frage aufgeworfen, auf welche Kriterien es für die Beurteilung der bestimmungsgemäßen Verwendung eines komplexen Erzeugnisses durch den Endbenutzer ankommt.

In seinem Vorabentscheidungsurteil präzisiert der Gerichtshof zum einen das Erfordernis der Sichtbarkeit, das erfüllt sein muss, damit ein Muster, das bei einem Erzeugnis, das Bauelement eines komplexen Erzeugnisses ist, benutzt oder in dieses Erzeugnis eingefügt wird, rechtlichen Musterschutz genießen kann, und zum anderen die Kriterien, die den Begriff der „bestimmungsgemäßen Verwendung“ dieses Erzeugnisses im Sinne von Art. 3 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 98/71 kennzeichnen.

Würdigung durch den Gerichtshof

In einem ersten Schritt konzentriert sich der Gerichtshof auf die Frage der Sichtbarkeit eines in ein komplexes Erzeugnis eingefügten Bauelements. Zunächst weist er darauf hin, dass Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 98/71 eine Sonderregelung speziell für Muster enthält, die bei einem Erzeugnis, das Bauelement eines komplexen Erzeugnisses ist, benutzt oder in dieses Erzeugnis eingefügt werden. Insoweit hebt er hervor, dass es die Erscheinungsform eines ganzen Erzeugnisses oder eines Teils davon ist, die Gegenstand des rechtlichen Musterschutzes ist.

Hinsichtlich der Anforderungen, die erfüllt sein müssen, damit die Erscheinungsform des Bauelements eines komplexen Erzeugnisses als Muster geschützt werden kann, verweist der Gerichtshof auf seine frühere Rechtsprechung, wonach dieses Bauelement sichtbar und durch Merkmale abgegrenzt sein muss, die seine besondere Erscheinungsform bilden, was voraussetzt, dass das Bauelement nicht vollständig in dem Gesamterzeugnis untergeht. Der Gerichtshof betont, dass diese Rechtsprechung, die im Zusammenhang mit dem in der Verordnung Nr. 6/2002(2) geregelten Schutz von Geschmacksmustern ergangen ist, auch für das in der Richtlinie 98/71 vorgesehene Musterschutzsystem gilt.

Um rechtlichen Musterschutz genießen zu können, muss das in das komplexe Erzeugnis eingefügte Bauelement allerdings bei bestimmungsgemäßer Verwendung dieses Erzeugnisses sichtbar bleiben. Eine abstrakte Beurteilung der Sichtbarkeit des in ein komplexes Erzeugnis eingefügten Bauelements ohne Bezug zu jedweder konkreten Situation der Verwendung dieses Erzeugnisses genügt also nicht, damit ein solches Bauelement rechtlichen Schutz genießen kann. Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 98/71 verlangt aber nicht, dass ein in ein komplexes Erzeugnis eingefügtes Bauelement zu jedem Zeitpunkt der Verwendung dieses Erzeugnisses vollständig sichtbar bleibt.

Daher ist die Sichtbarkeit eines in ein komplexes Erzeugnis eingefügten Bauelements nicht allein aus der Sicht des Endbenutzers dieses Erzeugnisses, sondern auch aus der Sicht eines außenstehenden Beobachters zu beurteilen.

In einem zweiten Schritt befasst sich der Gerichtshof mit dem Begriff der „bestimmungsgemäßen Verwendung“ eines solchen Erzeugnisses durch den Endbenutzer im Sinne von Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie 98/71. Was zum einen die Frage anbelangt, ob die bestimmungsgemäße Verwendung eines komplexen Erzeugnisses dem vom Hersteller des Bauelements intendierten Verwendungszweck, dem vom Hersteller des komplexen Erzeugnisses intendierten Verwendungszweck oder der üblichen Verwendung dieses Erzeugnisses durch den Endbenutzer entspricht, so stellt der Gerichtshof fest, dass die fragliche Vorschrift auf die bestimmungsgemäße Verwendung des komplexen Erzeugnisses durch den Endbenutzer abstellt.

Hierzu führt der Gerichtshof aus, dass sich die normale oder übliche Verwendung eines komplexen Erzeugnisses durch den Endbenutzer in der Regel mit einer Verwendung gemäß der Bestimmung des komplexen Erzeugnisses deckt, die dessen Hersteller oder Entwickler beabsichtigt hat. Indessen wollte der Unionsgesetzgeber auf die übliche Verwendung des komplexen Erzeugnisses durch den Endbenutzer abstellen, um eine Verwendung dieses Erzeugnisses auf anderen Handelsstufen auszuschließen und auf diese Weise einer Umgehung des Sichtbarkeitserfordernisses vorzubeugen. Die Beurteilung der bestimmungsgemäßen Verwendung eines komplexen Erzeugnisses kann daher nicht allein auf die Absicht des Herstellers des Bauelements oder des komplexen Erzeugnisses gestützt werden.

Was zum anderen die Frage betrifft, welche Verwendung eines komplexen Erzeugnisses durch den Endbenutzer eine „bestimmungsgemäße Verwendung“ im Sinne von Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie 98/71 darstellt, so weist der Gerichtshof darauf hin, dass der Umstand, dass in dieser Bestimmung nicht näher angegeben wird, welche Art der Verwendung des Erzeugnisses von diesem Begriff erfasst wird, sondern allgemein auf die Verwendung eines solchen Erzeugnisses durch den Endbenutzer Bezug genommen wird, für eine weite Auslegung dieses Begriffs spricht. Angesichts der Tatsache, dass die Verwendung eines Erzeugnisses gemäß seiner Hauptfunktion in der Praxis oft verschiedene Handlungen erfordert, die vorgenommen werden können, bevor oder nachdem das Erzeugnis diese Hauptfunktion erfüllt hat, folgert der Gerichtshof, dass die bestimmungsgemäße Verwendung eines komplexen Erzeugnisses alle diese Handlungen umfasst, mit Ausnahme derjenigen, die ausdrücklich ausgenommen sind, nämlich Handlungen, die mit Instandhaltung, Wartung oder Reparatur zusammenhängen.

Folglich muss der Begriff „bestimmungsgemäße Verwendung“ die Handlungen, die mit der üblichen Verwendung eines Erzeugnisses zusammenhängen, sowie weitere Handlungen, die anlässlich einer solchen Verwendung vernünftigerweise vorgenommen werden können und aus Sicht des Endbenutzers üblich sind, umfassen, einschließlich der Handlungen, die vorgenommen werden können, bevor oder nachdem das Erzeugnis seine Hauptfunktion erfüllt hat, wie etwa Aufbewahrung oder Transport des Erzeugnisses.

Aufgrund dieser Erwägungen hat der Gerichtshof für Recht erkannt, dass das Erfordernis der Sichtbarkeit von Mustern, die bei einem Erzeugnis, das Bauelement eines komplexen Erzeugnisses ist, benutzt oder in dieses Erzeugnis eingefügt werden, im Hinblick auf eine Situation der normalen Verwendung des komplexen Erzeugnisses zu prüfen ist, wobei es darauf ankommt, dass das betreffende Bauelement nach seiner Einfügung in dieses Erzeugnis bei einer solchen Verwendung sichtbar bleibt. Zu diesem Zweck ist die Sichtbarkeit eines Bauelements eines komplexen Erzeugnisses bei seiner bestimmungsgemäßen Verwendung durch den Endbenutzer aus der Sicht dieses Benutzers sowie aus der Sicht eines außenstehenden Beobachters zu beurteilen. Diese bestimmungsgemäße Verwendung muss die Handlungen, die bei der hauptsächlichen Verwendung eines komplexen Erzeugnisses vorgenommen werden, sowie die Handlungen, die der Endbenutzer im Rahmen einer solchen Verwendung üblicherweise vorzunehmen hat, umfassen, mit Ausnahme von Instandhaltung, Wartung und Reparatur.


1      Im Sinne von § 4 des Gesetzes über den rechtlichen Schutz von Design vom 24. Februar 2014 (BGBl. 2014 I S. 122), mit dem die Richtlinie 98/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Oktober 1998 über den rechtlichen Schutz von Mustern und Modellen (ABl. 1998, L 289, S. 28) umgesetzt wird.


2      Verordnung (EG) Nr. 6/2002 des Rates vom 12. Dezember 2001 über das Gemeinschaftsgeschmacksmuster (ABl. 2002, L 3, S. 1).