Language of document : ECLI:EU:C:2024:241

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

NICHOLAS EMILIOU

vom 14. März 2024(1)

Rechtssache C147/23

Europäische Kommission

gegen

Republik Polen

„Nichterfüllung von Verpflichtungen durch einen Mitgliedstaat – Art. 258 AEUV – Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden – Richtlinie (EU) 2019/1937 – Nichtumsetzung dieser Richtlinie – Art. 260 Abs. 3 AEUV – Finanzielle Sanktionen – Periodisches Zwangsgeld – Pauschalbetrag – Von der Kommission für den Vorschlag finanzieller Sanktionen an den Gerichtshof angewandte Berechnungsmethode – Schwerekoeffizient – Vollständige Nichtmitteilung von Maßnahmen zur Umsetzung einer Richtlinie – Systematische Anwendung eines Koeffizienten von 10 – Zahlungsfähigkeit des Mitgliedstaats – Faktor n – Berücksichtigung der Bevölkerungszahl des Mitgliedstaats“






I.      Einführung

1.        Wenn ein Autofahrer einen Strafzettel erhält, geht er wahrscheinlich davon aus, dass die Höhe des Bußgelds die Schwere des Verstoßes widerspiegelt und somit in einem anteiligen Verhältnis zu der Zahl der Stundenkilometer steht, um die er die Höchstgeschwindigkeit überschritten hat. In einem anderen Szenario erwartet ein Unternehmen, dem eine Geldbuße wegen eines Verstoßes gegen Wettbewerbsvorschriften oder Vorschriften zum Schutz personenbezogener Daten der Europäischen Union auferlegt wird, dass sich (wie es das Unionsrecht vorschreibt)(2) in der Höhe einer solchen Geldbuße unter anderem die Schwere und die Dauer des Verstoßes sowie die Leistungsfähigkeit des Unternehmens auf der Grundlage seines Gesamtumsatzes widerspiegeln. Weder der Fahrer noch das Unternehmen würden jedoch in diesen beiden Beispielen auf die Idee kommen, dass sich die Geldbuße nur deshalb erhöht, weil die Zahl der in ihrem Haushalt lebenden bzw. zum Zeitpunkt des Verstoßes von ihnen beschäftigten Personen im Vergleich zu der Zahl, die für einen durchschnittlichen Fahrer bzw. ein anderes Unternehmen anzusetzen ist, höher ist.

2.        Sollte eine andere Logik gelten, wenn gegen einen Mitgliedstaat finanzielle Sanktionen verhängt werden, weil er es versäumt hat, der Europäischen Kommission die zur Umsetzung einer Richtlinie erforderlichen Maßnahmen mitzuteilen? Kann die Höhe der Sanktionen von der Bevölkerungszahl des Mitgliedstaats abhängen?

3.        Dies ist im Wesentlichen eine der zentralen Fragen des vorliegenden Falles.

4.        Konkret stellt sich diese Frage im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens, das die Kommission nach Art. 258 AEUV gegen die Republik Polen eingeleitet hat, weil diese es unterlassen hat, die zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2019/1937 zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden(3) (im Folgenden: Whistleblower-Richtlinie), erforderlichen Maßnahmen zu erlassen und diese der Kommission mitzuteilen. Die Republik Polen bestreitet diese Vertragsverletzung nicht. Sie beanstandet jedoch die Höhe der finanziellen Sanktionen, die der Gerichtshof nach dem Vorschlag der Kommission verhängen soll. Insoweit stellt sie zwei Elemente der von der Kommission angewandten Berechnungsmethode in Frage. Aufgrund eines dieser Elemente kommt es nach Ansicht der Republik Polen systematisch zu höheren finanziellen Sanktionen für Mitgliedstaaten, die, wie Polen, eine größere Bevölkerungszahl haben als andere.

5.        In diesem Zusammenhang ist der Gerichtshof aufgefordert, Art. 260 Abs. 3 AEUV auszulegen, dessen Satz 1 die Kommission ermächtigt, die Höhe der finanziellen Sanktionen festzulegen, die sie für angemessen hält, wenn sie in Anwendung von Art. 258 AEUV ein Verfahren gegen einen Mitgliedstaat einleitet, weil dieser die zur Umsetzung einer gemäß einem Gesetzgebungsverfahren erlassenen Richtlinie erforderlichen Maßnahmen nicht mitgeteilt hat.

II.    Rechtlicher Rahmen

1.      Die Whistleblower-Richtlinie

6.        Art. 26 der Whistleblower-Richtlinie sieht vor:

„(1)      Die Mitgliedstaaten setzen die Rechts- und Verwaltungsvorschriften in Kraft, die erforderlich sind, um dieser Richtlinie bis zum 17. Dezember 2021 nachzukommen.

(2)      Abweichend von Absatz 1 setzen die Mitgliedstaaten hinsichtlich juristischer Personen mit 50 bis 249 Arbeitnehmern bis zum 17. Dezember 2023 die Rechts- und Verwaltungsvorschriften in Kraft, die erforderlich sind, um der Verpflichtung nach Artikel 8 Absatz 3, interne Meldekanäle einzurichten, nachzukommen.

(3)      Bei Erlass der Vorschriften gemäß den Absätzen 1 und 2 nehmen die Mitgliedstaaten in den Vorschriften selbst oder durch einen Hinweis bei der amtlichen Veröffentlichung auf diese Richtlinie Bezug. Die Mitgliedstaaten regeln die Einzelheiten dieser Bezugnahme. Sie teilen der Kommission unverzüglich den Wortlaut dieser Vorschriften mit.“

2.      Die Mitteilung von 2023(4)

7.        Die Mitteilung von 2023 regelt die Berechnungsmethode, die die Kommission anwendet, wenn sie dem Gerichtshof vorschlägt, im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens finanzielle Sanktionen zu verhängen. Diese finanziellen Sanktionen können aus einem Zwangsgeld oder einem Pauschalbetrag oder beidem bestehen.

8.        Im Abschnitt „Allgemeine Grundsätze“ dieser Mitteilung führt die Kommission aus, dass ihrer Ansicht nach „bei der Festlegung der finanziellen Sanktionen drei Kriterien … zugrunde gelegt werden [müssen]:

–        die Schwere des Verstoßes,

–        die Dauer des Verstoßes,

–        die erforderliche Abschreckungswirkung der finanziellen Sanktionen, um einen erneuten Verstoß zu verhindern“.

9.        Abschnitt 3.2.2 („Nichtmitteilung von Umsetzungsmaßnahmen [Artikel 260 Abs. 3 AEUV]“) der Mitteilung von 2023 lautet in seinem ersten Absatz:

„Bei Klagen nach Artikel 260 Absatz 3 AEUV wendet die Kommission systematisch einen Schwerekoeffizienten von 10 an, wenn die Umsetzungsmaßnahmen nicht vollständig mitgeteilt wurden. In einer Union, in der das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit gilt, sind alle Richtlinien als gleichrangig zu betrachten und müssen von den Mitgliedstaaten innerhalb der von ihnen gesetzten Fristen vollständig umgesetzt werden.“

10.      Abschnitt 3.4 der Mitteilung von 2023, der Zwangsgelder betrifft, trägt die Überschrift „Zahlungsfähigkeit eines Mitgliedstaats“. Dort heißt es:

„Die Höhe des Zwangsgeldes muss sowohl angemessen sein als auch eine abschreckende Wirkung entfalten. Die abschreckende Wirkung des Zwangsgeldes dient einem doppelten Zweck. Die Sanktion muss hinreichend hoch sein, um die zweifache Abschreckungswirkung zu entfalten:

–        der Mitgliedstaat beendet den Verstoß (die Sanktion muss also höher sein als der wirtschaftliche Vorteil, den der Mitgliedstaat aus dem Verstoß zieht),

–        der Mitgliedstaat unterlässt eine Wiederholung.

Die Höhe der Sanktion, die zur Abschreckung erforderlich ist, hängt von der Zahlungsfähigkeit der Mitgliedstaaten ab. Diese Abschreckungswirkung spiegelt sich im Faktor n wider. Er ist definiert als ein gewichteter geometrischer Mittelwert des Bruttoinlandsprodukts (BIP) … des betreffenden Mitgliedstaats im Vergleich zum durchschnittlichen BIP der Mitgliedstaaten mit einer Gewichtung von zwei und der Bevölkerungszahl des betreffenden Mitgliedstaats im Vergleich zum Durchschnitt der Bevölkerungszahlen der Mitgliedstaaten mit einer Gewichtung von eins. Dies entspricht der Zahlungsfähigkeit des betreffenden Mitgliedstaats im Verhältnis zur Zahlungsfähigkeit der anderen Mitgliedstaaten:

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[Die] Methode zur Berechnung des Faktors n … stützt sich nun in erster Linie auf das BIP der Mitgliedstaaten und erst in zweiter Linie auf ihre Bevölkerungszahl als demografisches Kriterium, das eine angemessene Abweichung zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten ermöglicht. Durch die Berücksichtigung der Bevölkerungszahl der Mitgliedstaaten zu einem Drittel bei der Berechnung des Faktors n werden die Abweichungen zwischen den Faktoren n der Mitgliedstaaten im Vergleich zu einer Berechnung, die ausschließlich auf dem BIP der Mitgliedstaaten beruht, auf ein angemessenes Maß reduziert. Dadurch erhält die Berechnung des Faktors n auch ein stabiles Element, da die Bevölkerungszahl auf jährlicher Basis wahrscheinlich nicht stark schwanken wird. Im Gegensatz dazu kann das BIP eines Mitgliedstaats stärkeren jährlichen Schwankungen unterliegen, insbesondere in Zeiten einer Wirtschaftskrise. Da das BIP eines Mitgliedstaats nach wie vor zwei Drittel der Berechnung ausmacht, bleibt es der wichtigste Faktor für die Beurteilung der Zahlungsfähigkeit eines Mitgliedstaats.“

11.      Abschnitt 4.2.2. der Mitteilung von 2023, der sich auf Pauschalbeträge bezieht, trägt die Überschrift „Andere Elemente der Berechnungsmethode für Pauschalbeträge“. Dort heißt es: „Bei der Berechnung des Pauschalbetrags zieht die Kommission den gleichen Schwerekoeffizienten und den gleichen Faktor n wie bei der Berechnung des Zwangsgeldes heran.“

12.      Die Faktoren n für die einzelnen Mitgliedstaaten sind in Anhang I Punkt 3 der Mitteilung 2023 festgelegt.

III. Vorverfahren

13.      Am 27. Januar 2022 richtete die Kommission ein Aufforderungsschreiben an die Republik Polen, in dem sie dieser vorwarf, ihr die zur Umsetzung der Whistleblower-Richtlinie erlassenen Maßnahmen nicht mitgeteilt zu haben. In ihrer Antwort vom 23. März 2022 auf das Aufforderungsschreiben wies die Republik Polen lediglich darauf hin, dass derartige Maßnahmen auf nationaler Ebene in Vorbereitung seien.

14.      Am 15. Juli 2022 richtete die Kommission eine mit Gründen versehene Stellungnahme an die Republik Polen, in der sie diese aufforderte, ihren Verpflichtungen aus der Whistleblower-Richtlinie innerhalb einer Frist von zwei Monaten ab dem Tag der förmlichen Zustellung der mit Gründen versehenen Stellungnahme nachzukommen.

15.      In ihrer Antwort vom 15. September 2022 teilte die Republik Polen mit, dass sie angesichts der Notwendigkeit einer eingehenden interministeriellen Konsultation über die von der Richtlinie erfassten Fragen davon ausgehe, dass die laufenden parlamentarischen Arbeiten auf nationaler Ebene Ende 2022 abgeschlossen sein würden. Anschließend teilte sie der Kommission mit, dass sie beabsichtige, die Maßnahmen zur Umsetzung der Whistleblower-Richtlinie im August 2023 bekannt zu geben.

16.      Am 15. Februar 2023 beschloss die Kommission, ein Vertragsverletzungsverfahren gemäß Art. 258 Abs. 2 AEUV gegen die Republik Polen vor dem Gerichtshof einzuleiten.

IV.    Verfahren vor dem Gerichtshof und Anträge

17.      Mit ihrer am 10. März 2023 eingereichten Klageschrift beantragt die Kommission,

–        festzustellen, dass die Republik Polen dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus der Whistleblower-Richtlinie verstoßen hat, dass sie die Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die erforderlich sind, um dieser Richtlinie nachzukommen, nicht erlassen und diese der Kommission nicht mitgeteilt hat;

–        anzuordnen, dass der Republik Polen auferlegt wird:

a)      einen Pauschalbetrag an die Kommission in Höhe eines der beiden folgenden Beträge zu zahlen, je nachdem, welcher Betrag höher ist:

–        13 700 Euro pro Tag ab dem Tag, an dem die Frist für die Umsetzung der Whistleblower-Richtlinie abgelaufen ist, bis zu dem Tag, an dem der angebliche Verstoß abgestellt wird, oder, falls der Verstoß andauert, bis zum Tag der Verkündung des Urteils in der vorliegenden Rechtssache,

–        ein Mindestpauschalbetrag von 3 836 000 Euro;

b)      für den Fall, dass der gerügte Verstoß bis zum Tag der Verkündung des Urteils in der vorliegenden Rechtssache andauert, ein Zwangsgeld in Höhe von 53 430 Euro für jeden Tag des Verzugs bei der Erfüllung der Verpflichtungen aus der Whistleblower-Richtlinie ab dem Tag der Verkündung dieses Urteils und bis zu dem Tag, an dem diese Verpflichtungen erfüllt werden, zu zahlen;

–        der Republik Polen die Kosten aufzuerlegen.

18.      Die Republik Polen hat nach ordnungsgemäßer Zustellung der Klageschrift am 31. Mai 2023 eine Klagebeantwortung eingereicht. Sie beantragt,

–        die Klage in vollem Umfang abzuweisen;

–        hilfsweise, von der Verhängung eines Pauschalbetrags und eines Zwangsgelds abzusehen;

–        äußerst hilfsweise, die von der Kommission für diese finanziellen Sanktionen vorgeschlagenen Beträge erheblich herabzusetzen;

–        der Kommission die Kosten aufzuerlegen.

19.      Die Parteien der vorliegenden Rechtssache sind vom Gerichtshof aufgefordert worden, eine zweite Runde schriftlicher Erklärungen einzureichen. Die Erwiderung und die Gegenerwiderung sind am 3. Juli 2023 bzw. am 9. August 2023 eingegangen.

20.      Eine mündliche Verhandlung hat nicht stattgefunden.

V.      Würdigung

21.      Der Unionsgesetzgeber verabschiedete die Whistleblower-Richtlinie im Jahr 2019, nachdem eine Reihe von Enthüllungen in der gesamten Europäischen Union (darunter vor allem diejenigen im Zusammenhang mit dem „Lux-Leaks-Skandal“)(5) große Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit und in den Medien erregt hatte, was die Notwendigkeit von Unionsrechtsakten in diesem Bereich deutlich machte. Ziel dieser Richtlinie ist es, einen „ausgewogenen und effizienten“ Schutz für Personen zu gewährleisten, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden, über die sie in einem beruflichen Kontext Informationen erhalten haben und die „das öffentliche Interesse beeinträchtigen“(6). Wie es in Art. 1 der Richtlinie heißt, soll sie „eine bessere Durchsetzung des Unionsrechts und der Unionspolitik“ in bestimmten Bereichen, die für das öffentliche Interesse von Bedeutung sind, „sicherstellen“, indem sie gemeinsame Mindeststandards festlegt, die diesen Personen ein „hohes Schutzniveau“ bieten(7).

22.      Nach Art. 26 Abs. 1 der Whistleblower-Richtlinie waren die Mitgliedstaaten verpflichtet, die „Rechts- und Verwaltungsvorschriften“ zu erlassen, die erforderlich sind, um dieser Richtlinie bis zum 17. Dezember 2021 nachzukommen(8). Gemäß Absatz 3 dieses Artikels waren sie außerdem verpflichtet, in diesen Umsetzungsmaßnahmen auf die Whistleblower-Richtlinie Bezug zu nehmen. Darüber hinaus hatten sie die Kommission über diese Maßnahmen zu informieren (wozu sie generell bei allen Richtlinien verpflichtet sind).

23.      Die vorliegende Rechtssache gehört zu einer Reihe von sechs Rechtssachen(9), die die angebliche Nichterfüllung dieser Verpflichtungen seitens mehrerer Mitgliedstaaten betreffen.

24.      Wie ich bereits in der Einleitung festgestellt habe, handelt es sich im vorliegenden Verfahren um einen „manquement non contesté“ (unbestrittene Vertragsverletzung). Die Republik Polen bestreitet nämlich nicht, dass sie es unterlassen habe, die Whistleblower-Richtlinie in polnisches Recht umzusetzen. Sie bestreitet auch nicht, dass sie es erst recht unterlassen habe, der Kommission irgendeine Umsetzungsmaßnahme mitzuteilen. Sie führt jedoch mehrere Rechtfertigungsgründe für diese Unterlassung an. Des Weiteren beanstandet sie die Höhe der finanziellen Sanktionen, die der Gerichtshof nach dem Vorschlag der Kommission verhängen soll.

25.      Ich werde zuerst erläutern, warum die von der Republik Polen angeführten Rechtfertigungsgründe meiner Ansicht nach vom Gerichtshof ohne Weiteres zurückgewiesen werden können (A). Anschließend werde ich auf die Kritik eingehen, die dieser Mitgliedstaat an der Höhe der von der Kommission im vorliegenden Fall vorgeschlagenen finanziellen Sanktionen und insbesondere an der von der Kommission zur Berechnung dieser Beträge angewandten Methode, wie sie in der Mitteilung von 2023 im Einzelnen dargelegt ist, übt (B). Diese Frage ist für alle sechs der oben in Nr. 23 genannten Rechtssachen sowie allgemein für alle Rechtssachen von Bedeutung, in denen die Kommission die Höhe der finanziellen Sanktionen nennt, die der Gerichtshof im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens nach ihrem Vorschlag verhängen soll.

A.      Rechtfertigungsgründe der Republik Polen für die unterbliebene Umsetzung der Whistleblower-Richtlinie

1.      Vortrag der Parteien

26.      Die Republik Polen führt im Wesentlichen drei Rechtfertigungsgründe dafür an, dass sie die Whistleblower-Richtlinie nicht innerhalb der in Art. 26 Abs. 1 dieser Richtlinie vorgesehenen Frist in polnisches Recht umgesetzt und folglich auch die zur Umsetzung erforderlichen Maßnahmen nicht mitgeteilt hat.

27.      Erstens sei aufgrund des weiten Anwendungsbereichs der Whistleblower-Richtlinie und ihrer erheblichen Auswirkungen auf eine Vielzahl von Sektoren ein längeres Konsultationsverfahren auf nationaler Ebene erforderlich gewesen. Viele Interessenvertreter seien im Laufe dieses Konsultationsverfahrens zur Abgabe von Stellungnahmen aufgefordert worden oder hätten darum gebeten, solche abzugeben. Aufgrund einiger der von diesen Akteuren in ihren Stellungnahmen formulierten Zweifel sei eine zusätzliche eingehende Analyse erforderlich gewesen, wodurch sich die Verabschiedung von Maßnahmen zur Umsetzung dieser Richtlinie verzögert habe.

28.      Der zweite und der dritte der von der Republik Polen angeführten Rechtfertigungsgründe beziehen sich auf die Covid‑19-Pandemie und den andauernden militärischen Konflikt in der Ukraine. Zum einen habe, wie die Republik Polen erklärt, die Covid‑19-Pandemie die Organisation persönlicher Treffen und die Durchführung des Konsultationsverfahrens erschwert. Auch habe anderen, dringenderen Rechtsvorschriften im Zusammenhang mit der Bewältigung und Eindämmung der Covid‑19-Pandemie Vorrang eingeräumt werden müssen.

29.      Zum anderen weist die Republik Polen darauf hin, dass dem Ministerium für Familie und Sozialpolitik (das für die Umsetzung der Whistleblower-Richtlinie in polnisches Recht zuständig war) nach dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine notwendigerweise eine Schlüsselrolle bei der Verabschiedung nationaler Bestimmungen über die Integration ukrainischer Flüchtlinge in das polnische Sozialversicherungssystem und die Bedingungen für ihre Aufnahme in Polen zukam. Die Notwendigkeit, in diesen Fragen schnell zu handeln und Ressourcen zu mobilisieren, habe die Umsetzung der Whistleblower-Richtlinie in polnisches Recht weiter verzögert.

30.      Unter Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte macht die Republik Polen geltend, dass ihre Unterlassung, die Whistleblower-Richtlinie umzusetzen, nicht auf einem Fehler ihres Gesetzgebungsverfahrens beruhe, sondern Ausdruck der Notwendigkeit sei, anderen dringenderen Fragen der öffentlichen Gesundheit, der Sicherheit und des politischen Handelns Vorrang einzuräumen.

31.      Die Kommission lässt die von der Republik Polen vorgebrachten Rechtfertigungsgründe nicht gelten.

32.      Erstens ist sie der Ansicht, dass sich die Republik Polen nicht auf die Komplexität der Whistleblower-Richtlinie berufen könne, um ihre Verspätung bei der Umsetzung dieser Richtlinie in nationales Recht zu rechtfertigen. Die Komplexität eines Unionsrechtsakts sei kein „außergewöhnliches oder unvorhersehbares“ Hindernis für die Erfüllung der Verpflichtungen der Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Umsetzung von Richtlinien. Die Mitgliedstaaten könnten sich auch nicht auf die Schwierigkeiten berufen, die während des Konsultationsverfahrens auf nationaler Ebene aufgetreten seien, um ihre Unterlassung, die Richtlinie umzusetzen, zu rechtfertigen.

33.      Zweitens ist die Kommission der Ansicht, dass sich die Republik Polen nicht darauf berufen könne, die innerhalb der in Art. 26 Abs. 1 dieser Richtlinie vorgesehenen Frist nicht erfolgte Umsetzung der Whistleblower-Richtlinie sei auf die Covid‑19-Pandemic zurückzuführen. Die Pandemie könne nur in zwei Fällen als Rechtfertigung dienen: zum einen, wenn der einschlägige Unionsrechtsakt Abweichungen oder Ausnahmen wegen der mit der Pandemie verbundenen Schwierigkeiten zulasse, oder, zum anderen, wenn die Voraussetzungen für eine Berufung auf höhere Gewalt („force majeure“) erfüllt seien. Nach Ansicht der Kommission ist keine dieser Situationen hier gegeben.

34.      Schließlich hält die Kommission fest, dass der andauernde militärische Konflikt in der Ukraine am 24. Februar 2022 begonnen habe, d. h. nach dem Ablauf der Frist für die Umsetzung der Whistleblower-Richtlinie. Die Republik Polen könne sich daher nicht auf die Folgen dieses Konflikts berufen, um ihre Unterlassung, die Richtlinie innerhalb der in Art. 26 Abs. 1 dieser Richtlinie vorgesehenen Frist umzusetzen, zu rechtfertigen. Jedenfalls seien diese Folgen zu mittelbar oder zu fern, als dass der Einwand der höheren Gewalt zum Tragen käme.

2.      Bewertung

35.      Die drei im vorliegenden Verfahren von der Republik Polen vorgebrachten Rechtfertigungsgründe sind keineswegs neu oder ungewöhnlich. Sie lassen sich meines Erachtens ohne größere Schwierigkeiten zurückweisen.

36.      Wie die Kommission anmerkt, hat der Gerichtshof bereits mehrfach entschieden, dass sich ein Mitgliedstaat nicht auf Bestimmungen, Übungen oder Umstände seiner innerstaatlichen Rechtsordnung (d. h. auf interne Schwierigkeiten) berufen kann, um die Nichteinhaltung der in einer Richtlinie festgelegten Verpflichtungen und Fristen zu rechtfertigen(10). Insbesondere ist es unerheblich, dass die Vertragsverletzung des betreffenden Mitgliedstaats die Folge politischer Debatten ist(11) oder auf die Notwendigkeit zurückzuführen ist, Konsultationsverfahren auf nationaler Ebene durchzuführen(12).

37.      Darüber hinaus hat der Gerichtshof stets Rechtfertigungsgründe zurückgewiesen, die sich auf die angebliche Komplexität der fraglichen Rechtsvorschriften stützten(13). In diesem Zusammenhang hat er hervorgehoben, dass dann, wenn sich die Frist, in der eine Richtlinie umzusetzen sei, als zu kurz erweise, nach dem Unionsrecht nur die Möglichkeit bestehe, das zuständige Organ zu einer Verlängerung der Frist zu bewegen(14).

38.      Im Licht dieser Rechtsprechung ist für mich völlig klar, dass sich die Republik Polen nicht auf Schwierigkeiten berufen kann, die sich aus dem weiten Anwendungsbereich der Whistleblower-Richtlinie, ihrer Komplexität oder den von bestimmten Interessenvertretern geäußerten Zweifeln und deren Auswirkung auf die Dauer des Konsultationsverfahrens auf nationaler Ebene ergeben, um die unterbliebene Umsetzung dieses Rechtsakts zu rechtfertigen (erster Rechtfertigungsgrund).

39.      Im Hinblick auf den zweiten von der Republik Polen vorgebrachten Rechtfertigungsgrund, mit dem sie im Wesentlichen geltend macht, dass die ungünstige Situation im Zusammenhang mit der Covid‑19-Pandemie sie daran gehindert habe, die Whistleblower-Richtlinie innerhalb der vorgeschriebenen Frist umzusetzen, stelle ich fest, dass diese Richtlinie vom Unionsgesetzgeber nur wenige Monate vor dem Auftreten der ersten Covid‑19-Fälle erlassen wurde.

40.      Ich kann, wie der Gerichtshof in anderen Fällen(15), durchaus akzeptieren, dass eine Gesundheitskrise von solchem Ausmaß wie dem der Covid‑19-Pandemie außerhalb der Kontrolle der Mitgliedstaaten liegt und gleichermaßen ungewöhnlich wie unvorhersehbar ist. Meines Erachtens bedeutet dies jedoch nicht, dass sich die Republik Polen auf die Covid‑19-Pandemie berufen kann, um im vorliegenden Fall zur Verteidigung die Einrede höherer Gewalt geltend zu machen, wodurch sie von ihren Verpflichtungen nach Art. 26 der Whistleblower-Richtlinie entbunden wäre.

41.      Es trifft zu, dass der Gerichtshof grundsätzlich höhere Gewalt als Verteidigung akzeptiert hat, auch in Fällen, in denen es um die Nichtumsetzung einer Richtlinie ging(16). Eine solche Verteidigung kann jedoch nur dann erfolgreich sein, wenn „außerhalb des Betroffenen liegende Umstände“ vorliegen, die den Erlass der fraglichen Umsetzungsmaßnahmen „unmöglich“ machen. Auch wenn diese Definition keine „absolute Unmöglichkeit“ voraussetzt, so erfordert sie doch „außergewöhnliche … Schwierigkeiten“, die „selbst bei Beachtung aller erforderlichen Sorgfalt unvermeidbar“ erscheinen(17). Dies ist eine hohe Schwelle, was die Fälle, in denen sich die Mitgliedstaaten erfolgreich auf höhere Gewalt berufen können, deutlich einschränkt. Außerdem kann sich ein Mitgliedstaat nicht mehr auf diese Verteidigung berufen, wenn sich der Zeitraum seiner Untätigkeit über den Punkt hinaus erstreckt, bis zu dem die Auswirkungen dieser außerhalb des Betroffenen liegenden Umstände bestanden(18).

42.      Insoweit bin ich der Auffassung, dass der Umstand, dass Gesetzgebungsvorschlägen zur Bewältigung und Eindämmung der Covid‑19-Pandemie Vorrang eingeräumt werden musste und dass das Organisieren persönlicher Zusammenkünfte zur Umsetzung der Whistleblower-Richtlinie während dieser Zeit schlicht erschwert war, nicht bedeutete, dass die zur Umsetzung dieser Richtlinie erforderlichen Maßnahmen nur unter „außergewöhnlichen … Schwierigkeiten“ erlassen werden konnten, die sich selbst bei Beachtung aller erforderlichen Sorgfalt nicht hätten vermeiden lassen, jedenfalls gilt dies nicht für den gesamten maßgeblichen Zeitraum.

43.      Ich erinnere daran, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 26 Abs. 1 der Whistleblower-Richtlinie verpflichtet waren, die erforderlichen „Rechts- und Verwaltungsvorschriften“ zu erlassen, um diese Richtlinie bis zum 17. Dezember 2021, d. h. etwa innerhalb eines Jahres und neun Monaten nach dem Beginn der Covid‑19-Pandemie, umzusetzen. Der Republik Polen stand eine weitere Frist von neun Monaten (die dem Zeitraum zwischen dem Ablauf dieser Frist und dem Ende der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme der Kommission gesetzten Zweimonatsfrist entsprach) zur Verfügung, um dieser Verpflichtung nachzukommen, was sie aber trotzdem nicht getan hat. Zum Zeitpunkt der Einleitung des vorliegenden Verfahrens durch die Kommission hatte die Republik Polen die zur Umsetzung dieses Rechtsakts erforderlichen Maßnahmen noch immer nicht erlassen.

44.      Man muss kein Experte für die inneren Abläufe einer Regierung sein, um festzustellen, dass Änderungen der Prioritäten der gesetzgeberischen Agenda oder der Agenda der Ministerien nicht ungewöhnlich sind. Diese Feststellung gilt selbst dann, wenn die Ereignisse, die zu diesen Änderungen führen (wie das Auftreten eines Virus), ihrerseits unvorhersehbar sind. In Anlehnung an das Urteil Kommission/Italien(19), in dem der Gerichtshof daran erinnert hat, dass die Verteidigung mit höherer Gewalt erfordert, dass der Nichteintritt der fraglichen Tatsache auf unabhängigen, außergewöhnlichen und unvorhersehbaren Umständen beruht, deren Folgen trotz aller aufgewandten Sorgfalt nicht hätten vermieden werden können (und daher  nicht gegeben ist, wenn eine sorgfältige und umsichtige Person die erforderlichen Maßnahmen zur Vermeidung der sich aus diesen Umständen ergebenden Folgen hätte ergreifen können), bin ich der Ansicht, dass die Republik Polen auch vor dem Ablauf der in Art. 26 Abs. 1 der Whistleblower-Richtlinie festgelegten Frist die durch die Covid‑19-Pandemie verursachten Störungen hätte abmildern und die erforderlichen Vorkehrungen hätte treffen können, um sicherzustellen, dass die Frage der Umsetzung dieser Richtlinie noch auf der Tagesordnung steht. Außerdem hätte sie nach Alternativen zu persönlichen Zusammenkünften suchen können.

45.      Daher scheinen mir die Umstände, auf die sich die Republik Polen beruft, das Ergebnis „interner Schwierigkeiten“ und nicht einer Situation höherer Gewalt zu sein(20). Die gegenteilige Schlussfolgerung, die mir schwer vertretbar erscheint, würde bedeuten, dass die Mitgliedstaaten im Wesentlichen von der Verpflichtung befreit wären, Umsetzungsmaßnahmen für jede Richtlinie zu erlassen, deren Umsetzungsfrist sich in irgendeiner Weise mit dem Zeitraum der Covid‑19-Pandemie überschnitten hat.

46.      Der dritte von der Republik Polen angeführte Rechtfertigungsgrund, der sich auf die Auswirkungen des Ukraine-Kriegs bezieht, überzeugt mich ebenfalls nicht. Wie die Kommission feststellt, begann der Ukraine-Krieg im Februar 2022, während die in Art. 26 Abs. 1 der Whistleblower-Richtlinie festgesetzte Frist am 17. Dezember 2021 (vor dem Beginn des Krieges) endete. Daraus folgt meines Erachtens, dass die Republik Polen ihre Unterlassung, die Whistleblower-Richtlinie innerhalb der in dieser Bestimmung vorgesehenen Frist umzusetzen, nicht mit den Auswirkungen dieses Konflikts rechtfertigen kann.

47.      Natürlich ist nicht auszuschließen, dass sich der Ukraine-Krieg in der Folge auf die Fähigkeit der Republik Polen ausgewirkt hat, ihrer Verpflichtung zur Umsetzung der Whistleblower-Richtlinie und zur Mitteilung der entsprechenden Umsetzungsmaßnahmen an die Kommission nachzukommen. Aber auch in Bezug auf diesen Zeitraum, der nach dem Beginn dieses Konflikts liegt, habe ich Bedenken, den dritten von der Republik Polen vorgebrachten Rechtfertigungsgrund zu akzeptieren.

48.      Die diesbezüglichen Argumente der Republik Polen sind nämlich, gelinde gesagt, recht fadenscheinig. Dieser Mitgliedstaat macht nämlich nichts anderes geltend, als dass sich der Erlass von Umsetzungsmaßnahmen in der Folgezeit weiter verzögert habe, weil das Ministerium für Familie und Sozialpolitik Gesetzesentwürfen zur Integration der ukrainischen Flüchtlinge in das polnische System der sozialen Sicherheit und zu den Bedingungen ihrer Aufnahme in Polen Vorrang habe einräumen müssen. Dieses Argument ist meines Erachtens aus denselben Gründen zurückzuweisen, wie sie oben in den Nrn. 44 und 45 dargelegt wurden. Insoweit stelle ich fest, dass die Republik Polen z. B. nicht erläutert, warum nicht ein anderes Ministerium für die Umsetzung dieser Richtlinie sorgen konnte, wenn das Ministerium für Familie und Sozialpolitik dazu nicht in der Lage war.

49.      Unter diesen Umständen überzeugt mich keiner der drei von der Republik Polen angeführten Rechtfertigungsgründe.

B.      Zur Höhe der finanziellen Sanktionen und zu der von der Kommission angewandten Berechnungsmethode

50.      Die Schlüsselfrage in der vorliegenden Rechtssache betrifft die Auslegung von Art. 260 Abs. 3 AEUV und die von der Kommission angewandte Berechnungsmethode zur Bestimmung der Höhe der finanziellen Sanktionen, die der Gerichtshof nach ihrem Vorschlag in Anwendung dieser Bestimmung verhängen soll.

51.      Art. 260 Abs. 3 AEUV wurde von der Kommission als ein „innovatives Instrument“ bezeichnet, das durch den AEU-Vertrag eingeführt wurde, „mit dem Ziel, eine wirksame Antwort auf die verbreitete … verspätete Umsetzung von Richtlinien zu finden“(21). Gemäß Art. 260 Abs. 3 Satz 1 AEUV kann die Kommission, wenn sie „beim Gerichtshof Klage nach Artikel 258 [erhebt], weil sie der Auffassung ist, dass der betreffende Mitgliedstaat gegen seine Verpflichtung verstoßen hat, Maßnahmen zur Umsetzung einer gemäß einem Gesetzgebungsverfahren erlassenen Richtlinie mitzuteilen, … wenn sie dies für zweckmäßig hält, die Höhe des von dem betreffenden Mitgliedstaat zu zahlenden Pauschalbetrags oder Zwangsgelds benennen, die sie den Umständen nach für angemessen hält“(22).

52.      Aus Art. 260 Abs. 3 Satz 2 AEUV ergibt sich, dass der Gerichtshof, wenn er einen solchen Verstoß feststellt, gegen den betreffenden Mitgliedstaat die Zahlung eines Pauschalbetrags und/oder eines Zwangsgelds bis zur Höhe des von der Kommission genannten Betrags verhängen kann.

53.      Wie der Gerichtshof festgestellt hat, hat diese Bestimmung im Wesentlichen eine doppelte Funktion. Zum einen zielt sie darauf ab, der Kommission besondere Befugnisse zu übertragen, um eine wirksame Anwendung des Unionsrechts zu gewährleisten. Zum anderen soll sie den Gerichtshof in die Lage versetzen, seine Rechtsprechungsfunktion auszuüben, die darin besteht, im Rahmen nur eines Verfahrens zu beurteilen, ob der betreffende Mitgliedstaat seinen Pflichten in Bezug auf die Mitteilung von Maßnahmen zur Umsetzung der betreffenden Richtlinie nachgekommen ist, und gegebenenfalls die Sanktionen zu verhängen, die er für die geeignetsten hält(23).

54.      Zwei Merkmale von Art. 260 Abs. 3 AEUV verdienen meines Erachtens nähere Beachtung.

55.      Erstens hat der Gerichtshof klargestellt, dass Art. 260 Abs. 3 AEUV nicht isoliert angewendet werden kann, sondern mit der Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens durch die Kommission nach Art. 258 AEUV in Verbindung stehen muss(24). Vereinfacht ausgedrückt, besteht der „Mehrwert“ von Art. 260 Abs. 3 AEUV darin, dass im Gegensatz zu Verstößen, die ausschließlich in den Anwendungsbereich von Art. 258 AEUV fallen, Verstöße, auf die beide Bestimmungen anwendbar sind, kein zweites, gesondertes Verfahren für die Verhängung finanzieller Sanktionen erfordern(25). Denn Art. 260 Abs. 3 AEUV ermöglicht es dem Gerichtshof, in demselben Urteil, in dem er einen Verstoß gegen die Verpflichtung zur Mitteilung von Umsetzungsmaßnahmen feststellt, die Zahlung eines Pauschalbetrags und/oder eines Zwangsgelds zu verhängen. Aus diesem Grund hat der Gerichtshof das Ziel des mit Art. 260 Abs. 3 AEUV eingeführten Systems nicht nur darin gesehen, dass damit die Mitgliedstaaten veranlasst werden sollen, die Vertragsverletzung so schnell wie möglich zu beenden, sondern auch das Ziel, das Verfahren zur Verhängung finanzieller Sanktionen zu vereinfachen und zu beschleunigen(26).

56.      Zweitens hat die Kommission erklärt, dass die von ihr in diesem Zusammenhang angewandte Berechnungsmethode im Wesentlichen derjenigen von Art. 260 Abs. 2 AEUV entspreche. Die letztgenannte Bestimmung ermächtigt die Kommission, finanzielle Sanktionen vorzuschlagen, und den Gerichtshof, finanzielle Sanktionen in einer bestimmten Situation anzuordnen, nämlich dann, wenn ein Mitgliedstaat es unterlässt, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um dem Urteil des Gerichtshofs nachzukommen(27). Da jedoch nach beiden Bestimmungen im Wesentlichen dieselben Arten von Sanktionen verhängt werden können und die diesbezügliche Beurteilung von denselben Grundsätzen geleitet werden muss, hat der Gerichtshof den Ansatz der Kommission bestätigt und festgestellt, dass die Rechtsprechung zu Art. 260 Abs. 2 AEUV auf Art. 260 Abs. 3 AEUV entsprechende Anwendung findet(28).

57.      Diese Aussage steht jedoch unter einem Vorbehalt: Die Beurteilungsbefugnis des Gerichtshofs nach der letztgenannten Bestimmung unterliegt einer Einschränkung, die in Art. 260 Abs. 2 AEUV keine Entsprechung findet. In der Tat kann der Gerichtshof zwar nach beiden Bestimmungen von den Vorschlägen der Kommission abweichen, doch sieht Art. 260 Abs. 3 AEUV (anders als Art. 260 Abs. 2 AEUV) vor, dass die Höhe der finanziellen Sanktionen, die der Gerichtshof letztlich festlegt, nicht über den von der Kommission bestimmten Betrag hinausgehen darf(29).

58.      Nach diesen Klarstellungen möchte ich daran erinnern, dass die Kommission in ihrer Mitteilung von 2023 zwei unterschiedliche Berechnungsmethoden vorschlägt: eine für Pauschalbeträge und eine für Zwangsgelder. Mit der Verhängung von Pauschalbeträgen soll die fortgesetzte Zuwiderhandlung des Mitgliedstaats bis zur Verkündung des Urteils des Gerichtshofs oder bis zur vollständigen Erfüllung, falls dieser Zeitpunkt früher eintritt, sanktioniert werden. Mit Zwangsgeldern hingegen soll der Mitgliedstaat dazu veranlasst werden, den Verstoß so schnell wie möglich nach der Verkündung des Urteils des Gerichtshofs zu beenden, und sie sind grundsätzlich nur dann gerechtfertigt, wenn die Vertragsverletzung bis zur Prüfung des Sachverhalts durch den Gerichtshof angedauert hat(30).

59.      Beide Methoden beruhen auf der Multiplikation eines Grundbetrags mit drei Elementen. Die ersten beiden Elemente geben die Schwere des Verstoßes (ausgedrückt durch einen Schwerekoeffizienten) und dessen Dauer (ausgedrückt durch einen Koeffizienten für die Zeitspanne oder die Anzahl der Tage, die dieser Verstoß andauert oder angedauert hat) wieder. Das dritte Element wird von der Kommission als Faktor n beschrieben, „der die Zahlungsfähigkeit des betreffenden Mitgliedstaats widerspiegelt“.

60.      Wie ich oben in Nr. 17 ausgeführt habe, hat die Kommission im vorliegenden Fall die Höhe des Pauschalbetrags als einen der beiden folgenden Beträge errechnet: 13 700 Euro pro Tag ab dem Tag, an dem die Frist für die Umsetzung der Whistleblower-Richtlinie abgelaufen ist, bis zu dem Tag, an dem der geltend gemachte Verstoß beendet wird, oder, falls die Zuwiderhandlung andauert, bis zum Tag der Verkündung des Urteils in der vorliegenden Rechtssache, oder einen Mindestbetrag von 3 836 000 Euro, je nachdem, welcher Betrag höher ist. Die Kommission beantragt außerdem, die Republik Polen zu verurteilen, ein Zwangsgeld in Höhe von 53 430 Euro für jeden Tag des Verzugs bei der Erfüllung der Verpflichtungen aus der Whistleblower-Richtlinie ab dem Tag der Verkündung des Urteils bis zu dem Tag, an dem diese Verpflichtungen erfüllt werden, zu zahlen.

61.      Die Republik Polen macht geltend, dass diese Sanktionen übermäßig und unverhältnismäßig seien. Sie beanstandet insbesondere zwei Elemente der von der Kommission angewandten Berechnungsmethode, die in der Mitteilung von 2023 beschrieben werden: zum einen den Schwerekoeffizienten, der nach den in dieser Mitteilung dargelegten Leitlinien in allen Fällen eines vollständigen Unterlassens des betreffenden Mitgliedstaats, die zur Umsetzung einer Richtlinie erforderlichen Maßnahmen mitzuteilen, der gleiche ist (1), und zum anderen den Faktor n, der u. a. auf die Bevölkerungszahl des Mitgliedstaats gestützt wird (2). Die von der Republik Polen in Bezug auf diese beiden Elemente aufgeworfenen Fragen beschränken sich nicht auf den vorliegenden Fall, sondern stellen die Angemessenheit der von der Kommission in der Mitteilung von 2023 dargelegten Berechnungsmethode grundsätzlich in Frage. Ich werde mich zunächst diesen allgemeineren Fragen zuwenden, bevor ich mich zu dem überhöhten oder unverhältnismäßigen Charakter der von der Kommission im vorliegenden Verfahren festgelegten Sanktionen äußere  (3).

1.      Allgemeine Fragestellung (i): Der von der Kommission angewandte Schwerekoeffizient

a)      Vorbringen der Parteien

62.      Die Kommission erinnert daran, dass der Schwerekoeffizient, der die Schwere des Verstoßes widerspiegele, auf einen Wert zwischen 1 und 20 festgesetzt werde. Wie in der Mitteilung von 2023 angegeben, wende sie in Fällen einer vollständigen Nichterfüllung der Verpflichtung zur Mitteilung von Umsetzungsmaßnahmen „systematisch“ einen Koeffizienten von 10 an. Im vorliegenden Fall handele es sich um eine solche vollständige Nichterfüllung. Daher habe sie einen Schwerekoeffizienten von 10 angewandt.

63.      Die Kommission erklärt, dass die Verpflichtung zur Umsetzung von Richtlinien und zur Mitteilung von Umsetzungsmaßnahmen an die Kommission nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs(31) eine „wesentliche Pflicht“ sei, die zur Gewährleistung der Wirksamkeit des Unionsrechts beitrage. Eine vollständige Nichterfüllung dieser Verpflichtung sei „mit Sicherheit als gewichtig“ zu erachten. Dies rechtfertigt nach Ansicht der Kommission die systematische Anwendung eines Schwerekoeffizienten von 10 in all diesen Fällen.

64.      Die Kommission führt weiter aus, dass alle Richtlinien, die im Rahmen eines Gesetzgebungsverfahrens erlassen würden, als gleichrangig anzusehen seien und eine vollständige Umsetzung durch die Mitgliedstaaten innerhalb der darin festgelegten Fristen verlangten. Ihrer Ansicht nach sollte die Art der betreffenden Richtlinie keinen Einfluss auf die Bestimmung des Schwerekoeffizienten haben.

65.      Die Kommission führt weiter aus, dass die systematische Anwendung eines Schwerekoeffizienten von 10 in allen Fällen, die eine vollständige Nichterfüllung der Verpflichtung zur Mitteilung der Umsetzungsmaßnahmen beträfen, die Rechtssicherheit erhöhe. Eine solche systematische Anwendung mache auch die von der Kommission vorgeschlagenen finanziellen Sanktionen berechenbarer und gewährleiste die Gleichbehandlung der Mitgliedstaaten.

66.      Die Kommission ist zudem der Ansicht, dass die Anwendung dieses Koeffizienten im vorliegenden Fall jedenfalls gerechtfertigt sei. Hierzu macht sie erstens geltend, dass der Whistleblower-Richtlinie, was die Erleichterung der wirksamen Anwendung des Unionsrechts in einer Reihe wichtiger Bereiche betreffe, eine Schlüsselrolle zukomme und dass die Nichtumsetzung dieser Richtlinie daher Auswirkungen auf andere Unionsrechtsakte habe (die in den Bereichen erlassen worden seien, die mit dem sachlichen Anwendungsbereich dieser Richtlinie in Zusammenhang stünden). Zweitens könne das Fehlen eines wirksamen Schutzes von Hinweisgebern in einem Mitgliedstaat den Schutz ihrer Grundrechte beeinträchtigen, was die Schwere des Verstoßes noch verstärke. Drittens seien der Kommission keine Vorschriften des polnischen Rechts bekannt, mit denen dieselben Ziele wie mit der Whistleblower-Richtlinie verfolgt würden oder die den Inhalt dieser Richtlinie widerspiegelten. Viertens mildere der Umstand, dass die Republik Polen während des vorgerichtlichen Verfahrens mit der Kommission zusammengearbeitet habe, nicht deren Vertragsverletzung.

67.      Die Republik Polen macht geltend, dass die systematische Anwendung eines Schwerekoeffizienten von 10 in allen Fällen einer vollständigen Nichterfüllung der Verpflichtung zur Mitteilung von Umsetzungsmaßnahmen der Kommission ermögliche, ihre Verpflichtung zu umgehen, in jedem Einzelfall eine eingehende Prüfung der Schwere des geltend gemachten Verstoßes vorzunehmen.

68.      Insbesondere habe die Kommission im vorliegenden Fall nicht berücksichtigt, dass das polnische Recht Hinweisgebern bereits einen gewissen Schutz gewähre und dass die Nichtumsetzung der Richtlinie, die den Schutz dieser Personen betreffe, daher nur begrenzte Auswirkungen auf die Interessen habe, die dieser Rechtsakt schützen solle. Diese Tatsache sei als mildernder Umstand bei der Bestimmung des Schwerekoeffizienten zu berücksichtigen; andernfalls würde der von der Kommission angewandte Koeffizient lediglich auf den potenziellen Auswirkungen des Verstoßes (und nicht auf seinen tatsächlichen Folgen) basieren.

69.      Die Republik Polen weist ferner darauf hin, dass die Tatsache, dass ein Mitgliedstaat während des Vorverfahrens loyal mit der Kommission zusammengearbeitet habe (was der Fall gewesen sei), ebenfalls einen mildernden Umstand darstelle(32).

b)      Bewertung

70.      Der Gerichtshof hat klargestellt, dass finanzielle Sanktionen, die gegen einen Mitgliedstaat wegen Nichtbeachtung seiner Verpflichtungen aus dem Unionsrecht verhängt werden, sowohl „den Umständen angepasst“ als auch „in Bezug auf [die Vertragsverletzung] [und] die Zahlungsfähigkeit des betreffenden Mitgliedstaats verhältnismäßig“ sein müssen(33). Die Kommission weist darauf hin, dass sie diesen Anforderungen in der Mitteilung von 2023 gebührend Rechnung getragen habe(34).

71.      Angesichts dessen gehe ich davon aus, dass der von der Kommission angewandte Schwerekoeffizient insbesondere darauf abzielt, sicherzustellen, dass die Höhe der von der Kommission gemäß Art. 260 Abs. 3 AEUV festgesetzten Pauschalbeträge und/oder Zwangsgelder in einem angemessenen Verhältnis zur Schwere des Verstoßes steht, die unter Berücksichtigung der maßgeblichen Umstände beurteilt wird. Dies ist nämlich das einzige Element der in der Mitteilung von 2023 dargelegten Berechnungsmethode, das die Schwere des Verstoßes widerspiegeln kann(35).

72.      Die Frage, ob die Kommission systematisch einen Schwerekoeffizienten von 10 anwenden kann, wenn der behauptete Verstoß, aufgrund dessen sie dem Gerichtshof die Verhängung finanzieller Sanktionen in Anwendung von Art. 260 Abs. 3 AEUV vorschlägt, in einer vollständigen Nichterfüllung der Verpflichtung zur Mitteilung von Umsetzungsmaßnahmen besteht, muss in diesem Kontext gesehen werden. Diese Frage war nie Gegenstand einer Prüfung durch den Gerichtshof. In der Tat hat die Kommission vor der Mitteilung von 2023 in solchen Fällen nicht systematisch den gleichen Koeffizienten angewandt(36).

73.      Um der Klarheit willen erinnere ich daran, dass Art. 260 Abs. 3 AEUV Anwendung findet, wenn der „betreffende Mitgliedstaat gegen seine Verpflichtung verstoßen hat, Maßnahmen zur Umsetzung einer gemäß einem Gesetzgebungsverfahren erlassenen Richtlinie mitzuteilen“. Der Anwendungsbereich dieser Bestimmung beschränkt sich damit nicht auf Fälle, in denen die Verpflichtung zur Mitteilung vollständig nicht erfüllt wird, sondern erstreckt sich auch auf Situationen, in denen ein Mitgliedstaat Umsetzungsmaßnahmen nur teilweise oder nicht korrekt mitteilt. Obwohl die Kommission in der Mitteilung von 2023 nicht angibt, welcher Schwerekoeffizient in diesem zweiten Fall anzuwenden ist(37), weist sie darauf hin, dass sie im ersten Fall systematisch einen Koeffizienten von 10 anwendet.

74.      Wie ich weiter unten erläutern werde, halte ich einen solchen Ansatz nur dann für angemessen (und mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar), wenn die von ihm erfassten Verstöße alle als gleichermaßen schwerwiegend angesehen werden können, sowohl im Vergleich zu anderen Arten von Verstößen als auch in ihrem Verhältnis zueinander. Dies ist meines Erachtens hier jedoch nicht der Fall.

1)      Erster Grund: Die vollständige Nichterfüllung der Verpflichtung zum Erlass und damit zur Mitteilung von Umsetzungsmaßnahmen ist nicht notwendigerweise schwerwiegender als andere Arten von Verstößen

75.      Theoretisch könnte der Ansatz der Kommission (der darin besteht, systematisch einen Schwerekoeffizienten von 10 anzuwenden) zwei Arten von Situationen erfassen: erstens, dass der betreffende Mitgliedstaat die erforderlichen Umsetzungsmaßnahmen (ganz oder teilweise) erlassen, sie aber einfach überhaupt nicht mitgeteilt hat, und zweitens, dass dieser Mitgliedstaat die betreffende Richtlinie gar nicht umgesetzt hat.

76.      Insoweit erinnere ich daran, dass, wie Generalanwalt Szpunar ausgeführt hat, die Verpflichtung, auf die sich Art. 260 Abs. 3 AEUV bezieht, nicht diejenige zum Erlass von Umsetzungsmaßnahmen, sondern vielmehr die zu deren Mitteilung ist(38). Daraus folgt, dass die Unterlassung eines Mitgliedstaats, Umsetzungsmaßnahmen „mitzuteilen“ (im Gegensatz zu seinem gänzlichen Unterlassen, solche Maßnahmen zu erlassen), ausreicht, um Art. 260 Abs. 3 AEUV zur Anwendung zu bringen.

77.      Davon abgesehen kann ich (wie offenbar auch die Kommission) ohne Weiteres annehmen, dass der erste Fall in der Praxis unwahrscheinlich ist. In den meisten (wenn nicht allen) Fällen ist nämlich der Grund, warum ein Mitgliedstaat keine Umsetzungsmaßnahmen mitteilt, der, dass er auch keine solchen Maßnahmen erlassen hat. Es ist nämlich schwer vorstellbar, warum ein Mitgliedstaat, der „seine Arbeit getan“ und die zur Umsetzung einer Richtlinie erforderlichen Maßnahmen erlassen hat, diese der Kommission nicht mitteilen sollte. Daher ist für mich klar, dass dieses Organ, wenn es von Fällen eines gänzlichen Unterlassens spricht, die vollständige Nichterfüllung der Umsetzungsverpflichtung (und nicht einfach nur die vollständige Nichterfüllung der Mitteilungspflicht) im Auge hat, was seinem Verständnis von Art. 260 Abs. 3 AEUV als einer Bestimmung entspricht, die einen Mechanismus einführt mit dem Ziel, „eine wirksame Antwort auf die verbreitete … verspätete Umsetzung von Richtlinien zu finden“(39).

78.      In solchen Fällen ist der betreffende Mitgliedstaat tatsächlich für einen doppelten Verstoß verantwortlich. Nicht nur hat er es unterlassen, Umsetzungsmaßnahmen mitzuteilen, sondern auch, solche Maßnahmen zu erlassen (wobei der erstgenannte Verstoß eine Folge des zweiten ist).

79.      Auf den ersten Blick mag das Vorliegen eines solchen doppelten Verstoßes in der Tat, wie die Kommission geltend macht, als ziemlich schwerwiegend erscheinen. Hier zeigt sich jedoch die Schwäche der „Einheitslösung“ der Kommission: Sie ist offensichtlich übermäßig vereinfachend. Nach diesem Ansatz „wählt“ die Kommission eine Art von Verstoß (die vollständige Nichterfüllung der Verpflichtung zum Erlass und damit zur Mitteilung von Umsetzungsmaßnahmen) „aus“ und stuft sie als von Natur aus schwerwiegender als andere Arten von Verstößen ein, namentlich als viele der in Art. 260 Abs. 2 AEUV genannten. Dabei übersieht sie, dass dies nicht zwangsläufig zutrifft(40).

80.      Zur Veranschaulichung dieses Punktes kann auf die Nichtumsetzung einiger Bestimmungen der Richtlinie 2003/41/EG über die Tätigkeiten und die Beaufsichtigung von Einrichtungen der betrieblichen Altersversorgung(41) durch die Tschechische Republik verwiesen werden, die Gegenstand der Prüfung durch den Gerichtshof in seinem Urteil Kommission/Tschechische Republik(42) waren. Abgesehen davon, dass es sich hierbei um eine teilweise und nicht um eine vollständige Nichterfüllung handelte, war diese auch harmlos. Denn die Tätigkeit, die diese Vorschriften regelten (nämlich die betriebliche Altersversorgung) gab es in der Tschechischen Republik nicht. Hingegen war der vom Gerichtshof in seinem Urteil Kommission/Frankreich(43) festgestellte Verstoß, der die Nichteinhaltung bestimmter Pflichten zur Kontrolle der Fischereitätigkeit französischer Schiffe durch die Französische Republik betraf (ein Verstoß, der in den Anwendungsbereich des heutigen Art. 260 Abs. 2 AEUV fällt), hinsichtlich seiner Folgen für die betroffenen öffentlichen und privaten Interessen wesentlich schwerwiegender(44).

2)      Zweiter Grund: Die Fälle, in denen Umsetzungsmaßnahmen überhaupt nicht erlassen und somit auch nicht mitgeteilt wurden, weisen unterschiedliche Schweregrade auf

81.      Auch aus einem zweiten Grund halte ich den Ansatz der Kommission für unangemessen. Nicht alle Fälle der vollständigen Nichterfüllung der Verpflichtung zum Erlass und damit zur Mitteilung von Umsetzungsmaßnahmen können als solche gemäß Art. 260 Abs. 3 AEUV als gleichermaßen schwerwiegend angesehen werden.

82.      Kurz nachdem der AEU-Vertrag diese neue Bestimmung eingeführt hatte, erklärte die Kommission, dass ihr Zweck darin bestehe, die unverzügliche Umsetzung von Richtlinien durch die Mitgliedstaaten zu fördern, was nicht nur für die „Wahrung der allgemeinen Interessen“, die mit der Unionsgesetzgebung verfolgt würden, sondern auch und vor allem für den Schutz der europäischen Bürger, die subjektive Rechte aus diesen Rechtsvorschriften ableiteten, von „größter Bedeutung“ sei(45).

83.      Im Anschluss hat der Gerichtshof ausdrücklich anerkannt, dass die Auferlegung eines Pauschalbetrags im Rahmen der Anwendung von Art. 260 Abs. 3 AEUV (wie auch im Rahmen von Art. 260 Abs. 2 AEUV) auf einer Bewertung der „Folgen einer Nichterfüllung der Verpflichtungen des betreffenden Mitgliedstaats für die privaten und öffentlichen Interessen“ beruhen muss(46). Die gleichen Erwägungen (sowie die Dringlichkeit, mit der der betreffende Mitgliedstaat zur Erfüllung seiner Verpflichtungen veranlasst werden muss) sind auch für die Festsetzung der Höhe des Zwangsgelds relevant(47).

84.      Meines Erachtens steht die Entscheidung der Kommission in der Mitteilung von 2023, systematisch denselben Schwerekoeffizienten von 10 in allen Fällen anzuwenden, in denen ein Mitgliedstaat es vollständig unterlässt, Umsetzungsmaßnahmen zu erlassen, und damit auch, sie der Kommission „mitzuteilen“, im Widerspruch zu diesem früheren Ansatz und zu der Rechtsprechung hierzu. Ich werde dies erläutern.

85.      In diesem Dokument rechtfertigt die Kommission ihren neuen Ansatz mit der Feststellung, dass „alle Richtlinien als gleichrangig zu betrachten [sind] und … von den Mitgliedstaaten innerhalb der von ihnen gesetzten Fristen vollständig umgesetzt werden [müssen]“(48). Weiter heißt es, dass die „Bedeutung, die der Umsetzung der Richtlinien durch die Mitgliedstaaten innerhalb der in diesen Richtlinien festgelegten Fristen zukommt, … für alle Richtlinien gleichermaßen [gilt]“(49). Demgegenüber werde bei einer teilweisen (im Gegensatz zu einer vollständigen) Nichterfüllung der Verpflichtung zur Mitteilung von Umsetzungsmaßnahmen der Schwerekoeffizient auf einen niedrigeren Wert als 10 festgesetzt und würden die Auswirkungen des Verstoßes auf „allgemeine und besondere Interessen“ gebührend berücksichtigt.

86.      Diesen Ausführungen entnehme ich, dass die Kommission der Auffassung ist, dass sich im Rahmen der Anwendung von Art. 260 Abs. 3 AEUV die Frage, welche besonderen Interessen und Rechte durch den Verstoß beeinträchtigt werden, nur in Fällen, in denen es nicht um eine vollständige Nichterfüllung der Verpflichtung zur Mitteilung von Umsetzungsmaßnahmen geht, stellt.

87.      Damit bleibt für mich eine Frage unbeantwortet: Wenn, wie die Kommission vorträgt, das Ziel der finanziellen Sanktionen, deren Verhängung sie dem Gerichtshof in Anwendung von Art. 260 Abs. 3 AEUV vorschlagen kann, letztlich darin besteht, die mit der Unionsgesetzgebung verfolgten „allgemeinen Interessen“ und die „individuellen Rechte der Unionsbürger zu schützen“, wie ist es dann denkbar, dass die Höhe dieser Sanktionen nicht in allen von dieser Bestimmung erfassten Fällen in Abhängigkeit davon bestimmt wird, inwieweit diese Interessen und Rechte durch den Verstoß beeinträchtigt werden oder möglicherweise beeinträchtigt werden können?

88.      Insoweit habe ich bereits oben in Nr. 21 festgestellt, dass es allgemein anerkannt ist (wie z. B. aus dem sachlichen Anwendungsbereich der Whistleblower-Richtlinie selbst ersichtlich), dass bestimmte Bereiche des Unionsrechts für das öffentliche Interesse von größerer Bedeutung sind als andere. Ein vollständiges Unterlassen eines Mitgliedstaats, eine Richtlinie in einem dieser Bereiche umzusetzen, ist grundsätzlich und insbesondere dann, wenn diese darauf abzielt, den Unionsbürgern individuelle Rechte zu verleihen, schwerwiegender als die Unterlassung desselben Mitgliedstaats, eine Richtlinie in einem anderen Bereich umzusetzen(50).

89.      Meines Erachtens kann man daher nicht argumentieren, dass alle im Rahmen eines Gesetzgebungsverfahrens erlassenen Richtlinien von gleicher Bedeutung seien. Ich räume ein, dass die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zum fristgerechten Erlass von Umsetzungsmaßnahmen für alle diese Richtlinien „gleichermaßen“ gilt. Etwas anderes ist es jedoch, wenn man, wie die Kommission, behauptet, dass diese Instrumente alle gleichgestellt werden müssten, weil sie alle von gleicher Bedeutung seien(51). Der Umstand, dass ein Verstoß an sich schwerwiegend ist, bedeutet nicht, dass seine Schwere nicht von einer Situation zur anderen variieren kann.

90.      Ich möchte zwei weitere Anmerkungen machen.

91.      Erstens wird diese Schlussfolgerung nicht dadurch in Frage gestellt, dass der Gerichtshof festgestellt hat, dass „die Pflicht, nationale Maßnahmen zu erlassen, um die vollständige Umsetzung einer Richtlinie sicherzustellen, und die Pflicht, diese Maßnahmen der Kommission mitzuteilen, wesentliche Pflichten … sind“(52). Insoweit verweise ich auf die soeben dargelegten Erwägungen.

92.      Zudem erscheint mir der von der Kommission im vorliegenden Fall vorgebrachte Rechtfertigungsgrund, dass die systematische Anwendung eines Schwerekoeffizienten von 10 die Gleichbehandlung der Mitgliedstaaten gewährleiste, besonders wenig überzeugend. Ich verstehe nicht, wie eine Anpassung des Schwerekoeffizienten zur Berücksichtigung von Faktoren wie der Bedeutung der fraglichen Richtlinie die Gleichbehandlung der Mitgliedstaaten gefährden könnte.

93.      Zweitens stellt die Kommission in ihrer Mitteilung von 2023 fest, dass die Bedeutung des betreffenden Verstoßes im Rahmen von Art. 260 Abs. 2 AEUV unter Berücksichtigung „der Rechtsnatur und der Tragweite der betreffenden [rechtlichen] Bestimmungen“ festzustellen ist. Sie fügt hinzu, dass „Verstöße gegen die Grundrechte oder die … vier Grundfreiheiten … grundsätzlich als besonders schwere Verstöße angesehen werden [sollen], die mit einer der Schwere entsprechenden finanziellen Sanktion zu ahnden sind“(53). Darüber hinaus wird erläutert, dass die Folgen für allgemeine und besondere Interessen im Einzelfall zu beurteilen sind, wobei unter anderem zu berücksichtigen sind: Einbußen an Mitteln der Union, ernste Schäden für die finanziellen Interessen der EU, die Auswirkung des Verstoßes auf das Funktionieren der Union, ernste oder nicht wiedergutzumachende Schäden im Bereich der Volksgesundheit oder der Umwelt, ein etwaiger finanzieller Vorteil des Mitgliedstaats, der seiner Verpflichtung zur Umsetzung nicht nachgekommen ist, und die Zahl der vom Verstoß betroffenen Bevölkerung.

94.      Ich sehe keinen Grund, weshalb nicht dieselben Leitprinzipien und Faktoren bei der Festsetzung des Schwerekoeffizienten zur Anwendung kommen sollten, wenn der Verstoß in einer vollständigen Nichterfüllung der Verpflichtung zum Erlass und damit zur Mitteilung von Umsetzungsmaßnahmen im Sinne von Art. 260 Abs. 3 AEUV besteht.

95.      Insoweit merke ich des Weiteren an, dass die Kommission in ihrer allerersten Mitteilung zu Art. 260 Abs. 3 AEUV darauf hingewiesen hatte, dass der Schwerekoeffizient nach den Regeln und Kriterien festzulegen sei, die für die von Art. 260 Abs. 2 AEUV erfassten Verstöße gälten, weshalb es genüge, dass dieser Koeffizient zwischen 1 und 20 liege(54). Die Gründe für ein Abweichen von diesem Ansatz werden (bis auf die gleiche Bedeutung aller im Rahmen eines Gesetzgebungsverfahrens erlassenen Richtlinien) in der Mitteilung von 2023 nicht dargelegt.

96.      Ich stelle fest, dass die Republik Polen im vorliegenden Fall geltend macht, dass zwei mildernde Umstände berücksichtigt werden sollten: erstens die Tatsache, dass Hinweisgeber bereits durch das polnische Recht geschützt seien, und zweitens, dass die Republik Polen während des Vorverfahrens loyal mit der Kommission zusammengearbeitet habe.

97.      Ich werde erst später dazu Stellung nehmen, was dies für den vorliegenden Fall bedeutet (vgl. unten, Abschnitt 3.). Vorerst möchte ich lediglich klarstellen, dass die Kommission sich meines Erachtens in allen Fällen die Möglichkeit vorbehalten sollte, den Schwerekoeffizienten im Licht relevanter mildernder und/oder erschwerender Umstände anzupassen.

3)      Ergebnis

98.      Aufgrund der vorstehenden Erwägungen sollte der Gerichtshof meines Erachtens feststellen, dass die systematische Anwendung eines Schwerekoeffizienten von 10 in allen Fällen, in denen die Verpflichtung zur Mitteilung der zur Umsetzung einer in den Anwendungsbereich von Art. 260 Abs. 3 AEUV fallenden Richtlinie erforderlichen Maßnahmen vollständig nicht erfüllt wurde, nicht angemessen ist, wenn es darum geht, finanzielle Sanktionen festzulegen, die hinreichend abschreckend und im Hinblick auf den betreffenden Verstoß verhältnismäßig sind.

2.      Allgemeine Fragestellung (ii): die Methode zur Berechnung des Faktors n

a)      Vorbringen der Parteien

99.      Nach Ansicht der Kommission zielt der Faktor n darauf ab, der Zahlungsfähigkeit der Mitgliedstaaten Rechnung zu tragen, und stellt damit sicher, dass in Anwendung von Art. 260 Abs. 3 AEUV verhängte finanzielle Sanktionen eine abschreckende Wirkung haben. Dieser Faktor bildet zu zwei Dritteln das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der Mitgliedstaaten (im Vergleich zum durchschnittlichen BIP aller Mitgliedstaaten) und zu einem Drittel deren Bevölkerungszahl (im Vergleich zur durchschnittlichen Bevölkerungszahl aller Mitgliedstaaten) ab.

100. Die Kommission weist darauf hin, dass sie gemäß Anhang I Punkt 3 der Mitteilung von 2023 im vorliegenden Fall einen Faktor „n“ von 1,37 angewandt hat.

101. Auch habe sie bei der Festlegung der Berechnungsmethode für den Faktor „n“ in dieser Mitteilung dem Urteil des Gerichtshof Kommission/Griechenland (Rückforderung von staatlichen Beihilfen – Ferronickel)(55)gebührend Rechnung getragen. Wie aus Rn. 116 dieses Urteils hervorgehe, müsse das BIP der Mitgliedstaaten zwar der maßgebliche Faktor bei der Beurteilung ihrer Zahlungsfähigkeit sein, dies lasse jedoch die Möglichkeit der Kommission unberührt, finanzielle Sanktionen vorzuschlagen, die auf einer Vielzahl von Kriterien beruhten, insbesondere wenn diese anderen Kriterien darauf abzielten, eine angemessene Differenzierung zwischen den Mitgliedstaaten beizubehalten.

102. Die Kommission ist der Auffassung, dass die Einbeziehung eines auf der Bevölkerungszahl der Mitgliedstaaten basierenden Elements in die Berechnungsmethode des Faktors „n“ genau diesem Ziel diene. Sie argumentiert, dass das demografische Kriterium auch die Stabilität des Faktors „n“ im Verlauf der Zeit sicherstelle, da die Bevölkerungszahl eines Mitgliedstaats wahrscheinlich geringeren jährlichen Schwankungen unterliege als sein BIP.

103. Darüber hinaus macht die Kommission geltend, dass die in der Mitteilung von 2023 gewählte Methode zur Berechnung des Faktors n den Hinweisen von Generalanwalt Pitruzzella in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Kommission/Griechenland (Rückforderung von staatlichen Beihilfen – Ferronickel)(56)entspreche, in denen er festgestellt habe, dass „das Ziel, zwischen den auf die verschiedenen Mitgliedstaaten angewendeten Koeffizienten ein bestimmtes Verhältnis beizubehalten“, erreicht werden könne, indem man sich auf ein „demografisches Kriterium … stütz[t], anhand dessen die Folgen der Berücksichtigung eines einfachen oder vergleichenden BIP relativiert werden können“.

104. Di e Republik Polen widerspricht der Kommission. Sie ist der Auffassung, dass das bei der Berechnung des Faktors „n“ verwendete demografische Kriterium nicht mit dem allgemeinen Ziel dieses Faktors vereinbar sei, der Zahlungsfähigkeit der Mitgliedstaaten Rechnung zu tragen und gleichzeitig sicherzustellen, dass die gegen sie verhängten finanziellen Sanktionen hinreichend abschreckend seien.

105. Di e Republik Polen macht ferner geltend, dass die Methode der Kommission zur Berechnung des Faktors „n“ zu widersprüchlichen Ergebnissen führe, da der Zahlungsfähigkeit der Mitgliedstaaten je nach ihrer Bevölkerungszahl möglicherweise zu großes oder zu geringes Gewicht beigemessen werden könne, was nicht der Fall wäre, wenn der Faktor n allein auf ihrem BIP basierte.

106. Di e Republik Polen führt weiter aus, dass mit Schwankungen des Faktors „n“ in den Mitgliedstaaten zu rechnen sei, da nicht alle Mitgliedstaaten die gleiche Zahlungsfähigkeit aufwiesen. Insgesamt führe der Ansatz der Kommission dazu, dass Mitgliedstaaten mit einem niedrigeren BIP, aber einer größeren Bevölkerungszahl unverhältnismäßig hohe finanzielle Sanktionen auferlegt würden.

107. Schließlich weist die Republik Polen darauf hin, dass Generalanwalt Wathelet in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Kommission/Griechenland(57) festgestellt habe, dass „nicht ausgeschlossen [ist], dass bestimmte Mitgliedstaaten mit einer gegebenen Bevölkerung eine geringere Zahlungsfähigkeit besitzen als andere Mitgliedstaaten mit einer geringeren Bevölkerung“, und dass auch dieses Kriterium daher „für die Berechnung des Zwangsgelds nicht geeignet [ist]“.

108. Die Republik Polen weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass der Gerichtshof seit 2017 (im Anschluss an die Schlussanträge des Generalanwalts Wathelet in der Rechtssache Kommission/Griechenland) bei der Bestimmung der Zahlungsfähigkeit eines Mitgliedstaats nie andere Elemente als das BIP berücksichtigt habe. Außerdem sei die Bezugnahme auf ein „demografisches Kriterium“ in den Schlussanträgen von Generalanwalt Pitruzzella in der Rechtssache Kommission/Griechenland (Rückforderung von staatlichen Beihilfen – Ferronickel) lediglich als Hinweis darauf zu verstehen, dass es angebracht sein könne, das BIP der Mitgliedstaaten durch ihre Bevölkerungszahl zu teilen, um ein genaueres Bild ihrer Zahlungsfähigkeit zu erhalten.

109. Angesichts der vorstehenden Erwägungen macht die Republik Polen geltend, dass der von der Kommission angewandte Faktor „n“ an die Zahlungsfähigkeit der Mitgliedstaaten anknüpfen müsse, die nur durch ihr BIP zum Ausdruck komme.

b)      Bewertung

110. Die von der Kommission für die Berechnung des Faktors „n“ angewandte Methode ist für Verstöße, die in den Anwendungsbereich von Art. 260 Abs. 2 AEUV fallen, dieselbe wie für solche, die von Art. 260 Abs. 3 AEUV erfasst werden.

111. Ursprünglich beruhte diese Methode auf zwei Elementen: dem BIP des betreffenden Mitgliedstaats einerseits und der Anzahl der Stimmen, über die dieser Mitgliedstaat im Rat bei Abstimmungen mit qualifizierter Mehrheit verfügte, andererseits(58). Die Bestimmungen über die Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit im Rat haben sich jedoch geändert, nachdem am 1. April 2017 eine neue, durch Art. 16 Abs. 4 EUV eingeführte „Regel der doppelten Mehrheit“ in Kraft getreten ist. Der Gerichtshof hat die Folgen dieser Entwicklung in seinem Urteil vom 14. November 2018, Kommission/Griechenland(59) geprüft, in dem er feststellte, dass dieses neue System der doppelten Mehrheit keine zufriedenstellenden Kriterien für die Feststellung der Zahlungsfähigkeit der Mitgliedstaaten liefere und somit das alte System der gewichteten Stimmen nicht wirklich ersetzen könne. Außerdem stellte er fest, dass der Gerichtshof jedenfalls seit dem 1. April 2017 nur noch das BIP des betreffenden Mitgliedstaats für die Bewertung seiner Zahlungsfähigkeit berücksichtigt habe.

112. Im Jahr 2019 veröffentlichte die Kommission eine neue Mitteilung (im Folgenden: Mitteilung 2019)(60), in der sie eine überarbeitete Methode zur Berechnung des Faktors „n“ vorstellte. Diese neue Methode enthielt weiterhin ein Element, das nicht an das BIP des betreffenden Mitgliedstaats geknüpft war. Dieses Element basierte jedoch nicht mehr auf der Anzahl der Stimmen im Rat, sondern auf der Anzahl der Sitze der Vertreter im Europäischen Parlament.

113. In seinem Urteil vom 20. Januar 2022, Kommission/Griechenland (Rückforderung von staatlichen Beihilfen – Ferronickel)(61), stellte der Gerichtshof erneut fest, dass das BIP des betreffenden Mitgliedstaats als vorrangiger Faktor bei der Beurteilung seiner Zahlungsfähigkeit heranzuziehen sei und dass das Ziel, hinreichend abschreckende finanzielle Sanktionen festzulegen, nicht notwendigerweise die Berücksichtigung des institutionellen Gewichts des betroffenen Mitgliedstaats in der Union erfordere, da dieses Element mit den Merkmalen des fraglichen Verstoßes in keinem Zusammenhang stehe.

114. Di e Mitteilung von 2023 wurde nach diesem Urteil erlassen.

115. In dieser Mitteilung wird der Faktor n von der Kommission als gewichteter geometrischer Mittelwert beschrieben, der sich „in erster Linie“ auf das BIP der Mitgliedstaaten und „erst in zweiter Linie“ auf ihre Bevölkerungszahl „als demografisches Kriterium, das eine angemessene Abweichung zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten ermöglicht“, stützt.

116. Ich stimme der Republik Polen zu, dass dieses „demografische Kriterium“ nicht geeignet ist, die relative Zahlungsfähigkeit der Mitgliedstaaten zu ermitteln. Drei Hauptgründe führen mich zu diesem Schluss.

117. Erstens könnte man argumentieren, dass die oben in Nr. 113 dargelegten Elemente nicht ausschließen, dass die Kommission bei der Festlegung der Berechnungsmethode für den Faktor „n“ andere Faktoren oder Parameter berücksichtigen kann. Wie die Kommission nämlich in ihrer Mitteilung von 2023 ausführt, hat der Gerichtshof in seinem Urteil vom 20. Januar 2022, Kommission/Griechenland (Rückforderung von staatlichen Beihilfen – Ferronickel)(62) (das Urteil, das die Kommission dazu veranlasst hat, ihre Berechnungsmethode für diesen Faktor zu ändern und diese Mitteilung zu erlassen), in der Tat anerkannt, dass der Umstand, dass das BIP des betreffenden Mitgliedstaats der vorrangige Faktor bei der Beurteilung seiner Zahlungsfähigkeit sei, „unbeschadet“ der Möglichkeit der Kommission sei, „auf einer Vielzahl von Kriterien beruhende finanzielle Sanktionen vorzuschlagen, um es u. a. zu ermöglichen, eine angemessene Differenzierung zwischen den verschiedenen Mitgliedstaaten beizubehalten“.

118. Diese Elemente zeigen meines Erachtens jedoch, dass der Gerichtshof tatsächlich eine Korrelation zwischen dem BIP der Mitgliedstaaten und den ihnen jeweils zugewiesenen Faktoren „n“ verlangt(63). Würde nämlich einem Mitgliedstaat mit einem im Verhältnis zu einem anderen Mitgliedstaat niedrigeren BIP ein höherer Faktor „n“ zugewiesen als diesem und umgekehrt, könnte dieser Faktor schlicht nicht mehr als repräsentativ für die jeweilige Zahlungsfähigkeit der Mitgliedstaaten angesehen werden.

119. Genau an dieser Stelle wird der Fehler der von der Kommission in der Mitteilung von 2023 gewählten Berechnungsmethode für den Faktor „n“ offensichtlich. In Anhang I der Mitteilung von 2023 wird angegeben, dass die dort aufgeführten Faktoren „n“ auf der Grundlage des BIP der Mitgliedstaaten im Jahr 2020 berechnet worden seien. Betrachtet man das BIP der Mitgliedstaaten in diesem Jahr(64) und die Faktoren „n“, die die Kommission ihnen jeweils zugewiesen hat, so stellt man fest:

–        Das BIP Luxemburgs ist höher als das Bulgariens, Kroatiens, Litauens und Sloweniens, aber der Faktor „n“, den die Kommission auf Luxemburg anwendet, ist niedriger als der, den sie auf die genannten Mitgliedstaaten anwendet.

–        Das BIP der Niederlande ist deutlich höher als das Polens, aber die Faktoren „n“ der beiden Länder sind praktisch identisch (1,39 gegenüber 1,37).

–        Das BIP Polens hingegen ist nur geringfügig höher als dasjenige Schwedens, aber die Faktoren „n“ unterscheiden sich erheblich (1,37 gegenüber 0,83).

120. Analysiert man die in der Mitteilung von 2023 genannten Faktoren „n“ anhand des Pro-Kopf-BIP der Mitgliedstaaten im Jahr 2020(65) und nicht anhand ihres BIP (weil davon auszugehen ist, dass das Pro-Kopf-BIP einen besseren Vergleich der jeweiligen Zahlungsfähigkeit der Mitgliedstaaten ermöglicht), sind die Ergebnisse sogar noch widersprüchlicher:

–        Das Pro-Kopf-BIP Dänemarks ist höher als dasjenige Deutschlands, aber der Faktor „n“ Deutschlands ist fast zwölfmal so hoch wie der Dänemarks (6,16 gegenüber 0,52).

–        Obwohl das Pro-Kopf-BIP Irlands fast 1,5‑mal so hoch ist wie das von Dänemark, wurden Irland und Dänemark dagegen ähnliche Faktoren „n“ zugewiesen (0,55 gegenüber 0,52).

–        Ebenso haben die Niederlande und Polen ähnliche Faktoren „n“ (1,39 und 1,37), aber zwischen ihren Pro-Kopf-BIPs besteht eine erhebliche Differenz (das Pro-Kopf-BIP der Niederlande ist fast viermal so hoch wie dasjenige Polens).

–        Italien und Zypern haben ein ähnliches Pro-Kopf-BIP, der Faktor „n“ Italiens beträgt jedoch 3,41, während der Faktor „n“ Zyperns bei 0,05 liegt (der Faktor „n“ Italiens ist also etwa 68‑mal so hoch wie der Zyperns).

–        Luxemburg hat einen der niedrigsten Faktoren „n“, aber das höchste Pro-Kopf-BIP von allen Mitgliedstaaten.

121. In Anbetracht dieser Umstände ist für mich klar, dass die in der Mitteilung von 2023 aufgeführten Faktoren „n“ nicht repräsentativ für die jeweilige Zahlungsfähigkeit der Mitgliedstaaten sind (unabhängig davon, ob diese Fähigkeit anhand ihres BIP oder ihres Pro-Kopf-BIP bestimmt wird). Meines Erachtens ist das Argument, das von einigen Autoren(66) und Mitgliedstaaten(67) in der Zeit, als die Berechnungsmethode des Faktors n noch auf Stimmrechten im Rat oder der Zahl der Abgeordneten im Europäischen Parlament beruhte, vorgebracht wurde, nämlich dass dieser Faktor nicht unbedingt ein genaues Bild der Zahlungsfähigkeit der Mitgliedstaaten biete, da damit die Zahlungsfähigkeit bestimmter Mitgliedstaaten über- oder unterbewertet werde, sicherlich immer noch gültig(68).

122. Damit komme ich zum zweiten Grund, warum ich die in der Mitteilung von 2023 dargelegte Methode zur Berechnung des Faktors „n“ für unangemessen halte. Es besteht für mich kein Zweifel, dass die Kommission mit der Festlegung dieser Methode nicht nur das Urteil des Gerichtshofs vom 20. Januar 2022, Kommission/Griechenland (Rückforderung von staatlichen Beihilfen – Ferronickel)(69), umsetzen wollte, in dem die vorherige Berechnungs methode (nämlich die in der Mitteilung von 2019 festgelegte) vom Gerichtshof beanstandet worden war, sondern auch sicherstellen wollte, dass die Beträge der finanziellen Sanktionen, die sie dem Gerichtshof vorschlagen würde, so nahe wie möglich an den nach dieser Methode ermittelten Werten lägen.

123. Tatsächlich hatte die Kommission bereits bei der Annahme der Mitteilung von 2019 darauf hingewiesen, dass die Berücksichtigung des BIP der Mitgliedstaaten als des einzigen Kriteriums zu einer Differenz zwischen dem höchsten und dem niedrigsten Faktor „n“ führen würde, was ihrer Ansicht nach nicht hinnehmbar sei(70). Ich kann mir gut vorstellen, dass die Kommission ähnliche Bedenken hatte, als sie vorschlug, in die Mitteilung von 2023 ein demografisches Kriterium in ihre neue Berechnungsmethode aufzunehmen, anstatt sich ausschließlich auf das BIP oder das Pro-Kopf-BIP zu stützen. Vergleicht man nämlich die in Anhang I dieser Mitteilung aufgeführten Faktoren „n“ mit denjenigen in Anhang I der Mitteilung von 2019, so stellt man fest, dass es keine größeren Abweichungen zwischen den beiden Gruppen gibt.

124. In soweit stimme ich der Kommission natürlich zu, dass es kein völlig verfehltes Ziel ist, dafür zu sorgen, dass sich der Faktor „n“ von einer Berechnungsmethode zur anderen in einem ähnlichen Wertebereich bewegt und im Verlauf der Zeit ein gewisses Maß an Stabilität aufweist. Dennoch scheint es mir, dass Stabilität leicht durch andere, geeignetere Mittel erreicht werden könnte. Zunächst einmal könnte die Kommission das BIP oder das Pro-Kopf-BIP der Mitgliedstaaten über mehrere Jahre hinweg berücksichtigen und sich auf deren Durchschnittswert über einen Zeitraum von beispielsweise fünf Jahren stützen. Auch könnte die Kommission, um sicherzustellen, dass die Differenzen zwischen den Faktoren „n“ der einzelnen Mitgliedstaaten nicht zu groß sind und dass sie in etwa in demselben Wertebereich bleiben, in dem sie sich derzeit befinden (d. h. zwischen 0,03 und 6,16), die auf der Grundlage des durchschnittlichen BIP oder Pro-Kopf-BIP ermittelten Werte so skalieren, dass sie genau in diesem Bereich liegen.

125. Dies möchte ich gerne näher erläutern . Bei dem von mir vorgeschlagenen Ansatz würde dem Mitgliedstaat mit dem höchsten BIP bzw. Pro-Kopf-BIP ein Faktor „n“ von 6,16 zugewiesen. Allen anderen Mitgliedstaaten würde ein Faktor „n“ zugewiesen, der ihr vergleichbares BIP oder Pro-Kopf-BIP widerspiegelt, aber unter diesem Wert bleibt. Wenn Luxemburg z. B. das höchste Pro-Kopf-BIP hat, könnte sein Faktor „n“ 6,16 betragen. Der Faktor „n“ für die Niederlande, deren Pro-Kopf-BIP (im Jahr 2020) etwa halb so hoch war wie das luxemburgische, läge etwa bei 3.

126. Meines Erachtens und entgegen dem Vorbringen der Kommission hatte Generalanwalt Pitruzzella ähnliche Überlegungen angestellt, als er in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Kommission/Griechenland (Rückforderung von staatlichen Beihilfen – Ferronickel)(71)feststellte, dass „das Ziel, zwischen den auf die verschiedenen Mitgliedstaaten angewendeten Koeffizienten ein bestimmtes Verhältnis beizubehalten“, durch die Anwendung verschiedener Methoden erreicht werden könne, etwa durch die Heranziehung eines „demografische[n] Kriterium[s] …, anhand dessen die Folgen der Berücksichtigung eines einfachen oder vergleichenden BIP relativiert werden können“. Ich sehe nämlich nicht, wie diese Passage in der von der Kommission vorgeschlagenen Weise gelesen werden könnte, wenn man bedenkt, dass Generalanwalt Pitruzzella in Nr. 35 derselben Schlussanträge darauf hinweist, dass „das BIP … (einfaches BIP, Pro-Kopf-BIP oder Vergleichs-BIP) … als solches einen angemessenen Hinweis auf die Zahlungsfähigkeit des betreffenden Mitgliedstaats geben kann“.

127. Der dritte Grund, weshalb ich die Methode der Kommission zur Berechnung des Faktors „n“ für unangemessen halte, steht im Zusammenhang mit einigen allgemeineren Überlegungen zur Relevanz der Bevölkerungszahl des betreffenden Mitgliedstaats zu dem Zeitpunkt, in dem es darum geht, über seine Fähigkeit zur Zahlung finanzieller Sanktionen zu entscheiden.

128. Wie ich oben dargelegt habe, bin ich (genau wie Generalanwalt Pitruzzella) der Ansicht, dass es nicht falsch, wenn nicht sogar besser ist, sich auf das Pro-Kopf-BIP des betreffenden Mitgliedstaats zu beziehen, um ein genaues Bild von dessen Zahlungsfähigkeit zu erhalten (was selbstverständlich die Berücksichtigung seiner Bevölkerungszahl voraussetzt). Diesen Weg geht die Kommission jedoch in ihrer Mitteilung von 2023 nicht. Denn wie ich bereits erläutert habe, teilt sie in dieser Mitteilung das BIP des betreffenden Mitgliedstaats nicht durch seine Bevölkerungszahl, wie es für die Berechnung des Pro-Kopf-BIP dieses Mitgliedstaats erforderlich wäre. Stattdessen vertritt sie die Auffassung, dass der relative Wohlstand des betreffenden Mitgliedstaats (sein BIP, gemessen am durchschnittlichen BIP aller Mitgliedstaaten) mit seiner Bevölkerungszahl (wiederum gemessen an der durchschnittlichen Bevölkerungszahl aller Mitgliedstaaten) multipliziert werden müsse.

129. Wie die Republik Polen zu Recht geltend macht, führt dieser Ansatz dazu, dass ein Mitgliedstaat mit einer vergleichsweise höheren Bevölkerungszahl systembedingt als zahlungsfähiger angesehen wird als ein Mitgliedstaat mit demselben Gesamtvermögen (BIP) und einer vergleichsweise geringeren Bevölkerung. Ich kann nicht erkennen, wie dies mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung der Mitgliedstaaten in Einklang zu bringen ist.

130. Darüber hinaus scheint mir der Ansatz der Kommission letztlich zu einem sehr unglücklichen Ergebnis zu führen, indem die Bevölkerungszahl des betreffenden Mitgliedstaats bei der Bestimmung des Faktors „n“ entweder als erschwerender oder als mildernder Umstand behandelt wird (je nachdem, ob die Bevölkerungszahl hoch oder niedrig ist). Meines Erachtens hat eine solche Erwägung bei der Beurteilung der relativen Zahlungsfähigkeit der Mitgliedstaaten nichts verloren. Wie Generalanwalt Wathelet nämlich ausgeführt hat, „ist nicht ausgeschlossen, dass bestimmte Mitgliedstaaten mit einer gegebenen Bevölkerung [tatsächlich] eine geringere Zahlungsfähigkeit besitzen als andere Mitgliedstaaten mit einer geringeren Bevölkerung“(72).

131. Dies bringt mich zu meiner letzten Anmerkung. Ich kann ohne Weiteres akzeptieren, dass die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten nach dem Unionsrecht, insbesondere diejenigen im Zusammenhang mit der Umsetzung von Richtlinien, gewissermaßen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten gegenüber ihren Bürgern sind. Wenn ein Mitgliedstaat eine Richtlinie nicht umsetzt, ist es einleuchtend, dass es auf die Zahl der in seinem Hoheitsgebiet lebenden Unionsbürger ankommen kann, die von dieser Nichterfüllung betroffen sind. Darin liegt meines Erachtens der Hauptunterschied zwischen der Nichterfüllung der unionsrechtlichen Verpflichtungen durch einen Mitgliedstaat und dem Autofahrer bzw. dem Unternehmen, die ich oben in der Einführung als Beispiel genannt habe. Der Autofahrer oder das Unternehmen kämen meines Erachtens keine Sekunde lang auf die Idee, dass die Höhe ihrer Geldbuße von der Zahl der in ihrem Haushalt lebenden oder der von ihnen zum Zeitpunkt des Verstoßes beschäftigten Personen abhängen könnte, und zwar aus dem einfachen Grund, dass die Vorschriften, gegen die sie verstoßen (ob diese sich nun auf die Verkehrsregelung, den Wettbewerb in der EU oder den Schutz personenbezogener Daten beziehen) keine Verpflichtungen gegenüber diesen Personen begründen.

132. Dagegen entbehrt es meines Erachtens nicht jeglicher Rechtfertigung, dass einem Mitgliedstaat, der eine größere Bevölkerung als ein anderer Mitgliedstaat hat, im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens nach Art. 258 AEUV eine höhere Sanktion auferlegt wird. Ich bin jedoch der Ansicht, dass sich dieses Element auf die Schwere des Verstoßes und nicht auf die Zahlungsfähigkeit der Mitgliedstaaten bezieht. Deshalb meine ich, dass die Bevölkerungszahl des betreffenden Mitgliedstaats bei der Bestimmung des Faktors „n“ nicht als erschwerender oder mildernder Umstand herangezogen werden kann. Vielmehr kann sie gegebenenfalls unter die mildernden oder erschwerenden Umstände gefasst werden, die für die Bestimmung des Schwerekoeffizienten in jedem Einzelfall relevant sind. In diesem Zusammenhang stelle ich fest, dass die Kommission diese Möglichkeit, wie ich schon in Nr. 93 dargelegt habe, bei Verstößen, die in den Anwendungsbereich von Art. 260 Abs. 2 AEUV fallen, bereits vorsieht.

3.      Zum vorliegenden Fall

133. In den vorausgehenden Abschnitten habe ich dargelegt, warum ich es für unangemessen halte, erstens denselben Schwerekoeffizienten von 10 systematisch in allen Fällen der vollständigen Nichtmitteilung von Umsetzungsmaßnahmen anzuwenden und zweitens für die Bestimmung der Zahlungsfähigkeit des betreffenden Mitgliedstaats ein demografisches Kriterium heranzuziehen, das Mitgliedstaaten, die wie Polen eine größere Bevölkerungszahl haben, systematisch benachteiligt.

134. Ich möchte nun auf die verbleibende Frage der finanziellen Sanktionen eingehen, die der Gerichtshof im vorliegenden Fall meines Erachtens verhängen sollte.

135. Insoweit erinnere ich zum einen daran, dass der Gesamtbetrag der vom Gerichtshof in Anwendung von Art. 260 Abs. 3 AEUV verhängten finanziellen Sanktionen, wie ich bereits oben in Nr. 57 ausgeführt habe, den von der Kommission festgesetzten Betrag nicht überschreiten darf.

136. Zum anderen hat der Gerichtshof wiederholt festgestellt, dass er im Rahmen von Vertragsverletzungsverfahren im Allgemeinen nicht an die in den Mitteilungen der Kommission festgelegten Leitlinien gebunden ist, die dazu beitragen sollen, sicherzustellen, dass das Vorgehen dieses Organs transparent, vorhersehbar und mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit vereinbar ist, wenn es dem Gerichtshof Vorschläge unterbreitet. Außerdem hat der Gerichtshof festgestellt, dass die mathematischen Variablen, die von der Kommission zur Berechnung der Höhe der finanziellen Sanktionen verwendet werden, einen „nützlichen Bezugspunkt“ darstellen. Mit anderen Worten, es handelt sich um Leitlinien, die lediglich die Verhaltensmaßregeln festlegen, nach denen die Kommission vorzugehen beabsichtigt(73).

137. Für den vorliegenden Fall folgt daraus, dass die Vorschläge der Kommission zwar auf den in der Mitteilung von 2023 dargelegten Leitlinien beruhen und daher mit den beiden oben in Nr. 133 genannten Mängeln behaftet sind, diese Mängel den Gerichtshof aber nicht daran hindern, in Abweichung von den in dieser Mitteilung dargelegten Berechnungsmethoden finanzielle Sanktionen in einer geringeren Höhe als der von der Kommission festgesetzten zu verhängen.

138. Da diese Vorschläge jedoch gleichzeitig eine Höchstgrenze für den Betrag festsetzen, den der Gerichtshof in Anwendung von Art. 260 Abs. 3 AEUV auferlegen kann, ist nicht auszuschließen, dass sie dem Gerichtshof in einer Situation, in der er es für angebracht hält, finanzielle Sanktionen zu verhängen, die höher sind als die von der Kommission festgesetzten (eine Frage, die sich im vorliegenden Fall meines Erachtens glücklicherweise nicht stellt), diese Möglichkeit nehmen. Aus diesem Grund schlage ich vor, dass der Gerichtshof in seinem Urteil in der vorliegenden Rechtssache ausdrücklich auf die Mängel der Berechnungsmethode der Kommission hinweist (wie er es bereits in seinen Urteilen vom 14. November 2018,  Kommission/Griechenland(74),  und vom 20. Januar 2022, Kommission/Griechenland [Rückforderung von staatlichen Beihilfen –Ferronickel](75), getan hat).

139. Nach diesen Klarstellungen halte ich fest, dass die Republik Polen es bis heute unterlassen hat, der Kommission die zur Umsetzung der Whistleblower-Richtlinie erforderlichen Maßnahmen mitzuteilen.

140. Unter diesen Umständen halte ich es für angebracht, gegen die Republik Polen sowohl die Zahlung eines Pauschalbetrags als auch ein Zwangsgeld zu verhängen, um sie zu veranlassen, die erforderlichen Maßnahmen zur Beendigung der festgestellten Vertragsverletzung zu ergreifen.

141. Um jedoch sicherzustellen, dass die Höhe dieses Pauschalbetrags und dieses Zwangsgelds selbst sowohl „den Umständen angepasst“ ist als auch „in angemessenem Verhältnis zur festgestellten Vertragsverletzung sowie zur Zahlungsfähigkeit“ der Republik Polen steht(76), muss der Gerichtshof meiner Ansicht nach berücksichtigen, dass die Zahlungsfähigkeit der Republik Polen eine geringere ist als sie sich in dem von der Kommission angeführten Faktor n widerspiegelt(77).

142. Bei der Beurteilung der Schwere der streitigen Vertragsverletzung muss der Gerichtshof meines Erachtens außerdem alle relevanten mildernden oder erschwerenden Umstände (wie diejenigen, die ich oben in Nr. 93 aufgeführt habe) berücksichtigen. Hierzu gehört der Umstand, dass die Nichtumsetzung der Whistleblower-Richtlinie durch die Republik Polen angesichts der relativ großen Bevölkerungszahl dieses Mitgliedstaats und angesichts dessen, dass diese Richtlinie gerade darauf abzielt, Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden, individuelle Rechte zu verleihen, die Rechte einer ziemlich großen Zahl von Unionsbürgern beeinträchtigen könnte.

143. Was die Auswirkungen der Vertragsverletzung der Republik Polen auf öffentliche und private Interessen betrifft, so erinnere ich daran, dass die Whistleblower-Richtlinie, wie ich oben in Nr. 21 festgestellt habe, darauf abzielt, Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden, über die sie in einem beruflichen Kontext Informationen erhalten haben, einen „ausgewogenen und effizienten“ Schutz und „eine bessere Durchsetzung des Unionsrechts und der Unionspolitik“ in bestimmten, für das öffentliche Interesse wichtigen Bereichen zu gewährleisten. Die Nichtumsetzung dieses Rechtsakts ist daher als besonders schwerwiegend anzusehen, da sie erhebliche Auswirkungen auf diese „für das öffentliche Interesse wichtigen Bereiche“ sowie auf den Schutz der individuellen Rechte von Hinweisgebern hat.

144. Mir scheint jedoch, dass diese erheblichen Auswirkungen in gewisser Weise dadurch abgeschwächt werden, dass die Hinweisgeber bereits durch das polnische Recht geschützt sind (und daher die Ausübung ihrer Rechte durch die von Polen unterlassene Umsetzung der Whistleblower-Richtlinie nicht so stark beeinträchtigt ist, wie man zunächst annehmen könnte). Insoweit erinnere ich daran, dass der Gerichtshof bereits festgestellt hat, dass die Schwere des Verstoßes von seinen praktischen Auswirkungen abhängen kann, insbesondere davon, dass diese Auswirkungen verhältnismäßig gering bleiben(78). Daher teile ich grundsätzlich die Auffassung der Republik Polen, dass das Schutzniveau, das Hinweisgebern nach polnischem Recht gewährt wird, als ein mildernder Umstand angesehen werden kann.

145. Darüber hinaus stimme ich der Republik Polen zu, dass die Tatsache, dass sie während des Verfahrens, das dem Vertragsverletzungsverfahren vor dem Gerichtshof vorausging, loyal mit der Kommission zusammengearbeitet habe, ebenfalls als ein mildernder Umstand angesehen werden könnte(79).

146. Alles in allem erscheint es mir in Anbetracht der soeben dargelegten relevanten tatsächlichen und rechtlichen Umstände (und insbesondere der geringeren Zahlungsfähigkeit der Republik Polen) angemessen, dass der Gerichtshof finanzielle Sanktionen in geringerer Höhe als von der Kommission festgesetzt verhängt, nämlich einen Pauschalbetrag von 8 700 Euro pro Tag ab dem Tag, an dem die Frist für die Umsetzung der Whistleblower-Richtlinie abgelaufen ist, bis zum Tag der Verkündung des Urteils in der vorliegenden Rechtssache und ein Zwangsgeld von 34 000 Euro pro Tag des Verzugs bei der Erfüllung der sich aus der Whistleblower-Richtlinie ergebenden Verpflichtungen ab dem Tag der Verkündung dieses Urteils bis zu dem Tag, an dem diese Verpflichtungen erfüllt werden.

VI.    Ergebnis

147. In Anbetracht des Vorstehenden schlage ich dem Gerichtshof vor:

–        festzustellen, dass die Republik Polen dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus der Richtlinie (EU) 2019/1937 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2019 zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden (Whistleblower-Richtlinie), verstoßen hat, dass sie die zur Umsetzung dieser Richtlinie erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften nicht erlassen oder sie jedenfalls der Kommission nicht mitgeteilt hat;

–        festzustellen, dass die systematische Anwendung eines Schwerekoeffizienten von 10 in allen Fällen, in denen die Verpflichtung, die zur Umsetzung einer Richtlinie erforderlichen Maßnahmen mitzuteilen, vollständig nicht erfüllt wird, im Hinblick auf die Festlegung finanzieller Sanktionen, die hinreichend abschreckend und dem betreffenden Verstoß angemessen sind, nicht geeignet ist;

–        festzustellen, dass die von der Europäischen Kommission in ihrer Mitteilung „Finanzielle Sanktionen in Vertragsverletzungsverfahren“ zur Bestimmung des Faktors n verwendete Berechnungsmethode nicht geeignet ist, die Zahlungsfähigkeit dieses Mitgliedstaats zu ermitteln;

–        die Republik Polen zu verurteilen, einen Pauschalbetrag in Höhe von 8 700 Euro pro Tag ab dem Tag, an dem die Frist für die Umsetzung der Whistleblower-Richtlinie abgelaufen ist, bis zum Tag der Verkündung des Urteils in der vorliegenden Rechtssache und ein Zwangsgeld von 34 000 Euro pro Tag des Verzugs bei der Erfüllung der sich aus der Whistleblower-Richtlinie ergebenden Verpflichtungen ab dem Tag der Verkündung dieses Urteils bis zu dem Tag, an dem diese Verpflichtungen erfüllt werden, zu zahlen;

–        der Republik Polen die Kosten aufzuerlegen.


1      Originalsprache: Englisch.


2      Vgl. insoweit Art. 23 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln [101 und 102] des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln (ABl. 2003, L 1, S. 1) und Art. 83 der Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung) (ABl. 2016, L 119, S. 1) (im Folgenden: DSGVO).


3      Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2019 (ABl. 2019, L 305, S. 17).


4      Mitteilung der Kommission – Finanzielle Sanktionen in Vertragsverletzungsverfahren (ABl. 2023, C 2, S. 1).


5      Der „Lux-Leaks-Skandal“ bezieht sich auf die Enthüllungen von mehr als 300 „Tax Rulings“ (Steuerregelungen) im Jahr 2014, die von der luxemburgischen Steuerverwaltung mit Unternehmen und Firmen vereinbart wurden, und die daraufhin eingeleiteten Gerichtsverfahren gegen einige der Personen, die an diesen Enthüllungen beteiligt waren.


6      Vgl. erster Erwägungsgrund und Art. 4 („Persönlicher Anwendungsbereich“) der Whistleblower-Richtlinie.


7      Die in der Whistleblower-Richtlinie enthaltenen Vorschriften decken ein breites Spektrum von Bereichen ab und gelten sowohl für den öffentlichen als auch den privaten Sektor. Sie beinhalten ein striktes Verbot aller Formen von Vergeltungsmaßnahmen gegen Hinweisgeber. Allgemein zu dieser Richtlinie vgl. Abazi, V., „The European Union Whistleblower Directive: A ‘game changer’ for whistleblowing protection?“, Industrial Law Journal, Bd. 49, Nr. 4, 2020, S. 640 bis 656.


8      Mit Ausnahme der Maßnahmen, die erforderlich sind, um der Verpflichtung zur Einrichtung interner Meldekanäle gemäß Art. 8 Abs. 3 der Whistleblower-Richtlinie nachzukommen, stand den Mitgliedstaaten hinsichtlich juristischer Personen des privaten Sektors mit 50 bis 249 Arbeitnehmern eine Frist von zwei weiteren Jahren zur Verfügung (bis zum 17. Dezember 2023) (vgl. Art. 26 Abs. 2 dieser Richtlinie).


9      Vgl. die Rechtssachen C‑149/23, Kommission/Deutschland; C‑150/23, Kommission/Luxemburg; C‑152/23, Kommission/Tschechische Republik; C‑154/23, Kommission/Estland, und C‑155/23, Kommission/Ungarn. Alle diese Rechtssachen sind derzeit vor dem Gerichtshof anhängig.


10      Vgl. in diesem Sinne u. a. Urteil vom 20. September 2001, Kommission/Frankreich (C‑468/00, EU:C:2001:482, Rn. 10).


11      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 30. Mai 2013, Kommission/Schweden (C‑270/11, EU:C:2013:339, Rn. 54).


12      Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 20. September 2001, Kommission/Frankreich (C‑468/00, EU:C:2001:482, Rn. 8 bis 10), und vom 26. Februar 2008, Kommission/Luxemburg (C‑273/07, EU:C:2008:122, Rn. 8 bis 10).


13      Vgl. Urteil vom 17. Juli 1997, Kommission/Spanien (C‑52/96, EU:C:1997:382, Rn. 8 bis 11).


14      Vgl. Urteil vom 16. Juli 2020, Kommission/Irland (Bekämpfung der Geldwäsche) (C‑550/18, EU:C:2020:564, Rn. 46).


15      Vgl. Urteil vom 8. Juni 2023, Kommission/Slowakische Republik (Recht auf kostenfreien Rücktritt)  (C‑540/21, EU:C:2023:450, Rn. 83).


16      Vgl. Urteil vom 6. Juli 2000,  Kommission/Belgien (C‑236/99, EU:C:2000:374, Rn. 21 bis 24).


17      Vgl. insoweit Urteile vom 17. September 1987, Kommission/Griechenland (70/86, EU:C:1987:374, Rn. 8), und vom 8. Juli 2010, Kommission/Italien (C‑334/08, EU:C:2010:414, Rn. 46 und 47).


18      Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 11. Juli 1985, Kommission/Italien  (101/84, EU:C:1985:330, Rn. 16), und vom 8. Juni 2023, Kommission/Slowakische Republik (Recht auf kostenfreien Rücktritt) (C‑540/21, EU:C:2023:450, Rn. 81 und die dort angeführte Rechtsprechung). Vgl. auch Schlussanträge des Generalanwalts Wahl in der Rechtssache Kommission/Deutschland (C‑527/12, EU:C:2014:90, Nrn. 47 bis 53).


19      Urteil vom 4. März 2010 (C‑297/08, EU:C:2010:115, Rn. 80 bis 86).


20      Vgl. entsprechend Urteil vom 6. Juli 2000, Kommission/Belgien (C‑236/99, EU:C:2000:374, Rn. 21 bis 24).


21      Vgl. Ziff. 11 der Mitteilung der Kommission – Anwendung von Artikel 260 Absatz 3 AEUV (ABl. 2011, C 12, S. 1).


22      In Art. 260 Abs. 3 AEUV heißt es dazu, dass die fragliche Richtlinie „gemäß einem Gesetzgebungsverfahren erlassen“ worden sein muss. Auf Richtlinien ohne Gesetzescharakter findet diese Bestimmung keine Anwendung.


23      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juli 2020, Kommission/Irland (Bekämpfung der Geldwäsche)  (C‑550/18, EU:C:2020:564, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung).


24      Dies hat seinen Grund darin, dass der Antrag auf Verurteilung zu finanziellen Sanktionen nach Art. 260 Abs. 3 AEUV nur ein Nebenverfahren zum Vertragsverletzungsverfahren ist, dessen Wirksamkeit es gewährleisten soll (vgl. Urteil vom 16. Juli 2020, Kommission/Rumänien [Bekämpfung der Geldwäsche] [C‑549/18, EU:C:2020:563, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung]).


25      Der Vollständigkeit halber weise ich darauf hin, dass Art. 260 Abs. 3 AEUV zwar keine Aussage darüber trifft, ob die Verpflichtung des betreffenden Mitgliedstaats, den Sanktionen nachzukommen, mit dem Tag der Verkündung des Urteils (ohne anschließende Nachfrist) „beginnt“, der Gerichtshof aber bereits mehrfach angeordnet hat, dass Sanktionen sofort wirksam werden (vgl. z. B. Urteil vom 8. Juli 2019, Kommission/Belgien [Art. 260 Abs. 3 AEUV – Hochgeschwindigkeitsnetze], C‑543/17, EU:C:2019:573). Zur Erörterung dieser Frage in der Literatur vgl. Materne, T., La Procédure en Manquement d’État – Guide Pratique, 2. Aufl., Bruylant, S. 483.


26      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juli 2020, Kommission/Irland (Bekämpfung der Geldwäsche) (C‑550/18, EU:C:2020:564, Rn. 74 und die dort angeführte Rechtsprechung).


27      In diesem Zusammenhang möchte ich hinzufügen, dass Art. 260 Abs. 2 AEUV im Wesentlichen einen „mehrfachen Verstoß“ oder „doppelten Verstoß“ betrifft (die ursprüngliche Vertragsverletzung des Mitgliedstaats und seine Vertragsverletzung dahin gehend, dem im Verfahren nach Art. 258 AEUV ergangenen Urteil nachzukommen), während Art. 260 Abs. 3 AEUV im Rahmen eines einzigen Verstoßes zur Anwendung kommt (nämlich der Nichtumsetzung einer Richtlinie) (vgl. Wahl, N. und Prete, L., „Between certainty, severity and proportionality: Some reflections on the nature and functioning of Article 260(3) TFEU“, European Law Reporter, Nr. 6, 2014, S. 170 bis 189, S. 173).


28      Vgl. Urteil vom 25. Februar 2021, Kommission/Spanien (Richtlinie über personenbezogene Daten – Strafrechtlicher Bereich) (C‑658/19, EU:C:2021:138, Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung).


29      Diese Einschränkung betrifft nicht nur den Betrag selbst, sondern auch die vom Gerichtshof für angemessen erachtete Art der Sanktion (Pauschalbetrag oder Zwangsgeld oder beides) (vgl. Urteil vom 16. Juli 2020, Kommission/Rumänien [Bekämpfung der Geldwäsche], C‑549/18, EU:C:2020:563, Rn. 52). Dies vorausgeschickt, stelle ich fest, dass, wie es in der Mitteilung von 2023 heißt, die Kommission „dem Gerichtshof stets vor[schlägt], gegen den betreffenden Mitgliedstaat sowohl einen Pauschalbetrag als auch ein Zwangsgeld zu verhängen“.


30      Vgl. insoweit Urteil vom 25. Februar 2021, Kommission/Spanien (Richtlinie über personenbezogene Daten – Strafrechtlicher Bereich) (C‑658/19, EU:C:2021:138, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung).


31      Vgl. Urteil vom 13. Januar 2021, Kommission/Slowenien (MiFID II) (C‑628/18, EU:C:2021:1, Rn. 75).


32      Insoweit beruft sie sich auf die Urteile vom 25. Juni 2013, Kommission/Tschechische Republik  (C‑241/11, EU:C:2013:423), und vom 17. Oktober 2013, Kommission/Belgien (C‑533/11, EU:C:2013:659).


33      Vgl. im Zusammenhang mit Zwangsgeldern Urteile vom 4. Juli 2000, Kommission/Griechenland  (C‑387/97, EU:C:2000:356, Rn. 90), und vom 25. Februar 2021, Kommission/Spanien (Richtlinie über personenbezogene Daten – Strafrechtlicher Bereich) (C‑658/19, EU:C:2021:138, Rn. 62); in Bezug auf Pauschalbeträge Urteile vom 16. Juli 2020, Kommission/Irland (Bekämpfung der Geldwäsche) (C‑550/18, EU:C:2020:564, Rn. 81), und vom 25. Februar 2021, Kommission/Spanien (Richtlinie über personenbezogene Daten – Strafrechtlicher Bereich) (C‑658/19, EU:C:2021:138, Rn. 73).


34      Vgl. Abschnitt 2 der Mitteilung 2023.


35      Die anderen Elemente der von der Kommission angewandten Berechnungsmethode (d. h. der Pauschalbetrag, der Koeffizient für die Dauer oder die Anzahl der Tage, an denen die Zuwiderhandlung angedauert hat oder noch andauert, und der Faktor n) werden nämlich nicht auf die Schwere des Verstoßes gestützt.


36      Vgl. Ziff. 25 der Mitteilung der Kommission – Anwendung von Artikel 260 Absatz 3 AEUV (ABl. 2011, C 12, S. 1).


37      Siehe näher unten, Nr. 85.


38      Vgl. insoweit Schlussanträge des Generalanwalts Szpunar in der Rechtssache Kommission/Belgien (Art. 260 Abs. 3 AEUV – Hochgeschwindigkeitsnetze) (C‑543/17, EU:C:2019:322, Nr. 69).


39      Vgl. oben, Nr. 51.


40      Vgl. insoweit Schlussanträge des Generalanwalts Szpunar in der Rechtssache Kommission/Belgien (Art. 260 Abs. 3 AEUV – Hochgeschwindigkeitsnetze) (C‑543/17, EU:C:2019:322, Nr. 56). Vgl. auch Wahl, N und Prete, L., „Between certainty, severity and proportionality: Some reflections on the nature and functioning of Article 260(3) TFEU“, European Law Reporter, Nr. 6, 2014, S. 170 bis 189, S. 173.


41      Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. Juni 2003 (ABl. 2003, L 235, S. 10).


42      Vgl. Urteil vom 25. Juni 2013 (C‑241/11, EU:C:2013:423, Rn. 53).


43      Urteil vom 12. Juli 2005 (C‑304/02, EU:C:2005:444).


44      Vgl. insoweit Wahl, N. und Prete, L., „Between certainty, severity and proportionality: Some reflections on the nature and functioning of Article 260(3) TFEU“, European Law Reporter, Nr. 6, 2014, S. 170 bis 189, S. 173.


45      Vgl. Ziff. 7 der Mitteilung der Kommission – Anwendung von Artikel 260 Absatz 3 AEUV (ABl. 2011, C 12, S. 1).


46      Vgl. Urteil vom 25. Februar 2021, Kommission/Spanien (Richtlinie über personenbezogene Daten – Strafrechtlicher Bereich) (C‑658/19, EU:C:2021:138, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung).


47      Vgl. entsprechend Urteil vom 20. Januar 2022, Kommission/Griechenland (Rückforderung von staatlichen Beihilfen – Ferronickel) (C‑51/20, EU:C:2022:36, Rn. 96).


48      Vgl. Abschnitt 3.2.2 der Mitteilung von 2023.


49      Vgl. Abschnitt 2.2 dieser Mitteilung.


50      Allerdings stimme ich zu, dass es selbst in einem Bereich, der allgemein als wichtig für das öffentliche Interesse angesehen wird, möglich ist, dass der Unionsgesetzgeber eine Richtlinie erlässt, die eine Frage von relativ geringer Bedeutung betrifft (z. B. eine sehr technische Frage) und umgekehrt. Die Schwere des Verstoßes ist daher in jedem Einzelfall zu beurteilen.


51      Aus ähnlichen Erwägungen heraus hat die Kommission vermutlich in ihrer allerersten Mitteilung zu Art. 260 Abs. 3 AEUV erklärt, dass die Regeln und allgemeinen Kriterien, die sie in Bezug auf diese Bestimmung formuliert habe, von Fall zu Fall angewandt werden müssten und dass jede finanzielle Sanktion immer den Umständen des Einzelfalls angepasst sein müsse (vgl. Ziff. 10 der Mitteilung der Kommission – Anwendung von Artikel 260 Absatz 3 AEUV, ABl. 2011, C 12, S. 1).


52      Vgl. Urteil vom 13. Januar 2021, Kommission/Slowenien (MiFID II) (C‑628/18, EU:C:2021:1, Rn. 75).


53      Vgl. Abschnitt 3.2.1.1 der Mitteilung von 2023.


54      Vgl. Ziff. 25 der Mitteilung der Kommission – Anwendung von Artikel 260 Absatz 3 AEUV (ABl. 2011, C 12, S. 1), die sich auf Nummer 16.6 der Mitteilung der Kommission – Anwendung von Artikel 228 EG-Vertrag (SEK/2005/1658) bezieht.


55      Vgl. Urteil vom 20. Januar 2022 (C‑51/20, EU:C:2022:36).


56      C‑51/20, EU:C:2021:534, Nr. 37.


57      C‑93/17, EU:C:2018:315, Nr. 139.


58      Vgl. Abschnitt D („Berücksichtigung der Zahlungsfähigkeit des betreffenden Mitgliedstaats“) der Mitteilung der Kommission – Anwendung von Artikel 228 EG-Vertrag (SEK/2005/1658). Der Vollständigkeit halber sei hinzugefügt, dass der Faktor n zum ersten Mal in dem Dokument „Mitteilung der Kommission – Verfahren für die Berechnung des Zwangsgeldes nach Artikel 171 EG-Ver[trag]“ (ABl. 1997, C 63, S. 2) auftauchte, jedoch erst im Jahr 2005 auch auf die Berechnung von Pauschalbeträgen angewandt wurde.


59      C‑93/17, EU:C:2018:903, Rn. 139 bis 141.


60      Mitteilung der Kommission – Änderung der Berechnungsmethode für Pauschalbeträge und Tagessätze für das Zwangsgeld, die von der Kommission im Rahmen von Vertragsverletzungsverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union vorgeschlagen werden (ABl. 2019, C 70, S. 1).


61      C‑51/20, EU:C:2022:36, Rn. 113 bis 115.


62      C‑51/20, EU:C:2022:36, Rn. 116.


63      Insoweit möchte ich ergänzen, dass der Gerichtshof in einer Reihe von Urteilen betont hat, dass hinsichtlich der Zahlungsfähigkeit des betreffenden Mitgliedstaats die jüngste Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) dieses Mitgliedstaats zu berücksichtigen ist, wie sie sich zum Zeitpunkt der Prüfung des Sachverhalts durch den Gerichtshof darstellt (vgl. u. a. Urteile vom 16. Juli 2020, Kommission/Rumänien [Bekämpfung der Geldwäsche], C‑549/18, EU:C:2020:563, Rn. 85, und vom 16. Juli 2020, Kommission/Irland [Bekämpfung der Geldwäsche], C‑550/18, EU:C:2020:564, Rn. 97). Darüber hinaus hat der Gerichtshof die Auffassung vertreten, dass die Höhe der finanziellen Sanktionen in Situationen reduziert werden muss, in denen sich der betreffende Mitgliedstaat in einer Wirtschaftskrise befindet (und sein BIP erheblich gesunken ist) (vgl. Urteil vom 19. Dezember 2012, Kommission/Irland, C‑374/11, EU:C:2012:827, Rn. 44).


64      Basierend auf den von Eurostat bereitgestellten Daten unter: https://ec.europa.eu/eurostat/databrowser/view/NAMA_10_BIP__custom_1799513/bookmark/bar?lang=en&bookmarkId=d8b13929-28c2-478f-8c40-492f2c166c77.


65      Basierend auf den von Eurostat bereitgestellten Daten unter: https://ec.europa.eu/eurostat/databrowser/view/sdg_08_10/default/table?lang=de.


66      Vgl. hierzu Kornezov, A., „Imposing the right amount of sanctions under Article 260(2) TFEU: Fairness v. predictability, or how to `bridge the gaps`“, Bd. 20, Nr. 3, Columbia Journal of European Law, 2014, S. 307 bis 331, S. 329.


67      Vgl. insoweit Urteil vom 25. Februar 2021, Kommission/Spanien (Richtlinie über personenbezogene Daten – Strafrechtlicher Bereich) (C‑658/19, EU:C:2021:138, Rn. 49), in dem das Königreich Spanien geltend gemacht hat, dass es mit dem ihm in der Mitteilung von 2019 zugewiesenen Faktor n an vierter Stelle unter den Mitgliedstaaten in Bezug auf die Zahlungsfähigkeit stehe, während es, wenn dieser Faktor nur auf der Grundlage des BIP berechnet würde, an 14. Stelle stehen würde.


68      Vgl. auch Schlussanträge des Generalanwalts Fennelly in der Rechtssache Kommission/Griechenland  (C‑197/98, EU:C:1999:597, Nrn. 39 bis 43).


69      C‑51/20, EU:C:2022:36.


70      Vgl. die Mitteilung von 2019, Ziff. 2.


71      C‑51/20, EU:C:2021:534, Nr. 37.


72      Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Wathelet in der Rechtssache Kommission/Griechenland (C‑93/17, EU:C:2018:315, Nr. 139).


73      Vgl. Urteil vom 20. Januar 2022, Kommission/Griechenland (Rückforderung von staatlichen Beihilfen – Ferronickel) (C‑51/20, EU:C:2022:36, Rn. 95, 109 und 110).


74      C‑93/17, EU:C:2018:903.


75      C‑51/20, EU:C:2022:36.


76      Vgl. die Rechtsprechung, die ich in Nr. 70 der vorliegenden Schlussanträge angeführt habe.


77      Bei Anwendung der von mir oben in Nr. 125 beschriebenen Methode könnte der Faktor n für die Republik Polen beispielsweise 0,97 betragen, da ihr Pro-Kopf-BIP zwischen 2018 und 2022 im Durchschnitt 13 354 Euro betrug (im Vergleich zu 84 280 Euro für Luxemburg) (basierend auf den von Eurostat zur Verfügung gestellten Daten unter: https://ec.europa.eu/eurostat/databrowser/view/sdg_08_10/default/table?lang=de).


78      Vgl. Urteil vom 13. Januar 2021, Kommission/Slowenien (MiFID II) (C‑628/18, EU:C:2021:1, Rn. 80).


79      Vgl. insoweit Urteile vom 25. Juni 2013, Kommission/Tschechische Republik  (C‑241/11, EU:C:2013:423, Rn. 51), und vom 17. Oktober 2013, Kommission/Belgien  (C‑533/11, EU:C:2013:659, Rn. 40). Umgekehrt stimme ich mit der Kommission darin überein, dass eine mangelnde Zusammenarbeit einen erschwerenden Umstand darstellt. Denn die Mitgliedstaaten sind nach Art. 4 Abs. 3 EUV zur loyalen Zusammenarbeit mit der Kommission verpflichtet.