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URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)

4. Juli 2024(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Zivil- und Handelssachen – Gerichtliche Zuständigkeit, Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen – Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 – Art. 7 Nr. 2 – Zuständigkeit für Verfahren, die eine unerlaubte Handlung, eine ihr gleichgestellte Handlung oder Ansprüche aus einer solchen Handlung zum Gegenstand haben – Ort der Verwirklichung des Schadenserfolgs – Für unvereinbar mit Art. 101 AEUV und Art. 53 des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum erklärtes Kartell – In verschiedenen Mitgliedstaaten ansässige Tochtergesellschaften – Unmittelbarer Schaden, der ausschließlich bei den Tochtergesellschaften eingetreten ist – Schadensersatzklage der Muttergesellschaft – Begriff ‚wirtschaftliche Einheit‘“

In der Rechtssache C‑425/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Kúria (Oberstes Gericht, Ungarn) mit Entscheidung vom 7. Juni 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 28. Juni 2022, in dem Verfahren

MOL Magyar Olaj- és Gázipari Nyrt.

gegen

Mercedes-Benz Group AG

erlässt

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan, des Präsidenten des Gerichtshofs K. Lenaerts in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Fünften Kammer sowie der Richter M. Ilešič (Berichterstatter), I. Jarukaitis und D. Gratsias,

Generalanwalt: N. Emiliou,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der MOL Magyar Olaj- és Gázipari Nyrt., vertreten durch G. Kutai, D. Petrányi und Sz. Szendrő, Ügyvédek,

–        der Mercedes-Benz Group AG, vertreten durch K. Hetényi, M. Kovács und A. Turi, Ügyvédek, und Rechtsanwälte M. Kocí und C. von Köckritz,

–        der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, A. Edelmannová und J. Vláčil als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch V. Bottka, G. Meessen und S. Noë als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 8. Februar 2024

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 7 Nr. 2 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2012, L 351, S. 1).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der MOL Magyar Olaj- és Gázipari Nyrt. (im Folgenden: MOL) und der Mercedes-Benz Group AG wegen einer Klage von MOL auf Ersatz des Schadens, der ihr durch wettbewerbswidrige, gegen Art. 101 AEUV und Art. 53 des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum vom 2. Mai 1992 (ABl. 1994, L 1, S. 3, im Folgenden: EWR-Abkommen) verstoßende Verhaltensweisen der Mercedes-Benz Group entstanden sein soll.

 Rechtlicher Rahmen

 Verordnung (EG) Nr. 864/2007

3        Der siebte Erwägungsgrund der Verordnung (EG) Nr. 864/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Juli 2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht („Rom II“) (ABl. 2007, L 199, S. 40) lautet:

„Der materielle Anwendungsbereich und die Bestimmungen dieser Verordnung sollten mit der [Verordnung Nr. 1215/2012] und den Instrumenten, die das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht zum Gegenstand haben, in Einklang stehen.“

4        Art. 6 („Unlauterer Wettbewerb und den freien Wettbewerb einschränkendes Verhalten“) Abs. 3 Buchst. a dieser Verordnung bestimmt:

„Auf außervertragliche Schuldverhältnisse aus einem den Wettbewerb einschränkenden Verhalten ist das Recht des Staates anzuwenden, dessen Markt beeinträchtigt ist oder wahrscheinlich beeinträchtigt wird.“

 Verordnung Nr. 1215/2012

5        Die Erwägungsgründe 15 und 16 der Verordnung Nr. 1215/2012 lauten:

„(15)      Die Zuständigkeitsvorschriften sollten in hohem Maße vorhersehbar sein und sich grundsätzlich nach dem Wohnsitz des Beklagten richten. Diese Zuständigkeit sollte stets gegeben sein außer in einigen genau festgelegten Fällen, in denen aufgrund des Streitgegenstands oder der Vertragsfreiheit der Parteien ein anderes Anknüpfungskriterium gerechtfertigt ist. Der Sitz juristischer Personen muss in der Verordnung selbst definiert sein, um die Transparenz der gemeinsamen Vorschriften zu stärken und Kompetenzkonflikte zu vermeiden.

(16)      Der Gerichtsstand des Wohnsitzes des Beklagten sollte durch alternative Gerichtsstände ergänzt werden, die entweder aufgrund der engen Verbindung zwischen Gericht und Rechtsstreit oder im Interesse einer geordneten Rechtspflege zuzulassen sind. Das Erfordernis der engen Verbindung soll Rechtssicherheit schaffen und verhindern, dass die Gegenpartei vor einem Gericht eines Mitgliedstaats verklagt werden kann, mit dem sie vernünftigerweise nicht rechnen konnte. Dies ist besonders wichtig bei Rechtsstreitigkeiten, die außervertragliche Schuldverhältnisse infolge der Verletzung der Privatsphäre oder der Persönlichkeitsrechte einschließlich Verleumdung betreffen.“

6        In Art. 4 Abs. 1 dieser Verordnung heißt es:

„Vorbehaltlich der Vorschriften dieser Verordnung sind Personen, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben, ohne Rücksicht auf ihre Staatsangehörigkeit vor den Gerichten dieses Mitgliedstaats zu verklagen.“

7        Art. 5 Abs. 1 dieser Verordnung sieht vor:

„Personen, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben, können vor den Gerichten eines anderen Mitgliedstaats nur gemäß den Vorschriften der Abschnitte 2 bis 7 [des Kapitels II] verklagt werden.“

8        Kapitel II („Zuständigkeit“) der Verordnung Nr. 1215/2012 enthält u. a. einen Abschnitt 2 („Besondere Zuständigkeiten“). Ihr Art. 7 Nr. 2, der in Abschnitt 2 enthalten ist, bestimmt:

„Eine Person, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, kann in einem anderen Mitgliedstaat verklagt werden:

2.      wenn eine unerlaubte Handlung oder eine Handlung, die einer unerlaubten Handlung gleichgestellt ist, oder wenn Ansprüche aus einer solchen Handlung den Gegenstand des Verfahrens bilden, vor dem Gericht des Ortes, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist oder einzutreten droht“.

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

9        MOL, ein in Ungarn ansässiges Unternehmen, hält Kontrollbeteiligungen an mehreren, in verschiedenen Mitgliedstaaten ansässigen Tochtergesellschaften, und zwar an der in Ungarn ansässigen Moltrans Kft., der in Kroatien ansässigen INA d.d., den in Italien ansässigen Panta Distribuzione SpA und Nelsa Srl, der in Österreich ansässigen Roth Energie GmbH und der in der Slowakei ansässigen Slovnaft a.s.

10      Am 19. Juli 2016 erließ die Europäische Kommission den Beschluss C(2016) 4673 final in einem Verfahren nach Artikel 101 AEUV und Artikel 53 des EWR-Abkommens (Sache AT.39824 – Lkw) (ABl. 2017, C 108, S. 6).

11      Mit diesem Beschluss stellte die Kommission fest, dass die Mercedes-Benz Group und 15 internationale Hersteller von Lastkraftwagen an einem Kartell beteiligt gewesen seien. Dieses Kartell zur Abstimmung der Preise auf der Ebene der Bruttolistenpreise für mittlere und schwere Lastkraftwagen habe eine fortgesetzte Zuwiderhandlung gegen das Verbot von Kartellen und anderen wettbewerbsbeschränkenden Verhaltensweisen gemäß Art. 101 AEUV und Art. 53 des EWR-Abkommens dargestellt. Die Zuwiderhandlung habe vom 17. Januar 1997 bis zum 18. Januar 2011 gedauert und sich auf den gesamten Europäischen Wirtschaftsraum erstreckt.

12      Während des Zeitraums der Zuwiderhandlung kauften oder leasten die Tochtergesellschaften von MOL mittelbar insgesamt 71 Lastkraftwagen von der Mercedes-Benz Group.

13      MOL erhob am 14. Oktober 2019 beim Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht, Ungarn) mit der Begründung, dass ihr ein Schaden in Höhe des Preisaufschlags entstanden sei, den ihre Tochtergesellschaften aufgrund des von der Kommission geahndeten wettbewerbswidrigen Verhaltens zu Unrecht gezahlt hätten, eine Schadensersatzklage gegen die Mercedes-Benz Group.

14      Im Rahmen ihrer Klage stützte sich MOL auf den Begriff „wirtschaftliche Einheit“. Sie leitete die internationale Zuständigkeit der ungarischen Gerichte aus Art. 7 Nr. 2 der Verordnung Nr. 1215/2012 her, da das „schädigende Ereignis“ im Sinne dieser Bestimmung an ihrem Sitz als dem Mittelpunkt der wirtschaftlichen und finanziellen Interessen der aus ihr und ihren Tochtergesellschaften bestehenden Unternehmensgruppe eingetreten sei.

15      Die Mercedes-Benz Group erhob eine Einrede der Unzuständigkeit und bestritt, dass die angeführte Bestimmung die gerichtliche Zuständigkeit des angerufenen Gerichts begründe.

16      Das Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht) sah diese Einrede als begründet an und führte aus, die besondere Zuständigkeitsvorschrift in Art. 7 Nr. 2 der Verordnung Nr. 1215/2012 sei eng auszulegen und könne nur angewandt werden, wenn eine besonders enge Verbindung zwischen dem angerufenen Gericht und dem Gegenstand des Rechtsstreits bestehe. Insoweit stellte es fest, dass nicht MOL die künstlich erhöhten Preise gezahlt habe, sondern ihre in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union ansässigen Tochtergesellschaften, die damit die Geschädigten der in Rede stehenden Wettbewerbsverzerrung seien. MOL habe einen rein finanziellen Schaden erlitten, was es nicht ermögliche, ihren Sitz als den Ort anzusehen, an dem das schädigende Ereignis im Sinne von Art. 7 Nr. 2 dieser Verordnung eingetreten sei, und nicht ausreiche, um die Zuständigkeit der ungarischen Gerichte zu begründen.

17      Die Entscheidung dieses Gerichts wurde in der Berufungsinstanz vom Fővárosi Ítélőtábla (Hauptstädtisches Tafelgericht, Ungarn) bestätigt, das ausführte, nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs gelte die Theorie der wirtschaftlichen Einheit nur für die Begründung der Verantwortlichkeit für Zuwiderhandlungen gegen das Wettbewerbsrecht, nicht aber für den Geschädigten zur Begründung der gerichtlichen Zuständigkeit. Gemäß dem Urteil vom 21. Mai 2015, CDC Hydrogen Peroxide (C‑352/13, EU:C:2015:335), sei für die Zuständigkeit nach Art. 7 Nr. 2 der Verordnung Nr. 1215/2012 darauf abzustellen, wo das geschädigte Unternehmen seinen Sitz habe, und nicht auf den Sitz seiner Muttergesellschaft.

18      MOL legte bei der Kúria (Oberstes Gericht, Ungarn) Revision mit dem Antrag ein, den Beschluss des Fővárosi Ítélőtábla (Hauptstädtisches Tafelgericht) aufzuheben und die Sache an die zuvor angerufenen Gerichte zurückzuverweisen.

19      MOL machte im Wesentlichen geltend, die Theorie der wirtschaftlichen Einheit sei bei der Beurteilung der Zuständigkeit der ungarischen Gerichte im Ausgangsrechtsstreit zu berücksichtigen; als einzige beherrschende Gesellschaft der aus ihr und ihren Tochtergesellschaften bestehenden Unternehmensgruppe sei sie von den gewinn- oder verlustbringenden Tätigkeiten dieser Gesellschaften unmittelbar betroffen.

20      Mercedes-Benz Group hielt dem entgegen, die Klägerin des Ausgangsverfahrens habe keinen der vom fraglichen Kartell betroffenen Lastkraftwagen gekauft und folglich keinen Schaden erlitten. Außerdem sei die Theorie der wirtschaftlichen Einheit nicht auf die Begründung der Zuständigkeit der ungarischen Gerichte anwendbar; ein solcher Ansatz finde in der Rechtsprechung des Gerichtshofs keine Stütze.

21      Insoweit weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der durch ein wettbewerbswidriges Verhalten Geschädigte eine Schadensersatzklage gegen jede der zur wirtschaftlichen Einheit gehörenden juristischen Personen erheben könne Der Gerichtshof habe sich jedoch im Rahmen der Auslegung von Art. 7 Nr. 2 der Verordnung Nr. 1215/2012 noch nicht dazu geäußert, ob es zulässig sei, sich auf die Theorie der wirtschaftlichen Einheit zu berufen, wenn diese Einheit der Geschädigte und nicht der Täter der wettbewerbswidrigen Zuwiderhandlung sei.

22      Unter diesen Umständen hat die Kúria (Oberstes Gericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Begründet der Ort des Sitzes der Muttergesellschaft als Ort des schädigenden Ereignisses im Sinne von Art. 7 Nr. 2 der Verordnung Nr. 1215/2012 die gerichtliche Zuständigkeit, wenn eine Muttergesellschaft mit einer Klage auf Schadensersatz wegen des wettbewerbswidrigen Verhaltens eines Unternehmens ausschließlich den Ersatz von Schäden begehrt, die ihren Tochtergesellschaften aufgrund dieses Verhaltens entstanden sind?

2.      Ist es im Rahmen der Anwendung von Art. 7 Nr. 2 der Verordnung Nr. 1215/2012 von Bedeutung, dass zum Zeitpunkt der verschiedenen streitgegenständlichen Erwerbe nicht alle Tochtergesellschaften zur Unternehmensgruppe der Muttergesellschaft gehörten?

 Zu den Vorlagefragen

 Zur ersten Frage

23      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 7 Nr. 2 der Verordnung Nr. 1215/2012 dahin auszulegen ist, dass die Wendung „Ort, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist“ den Sitz der Muttergesellschaft umfasst, wenn diese eine Klage auf Ersatz von Schäden erhebt, die ausschließlich ihren Tochtergesellschaften durch das wettbewerbswidrige Verhalten eines Dritten im Sinne von Art. 101 AEUV entstanden sind, wobei geltend gemacht wird, dass die Muttergesellschaft und ihre Tochtergesellschaften derselben wirtschaftlichen Einheit angehörten.

24      Vorab ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung bei der Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts nicht nur deren Wortlaut zu berücksichtigen ist, sondern auch der Zusammenhang, in dem sie steht, sowie die Zwecke und Ziele, die mit dem Rechtsakt, zu dem sie gehört, verfolgt werden (vgl. u. a. Urteil vom 8. Februar 2024, Inkreal, C‑566/22, EU:C:2024:123, Rn. 15).

25      Nach dem Wortlaut von Art. 7 Nr. 2 der Verordnung Nr. 1215/2012 können Personen, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben, in einem anderen Mitgliedstaat verklagt werden, wenn eine unerlaubte Handlung oder eine Handlung, die einer unerlaubten Handlung gleichgestellt ist, oder wenn Ansprüche aus einer solchen Handlung den Gegenstand des Verfahrens bilden, und zwar vor dem Gericht des „Ortes, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist“.

26      Der Gerichtshof hat wiederholt entschieden, dass mit der Wendung „Ort, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist“ im Sinne von Art. 5 Nr. 3 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, S. 1), der Art. 7 Nr. 2 der Verordnung Nr. 1215/2012 entspricht, sowohl der Ort der Verwirklichung des Schadenserfolgs als auch der Ort des für den Schaden ursächlichen Geschehens gemeint ist, so dass der Beklagte nach Wahl des Klägers vor dem Gericht eines dieser beiden Orte verklagt werden kann (Urteil vom 15. Juli 2021, Volvo u. a., C‑30/20, EU:C:2021:604, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

27      Der Gerichtshof hatte bereits Gelegenheit, im Urteil vom 29. Juli 2019, Tibor-Trans (C‑451/18, EU:C:2019:635, Rn. 33), das ebenfalls den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verstoß gegen die Wettbewerbsregeln betraf, klarzustellen, dass der Ort der Verwirklichung des Schadenserfolgs für die Zwecke der Anwendung von Art. 7 Nr. 2 der Verordnung Nr. 1215/2012, wenn sich der von dem wettbewerbswidrigen Verhalten betroffene Markt in dem Mitgliedstaat befindet, in dessen Hoheitsgebiet der behauptete Schaden entstanden sein soll, in diesem Mitgliedstaat liegt (vgl. in diesem Sinne auch Urteil vom 15. Juli 2021, Volvo u. a., C‑30/20, EU:C:2021:604, Rn. 31).

28      Überdies hat der Gerichtshof entschieden, dass die Wendung „Ort, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist“ nicht so weit ausgelegt werden darf, dass sie jeden Ort erfasst, an dem die schädlichen Folgen eines Ereignisses, das bereits einen Schaden verursacht hat, der tatsächlich an einem anderen Ort entstanden ist, spürbar werden können. Folglich kann diese Wendung nicht so ausgelegt werden, dass er den Ort einschließt, an dem der Geschädigte einen Vermögensschaden als Folge eines in einem anderen Staat entstandenen und dort von ihm erlittenen Erstschadens erlitten zu haben behauptet (Urteil vom 29. Juli 2019, Tibor-Trans, C‑451/18, EU:C:2019:635, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).

29      Der Gerichtshof hat außerdem festgestellt, dass ein Schaden, der nur die mittelbare Folge des ursprünglich von anderen Personen unmittelbar erlittenen Schadens ist, der sich an einem anderen als dem Ort verwirklicht hat, an dem anschließend der mittelbar Betroffene einen Schaden erlitten hat, keine gerichtliche Zuständigkeit nach Art. 7 Nr. 2 der Verordnung Nr. 1215/2012 begründen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. Juli 2019, Tibor-Trans, C‑451/18, EU:C:2019:635, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

30      Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass im vorliegenden Fall nur die in verschiedenen Mitgliedstaaten ansässigen Tochtergesellschaften unmittelbar den von MOL geltend gemachten Schaden erlitten haben, nämlich die Mehrkosten wegen künstlich überhöhter Preise für den Kauf oder Leasing der 71 im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Lastkraftwagen im Anschluss an Absprachen, die den Tatbestand einer einheitlichen und fortgesetzten Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV erfüllen.

31      Daher ist festzustellen, dass als Gericht des Ortes, an dem sich der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Schadenserfolg verwirklicht hat, entweder das Gericht international und örtlich zuständig ist, in dessen Bezirk die mutmaßlich geschädigte Tochtergesellschaft die von den genannten Absprachen betroffenen Gegenstände gekauft oder geleast hat, oder – im Fall des Kaufs oder Leasings durch die Tochtergesellschaft an mehreren Orten – das Gericht, in dessen Bezirk sich ihr Sitz befindet.

32      MOL macht geltend, auch wenn sie selbst keine solchen Lastkraftwagen erworben und somit durch die betreffende Zuwiderhandlung keinen unmittelbaren Schaden erlitten habe, sei die Wendung „Ort, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist“ im Licht des im Wettbewerbsrecht verwendeten Begriffs „wirtschaftliche Einheit“ auszulegen.

33      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass allgemein davon ausgegangen wird, dass eine Muttergesellschaft und ihre Tochtergesellschaft eine wirtschaftliche Einheit bilden, wenn die Tochtergesellschaft im Wesentlichen einem bestimmenden Einfluss der Muttergesellschaft unterliegt und nicht eigenständig handelt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 27. April 2017, Akzo Nobel u. a./Kommission, C‑516/15 P, EU:C:2017:314, Rn. 52 und 53, sowie vom 6. Oktober 2021, Sumal, C‑882/19, EU:C:2021:800, Rn. 43).

34      In einer solchen Situation wird die gesamte Gruppe als ein „Unternehmen“ angesehen, an das sich die Wettbewerbsregeln richten, die von den Mitgliedern der gesamten Gruppe eingehalten werden müssen, was zu einer gesamtschuldnerischen Haftung führt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2021, Sumal, C‑882/19, EU:C:2021:800, Rn. 39 bis 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).

35      Im vorliegenden Fall macht MOL geltend, da die Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht eine gesamtschuldnerische Haftung der gesamten wirtschaftlichen Einheit auslöse, müsse dieser Grundsatz umgekehrt auch für den Fall der Geltendmachung eines Anspruchs auf Ersatz des Schadens gelten, der durch eine Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht entstanden sei, die ein Mitglied der wirtschaftlichen Einheit betreffe.

36      Der Begriff „wirtschaftliche Einheit“ könne keine unterschiedliche Bedeutung haben, je nachdem, ob das betreffende Unternehmen Kläger oder Beklagter sei. Folglich sei der Sitz der Muttergesellschaft für die Zwecke der Anwendung von Art. 7 Nr. 2 der Verordnung Nr. 1215/2012 als „Ort der Verwirklichung des Schadenserfolgs“ anzusehen, auch wenn der unmittelbare Schaden ausschließlich den Tochtergesellschaften dieser Gesellschaft entstanden sei.

37      Wie der Generalanwalt in den Nrn. 71 bis 73 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, findet die Auffassung von MOL zunächst keine Stütze in der Rechtsprechung des Gerichtshofs. Sodann läuft sie den Grundsätzen zuwider, die der Zuständigkeitsvorschrift des Art. 7 Nr. 2 der Verordnung Nr. 1215/2012 zugrunde liegen, nämlich den Zielen der Nähe und Vorhersehbarkeit der Zuständigkeitsvorschriften sowie der Kohärenz von Gerichtsstand und anzuwendendem Recht. Schließlich wird die Möglichkeit, den Ersatz des durch eine Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht entstandenen Schadens zu verlangen, nicht dadurch beeinträchtigt, dass die Theorie der wirtschaftlichen Einheit bei der Bestimmung des „Ortes der Verwirklichung des Schadenserfolgs“ für die Zwecke der Anwendung von Art. 7 Nr. 2 der Verordnung Nr. 1215/2012 unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens unanwendbar ist.

38      In Bezug auf die Ziele der Nähe und Vorhersehbarkeit der Zuständigkeitsvorschriften ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs zum einen, dass die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem sich der betroffene Markt befindet, am besten in der Lage sind, solche Schadensersatzklagen zu prüfen, und zum anderen, dass ein Wirtschaftsteilnehmer, der sich wettbewerbswidrig verhält, vernünftigerweise damit rechnen kann, vor den Gerichten des Ortes verklagt zu werden, an dem seine Verhaltensweisen die Regeln eines gesunden Wettbewerbs verfälscht haben (Urteil vom 29. Juli 2019, Tibor-Trans, C‑451/18, EU:C:2019:635, Rn. 34).

39      Außerdem sollten sich nach dem 15. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1215/2012 die Zuständigkeitsvorschriften grundsätzlich nach dem Wohnsitz des Beklagten richten, wie es ihr Art. 4 vorsieht.

40      Zum Ziel der Kohärenz von Gerichtsstand und anzuwendendem Recht hat der Gerichtshof entschieden, dass eine Bestimmung, nach der sich der Ort der Verwirklichung des Schadenserfolgs auf dem betroffenen Markt befindet, auch mit den im siebten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 864/2007 vorgesehenen Kohärenzanforderungen im Einklang steht, da nach Art. 6 Abs. 3 Buchst. a dieser Verordnung bei Schadensersatzklagen im Zusammenhang mit einem den Wettbewerb einschränkenden Verhalten das Recht des Staates anzuwenden ist, dessen Markt beeinträchtigt ist oder wahrscheinlich beeinträchtigt wird (Urteil vom 15. Juli 2021, Volvo u. a., C‑30/20, EU:C:2021:604, Rn. 31 und 32 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

41      Was ferner das Argument betrifft, dass die Möglichkeit, den Ersatz des durch eine Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht entstandenen Schadens zu verlangen, beeinträchtigt würde, wenn der Begriff „wirtschaftliche Einheit“ bei der Bestimmung des „Ortes der Verwirklichung des Schadenserfolgs“ für die Zwecke der Anwendung von Art. 7 Nr. 2 der Verordnung Nr. 1215/2012 unanwendbar wäre, ist den Ausführungen des Generalanwalts in Nr. 97 seiner Schlussanträge beizupflichten, dass die Zuständigkeitsvorschriften die durch ein wettbewerbswidriges Verhalten mutmaßlich Geschädigten nicht daran hindern, ihre Schadensersatzansprüche geltend zu machen.

42      Nach der Grundregel für den Gerichtsstand, die sich aus der Verordnung Nr. 1215/2012 ergibt, steht es den durch eine solche Zuwiderhandlung Geschädigten stets frei, gemäß Art. 4 Abs. 1 der Verordnung das Gericht am Wohnsitz des Rechtsverletzers anzurufen.

43      Wie in Rn. 27 des vorliegenden Urteils ausgeführt, ermöglicht es Art. 7 Nr. 2 der Verordnung Nr. 1215/2012 jedoch, innerhalb des von Absprachen über Preise und Preiserhöhungen für Gegenstände betroffenen Marktes entweder das Gericht anzurufen, in dessen Bezirk das Unternehmen, das sich für geschädigt erachtet, die von den genannten Absprachen betroffenen Gegenstände gekauft hat, oder – wenn das Unternehmen die Gegenstände an mehreren Orten gekauft hat – das Gericht, in dessen Bezirk sich der Sitz dieses Unternehmens befindet (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Juli 2021, Volvo u. a., C‑30/20, EU:C:2021:604, Rn. 43).

44      Folglich stehen die Ziele der Nähe und Vorhersehbarkeit der Zuständigkeitsvorschriften sowie der Kohärenz von Gerichtsstand und anzuwendendem Recht und der Umstand, dass die Möglichkeit, den Ersatz des durch eine Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht, die ein Mitglied der wirtschaftlichen Einheit betrifft, entstandenen Schadens zu verlangen, nicht beeinträchtigt wird, der umgekehrten Anwendung des Begriffs „wirtschaftliche Einheit“ zur Bestimmung des Ortes der Verwirklichung des Schadenserfolgs für die Zwecke der Anwendung von Art. 7 Nr. 2 der Verordnung Nr. 1215/2012 entgegen.

45      Außerdem hat der Gerichtshof entschieden, dass das Ziel der Rechtssicherheit verlangt, dass das angerufene nationale Gericht in der Lage ist, ohne Schwierigkeiten über seine eigene Zuständigkeit zu entscheiden, ohne in eine Sachprüfung eintreten zu müssen (Urteile vom 28. Januar 2015, Kolassa, C‑375/13, EU:C:2015:37, Rn. 61, und vom 8. Februar 2024, Inkreal, C‑566/22, EU:C:2024:123, Rn. 27).

46      Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 7 Nr. 2 der Verordnung Nr. 1215/2012 dahin auszulegen ist, dass die Wendung „Ort, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist“ nicht den Sitz der Muttergesellschaft umfasst, wenn diese eine Klage auf Ersatz von Schäden erhebt, die ausschließlich ihren Tochtergesellschaften durch das wettbewerbswidrige Verhalten eines Dritten, das eine Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV darstellt, entstanden sind; dies gilt auch dann, wenn geltend gemacht wird, dass die Muttergesellschaft und ihre Tochtergesellschaften derselben wirtschaftlichen Einheit angehörten.

 Zur zweiten Frage

47      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob es für die Zwecke der Anwendung von Art. 7 Nr. 2 der Verordnung Nr. 1215/2012 von Bedeutung ist, dass die betreffenden Tochtergesellschaften noch nicht von der Muttergesellschaft kontrolliert wurden, als sie bestimmte Waren kauften, in Bezug auf die eine Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV begangen wurde.

48      Diese Frage geht von der Prämisse aus, dass Art. 7 Nr. 2 der Verordnung Nr. 1215/2012 dahin ausgelegt werden könnte, dass sich die Wendung „Ort, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist“ auf den Sitz der Muttergesellschaft beziehen kann, wenn sie eine Klage auf Ersatz der ihren Tochtergesellschaften aufgrund des wettbewerbswidrigen Verhaltens eines Dritten entstandenen unmittelbaren Schäden erhebt.

49      In Anbetracht der Antwort auf die erste Frage ist die zweite Frage nicht zu beantworten.

 Kosten

50      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 7 Nr. 2 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen

ist dahin auszulegen, dass

die Wendung „Ort, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist“ nicht den Sitz der Muttergesellschaft umfasst, wenn diese eine Klage auf Ersatz von Schäden erhebt, die ausschließlich ihren Tochtergesellschaften durch das wettbewerbswidrige Verhalten eines Dritten, das eine Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV darstellt, entstanden sind; dies gilt auch dann, wenn geltend gemacht wird, dass die Muttergesellschaft und ihre Tochtergesellschaften derselben wirtschaftlichen Einheit angehörten.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Ungarisch.