Language of document : ECLI:EU:C:2024:316

BESCHLUSS DES GERICHTSHOFS (Siebte Kammer)

10. April 2024(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs – Antwort, die klar aus der Rechtsprechung abgeleitet werden kann – Steuern – Mehrwertsteuer – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 183 – Recht auf Vorsteuerabzug – Einzelheiten der Ausübung – Verspätete Erstattung – Verspätung als Folge der Anwendung einer nationalen Bestimmung – Wirkung eines Vorabentscheidungsurteils, das der Gerichtshof nach diesen Vorgängen erlässt – Verzugszinsen – Verjährung – Grundsätze der Äquivalenz, der Effektivität und der steuerlichen Neutralität“

In der Rechtssache C‑532/23

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht, Ungarn) mit Entscheidung vom 10. Juli 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 18. August 2023, in dem Verfahren

Lear Corporation Hungary Autóipari Gyártó Kft.

gegen

Nemzeti Adó- és Vámhivatal Fellebbviteli Igazgatósága

erlässt

DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten F. Biltgen sowie der Richter N. Wahl (Berichterstatter) und J. Passer,

Generalanwältin: T. Ćapeta,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund der nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Entscheidung, gemäß Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden,

folgenden

Beschluss

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 183 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) sowie der Grundsätze der Äquivalenz, der Effektivität und der steuerlichen Neutralität.

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Lear Corporation Hungary Autóipari Gyártó Kft. (im Folgenden: Lear Corporation) und der Nemzeti Adó- és Vámhivatal Fellebbviteli Igazgatósága (Rechtsbehelfsdirektion der nationalen Steuer- und Zollverwaltung, Ungarn) (im Folgenden: Rechtsbehelfsdirektion) über den Anspruch von Lear Corporation auf Zahlung von Verzugszinsen wegen der verspäteten Erstattung eines Mehrwertsteuerüberschusses, der aus einer in einer nationalen Bestimmung festgelegten Bedingung folgte, die später vom Gerichtshof für mit dem Unionsrecht unvereinbar erklärt wurde.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Art. 183 der Richtlinie 2006/112 sieht vor:

„Übersteigt der Betrag der abgezogenen Vorsteuer den Betrag der für einen Steuerzeitraum geschuldeten Mehrwertsteuer, können die Mitgliedstaaten den Überschuss entweder auf den folgenden Zeitraum vortragen lassen oder nach den von ihnen festgelegten Einzelheiten erstatten.

Die Mitgliedstaaten können jedoch festlegen, dass geringfügige Überschüsse weder vorgetragen noch erstattet werden.“

 Ungarisches Recht

 Gesetz zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes

4        Mit dem Az általános forgalmi adóról szóló 2007. évi CXXVII. törvény jogharmonizációs célú módosításáról és az adó-visszaigénylés különös eljárási szabályairól szóló 2011. évi CXXIII. törvény (Gesetz Nr. CXXIII von 2011 zur Änderung des Gesetzes Nr. CXXVII von 2007 über die allgemeine Umsatzsteuer zwecks Rechtsharmonisierung und zur Regelung des besonderen Verfahrens zur Beantragung von Umsatzsteuererstattungen) (Magyar Közlöny 2011/110, im Folgenden: Gesetz zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes) wurde § 186 Abs. 2 bis 4 des Az általános forgalmi adóról szóló 2007. évi CXXVII. törvény (Gesetz Nr. CXXVII von 2007 über die allgemeine Umsatzsteuer) (Magyar Közlöny 2007/155) mit Wirkung vom 27. September 2011 aufgehoben, damit die Erstattung eines Überschusses abzugsfähiger Mehrwertsteuer möglich ist, ohne dass es erforderlich wäre, die Zahlung des Entgelts für den Umsatz abzuwarten, aus dem sich die abzugsfähige Mehrwertsteuer ergibt. Zuvor sah § 186 Abs. 2 vor, dass die Ausübung des Rechts auf Erstattung eines Überschusses abzugsfähiger Mehrwertsteuer an die Bedingung geknüpft war, dass der für den betreffenden Umsatz geschuldete Betrag gezahlt wurde.

5        § 1 Abs. 1 des Gesetzes zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes sieht vor:

„Für Beträge, für die der Steuerpflichtige in der letzten Mehrwertsteuererklärung, die er vor Inkrafttreten dieses Gesetzes abzugeben hatte (im Folgenden: Steuererklärung), seinen Anspruch auf Erstattung gemäß § 186 Abs. 2 bis 4 …, durch dieses Gesetz aufgehoben, nicht geltend machen konnte, kann – nur für den Betrag, den der Steuerpflichtige als Steuer auf unbezahlte Erwerbe eingetragen hat – ein Erstattungsantrag an die Steuerbehörden gerichtet werden, den der Steuerpflichtige bis zum 20. Oktober 2011 unter Verwendung des dafür vorgesehenen Formulars zu stellen hat; ungeachtet dieser Frist kann der Steuerpflichtige die vorgenannten Beträge in der Steuererklärung, die für die für ihn geltende Regelung abzugeben ist, als seine Steuerschuld mindernden Betrag ansetzen oder seinen Anspruch auf eine Erstattung in seiner Steuererklärung geltend machen. Ein solcher Antrag gilt als Erklärung im Sinne der Bestimmungen [der Besteuerungsordnung]. Die Frist für die Stellung dieses Antrags kann nicht verlängert werden.“

 Besteuerungsordnung

6        Das Az adózás rendjéről szóló 2003. évi XCII. törvény (Gesetz Nr. XCII von 2003 über die Besteuerungsordnung) (Magyar Közlöny 2003/131, im Folgenden: Besteuerungsordnung) bestimmt in § 37 Abs. 4 und 6:

„(4)      Die Fälligkeit einer an den Steuerpflichtigen zu leistenden Haushaltszuwendung wird durch die Anhänge dieses Gesetzes oder durch ein besonderes Gesetz geregelt. Die Haushaltszuwendung oder die Umsatzsteuer, deren Erstattung beantragt wird, ist innerhalb von 30 Tagen nach Eingang des Antrags (der Erklärung), jedoch nicht vor der Fälligkeit zu zahlen; diese Frist verlängert sich auf 45 Tage, wenn der Betrag der erstattungsfähigen Mehrwertsteuer 500 000 [ungarische] Forint [(HUF)] übersteigt [(ca. 1 300 Euro)].

(6)      Leistet die Steuerverwaltung eine Zahlung verspätet, hat sie für jeden Tag des Verzugs Zinsen in Höhe des Verzugszinssatzes zu zahlen. …“

7        § 124/C der Besteuerungsordnung sieht vor:

„(1)      Stellt das Alkotmánybíróság [(Verfassungsgericht, Ungarn)], die Kúria [(Oberstes Gericht, Ungarn)] oder der [Gerichtshof] rückwirkend fest, dass eine Vorschrift, die eine steuerliche Pflicht begründet, gegen das Grundgesetz oder einen verbindlichen Rechtsakt der Europäischen Union oder, wenn es sich um eine Gemeindesatzung handelt, gegen jegliche andere Rechtsvorschrift verstößt, und begründet diese gerichtliche Entscheidung für den Steuerpflichtigen einen Erstattungsanspruch, führt die erstinstanzliche Steuerbehörde auf Antrag des Steuerpflichtigen die Erstattung – entsprechend den in der betreffenden Entscheidung festgelegten Modalitäten – gemäß den Bestimmungen dieses Paragrafen durch.

(2)      Der Steuerpflichtige kann seinen Antrag innerhalb von 180 Tagen nach Veröffentlichung oder Bekanntgabe der Entscheidung des Alkotmánybíróság [(Verfassungsgericht)], der Kúria [(Oberstes Gericht)] oder des [Gerichtshofs] schriftlich an die Steuerbehörde richten; nach Ablauf der Frist ist ein Antrag auf Wiedereinsetzung nicht zulässig. Die Steuerbehörde lehnt den Antrag ab, wenn zum Zeitpunkt der Veröffentlichung oder Bekanntgabe der Entscheidung der Anspruch auf Entschädigung verjährt ist.

(6)      Ist der Erstattungsanspruch des Steuerpflichtigen begründet, zahlt die Steuerbehörde – gleichzeitig mit der Erstattung – Zinsen auf die zu erstattende Steuer in Höhe des Basissatzes der Zentralbank; die Berechnung der Zinsen erfolgt vom Tag der Entrichtung der Steuer bis zu dem Tag, an dem die Entscheidung über die Gewährung der Erstattung rechtskräftig geworden ist. Die Erstattung wird mit dem Eintreten der Rechtskraft der Entscheidung über ihre Gewährung fällig und ist innerhalb von 30 Tagen ab dem Zeitpunkt des Eintretens ihrer Fälligkeit zu bewirken. Für die in der vorliegenden Bestimmung geregelte Erstattung gelten die Vorschriften über die Zahlung von Haushaltszuwendungen sinngemäß, mit Ausnahme von § 37 Abs. 6.“

8        § 124/D Abs. 1 bis 3 der Besteuerungsordnung lautet:

„(1)      Soweit in diesem Paragrafen nichts anderes bestimmt ist, gelten für Erstattungsanträge, die auf das Vorsteuerabzugsrecht gestützt werden, die Bestimmungen des § 124/C.

(2)      Der Steuerpflichtige kann den in Abs. 1 genannten Anspruch durch eine Berichtigungserklärung – die innerhalb von 180 Tagen nach Veröffentlichung oder Bekanntgabe der Entscheidung des Alkotmánybíróság [(Verfassungsgericht)], der Kúria [(Oberstes Gericht)] oder des [Gerichtshofs] abzugeben ist – für die Erklärung oder die Erklärungen für das Steuerjahr oder die Steuerjahre ausüben, in dem bzw. denen das betreffende Recht auf Vorsteuerabzug entstanden ist. Nach Ablauf der Frist ist ein Antrag auf Wiedereinsetzung unzulässig.

(3)      Ergibt die in der Berichtigungserklärung korrigierte Berechnung, dass dem Steuerpflichtigen ein Erstattungsanspruch zusteht, sei es aufgrund einer Minderung der von ihm zu entrichtenden Steuer, sei es aufgrund der Erhöhung des zu erstattenden Betrags …, so wendet die Steuerbehörde auf die zu erstattende Steuer einen Zinssatz in Höhe des Basiszinssatzes der Zentralbank an, der für den Zeitraum zwischen dem in der oder den von der Berichtigungserklärung betroffenen Erklärungen bestimmten Zeitpunkt oder dem Zeitpunkt der Fälligkeit – oder dem Zeitpunkt der Entrichtung der Steuer, wenn dieser danach liegt – und dem Zeitpunkt der Einreichung der Berichtigungserklärung berechnet wird. Die Erstattung – für die die Vorschriften über die Zahlung von Haushaltszuwendungen gelten – ist innerhalb von 30 Tagen nach Einreichung der Berichtigungserklärung zu bewirken.“

9        § 164 Abs. 1 der Besteuerungsordnung sieht vor:

„Die Steuerfestsetzungsbefugnis verjährt fünf Jahre nach dem letzten Tag des Kalenderjahrs, in dem die Erklärung oder Mitteilung über diese Steuer hätte abgegeben werden müssen, oder, in Ermangelung einer solchen Erklärung oder Mitteilung, in dem die Steuer hätte entrichtet werden müssen. Sofern gesetzlich nicht anders bestimmt, verjährt der Anspruch auf Beantragung einer Haushaltszuwendung und der Anspruch auf Erstattung zu viel gezahlter Steuer fünf Jahre nach dem letzten Tag des Kalenderjahrs, in dem der Anspruch auf Beantragung der Zuwendung oder der Erstattung entstanden ist.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

10      Lear Corporation stellt an mehreren Standorten in Ungarn Kraftfahrzeugteile und ‑zubehör her. Für die Mehrwertsteuererklärungszeiträume von Dezember 2005 bis Juli 2011 konnte sie ihr Recht auf Erstattung der Mehrwertsteuer wegen der zu diesem Zeitpunkt geltenden und in Rn. 4 des vorliegenden Beschlusses angeführten sogenannten Voraussetzung des „bezahlten Erwerbs“, nach der nur vollständig bezahlte Erwerbe zu einem Abzug der Vorsteuer berechtigen, nicht geltend machen.

11      Mit Urteil vom 28. Juli 2011, Kommission/Ungarn (C‑274/10, EU:C:2011:530, Rn. 54), entschied der Gerichtshof, dass Art. 183 der Richtlinie 2006/112 den Mitgliedstaaten nicht gestattet, die Ausübung des Rechts auf Erstattung eines Überschusses abzugsfähiger Mehrwertsteuer an die Bedingung zu knüpfen, dass der für den betreffenden Umsatz geschuldete Betrag gezahlt wurde.

12      Im Anschluss an dieses Urteil erließ der ungarische Gesetzgeber das Gesetz zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes. Dieses neue Gesetz enthält jedoch keine Regelung, die eine Entschädigung der Steuerpflichtigen für finanzielle Schäden vorsieht, die durch die Anwendung der für mit dem Unionsrecht unvereinbar erklärten Voraussetzung des „bezahlten Erwerbs“ entstanden sind.

13      Am 30. September 2011 stellte Lear Corporation auf der Grundlage des Gesetzes zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes einen Antrag auf Erstattung der Mehrwertsteuer für den in Rn. 10 des vorliegenden Beschlusses genannten Zeitraum. Die ungarische Steuerverwaltung erstattete ihr den geforderten Mehrwertsteuerbetrag, zahlte ihr jedoch keine Verzugszinsen.

14      Mit Beschluss vom 17. Juli 2014, Delphi Hungary Autóalkatrész Gyártó (C‑654/13, EU:C:2014:2127, Rn. 39), entschied der Gerichtshof, dass das Unionsrecht, insbesondere Art. 183 der Richtlinie 2006/112, dahin auszulegen ist, dass es Rechtsvorschriften und einer Praxis eines Mitgliedstaats entgegensteht, wonach die Zahlung von Verzugszinsen auf den Mehrwertsteuerbetrag ausgeschlossen ist, der aufgrund einer für unionsrechtswidrig befundenen nationalen Bestimmung nicht innerhalb eines angemessenen Zeitraums zurückerlangt werden konnte.

15      Der Gerichtshof erläuterte in dem Beschluss, dass es in Ermangelung einer einschlägigen Unionsregelung dem Mitgliedstaat zukommt, unter Beachtung der Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität die Modalitäten der Zahlung solcher Zinsen zu bestimmen, die nicht weniger günstig sein dürfen als diejenigen, die für Rechtsbehelfe gelten, die auf die Verletzung des innerstaatlichen Rechts gestützt sind und einen ähnlichen Gegenstand und Rechtsgrund haben wie Rechtsbehelfe, die auf die Verletzung des Unionsrechts gestützt sind (Äquivalenzgrundsatz), und nicht so ausgestaltet sein dürfen, dass sie die Ausübung der Rechte, die die Unionsrechtsordnung einräumt, praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz).

16      Am 23. Dezember 2014 stellte Lear Corporation unter Bezugnahme auf den Beschluss vom 17. Juli 2014, Delphi Hungary Autóalkatrész Gyártó (C‑654/13, EU:C:2014:2127), bei der Nemzeti Adó- és Vámhivatal Kiemelt Adózók Adóigazgatósága (Steuerdirektion für Großsteuerzahler der nationalen Steuer- und Zollverwaltung, Ungarn) (im Folgenden: erstinstanzliche Steuerbehörde) einen Antrag auf Zahlung von Verzugszinsen in Höhe von 457 916 030 HUF (was zum Zeitpunkt dieses Antrags ca. 1 458 656 Euro entsprach) wegen verspäteter Erstattung der Mehrwertsteuer (im Folgenden: Verzugszinsen). Außerdem verlangte sie die Zahlung von Zinsen wegen verspäteter Zahlung der Verzugszinsen (im Folgenden: Zinseszinsen) für den Zeitraum vom 1. Januar 2008 bis zum 31. Juli 2011.

17      Nachdem die erstinstanzliche Steuerbehörde den Antrag abgelehnt hatte, rief Lear Corporation die Rechtsbehelfsdirektion an, die mit Entscheidung vom 12. Oktober 2015 die Entscheidung der erstinstanzlichen Steuerbehörde aufhob und diese anwies, das Verfahren zu wiederholen.

18      Mit Entscheidung vom 10. November 2015, die nach Abschluss des Überprüfungsverfahrens erging, gab die erstinstanzliche Steuerbehörde dem Antrag von Lear Corporation teilweise statt. Mit einem am 2. November 2016 gestellten ergänzenden Antrag forderte Lear Corporation die erstinstanzliche Steuerbehörde auf, diese Entscheidung dahin gehend zu ergänzen, dass ihr ein Betrag in Höhe von 122 108 685 HUF (was zum Zeitpunkt der Stellung dieses ergänzenden Antrags ca. 396 380 Euro entsprach) als Zinseszinsen zugesprochen werde, und machte geltend, dass die Behörde ihr diese Zinseszinsen von Amts wegen hätte zuerkennen müssen.

19      Mit Urteil vom 24. November 2016 entschied die Kúria (Oberstes Gericht) über die Praxis der ungarischen Steuerverwaltung, die der Umsetzung des Beschlusses vom 17. Juli 2014, Delphi Hungary Autóalkatrész Gyártó (C‑654/13, EU:C:2014:2127), diente. Auf der Grundlage dieses Beschlusses erließ die Kúria (Oberstes Gericht) die Grundsatzentscheidung Nr. 18/2017, in der sie die Modalitäten für die Berechnung der Verzugszinsen auf die Mehrwertsteuerbeträge festlegte, die aufgrund der – mit dem Gesetz zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes aufgehobenen – Voraussetzung des „bezahlten Erwerbs“ nicht zurückerlangt werden konnten.

20      In Anbetracht dieser Grundsatzentscheidung hob die Rechtsbehelfsdirektion mit Entscheidung vom 7. März 2017 die Entscheidung vom 10. November 2015 auf und wies die erstinstanzliche Steuerbehörde an, den von Lear Corporation gestellten Antrag auf Zahlung von Verzugszinsen erneut zu prüfen. Mit Entscheidung vom 18. April 2017 gab die erstinstanzliche Steuerbehörde dem Antrag teilweise statt und erkannte Lear Corporation Verzugszinsen in Höhe von 225 825 000 HUF (was am 18. April 2017 ca. 720 585 Euro entsprach), die auf der Grundlage des Basiszinssatzes der ungarischen Zentralbank berechnet wurden, für den Zeitraum vom 1. Januar 2008 bis zum 31. Juli 2011 zu.

21      Lear Corporation, die mit dieser Entscheidung nicht einverstanden war, beantragte bei der Rechtsbehelfsdirektion, ihr auch Verzugszinsen für den Zeitraum von Dezember 2005 bis Dezember 2007 zuzusprechen, damit der gesamte Zeitraum berücksichtigt werde, in dem sie ihr Recht auf Erstattung der Mehrwertsteuer nicht habe geltend machen können, und zwar vor dem Hintergrund der Grundsatzentscheidung Nr. 18/2017 der Kúria (Oberstes Gericht).

22      Die Rechtsbehelfsdirektion stellte fest, dass Lear Corporation ihren Antrag auf Zahlung von Verzugszinsen am 23. Dezember 2014 gestellt habe, d. h. innerhalb der Verjährungsfrist, und darin den Zeitraum vom 1. Januar 2008 bis zum 31. Juli 2011 ausdrücklich als den Zeitraum genannt habe, auf den sich dieser Antrag stütze. Wegen des Dispositionsgrundsatzes, nach dem die Parteien den Streitgegenstand bestimmten, habe die erstinstanzliche Steuerbehörde nur über diesen Antrag entscheiden müssen. Daher sei der Antrag auf Zahlung von Verzugszinsen für den Zeitraum vom 1. Dezember 2005 bis zum 31. Dezember 2007 als neuer Antrag zu prüfen. Infolgedessen verwies die Rechtsbehelfsdirektion die Sache zur Entscheidung über die Zahlung der in dem Antrag genannten Verzugszinsen an die erstinstanzliche Steuerbehörde zurück.

23      Mit Entscheidung vom 1. September 2017 lehnte die erstinstanzliche Steuerbehörde den Antrag mit der Begründung ab, dass er verjährt sei, da nach der Grundsatzentscheidung Nr. 18/2017 die Zahlung von Verzugszinsen ausdrücklich einen Antrag des Steuerpflichtigen voraussetze, der wegen der Verjährungsfrist nur bis zum 31. Dezember 2016 habe gestellt werden können. Die Rechtsbehelfsdirektion bestätigte diese Entscheidung am 1. Dezember 2017.

24      Lear Corporation erhob daraufhin beim Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht, Ungarn) Klage und machte geltend, sie habe auch für den Zeitraum von Dezember 2005 bis einschließlich Dezember 2007 einen Anspruch auf Zahlung von Verzugszinsen, insbesondere weil sie mit Stellung des in Rn. 13 des vorliegenden Beschlusses genannten Antrags im Jahr 2011 ihr Recht auf Erstattung der Mehrwertsteuer geltend gemacht habe, was die Voraussetzung für die Zuerkennung der Zinsen gewesen sei. Sie wies darauf hin, sie habe am 23. Dezember 2014, also innerhalb der Verjährungsfrist, eigens einen Antrag auf Zahlung von Verzugszinsen gestellt, und infolge der Grundsatzentscheidung Nr. 18/2017 hätte die erstinstanzliche Steuerbehörde ihr diese Zinsen für den gesamten fraglichen Zeitraum zahlen müssen, ohne insoweit an den Wortlaut ihres Antrags gebunden zu sein, da der Effektivitätsgrundsatz vor dem Dispositionsgrundsatz Vorrang haben müsse.

25      Unter diesen Umständen hat das Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Sind Art. 183 der Richtlinie 2006/112 sowie der Äquivalenz- und der Effektivitätsgrundsatz dahin auszulegen, dass in einem Fall, in dem ein Steuerpflichtiger die Erstattung der Mehrwertsteuer beantragt, die er zuvor gemäß einer nach den Feststellungen eines Urteils des Gerichtshofs unionsrechtswidrigen Vorschrift nicht beanspruchen konnte, in Anbetracht des akzessorischen Charakters von Zinsen und des Umstands, dass die Forderung von Verzugszinsen unter dieselbe nationale Vorschrift fällt, die den Antrag auf Erstattung der Mehrwertsteuer regelt, deren verspätete Rückzahlung den Verzug begründet hat, davon auszugehen ist, dass der Antrag auf Erstattung gleichzeitig die Geltendmachung eines Anspruchs auf Zahlung von Verzugszinsen darstellt?

2.      Ist eine Praxis eines Mitgliedstaats, nach der ein im Rahmen eines Steuerverwaltungsverfahrens später geltend gemachter Anspruch des Steuerpflichtigen auf Zahlung von Verzugszinsen gemäß dem Dispositionsgrundsatz mit der Begründung abgelehnt wird, dass sein zunächst geltend gemachter Anspruch auf Verzugszinsen, der zur Einleitung des Verfahrens geführt hat, den bei dem später geltend gemachten Anspruch angegebenen zusätzlichen Zeitraum nicht umfasst habe, so dass der letztgenannte Anspruch als neue Forderung eingestuft und für verjährt erklärt wird, obwohl sich die Steuerverwaltung selbst keineswegs nach dem Dispositionsgrundsatz für an den zuerst geltend gemachten Anspruch des Steuerpflichtigen gebunden gehalten, sondern sich auf diesen Grundsatz nur in Bezug auf Verzugszinsen berufen hat, die für einen Zeitraum verlangt wurden, der zum Zeitpunkt der Geltendmachung des Anspruchs, der zur Einleitung des Verfahrens geführt hat, noch nicht bekannt war, da dieser Zeitraum von der Rechtsprechung festgelegt wurde, während das Verwaltungsverfahren im Gang war, mit dem Äquivalenz- und dem Effektivitätsgrundsatz sowie insbesondere mit dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität vereinbar?

3.      Ist unter Beachtung des Äquivalenz- und des Effektivitätsgrundsatzes sowie des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität davon auszugehen, dass ein später auf der Grundlage der Rechtsprechung geltend gemachter Anspruch in einem Steuerverwaltungsverfahren eine Ergänzung des zunächst geltend gemachten Anspruchs, der zur Einleitung des Verfahrens geführt hat, darstellt, oder handelt es sich um eine Änderung dieses zunächst geltend gemachten Anspruchs, auch wenn sich beide Anträge nur im Hinblick auf den Zeitraum der Zinszahlung voneinander unterscheiden?

4.      Ist eine Praxis eines Mitgliedstaats, nach der ein nach Ablauf der Verjährungsfrist geltend gemachter Anspruch für verjährt erklärt wird, ohne dass geprüft wird, ob berücksichtigungsfähige verjährungshemmende oder unterbrechende Umstände bestehen, insbesondere unter Berücksichtigung des zunächst geltend gemachten Anspruchs der Klägerin aus dem Jahr 2014 sowie des Umstands, dass zwar die geltenden Rechtsvorschriften, die die Voraussetzungen für einen Antrag auf Mehrwertsteuererstattung abschließend regelten, während der Verjährungsfrist nicht geändert wurden, jedoch die Kúria (Oberstes Gericht) und der Gerichtshof in Ermangelung einer einschlägigen gesetzlichen Regelung die Voraussetzungen für die Geltendmachung eines Anspruchs auf Verzugszinsen durch eine weite Auslegung ebendieser Rechtsvorschriften festgelegt haben, so dass die Modalitäten der Geltendmachung des Anspruchs auf Verzugszinsen den Steuerpflichtigen während eines entscheidenden Teils der fünfjährigen Verjährungsfrist weder bekannt noch klar waren und darüber hinaus nicht einmal in Gestalt einer Rechtsnorm existierten, mit dem Äquivalenz- und dem Effektivitätsgrundsatz sowie dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität vereinbar?

 Zu den Vorlagefragen

26      Nach Art. 99 seiner Verfahrensordnung kann der Gerichtshof auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts jederzeit die Entscheidung treffen, durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden, wenn die Antwort auf eine zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage klar aus der Rechtsprechung abgeleitet werden kann.

27      Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die durch Art. 267 AEUV begründete Zusammenarbeit zwischen den Gerichten auf einer klaren Aufgabentrennung zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof beruht. Einerseits ist der Gerichtshof nicht befugt, die Normen des Unionsrechts auf einen Einzelfall anzuwenden, sondern nur, sich zur Auslegung der Verträge und der Handlungen der Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union zu äußern (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia „Forumul Judecătorilor din România“ u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 201 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). Andererseits hat nach Nr. 11 der Empfehlungen des Gerichtshofs der Europäischen Union an die nationalen Gerichte bezüglich der Vorlage von Vorabentscheidungsersuchen (ABl. 2019, C 380, S. 1) das nationale Gericht in dem bei ihm anhängigen Rechtsstreit die konkreten Konsequenzen aus den Auslegungshinweisen des Gerichtshofs zu ziehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Oktober 2018, Roche Lietuva, C‑413/17, EU:C:2018:865, Rn. 43).

28      Im vorliegenden Fall ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die vom vorlegenden Gericht erbetene Auslegung des Unionsrechts klar aus den Urteilen vom 12. Februar 2008, Kempter (C‑2/06, EU:C:2008:78), und vom 23. April 2020, Sole-Mizo und Dalmandi Mezőgazdasági (C‑13/18 und C‑126/18, EU:C:2020:292), sowie aus dem Beschluss vom 20. Juni 2023, SOLE‑MiZo (C‑426/22, EU:C:2023:517), abgeleitet werden kann. Folglich ist in der vorliegenden Rechtssache Art. 99 der Verfahrensordnung anzuwenden.

29      Wie aus Rn. 27 des vorliegenden Beschlusses hervorgeht, wird das vorlegende Gericht im Ausgangsrechtsstreit die konkreten Konsequenzen aus den Auslegungshinweisen zu ziehen haben, die sich aus dieser Rechtsprechung des Gerichtshofs ergeben.

 Zur ersten Frage

30      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 183 der Richtlinie 2006/112 im Licht der Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität dahin auszulegen ist, dass er – in einem Fall, in dem ein Steuerpflichtiger die Erstattung der Mehrwertsteuer beantragt, die er zuvor aufgrund einer vom Gerichtshof für mit diesem Artikel unvereinbar befundenen rechtlichen Bedingung nicht beanspruchen konnte – dem entgegensteht, dass dieser Erstattungsantrag in Anbetracht des akzessorischen Charakters von Verzugszinsen und des Umstands, dass ihre Zahlung durch dieselben nationalen Vorschriften geregelt wird wie die Erstattung der Mehrwertsteuer, deren verspätete Rückzahlung den Verzug begründet hat, dahin angesehen werden kann, dass er auch einen Antrag auf Zahlung von Verzugszinsen umfasst.

31      In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof in dem Beschluss vom 20. Juni 2023, SOLE‑MiZo (C‑426/22, EU:C:2023:517), insbesondere entschieden:

„40      [Wenn] ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen Vorschriften des Unionsrechts Steuern erhoben hat, [haben die Einzelnen] Anspruch auf Erstattung nicht nur der zu Unrecht erhobenen Steuer, sondern auch der Beträge, die in unmittelbarem Zusammenhang mit dieser Steuer an diesen Staat gezahlt oder von diesem einbehalten worden sind. Darunter fallen auch die Einbußen aufgrund der mangelnden Verfügbarkeit von Geldbeträgen infolge der vorzeitigen Fälligkeit der Steuer. Folglich ergibt sich der Grundsatz, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobene Steuerbeträge zuzüglich Zinsen zu erstatten, aus dem Unionsrecht …

41      In Ermangelung einer Unionsregelung kommt es der innerstaatlichen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten zu, die Bedingungen für die Zahlung solcher Zinsen, insbesondere den Zinssatz und die Methode für die Berechnung der Zinsen (einfache Verzinsung oder Zahlung von Zinseszinsen), festzulegen. Diese Bedingungen müssen den Grundsätzen der Äquivalenz und der Effektivität entsprechen, d. h. sie dürfen nicht ungünstiger sein als bei ähnlichen Forderungen, die auf Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts gestützt sind, und sie dürfen nicht so ausgestaltet sein, dass sie die Ausübung der Rechte, die die Unionsrechtsordnung einräumt, praktisch unmöglich machen. Außerdem müssen diese Bedingungen dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität genügen …

42      Was den Äquivalenzgrundsatz angeht, verlangt dieser nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass die streitige nationale Regelung in gleicher Weise für Rechtsbehelfe gilt, die auf die Verletzung von den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechten gestützt sind, wie für solche, die auf die Verletzung des innerstaatlichen Rechts gestützt sind, sofern diese Rechtsbehelfe einen ähnlichen Gegenstand und Rechtsgrund haben …

43      In Bezug auf den Effektivitätsgrundsatz ist festzustellen, dass dieser verlangt, dass die nationalen Vorschriften über die Berechnung der Zinsen, die im Fall eines Antrags auf Erstattung eines unter Verstoß gegen das Unionsrecht einbehaltenen Überschusses abzugsfähiger Mehrwertsteuer geschuldet werden, nicht dazu führen, dass dem Steuerpflichtigen eine angemessene Entschädigung für die Einbußen, die er durch die Nichtverfügbarkeit der betreffenden Beträge erlitten hat, vorenthalten wird …

44      Zum Grundsatz der steuerlichen Neutralität ist darauf hinzuweisen, dass dieser Grundsatz in Anbetracht des Zwecks der Zahlung von Zinsen auf von einem Mitgliedstaat unter Verstoß gegen die Vorschriften des Unionsrechts einbehaltene Mehrwertsteuerüberschüsse, der darin besteht, die finanziellen Verluste auszugleichen, die zum Nachteil des Steuerpflichtigen durch die Nichtverfügbarkeit der betreffenden Beträge entstanden sind, verlangt, dass die Modalitäten der Zahlung von Zinsen so festgelegt werden, dass die wirtschaftliche Belastung aufgrund der zu Unrecht einbehaltenen Steuerbeträge ausgeglichen werden kann …“

32      Unter diesen Umständen ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 183 der Richtlinie 2006/112 im Licht der Grundsätze der Äquivalenz, der Effektivität und der steuerlichen Neutralität dahin auszulegen ist, dass er – in einem Fall, in dem ein Steuerpflichtiger die Erstattung der Mehrwertsteuer beantragt, die er zuvor aufgrund einer vom Gerichtshof für mit diesem Artikel unvereinbar befundenen rechtlichen Bedingung nicht beanspruchen konnte – dem nicht entgegensteht, dass dieser Erstattungsantrag unter den im Recht des betreffenden Mitgliedstaats vorgesehenen Bedingungen in Anbetracht des Zwecks der Zahlung von Zinsen auf von einem Mitgliedstaat unter Verstoß gegen die Vorschriften des Unionsrechts einbehaltene Mehrwertsteuerüberschüsse, nämlich des Ausgleichs der zum Nachteil des Steuerpflichtigen durch die Nichtverfügbarkeit der betreffenden Beträge entstandenen finanziellen Verluste, dahin angesehen werden kann, dass er auch einen Antrag auf Zahlung von Verzugszinsen umfasst.

 Zur zweiten Frage

33      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Grundsätze der Äquivalenz, der Effektivität und der steuerlichen Neutralität dahin auszulegen sind, dass sie einer Praxis eines Mitgliedstaats entgegenstehen, wonach ein Antrag auf Zahlung von Verzugszinsen, der einen Zeitraum nennt, der nicht Gegenstand eines zunächst gestellten Antrags auf Zahlung solcher Zinsen war, mit der Folge der Verjährung als neuer Antrag eingestuft wird, und wonach die Steuerverwaltung dieses Staats wegen des Dispositionsgrundsatzes nicht verpflichtet ist, im Stadium des zuerst gestellten Antrags Zinsen zu gewähren, die in diesem Antrag nicht genannt werden, wenn der Steuerpflichtige zum Zeitpunkt des zuerst gestellten Antrags nicht wissen konnte, dass er den zeitlichen Umfang des Antrags hätte ausweiten können.

34      Zunächst ist festzustellen, dass diese Frage notwendigerweise bedingt, dass die in Rn. 32 des vorliegenden Beschlusses genannte Möglichkeit nicht besteht. Diese Frage setzt nämlich in sich voraus, dass es im Recht des betreffenden Mitgliedstaats keine Bestimmung gibt, nach der ein Antrag auf Erstattung der von der Steuerverwaltung dieses Staats zu Unrecht einbehaltenen Steuer ipso iure bedeutet, dass sich dieser Antrag auch auf die Zahlung von Verzugszinsen erstreckt.

35      Zur Beantwortung dieser Frage ist zunächst darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof in seinem Urteil vom 12. Februar 2008, Kempter (C‑2/06, EU:C:2008:78), Folgendes entschieden hat:

„35      [Durch] die Auslegung einer Bestimmung des [Unionsrechts], die der Gerichtshof in Ausübung seiner Befugnisse aus Art. [267 AEUV] vornimmt, [wird] erforderlichenfalls erläutert und verdeutlicht …, in welchem Sinne und mit welcher Bedeutung diese Bestimmung seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden ist oder gewesen wäre … Eine Vorabentscheidung ist, mit anderen Worten, nicht konstitutiver, sondern rein deklaratorischer Natur und wirkt daher grundsätzlich auf den Zeitpunkt des Inkrafttretens der ausgelegten Vorschrift zurück …

36      Daraus folgt, dass … eine so ausgelegte Bestimmung des [Unionsrechts] von einer Verwaltungsbehörde im Rahmen ihrer Zuständigkeit auch auf Rechtsbeziehungen anzuwenden ist, die vor dem Erlass der Vorabentscheidung des Gerichtshofs entstanden sind …“

36      In seinem Urteil vom 23. April 2020, Sole-Mizo und Dalmandi Mezőgazdasági (C‑13/18 und C‑126/18, EU:C:2020:292), hat der Gerichtshof dann insbesondere Folgendes festgestellt:

„49      Eine nationale Praxis, wonach im Fall einer auf Antrag des Steuerpflichtigen erfolgenden Erstattung eines unter Verstoß gegen das Unionsrecht einbehaltenen Betrags eines Überschusses abzugsfähiger Mehrwertsteuer die auf diesen Betrag angewandten Zinsen … für einen bestimmten Erklärungszeitraum laufen, ohne dass Zinsen angewandt würden, um dem Steuerpflichtigen einen Ausgleich für die Geldentwertung zu bieten, die auf dem Ablauf der Zeit nach diesem Erklärungszeitraum bis zur tatsächlichen Zahlung dieser Zinsen beruht, ist … geeignet, dem Steuerpflichtigen einen angemessenen Ausgleich für den Verlust vorzuenthalten, der durch die Nichtverfügbarkeit der betreffenden Beträge entstanden ist, so dass damit der Effektivitätsgrundsatz missachtet wird. Außerdem ist eine solche Praxis nicht geeignet, die wirtschaftliche Belastung durch die unter Verstoß gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität einbehaltenen Steuerbeträge auszugleichen.

64      [Wenn] die Forderung … auf einem Verstoß eines Mitgliedstaats gegen das Unionsrecht beruht, [verlangt der Effektivitätsgrundsatz,] dass dieser [Mitgliedstaat] bei verspäteter Begleichung dieser Forderung durch die Verwaltung Verzugszinsen zahlt; andernfalls würden die Mitgliedstaaten nicht dazu bewegt, die Auswirkungen dieses Verstoßes auf die Steuerpflichtigen so rasch wie möglich auszugleichen.

65      Was die Voraussetzungen betrifft, unter denen solche Zinsen gezahlt werden, [kommt] es in Ermangelung einer unionsrechtlichen Regelung der innerstaatlichen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten [zu], diese Bedingungen festzulegen, wobei insbesondere die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität zu beachten sind.

67      In Anbetracht der Verfahrensautonomie, über die die Mitgliedstaaten verfügen, um in ihrem nationalen Recht die verfahrensrechtlichen Voraussetzungen für die Zahlung von Zinsen auf Beträge der unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobenen Steuern vorzusehen, verstößt das Erfordernis, dass der Steuerpflichtige einen Antrag auf Zahlung von Verzugszinsen stellen muss, die im Fall eines Verzugs der Verwaltung mit der Begleichung einer Forderung geschuldet werden, die auf einem Unionsrechtsverstoß beruht, nicht gegen den Effektivitätsgrundsatz.“

37      Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass Lear Corporation am 23. Dezember 2014 einen Antrag auf Zahlung von Verzugszinsen gestellt und sich dieser Antrag auf einen genau bestimmten Zeitraum bezogen hat, nämlich den Zeitraum vom 1. Januar 2008 bis zum 31. Juli 2011. Da hier nicht von dem Fall ausgegangen wird, der der Beantwortung der ersten Frage zugrunde liegt, nämlich dass der Antrag auf Erstattung des Hauptbetrags nach dem nationalen Recht als solcher einen Antrag auf Zahlung von Verzugszinsen einschließt, kann sich die Steuerverwaltung des betreffenden Mitgliedstaats daher aus Sicht des Unionsrechts an das Petitum eines solchen Antrags halten, d. h. im vorliegenden Fall die Zinsen für den vom Steuerpflichtigen selbst definierten Zeitraum.

38      Wie in der Vorlageentscheidung näher ausgeführt wird, hat Lear Corporation jedoch im Rahmen des zwischen ihr und der ungarischen Steuerverwaltung geführten Rechtsstreits den Antrag, die Grundsatzentscheidung Nr. 18/2017 der Kúria (Oberstes Gericht) für den gesamten von diesem Gericht in dieser Entscheidung festgelegten Zeitraum in Bezug auf den Anspruch auf Zahlung von Verzugszinsen zu berücksichtigen, erst gestellt, nachdem sie von dieser Entscheidung Kenntnis erlangte hatte.

39      Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass eine Praxis wie die der Steuerverwaltung des betreffenden Mitgliedstaats, die darin besteht, einen solchen Antrag als neuen Antrag einzustufen, mit der Folge, dass ein Teil der Verzugszinsen wegen der Verjährung dieses Antrags nicht gezahlt wird, gegen die Grundsätze verstößt, die sowohl im Urteil vom 12. Februar 2008, Kempter (C‑2/06, EU:C:2008:78), als auch im Urteil vom 23. April 2020, Sole-Mizo und Dalmandi Mezőgazdasági (C‑13/18 und C‑126/18, EU:C:2020:292), eindeutig festgelegt wurden.

40      Zum einen hat nämlich im vorliegenden Fall Lear Corporation – unter Berufung auf den Beschluss vom 17. Juli 2014, Delphi Hungary Autóalkatrész Gyártó (C‑654/13, EU:C:2014:2127) – innerhalb der Verjährungsfrist einen ersten Antrag auf Zahlung von Verzugszinsen auf den Mehrwertsteuerbetrag gestellt, der wegen der Voraussetzung des „bezahlten Erwerbs“ nicht erstattungsfähig war, und der spätere Antrag von Lear Corporation ist als Teil der Konsequenzen anzusehen, die sich für die Steuerpflichtigen auf nationaler Ebene aus diesem ex tunc wirkenden Beschluss ergeben.

41      Zum anderen enthält die Steuerverwaltung des betreffenden Mitgliedstaats, indem sie die Zahlung von Verzugszinsen für den Zeitraum, auf den sich der spätere Antrag bezieht, praktisch unmöglich macht, während der Steuerpflichtige erst durch eine Entscheidung des Obersten Gerichts des betreffenden Mitgliedstaats nach dem zunächst gestellten Antrag auf Zahlung von Verzugszinsen von seinen Rechten in vollem Umfang Kenntnis erlangen konnte, „dem Steuerpflichtigen einen angemessenen Ausgleich für den Verlust [vor], der durch die Nichtverfügbarkeit der betreffenden Beträge entstanden ist, so dass damit der Effektivitätsgrundsatz missachtet wird“ (Urteil vom 23. April 2020, Sole-Mizo und Dalmandi Mezőgazdasági, C‑13/18 und C‑126/18, EU:C:2020:292, Rn. 49).

42      Unter diesen Umständen ist auf die zweite Frage zu antworten, dass die Grundsätze der Effektivität und der steuerlichen Neutralität dahin auszulegen sind, dass sie einer Praxis eines Mitgliedstaats nicht entgegenstehen, wonach dessen Steuerverwaltung nicht verpflichtet ist, im Stadium eines innerhalb der Verjährungsfrist gestellten Antrags auf Zahlung von Verzugszinsen, der sich auf von diesem Staat unter Verstoß gegen das Unionsrecht einbehaltene Mehrwertsteuerbeträge bezieht, Zinsen zu gewähren, die in diesem Antrag nicht genannt werden, dass sie jedoch diesen Behörden verwehren, einen späteren Antrag auf Zahlung von Verzugszinsen, der einen Zeitraum nennt, der nicht Gegenstand des zunächst gestellten Antrags war, mit der Folge der Verjährung als neuen Antrag einzustufen, wenn der später gestellte Antrag Verzugszinsen auf Mehrwertsteuerbeträge betrifft, die aufgrund desselben Verstoßes gegen das Unionsrecht einbehalten wurden, der dem ersten Antrag zugrunde lag, und der Steuerpflichtige von der Möglichkeit, den zeitlichen Umfang seines ersten Antrags auszuweiten, erst nach Erlass einer nationalen Gerichtsentscheidung, die im Anschluss an eine vom Gerichtshof in Ausübung seiner Befugnisse aus Art. 267 AEUV erlassene Entscheidung erging, Kenntnis erlangte.

 Zur dritten Frage

43      Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Grundsätze der Äquivalenz, der Effektivität und der steuerlichen Neutralität dahin auszulegen sind, dass ein später gestellter Antrag auf Zahlung von Verzugszinsen, der aufgrund einer Weiterentwicklung in der Rechtsprechung gestellt wird, als Ergänzung oder als Änderung des zunächst gestellten Antrags auf Zahlung solcher Zinsen angesehen werden kann, da sich die beiden Anträge nur im Hinblick auf den Zeitraum voneinander unterscheiden, für den die Verzugszinsen gefordert werden.

44      Aus der in Rn. 42 des vorliegenden Beschlusses gegebenen Antwort auf die zweite Frage, wonach diese Grundsätze es der Steuerverwaltung des betreffenden Mitgliedstaats in einem solchen Fall verwehren, einen später gestellten Antrag auf Zahlung von Verzugszinsen als neuen Antrag einzustufen, lässt sich der logische Schluss ziehen, dass diese Grundsätze umgekehrt implizieren, dass der später gestellte Antrag nach den von diesem Staat im Hinblick auf sein nationales Recht festzulegenden Modalitäten als Ergänzung des zunächst gestellten Antrags auf Zahlung solcher Zinsen anzusehen ist.

45      Unter diesen Umständen ist auf die dritte Frage zu antworten, dass die Grundsätze der Effektivität und der steuerlichen Neutralität dahin auszulegen sind, dass ein später gestellter Antrag auf Zahlung von Verzugszinsen, der sich auf einen Zeitraum bezieht, der nicht Gegenstand des zunächst gestellten Antrags auf Zahlung solcher Zinsen war, nach den Modalitäten, die jeder Mitgliedstaat im Hinblick auf sein nationales Recht festzulegen hat, als Ergänzung des zunächst gestellten Antrags anzusehen ist, wenn der später gestellte Antrag Verzugszinsen auf Mehrwertsteuerbeträge betrifft, die aufgrund desselben Verstoßes gegen das Unionsrecht einbehalten wurden, der dem ersten Antrag zugrunde lag, und der Steuerpflichtige von der Möglichkeit, den zeitlichen Umfang seines ersten Antrags auszuweiten, erst nach Erlass einer nationalen Gerichtsentscheidung, die im Anschluss an eine vom Gerichtshof in Ausübung seiner Befugnisse aus Art. 267 AEUV erlassene Entscheidung erging, Kenntnis erlangte.

 Zur vierten Frage

46      Die vierte Frage des vorlegenden Gerichts beruht auf der Prämisse, dass der später gestellte Antrag auf Zahlung von Verzugszinsen unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens verjährt sein kann. Aus der in Rn. 42 des vorliegenden Beschlusses gegebenen Antwort auf die zweite Frage folgt jedoch, dass die Grundsätze der Äquivalenz, der Effektivität und der steuerlichen Neutralität dem entgegenstehen, dass ein solcher Antrag als neuer Antrag eingestuft werden und folglich verjährt sein kann. Vielmehr geht aus der in Rn. 45 des vorliegenden Beschlusses gegebenen Antwort auf die dritte Frage hervor, dass dieser Antrag nach den Modalitäten, die jeder Mitgliedstaat im Hinblick auf sein nationales Recht festzulegen hat, als Ergänzung des zunächst gestellten Antrags auf Zahlung von Verzugszinsen anzusehen ist.

47      Infolgedessen ist die vierte Frage nicht zu beantworten.

 Kosten

48      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Siebte Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 183 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem

ist im Licht der Grundsätze der Äquivalenz, der Effektivität und der steuerlichen Neutralität dahin auszulegen, dass

er – in einem Fall, in dem ein Steuerpflichtiger die Erstattung der Mehrwertsteuer, die er zuvor aufgrund einer vom Gerichtshof für mit diesem Artikel unvereinbar befundenen rechtlichen Bedingung nicht beanspruchen konnte – dem nicht entgegensteht, dass dieser Erstattungsantrag unter den im Recht des betreffenden Mitgliedstaats vorgesehenen Bedingungen in Anbetracht des Zwecks der Zahlung von Zinsen auf von einem Mitgliedstaat unter Verstoß gegen die Vorschriften des Unionsrechts einbehaltene Mehrwertsteuerüberschüsse, nämlich des Ausgleichs der zum Nachteil des Steuerpflichtigen durch die Nichtverfügbarkeit der betreffenden Beträge entstandenen finanziellen Verluste, dahin angesehen werden kann      , dass er auch einen Antrag auf Zahlung von Verzugszinsen umfasst.

2.      Die Grundsätze der Effektivität und der steuerlichen Neutralität

sind dahin auszulegen, dass

sie einer Praxis eines Mitgliedstaats nicht entgegenstehen, wonach dessen Steuerverwaltung nicht verpflichtet ist, im Stadium eines innerhalb der Verjährungsfrist gestellten Antrags auf Zahlung von Verzugszinsen, der sich auf von diesem Staat unter Verstoß gegen das Unionsrecht einbehaltene Mehrwertsteuerbeträge bezieht, Zinsen zu gewähren, die in diesem Antrag nicht genannt werden, dass sie jedoch diesen Behörden verwehren, einen späteren Antrag auf Zahlung von Verzugszinsen, der einen Zeitraum nennt, der nicht Gegenstand des zunächst gestellten Antrags war, mit der Folge der Verjährung als neuen Antrag einzustufen, wenn der später gestellte Antrag Verzugszinsen auf Mehrwertsteuerbeträge betrifft, die aufgrund desselben Verstoßes gegen das Unionsrecht einbehalten wurden, der dem ersten Antrag zugrunde lag, und der Steuerpflichtige von der Möglichkeit, den zeitlichen Umfang seines ersten Antrags auszuweiten, erst nach Erlass einer nationalen Gerichtsentscheidung, die im Anschluss an eine vom Gerichtshof in Ausübung seiner Befugnisse aus Art. 267 AEUV erlassene Entscheidung erging, Kenntnis erlangte.

3.      Die Grundsätze der Effektivität und der steuerlichen Neutralität

sind dahin auszulegen, dass

ein später gestellter Antrag auf Zahlung von Verzugszinsen, der sich auf einen Zeitraum bezieht, der nicht Gegenstand des zunächst gestellten Antrags auf Zahlung solcher Zinsen war, nach den Modalitäten, die jeder Mitgliedstaat im Hinblick auf sein nationales Recht festzulegen hat, als Ergänzung des zunächst gestellten Antrags anzusehen ist, wenn der später gestellte Antrag Verzugszinsen auf Mehrwertsteuerbeträge betrifft, die aufgrund desselben Verstoßes gegen das Unionsrecht einbehalten wurden, der dem ersten Antrag zugrunde lag, und der Steuerpflichtige von der Möglichkeit, den zeitlichen Umfang seines ersten Antrags auszuweiten, erst nach Erlass einer nationalen Gerichtsentscheidung, die im Anschluss an eine vom Gerichtshof in Ausübung seiner Befugnisse aus Art. 267 AEUV erlassene Entscheidung erging, Kenntnis erlangte.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Ungarisch.