Language of document : ECLI:EU:C:2024:346

Rechtssache C147/23

Europäische Kommission

gegen

Republik Polen

 Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 25. April 2024

„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Art. 258 AEUV – Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden – Richtlinie (EU) 2019/1937 – Unterbliebene Umsetzung und unterbliebene Mitteilung der Umsetzungsmaßnahmen – Art. 260 Abs. 3 AEUV – Antrag auf Verurteilung zur Zahlung eines Pauschalbetrags und eines täglichen Zwangsgelds – Kriterien für die Festlegung der Höhe der Sanktion – Automatische Anwendung eines Schwerekoeffizienten – Bestimmung der Zahlungsfähigkeit des Mitgliedstaats – Demografisches Kriterium“

1.        Rechtsangleichung – Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden – Richtlinie 2019/1937 – Nicht fristgerechte Umsetzung – Vertragsverletzung

(Art. 258 AEUV; Richtlinie 2019/1937 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 26 Abs. 1 und 3)

(vgl. Rn. 36-38, Tenor 1 und 2)

2.        Vertragsverletzungsklage – Feststellungsurteil des Gerichtshofs – Verletzung der Verpflichtung, die Maßnahmen zur Umsetzung einer Richtlinie mitzuteilen – Finanzielle Sanktionen – Beurteilungsbefugnis des Gerichtshofs – Kriterien

(Art. 260 Abs. 3 AEUV; Richtlinie 2019/1937 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 26 Abs. 1 und 3)

(vgl. Rn. 57, 59, 60, 62, 63, 66-69, 72-82, 84-86)

3.        Vertragsverletzungsklage – Feststellungsurteil des Gerichtshofs – Verletzung der Verpflichtung, die Maßnahmen zur Umsetzung einer Richtlinie mitzuteilen – Finanzielle Sanktionen – Zwangsgeld – Vertragsverletzung, die bis zur Prüfung des Sachverhalts durch den Gerichtshof fortbesteht – Verurteilung zur Zahlung – Voraussetzung – Fortdauer der Vertragsverletzung bis zur Verkündung des Urteils

(Art. 260 Abs. 3 AEUV; Richtlinie 2019/1937 des Europäischen Parlaments und des Rates)

(vgl. Rn. 64, 65, 109, Tenor 3)

4.        Vertragsverletzungsklage – Feststellungsurteil des Gerichtshofs – Verletzung der Verpflichtung, die Maßnahmen zur Umsetzung einer Richtlinie mitzuteilen – Finanzielle Sanktionen – Pauschalbetrag – Festlegung der Höhe – Kriterien

(Art. 260 Abs. 3 AEUV; Richtlinie 2019/1937 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 26 Abs. 1 und 3)

(vgl. Rn. 87-90, 92, 94, 97-103)

5.        Vertragsverletzungsklage – Feststellungsurteil des Gerichtshofs – Verletzung der Verpflichtung, die Maßnahmen zur Umsetzung einer Richtlinie mitzuteilen – Finanzielle Sanktionen – Zwangsgeld – Festlegung der Höhe – Kriterien

(Art. 260 Abs. 3 AEUV; Richtlinie 2019/1937 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 26 Abs. 1 und 3)

(vgl. Rn. 104-108)

Zusammenfassung

Nachdem der Gerichtshof festgestellt hat, dass die Republik Polen dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus dem Unionsrecht verstoßen hat, dass sie die Whistleblower-Richtlinie(1) nicht umgesetzt und die Maßnahmen zu ihrer Umsetzung nicht mitgeteilt hat, prüft er die von der Europäischen Kommission zur Bestimmung der Höhe der finanziellen Sanktionen angewandte Methode.

Da der Kommission keine Maßnahmen zur Umsetzung der Whistleblower-Richtlinie mitgeteilt worden waren, richtete sie am 27. Januar 2022 ein Aufforderungsschreiben und am 15. Juli 2022 eine mit Gründen versehene Stellungnahme an die Republik Polen, mit der sie diese aufforderte, ihren Verpflichtungen innerhalb von zwei Monaten nachzukommen. In seinen schriftlichen Antworten gab dieser Mitgliedstaat an, dass die Veröffentlichung der Umsetzungsmaßnahmen im polnischen Amtsblatt im Januar bzw. dann im August 2023 erfolgen solle.

In diesem Rahmen beantragt die Kommission zum einen, festzustellen, dass die Republik Polen gegen ihre Verpflichtungen verstoßen hat, die zur Umsetzung der Whistleblower-Richtlinie erforderlichen Vorschriften zu erlassen und diese der Kommission mitzuteilen, und zum anderen, gegen sie hierfür finanzielle Sanktionen in Höhe der Beträge zu verhängen, die auf der Grundlage der in der Mitteilung von 2023(2) enthaltenen Leitlinien festgelegt wurden.

Würdigung durch den Gerichtshof

Was erstens das Vorliegen einer Vertragsverletzung betrifft, stellt der Gerichtshof fest, dass, selbst wenn man davon ausgeht, dass die Republik Polen die organisatorischen Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Covid‑19-Pandemie und dem Flüchtlingsstrom infolge des Angriffs auf die Ukraine als einen Fall höherer Gewalt ansieht, der die Umsetzung der Whistleblower-Richtlinie innerhalb der vorgeschriebenen Frist verhindert habe, dieser Mitgliedstaat diese Ereignisse erstmals im Stadium der Klagebeantwortung als Rechtfertigung für die Verspätung bei der Umsetzung dieser Richtlinie anführt. Auch wenn dies für die Republik Polen von außen einwirkende Ereignisse sind, die außergewöhnlich und unvorhersehbar sind, hätte sie gleichwohl mit aller gebotenen Sorgfalt handeln müssen, indem sie die Kommission rechtzeitig über die aufgetretenen Schwierigkeiten unterrichtet. Außerdem steht fest, dass dieser Mitgliedstaat am Ende des schriftlichen Verfahrens des vorliegenden Verfahrens, d. h. fast ein Jahr nach Ablauf der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzten Frist und mehr als eineinhalb Jahre nach Ablauf der in dieser Richtlinie festgelegten Frist für ihre Umsetzung noch immer nicht für deren Umsetzung gesorgt hatte.

Daher kann die Vertragsverletzung nicht mit diesen Ereignissen gerechtfertigt werden, die auf das Verfahren zur Umsetzung der Whistleblower-Richtlinie nur einen mittelbaren Einfluss gehabt haben können.

Was zweitens die Zweckmäßigkeit der Verhängung von finanziellen Sanktionen angeht, stellt der Gerichtshof fest, dass im vorliegenden Fall sowohl ein Pauschalbetrag als auch ein tägliches Zwangsgeld zu verhängen sind.

In Bezug auf die Erhebung eines Pauschalbetrags weist er darauf hin, dass das gänzliche Fehlen einer Mitteilung der zur Umsetzung der Whistleblower-Richtlinie erforderlichen Bestimmungen darauf hindeutet, dass der Erlass einer solchen abschreckenden Maßnahme erforderlich sein kann, um eine zukünftige Wiederholung entsprechender Verstöße zu verhindern. Was das tägliche Zwangsgeld angeht, stellt unter Berücksichtigung des Umstands, dass die Republik Polen bis zur Prüfung des Sachverhalts durch den Gerichtshof ihre Vertragsverletzung fortgesetzt hat, die Verurteilung dieses Mitgliedstaats zur Zahlung eines täglichen Zwangsgelds ein angemessenes finanzielles Mittel dar, um sicherzustellen, dass er die festgestellte Vertragsverletzung schnellstmöglich beendet. Dagegen hält der Gerichtshof die Verhängung eines Zwangsgelds nur insoweit für angemessen, als die Vertragsverletzung zum Zeitpunkt der Verkündung des Urteils in der vorliegenden Rechtssache noch andauert.

Was drittens die Methode zur Festsetzung der Höhe der finanziellen Sanktionen betrifft, stellt der Gerichtshof zum Kriterium der Schwere des festgestellten Verstoßes klar, dass die Höhe der finanziellen Sanktionen, die gegen einen Mitgliedstaat verhängt werden, den Umständen angepasst sein und in einem angemessenen Verhältnis zu dem begangenen Verstoß stehen muss. Die automatische Anwendung desselben Schwerekoeffizienten in allen Fällen, in denen eine Richtlinie nicht vollständig umgesetzt worden ist, hindert jedoch notwendigerweise die Verhängung verhältnismäßiger Sanktionen.

Insbesondere ist die Kommission aufgrund der Annahme, dass die Verletzung der Pflicht zur Mitteilung der Maßnahmen zur Umsetzung einer Richtlinie unabhängig von der betreffenden Richtlinie als gleich schwerwiegend anzusehen sei, nicht in der Lage, die finanziellen Sanktionen entsprechend den Auswirkungen der Nichterfüllung dieser Verpflichtung auf private und öffentliche Interessen anzupassen, wie dies in der Mitteilung von 2023 vorgesehen ist. Insoweit kann sich die Kommission nicht auf den Grundsatz der Gleichheit der Mitgliedstaaten berufen, um die automatische Anwendung eines einheitlichen Schwerekoeffizienten zu rechtfertigen, da offensichtlich ist, dass die Folgen der Nichterfüllung der den Mitgliedstaaten obliegenden Verpflichtungen für die in Rede stehenden privaten und öffentlichen Interessen nicht nur von einem Mitgliedstaat zum anderen, sondern auch je nach dem normativen Inhalt der nicht umgesetzten Richtlinie unterschiedlich sein können.

Folglich kann sich die Kommission nicht ihrer Verpflichtung entledigen, im Einzelfall die Folgen des festgestellten Verstoßes für die privaten und öffentlichen Interessen zu beurteilen. Im vorliegenden Fall ist der Verstoß gegen die Verpflichtung zur Umsetzung der Whistleblower-Richtlinie besonders schwerwiegend, da diese Richtlinie ein entscheidendes Instrument des Unionsrechts darstellt, soweit sie Personen schützen soll, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden. Die unterbliebene Umsetzung ihrer Bestimmungen beeinträchtigt jedoch zwangsläufig die Achtung des Unionsrechts und seine einheitliche und wirksame Anwendung.

In Bezug auf die Zahlungsfähigkeit stellt der Gerichtshof fest, dass die Methode zur Berechnung des Faktors „n“, ein Kriterium, das die abschreckende Wirkung der Sanktion widerspiegelt und in der Mitteilung von 2023 für jeden Mitgliedstaat festgelegt wurde, in erster Linie dem BIP des betreffenden Mitgliedstaats Rechnung trägt. Diese Methode beruht jedoch auf der Annahme, dass zwischen der Bevölkerungsgröße eines Mitgliedstaats und seiner Zahlungsfähigkeit eine Korrelation bestehe, was nicht unbedingt der Fall ist. Daher führt die Berücksichtigung eines demografischen Kriteriums zu einer Entkoppelung des Faktors „n“ von der tatsächlichen Zahlungsfähigkeit des betreffenden Mitgliedstaats, was zur Festsetzung eines Faktors „n“ führen kann, der nicht notwendigerweise dieser Fähigkeit entspricht.

Auch wenn die Berücksichtigung eines demografischen Kriteriums bei der Festsetzung des Faktors „n“ zur Bestimmung der Zahlungsfähigkeit des betreffenden Mitgliedstaats es ermöglicht, eine gewisse Differenzierung zwischen den Faktoren „n“ der Mitgliedstaaten beizubehalten, kann dieses Ziel es nicht rechtfertigen, dass die Zahlungsfähigkeit dieses Mitgliedstaats anhand von Kriterien bestimmt wird, die diese Fähigkeit nicht widerspiegeln.

Daher kann die Bestimmung der Zahlungsfähigkeit des betreffenden Mitgliedstaats in die Methode zur Berechnung des Faktors „n“ nicht die Berücksichtigung eines demografischen Kriteriums gemäß den in der Mitteilung von 2023 vorgesehenen Modalitäten einbeziehen.

Viertens und letztens setzt der Gerichtshof unter Berücksichtigung dieser Klarstellungen im vorliegenden Fall die Beträge eines Pauschalbetrags und eines täglichen Zwangsgelds fest.

Die Tatsache, dass die festgestellte Vertragsverletzung besonders schwer wiegt, wird durch den Umstand verstärkt, dass die Republik Polen am Ende des schriftlichen Verfahrens noch immer nicht die zur Umsetzung der Whistleblower-Richtlinie erforderlichen Vorschriften erlassen hatte.

Außerdem behindert das Fehlen spezifischer und klarer Vorschriften zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden, trotz des Bestehens einiger in der polnischen Gesetzgebung verstreuter Bestimmungen, die nach Ansicht der Republik Polen bestimmten Anforderungen der Whistleblower-Richtlinie entsprechen, einen wirksamen Schutz dieser Personen und ist daher geeignet, die einheitliche und wirksame Anwendung dieses Rechts in den von dieser Richtlinie erfassten Bereichen in Frage zu stellen.

Der Gerichtshof stellt auch fest, dass in Anbetracht der Tatsache, dass die Republik Polen nicht innerhalb der von ihr angekündigten Frist die Vorschriften erlassen hat, die erforderlich sind, um der Whistleblower-Richtlinie nachzukommen, ihre Zusammenarbeit mit der Kommission während des Vorverfahrens nicht als mildernder Umstand berücksichtigt werden kann.

Der Gerichtshof stellt daher fest, dass die wirksame Verhinderung einer zukünftigen Wiederholung von Verstößen, die demjenigen entsprechen, der sich aus der Verletzung der Pflicht zur Umsetzung der Whistleblower-Richtlinie ergibt, die Verhängung eines Pauschalbetrags erfordert, dessen Höhe auf 7 000 000 Euro festzusetzen ist. Für den Fall, dass die festgestellte Vertragsverletzung am Tag der Verkündung des vorliegenden Urteils noch andauern sollte, wird die Republik Polen verurteilt, ab diesem Tag an die Kommission ein tägliches Zwangsgeld in Höhe von 40 000 Euro zu zahlen, bis sie diese Vertragsverletzung beendet hat.


1      Richtlinie (EU) 2019/1937 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2019 zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden (ABl. 2019, L 305, S. 17, im Folgenden: Whistleblower-Richtlinie).


2      Mitteilung 2023/C 2/01 der Kommission mit dem Titel „Finanzielle Sanktionen in Vertragsverletzungsverfahren“ (ABl. 2023, C 2, S. 1, im Folgenden: Mitteilung von 2023).