Language of document : ECLI:EU:T:2010:203

Rechtssache T-19/05

Boliden AB u. a.

gegen

Europäische Kommission

„Wettbewerb – Kartelle – Kupfer-Installationsrohrbranche – Entscheidung, mit der eine Zuwiderhandlung gegen Art. 81 EG festgestellt wird – Fortgesetzte und vielgestaltige Zuwiderhandlung – Geldbußen – Verjährung – Zusammenarbeit“

Leitsätze des Urteils

1.      Wettbewerb – Kartelle – Unternehmen, denen eine Zuwiderhandlung in Form der Teilnahme an einem Gesamtkartell zur Last gelegt werden kann

(Art. 81 Abs. 1 EG)

2.      Wettbewerb – Geldbußen – Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen – Berechnungsmethode, die verschiedene Spielräume berücksichtigt

(Art. 229 EG; Verordnungen des Rates Nr. 17, Art. 15 Abs. 2, und Nr. 1/2003, Art. 23 Abs. 2; Mitteilung 98/C 9/03 der Kommission)

3.      Verfahren – Vorbringen neuer Angriffs- und Verteidigungsmittel im Laufe des Verfahrens – Voraussetzungen – Neues Vorbringen

(Verfahrensordnung des Gerichts, Art. 44 § 1 und 48 § 2)

4.      Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Kriterien – Dauer der Zuwiderhandlung – Langzeitverstöße – Erhöhung des Ausgangsbetrags um 10 % je Jahr

(Verordnungen des Rates Nr. 17, Art. 15 Abs. 2, und Nr. 1/2003, Art. 23 Abs. 2; Mitteilung 98/C 9/03 der Kommission, Nr. 1 B)

5.      Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Kriterien – Herabsetzung der Geldbuße als Gegenleistung für eine Zusammenarbeit des beschuldigten Unternehmens – Voraussetzungen

(Verordnungen des Rates Nr. 17 und Nr. 1/2003; Mitteilung 96/C 207/04 der Kommission)

1.      Ein Unternehmen kann für ein Gesamtkartell verantwortlich gemacht werden, auch wenn es nachweislich nur an einem oder mehreren Bestandteilen dieses Kartells unmittelbar mitgewirkt hat, sofern es wusste oder zwangsläufig wissen musste, dass zum einen die Absprache, an der es beteiligt war, Teil eines Gesamtsystems war und dass zum anderen sich dieses System auf sämtliche Bestandteile des Kartells erstreckte.

(vgl. Randnr. 61)

2.      Die Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen, die gemäß Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 und gemäß Artikel 65 Absatz 5 EGKS-Vertrag festgesetzt werden, können zwar nicht als Rechtsnorm qualifiziert werden, stellen aber eine Verhaltensnorm dar, die einen Hinweis auf die zu befolgende Praxis enthält und von der die Kommission im Einzelfall nur unter Angabe von mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz zu vereinbarenden Gründen abweichen kann. Es ist somit Sache des Gerichts, im Rahmen der Kontrolle der Rechtmäßigkeit der mit einer Entscheidung der Kommission verhängten Geldbußen zu prüfen, ob die Kommission ihr Ermessen gemäß der in den Leitlinien dargelegten Methode ausgeübt hat und, soweit es feststellt, dass sie davon abgewichen ist, ob diese Abweichung gerechtfertigt und rechtlich hinreichend begründet ist.

Die aus dem Erlass der Leitlinien resultierende Selbstbeschränkung des Ermessens der Kommission ist nämlich nicht unvereinbar mit dem Fortbestand eines erheblichen Ermessens der Kommission. Die Leitlinien enthalten verschiedene Spielräume, die es der Kommission ermöglichen, ihr Ermessen im Einklang mit den Vorschriften der Verordnungen Nr. 17 und Nr. 1/2003 in ihrer Auslegung durch den Gerichtshof auszuüben. Daher ist in den Bereichen, in denen die Kommission über einen Ermessensspielraum verfügt, z. B. in Bezug auf den Erhöhungssatz nach Maßgabe der Dauer, die Rechtmäßigkeitskontrolle dieser Beurteilungen auf die Prüfung beschränkt, dass kein offensichtlicher Beurteilungsfehler vorliegt. Im Übrigen greifen das Ermessen der Kommission und die diesem von ihr selbst gezogenen Grenzen grundsätzlich nicht der Ausübung der dem Richter zustehenden Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung vor, die ihn ermächtigt, die von der Kommission verhängte Geldbuße aufzuheben, zu ermäßigen oder zu erhöhen.

(vgl. Randnrn. 74-78)

3.      Aus Art. 44 § 1 Buchst. c in Verbindung mit Art. 48 § 2 der Verfahrensordnung des Gerichts ergibt sich, dass die Klageschrift den Streitgegenstand und eine kurze Darstellung der Klagegründe enthalten muss und im übrigen neue Angriffs- und Verteidigungsmittel im Laufe des Verfahrens nicht mehr vorgebracht werden können, es sei denn, dass sie auf rechtliche oder tatsächliche Gründe gestützt werden, die erst während des Verfahrens zutage getreten sind. Ein Angriffsmittel, das eine Erweiterung eines bereits vorher – unmittelbar oder implizit – in der Klageschrift vorgetragenen Angriffsmittels darstellt und einen engen Zusammenhang mit diesem aufweist, ist jedoch für zulässig zu erklären. Entsprechendes muss für eine Rüge gelten, die zur Stützung eines Angriffsmittels vorgebracht wird.

Im Rahmen einer Klage auf Nichtigerklärung oder Herabsetzung einer in einer Entscheidung der Kommission gegen ein Unternehmen wegen Verstoßes gegen das Wettbewerbsrecht der Gemeinschaft verhängten Geldbuße ist eine erstmals in der Erwiderung erhobene Rüge in Bezug auf die Beurteilung der Schwere der Teilnahme des betreffenden Unternehmens am Kartell zurückzuweisen, wenn die Klageschrift nur ein Angriffsmittel enthält, das auf die Unverhältnismäßigkeit der verhängten Geldbuße Bezug nimmt und nur auf die Erhöhung des Ausgangsbetrags der Geldbuße wegen der Dauer abzielt. Diese Rüge kann nicht als eine Erweiterung des in der Klageschrift vorgetragenen Angriffsmittels angesehen werden. Eine Rüge in Bezug auf wesentliche Bestandteile einer Entscheidung wie die Beurteilung der Schwere der Zuwiderhandlung muss nämlich bereits in der Klageschrift konkret formuliert werden.

(vgl. Randnrn. 90-92)

4.      Aus den Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen, die gemäß Art. 15 Abs. 2 der Verordnung Nr. 17 und gemäß Art. 65 § 5 EGKS-Vertrag festgesetzt werden, geht hervor, dass die Kommission weder eine Überschneidung noch eine Wechselwirkung zwischen der Beurteilung der Schwere und der Beurteilung der Dauer der Zuwiderhandlung vorgesehen hat. Die Tatsache, dass sie sich bei Zuwiderhandlungen von langer Dauer die Möglichkeit einer Erhöhung des für die Schwere der Zuwiderhandlung angesetzten Betrags um bis zu 10 % pro Jahr der Zuwiderhandlung vorbehalten hat, verpflichtet sie nicht dazu, diesen Erhöhungssatz nach Maßgabe der Intensität der Aktivitäten des Kartells oder seiner Wirkungen oder auch der Schwere der Zuwiderhandlung festzusetzen. Es obliegt ihr nämlich, den Erhöhungssatz, den sie wegen der Dauer der Zuwiderhandlung anwenden will, im Rahmen ihres weiten Ermessens zu bestimmen.

(vgl. Randnrn. 95-96, 98)

5.      Im Rahmen der Beurteilung der Zusammenarbeit der Mitglieder eines Kartells verfügt die Kommission bei der Beurteilung der Qualität und der Nützlichkeit des Kooperationsbeitrags eines Unternehmens, insbesondere im Vergleich zu den Beiträgen anderer Unternehmen, über einen weiten Beurteilungsspielraum. Nur ein offensichtlicher Beurteilungsfehler der Kommission kann somit beanstandet werden. Allerdings darf die Kommission bei dieser Beurteilung nicht gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz verstoßen.

(vgl. Randnr. 105)