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URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

23. März 2023(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Europäischer Haftbefehl – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten – Vollstreckungsvoraussetzungen – Gründe, aus denen die Vollstreckung abgelehnt werden kann – Art. 4a Abs. 1 – Haftbefehl zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe – Wendung ‚Verhandlung …, die zu der Entscheidung geführt hat‘ – Bedeutung – Erste Verurteilung auf Bewährung – Zweite Verurteilung – Abwesenheit des Betroffenen in der Verhandlung – Widerruf der Bewährung – Verteidigungsrechte – Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten – Art. 6 – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 47 und 48 – Verstoß – Folgen“

In den verbundenen Rechtssachen C‑514/21 und C‑515/21

betreffend zwei Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Court of Appeal (Berufungsgericht, Irland) mit Entscheidungen vom 30. Juli 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 20. August 2021, in Verfahren betreffend die Vollstreckung von zwei Europäischen Haftbefehlen gegen

LU (C‑514/21),

PH (C‑515/21),

Beteiligter:

Minister for Justice and Equality,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Lycourgos (Berichterstatter), der Richterin L. S. Rossi, der Richter J.‑C. Bonichot und S. Rodin sowie der Richterin O. Spineanu-Matei,

Generalanwältin: T. Ćapeta,

Kanzler: M.‑A. Gaudissart, Beigeordneter Kanzler,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 13. Juli 2022,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von LU, vertreten durch P. Carroll, SC, T. Hughes, Solicitor, und K. Kelly, BL,

–        von PH, vertreten durch E. Lawlor, BL, R. Munro, SC, und D. Rudden, Solicitor,

–        des Minister for Justice and Equality und der irischen Regierung, vertreten durch M. Browne, A. Joyce und C. McMahon als Bevollmächtigte im Beistand von R. Kennedy, SC, und J. Williams, BL,

–        der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Grünheid und J. Tomkin als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 27. Oktober 2022

folgendes

Urteil

1        Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 47 und Art. 48 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) sowie von Art. 4a des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss 2002/584).

2        Diese Ersuchen ergehen im Rahmen der Vollstreckung von zwei Europäischen Haftbefehlen in Irland, die von den ungarischen Justizbehörden gegen LU und von den polnischen Justizbehörden gegen PH zur Vollstreckung von Freiheitsstrafen in den Ausstellungsmitgliedstaaten erlassen wurden.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

 Rahmenbeschluss 2002/584

3        Der sechste Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses 2002/584 lautet:

„Der Europäische Haftbefehl im Sinne des vorliegenden Rahmenbeschlusses stellt im strafrechtlichen Bereich die erste konkrete Verwirklichung des vom Europäischen Rat als ‚Eckstein‘ der justiziellen Zusammenarbeit qualifizierten Prinzips der gegenseitigen Anerkennung dar.“

4        Art. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 bestimmt:

„(1)      Bei dem Europäischen Haftbefehl handelt es sich um eine justizielle Entscheidung, die in einem Mitgliedstaat ergangen ist und die Festnahme und Übergabe einer gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedstaat zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bezweckt.

(2)      Die Mitgliedstaaten vollstrecken jeden Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen dieses Rahmenbeschlusses.

(3)      Dieser Rahmenbeschluss berührt nicht die Pflicht, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Artikel 6 des Vertrags über die Europäische Union niedergelegt sind, zu achten.“

5        Art. 2 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 lautet:

„Ein Europäischer Haftbefehl kann bei Handlungen erlassen werden, die nach den Rechtsvorschriften des Ausstellungsmitgliedstaats mit einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung im Höchstmaß von mindestens zwölf Monaten bedroht sind, oder im Falle einer Verurteilung zu einer Strafe oder der Anordnung einer Maßregel der Sicherung, deren Maß mindestens vier Monate beträgt.“

6        Art. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 bestimmt:

„Die Justizbehörde des Vollstreckungsstaats (nachstehend ‚vollstreckende Justizbehörde‘ genannt) lehnt die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls ab,

1.      wenn die Straftat, aufgrund deren der Europäische Haftbefehl ergangen ist, im Vollstreckungsstaat unter eine Amnestie fällt und dieser Staat nach seinem eigenen Strafrecht für die Verfolgung der Straftat zuständig war;

2.      wenn sich aus den der vollstreckenden Justizbehörde vorliegenden Informationen ergibt, dass die gesuchte Person wegen derselben Handlung von einem Mitgliedstaat rechtskräftig verurteilt worden ist, vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsmitgliedstaats nicht mehr vollstreckt werden kann;

3.      wenn die Person, gegen die der Europäische Haftbefehl ergangen ist, nach dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats aufgrund ihres Alters für die Handlung, die diesem Haftbefehl zugrunde liegt, nicht strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden kann.“

7        Art. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584 sieht vor:

„Die vollstreckende Justizbehörde kann die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls verweigern,

1.      wenn in einem der in Artikel 2 Absatz 4 genannten Fälle die Handlung, aufgrund deren der Europäische Haftbefehl ergangen ist, nach dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats keine Straftat darstellt; in Steuer‑, Zoll- und Währungsangelegenheiten kann die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls jedoch nicht aus dem Grund abgelehnt werden, dass das Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats keine gleichartigen Steuern vorschreibt oder keine gleichartigen Steuer‑, Zoll- und Währungsbestimmungen enthält wie das Recht des Ausstellungsmitgliedstaats;

2.      wenn die Person, gegen die der Europäische Haftbefehl ergangen ist, im Vollstreckungsmitgliedstaat wegen derselben Handlung, aufgrund deren der Europäische Haftbefehl ausgestellt worden ist, strafrechtlich verfolgt wird;

3.      wenn die Justizbehörden des Vollstreckungsmitgliedstaats beschlossen haben, wegen der Straftat, aufgrund deren der Europäische Haftbefehl ausgestellt worden ist, kein Verfahren einzuleiten bzw. das Verfahren einzustellen, oder wenn gegen die gesuchte Person in einem Mitgliedstaat aufgrund derselben Handlung eine rechtskräftige Entscheidung ergangen ist, die einer weiteren Strafverfolgung entgegensteht;

4.      wenn die Strafverfolgung oder die Strafvollstreckung nach den Rechtsvorschriften des Vollstreckungsmitgliedstaats verjährt ist und hinsichtlich der Handlungen nach seinem eigenen Strafrecht Gerichtsbarkeit bestand;

5.      wenn sich aus den der vollstreckenden Justizbehörde vorliegenden Informationen ergibt, dass die gesuchte Person wegen derselben Handlung von einem Drittstaat rechtskräftig verurteilt worden ist, vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann;

6.      wenn der Europäische Haftbefehl zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellt worden ist, sich die gesuchte Person im Vollstreckungsmitgliedstaat aufhält, dessen Staatsangehöriger ist oder dort ihren Wohnsitz hat und dieser Staat sich verpflichtet, die Strafe oder die Maßregel der Sicherung nach seinem innerstaatlichen Recht zu vollstrecken;

7.      wenn der Europäische Haftbefehl sich auf Straftaten erstreckt, die

a)      nach den Rechtsvorschriften des Vollstreckungsmitgliedstaats ganz oder zum Teil in dessen Hoheitsgebiet oder an einem diesem gleichgestellten Ort begangen worden sind;

oder

b)      außerhalb des Hoheitsgebiets des Ausstellungsmitgliedstaats begangen wurden, und die Rechtsvorschriften des Vollstreckungsmitgliedstaats die Verfolgung von außerhalb seines Hoheitsgebiets begangenen Straftaten gleicher Art nicht zulassen.“

8        Der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 eingefügte Art. 4a des Rahmenbeschlusses 2002/584 bestimmt in Abs. 1:

„Die vollstreckende Justizbehörde kann die Vollstreckung eines zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellten Europäischen Haftbefehls auch verweigern, wenn die Person nicht persönlich zu der Verhandlung erschienen ist, die zu der Entscheidung geführt hat, es sei denn, aus dem Europäischen Haftbefehl geht hervor, dass die Person im Einklang mit den weiteren verfahrensrechtlichen Vorschriften des einzelstaatlichen Rechts des Ausstellungsmitgliedstaats

a)      rechtzeitig

i)      entweder persönlich vorgeladen wurde und dabei von dem vorgesehenen Termin und Ort der Verhandlung in Kenntnis gesetzt wurde, die zu der Entscheidung geführt hat, oder auf andere Weise tatsächlich offiziell von dem vorgesehenen Termin und Ort dieser Verhandlung in Kenntnis gesetzt wurde, und zwar auf eine Weise, dass zweifelsfrei nachgewiesen wurde, dass sie von der anberaumten Verhandlung Kenntnis hatte,

und

ii)      davon in Kenntnis gesetzt wurde, dass eine Entscheidung auch dann ergehen kann, wenn sie zu der Verhandlung nicht erscheint;

oder

b)      in Kenntnis der anberaumten Verhandlung ein Mandat an einen Rechtsbeistand, der entweder von der betroffenen Person oder vom Staat bestellt wurde, erteilt hat, sie bei der Verhandlung zu verteidigen, und bei der Verhandlung von diesem Rechtsbeistand tatsächlich verteidigt worden ist;

oder

c)      nachdem ihr die Entscheidung zugestellt und sie ausdrücklich von ihrem Recht auf Wiederaufnahme des Verfahrens oder auf ein Berufungsverfahren in Kenntnis gesetzt worden ist, an dem die Person teilnehmen kann und bei dem der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, erneut geprüft werden und die ursprünglich ergangene Entscheidung aufgehoben werden kann:

i)      ausdrücklich erklärt hat, dass sie die Entscheidung nicht anficht;

oder

ii)      innerhalb der geltenden Frist keine Wiederaufnahme des Verfahrens bzw. kein Berufungsverfahren beantragt hat;

oder

d)      die Entscheidung nicht persönlich zugestellt erhalten hat, aber

i)      sie unverzüglich nach der Übergabe persönlich zugestellt erhalten wird und ausdrücklich von ihrem Recht auf Wiederaufnahme des Verfahrens oder auf ein Berufungsverfahren in Kenntnis gesetzt werden wird, an dem die Person teilnehmen kann und bei dem der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, erneut geprüft werden und die ursprünglich ergangene Entscheidung aufgehoben werden kann;

und

ii)      von der Frist in Kenntnis gesetzt werden wird, über die sie gemäß dem einschlägigen Europäischen Haftbefehl verfügt, um eine Wiederaufnahme des Verfahrens bzw. ein Berufungsverfahren zu beantragen.“

9        Art. 5 des Rahmenbeschlusses 2002/584 bestimmt:

„Die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls durch die vollstreckende Justizbehörde kann nach dem Recht dieses Staates an eine der folgenden Bedingungen geknüpft werden:

[1.]      Ist die Straftat, die dem Europäischen Haftbefehl zugrunde liegt, mit lebenslanger Freiheitsstrafe oder einer lebenslangen freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bedroht, so kann die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls an die Bedingung geknüpft werden, dass die Rechtsordnung des Ausstellungsmitgliedstaats eine Überprüfung der verhängten Strafe – auf Antrag oder spätestens nach 20 Jahren – oder Gnadenakte zulässt, die zur Aussetzung der Vollstreckung der Strafe oder der Maßregel führen können und auf die die betreffende Person nach dem innerstaatlichen Recht oder der Rechtspraxis des Ausstellungsmitgliedstaats Anspruch hat.

[2.]      Ist die Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl zum Zwecke der Strafverfolgung ergangen ist, Staatsangehöriger des Vollstreckungsmitgliedstaats oder in diesem wohnhaft, so kann die Übergabe davon abhängig gemacht werden, dass die betreffende Person nach Gewährung rechtlichen Gehörs zur Verbüßung der Freiheitsstrafe oder der freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung, die im Ausstellungsmitgliedstaat gegen sie verhängt wird, in den Vollstreckungsmitgliedstaat rücküberstellt wird.“

10      Art. 8 des Rahmenbeschlusses 2002/584 lautet:

„(1)      Der Europäische Haftbefehl enthält entsprechend dem im Anhang beigefügten Formblatt folgende Informationen:

a)      die Identität und die Staatsangehörigkeit der gesuchten Person;

b)      Name, Adresse, Telefon- und Telefaxnummer sowie [E‑Mail]-Adresse der ausstellenden Justizbehörde;

c)      die Angabe, ob ein vollstreckbares Urteil, ein Haftbefehl oder eine andere vollstreckbare justizielle Entscheidung mit gleicher Rechtswirkung nach den Artikeln 1 und 2 vorliegt;

d)      die Art und rechtliche Würdigung der Straftat, insbesondere in Bezug auf Artikel 2;

e)      die Beschreibung der Umstände, unter denen die Straftat begangen wurde, einschließlich der Tatzeit, des Tatortes und der Art der Tatbeteiligung der gesuchten Person;

f)      im Fall eines rechtskräftigen Urteils die verhängte Strafe oder der für die betreffende Straftat im Ausstellungsmitgliedstaat gesetzlich vorgeschriebene Strafrahmen;

g)      soweit möglich, die anderen Folgen der Straftat.

(2)      Der Europäische Haftbefehl ist in die Amtssprache oder eine der Amtssprachen des Vollstreckungsstaats zu übersetzen. Jeder Mitgliedstaat kann zum Zeitpunkt der Annahme dieses Rahmenbeschlusses oder später in einer beim Generalsekretariat des Rates hinterlegten Erklärung angeben, dass er eine Übersetzung in eine oder mehrere weitere Amtssprachen der Organe der Europäischen Gemeinschaften akzeptiert.“

11      Art. 15 des Rahmenbeschlusses lautet:

„(1)      Die vollstreckende Justizbehörde entscheidet über die Übergabe der betreffenden Person nach Maßgabe dieses Rahmenbeschlusses und innerhalb der darin vorgesehenen Fristen.

(2)      Ist die vollstreckende Justizbehörde der Ansicht, dass die vom Ausstellungsmitgliedstaat übermittelten Informationen nicht ausreichen, um über die Übergabe entscheiden zu können, so bittet sie um die unverzügliche Übermittlung der notwendigen zusätzlichen Informationen, insbesondere hinsichtlich der Artikel 3 bis 5 und Artikel 8; sie kann eine Frist für den Erhalt dieser zusätzlichen Informationen festsetzen, wobei die Frist nach Artikel 17 zu beachten ist.

(3)      Die ausstellende Justizbehörde kann der vollstreckenden Justizbehörde jederzeit alle zusätzlichen sachdienlichen Informationen übermitteln.“

 Rahmenbeschluss 2009/299

12      Die Erwägungsgründe 1 und 15 des Rahmenbeschlusses 2009/299 lauten:

„(1)      Das Recht eines Angeklagten, persönlich zur Verhandlung zu erscheinen, ist Teil des Rechts auf ein faires Verfahren gemäß Artikel 6 der [am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten] Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten [(im Folgenden: EMRK)] in der Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Der Gerichtshof hat aber auch darauf hingewiesen, dass das Recht des Angeklagten, persönlich zu der Verhandlung zu erscheinen, nicht absolut ist und dass der Angeklagte unter bestimmten Bedingungen aus freiem Willen ausdrücklich oder stillschweigend aber eindeutig auf das besagte Recht verzichten kann.

(15)      Bei den Gründen für eine Nichtanerkennung von Entscheidungen handelt es sich um fakultative Gründe. Im Rahmen ihres Ermessensspielraums bei der Umsetzung dieser Gründe in einzelstaatliches Recht lassen sich die Mitgliedstaaten jedoch insbesondere von dem Recht auf ein faires Verfahren leiten und berücksichtigen dabei das Gesamtziel dieses Rahmenbeschlusses, d. h. die Stärkung der Verfahrensrechte von Personen und die Erleichterung der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen …“

13      Art. 1 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2009/299 sieht vor:

„Die Ziele dieses Rahmenbeschlusses bestehen darin, die Verfahrensrechte von Personen, gegen die ein Strafverfahren anhängig ist, zu stärken, zugleich die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen zu erleichtern und insbesondere die gegenseitige Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen zwischen den Mitgliedstaaten zu verbessern.“

 Irisches Recht

14      Section 37(1) des European Arrest Warrant Act 2003 (Gesetz von 2003 über den Europäischen Haftbefehl) in der für die Ausgangsverfahren maßgebenden Fassung (im Folgenden: Gesetz von 2003 über den Europäischen Haftbefehl) sieht vor:

„Eine Person darf nach diesem Gesetz nicht übergeben werden, wenn

a)      ihre Übergabe unvereinbar ist mit den Verpflichtungen des Staates nach

i)      der [EMRK] oder

ii)      den Protokollen zur [EMRK],

…“

15      Section 45 dieses Gesetzes bestimmt:

„Eine Person darf nach diesem Gesetz nicht übergeben werden, wenn sie zu der Verhandlung, die zur Verhängung der Strafe oder der freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung geführt hat, aufgrund deren der Europäische Haftbefehl erlassen wurde, nicht persönlich erschienen ist, es sei denn, der Haftbefehl enthält die nach den Nrn. 2, 3 und 4 von Buchst. d des Formulars im Anhang des [Rahmenbeschlusses 2002/584] erforderlichen Angaben.“

 Polnisches Recht

16      Art. 75 § 1 des Kodeks karny (Strafgesetzbuch) vom 6. Juni 1997 (Dz. U. Nr. 88, Pos. 553) sieht in der für die Ausgangsverfahren maßgebenden Fassung vor:

„Das Gericht ordnet die Vollstreckung einer Strafe an, wenn die verurteilte Person während der Bewährungszeit eine ähnliche vorsätzliche Straftat begangen hat wie die, wegen der sie rechtsgültig und rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

 Rechtssache C514/21

17      Am 10. Oktober 2006 verurteilte das Encsi városi bíróság (Bezirksgericht Encs, Ungarn) LU nach einer Verhandlung, zu der er persönlich erschienen war, wegen vier im Jahr 2005 begangener Straftaten.

18      Am 19. April 2007 bestätigte die Borsod Abaúj Zemplén Megyei Bíróság (Landgericht Borsod-Abaúj-Zemplén, Ungarn), vor der LU, der ordnungsgemäß geladen worden war, durch einen Rechtsanwalt vertreten wurde, dieses Urteil und verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr. Die Vollstreckung dieser Strafe wurde jedoch für die Dauer von zwei Jahren zur Bewährung ausgesetzt. Unter Anrechnung der Untersuchungshaft von einem Monat hatte er noch maximal elf Monate zu verbüßen.

19      Am 16. Dezember 2010 verurteilte das Encsi városi bíróság (Bezirksgericht Encs) LU wegen Nichtzahlung von Unterhalt im Jahr 2008, d. h. während der Bewährungszeit für die zuvor gegen ihn verhängte Strafe, deren Vollstreckung ausgesetzt worden war. Er war bei den mündlichen Verhandlungen am 15. November 2010 und am 13. Dezember 2010 anwesend, nicht aber bei der Urteilsverkündung.

20      Im Juni 2012 änderte die Miskolci Törvényszék (Gerichtshof Miskolc, Ungarn) dieses Urteil ab, verurteilte LU zu einer Freiheitsstrafe von fünf Monaten und schloss ihn für ein Jahr von der Wahrnehmung öffentlicher Angelegenheiten aus. Ferner ordnete es die Vollstreckung der Strafe an, die wegen der im Jahr 2005 begangenen Straftaten gegen ihn verhängt worden war. Es ist ungeklärt, ob dieses Gericht verpflichtet war, die Vollstreckung der Strafe anzuordnen, oder ob es insoweit über ein Ermessen verfügte.

21      LU war von der Miskolci Törvényszék (Gerichtshof Miskolc) vorgeladen worden. Obwohl er die Vorladung nicht erhalten hatte, war die Zustellung nach ungarischem Recht ordnungsgemäß erfolgt. Er war in der mündlichen Verhandlung vor diesem Gericht nicht anwesend, aber es bestellte einen Anwalt zu seiner Vertretung. Dieser Anwalt erschien zu der Verhandlung und stellte dort einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens, der abgelehnt wurde, sowie ein Gnadengesuch im Namen von LU.

22      Im September 2012 erließen die ungarischen Behörden einen Europäischen Haftbefehl zwecks Übergabe von LU, der sich in Irland befindet, zur Vollstreckung der Strafen wegen der im Jahr 2005 begangenen Taten und wegen der Nichtzahlung von Unterhalt. Der High Court (Obergericht, Irland) lehnte die Vollstreckung dieses Haftbefehls ab.

23      Am 28. Oktober 2015 gab die Miskolci Törvényszék (Gerichtshof Miskolc) auf Antrag von LU dem Encsi Járásbíróság (Kreisgericht Encs) auf, eine Wiederaufnahme des Verfahrens hinsichtlich der im Jahr 2005 begangenen Taten zu prüfen. Am 24. Oktober 2016 wies dieses Gericht den Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens zurück. LU war nicht vor dem Encsi Járásbíróság (Kreisgericht Encs) erschienen, wurde aber durch einen von ihm bestellten Anwalt vertreten.

24      Die Miskolci Törvényszék (Gerichtshof Miskolc), bei der LU ein Rechtsmittel gegen diese Entscheidung eingelegt hatte, führte am 20. März 2017 eine mündliche Verhandlung durch, zu der LU nicht erschien, in der er aber durch einen von ihm bestellten Anwalt vertreten wurde. Am 29. März 2017 wies dieses Gericht den Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens zurück.

25      Im Anschluss an diese Entscheidung war die Freiheitsstrafe, zu der LU wegen der im Jahr 2005 begangenen Straftaten verurteilt worden war und deren Vollstreckung die Miskolci Törvényszék (Gerichtshof Miskolc) im Juni 2012 angeordnet hatte, nach ungarischem Recht erneut vollstreckbar.

26      Am 27. Juli 2017 erließen die ungarischen Behörden einen zweiten, auf die Verbüßung der verbleibenden elf Monate der Freiheitsstrafe, zu der LU wegen der vier im Jahr 2005 begangenen Straftaten verurteilt worden war, abzielenden Europäischen Haftbefehl; er ist Gegenstand des Ausgangsverfahrens.

27      Mit Entscheidung vom 15. Dezember 2020 ordnete der High Court (Obergericht) auf der Grundlage dieses Haftbefehls die Übergabe von LU an. Der mit der Berufung von LU befasste Court of Appeal (Berufungsgericht, Irland), das vorlegende Gericht, führt erstens aus, LU sei zu der Verhandlung, die zu seiner Verurteilung durch die Miskolci Törvényszék (Gerichtshof Miskolc) wegen Nichtzahlung von Unterhalt sowie zur Anordnung der Vollstreckung der ersten Freiheitsstrafe, die Gegenstand des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Europäischen Haftbefehls sei, geführt habe, nicht erschienen. Da LU offenbar nicht auf sein Recht auf Anwesenheit bei dieser Verhandlung verzichtet habe, sei das Verfahren nicht im Einklang mit Art. 6 EMRK durchgeführt worden.

28      Das vorlegende Gericht neigt ferner zu der Auffassung, wenn das Verfahren vor der Miskolci Törvényszék (Gerichtshof Miskolc) als Teil der „Verhandlung …, die zu der Entscheidung geführt hat“ im Sinne von Art. 4a des Rahmenbeschlusses 2002/584 anzusehen sein sollte, wären weder die Voraussetzungen dieser Vorschrift noch die von Section 45 des Gesetzes von 2003 über den Europäischen Haftbefehl erfüllt.

29      Zweitens macht das vorlegende Gericht jedoch geltend, zum einen könne die Anordnung der Vollstreckung der ersten gegen LU verhängten Freiheitsstrafe als bloße Entscheidung über die Vollstreckung oder Anwendung dieser Strafe im Sinne des Urteils vom 22. Dezember 2017, Ardic (C‑571/17 PPU, EU:C:2017:1026), angesehen werden und zum anderen sei weder mit dieser Entscheidung noch mit der Verurteilung von LU wegen der Nichtzahlung von Unterhalt eine Änderung der Art oder des Maßes der Freiheitsstrafe, die gegen ihn wegen der im Jahr 2005 begangenen Taten verhängt worden sei, bezweckt oder bewirkt worden, so dass beide nicht in den Anwendungsbereich von Art. 4a des Rahmenbeschlusses 2002/584 fielen.

30      Die Rechtssache, die Gegenstand des Ausgangsverfahrens sei, unterscheide sich allerdings in mehrfacher Hinsicht von der Rechtssache, zu der das Urteil vom 22. Dezember 2017, Ardic (C‑571/17 PPU, EU:C:2017:1026), ergangen sei.

31      Zunächst habe sich im vorliegenden Fall die zweite Verurteilung von LU offenbar entscheidend ausgewirkt, weil sie dazu geführt habe, dass die Aussetzung der zuvor gegen ihn verhängten Freiheitsstrafe zur Bewährung widerrufen worden sei. Überdies hätte LU im Fall seiner Übergabe keinen Anspruch, nachträglich gehört zu werden. Und schließlich wiesen die Umstände des Ausgangsverfahrens einen viel engeren Zusammenhang mit Art. 6 EMRK sowie mit Art. 47 und Art. 48 Abs. 2 der Charta auf als die Rechtssache, zu der das Urteil vom 22. Dezember 2017, Ardic (C‑571/17 PPU, EU:C:2017:1026), ergangen sei. Denn die Freiheitsstrafe, zu der LU wegen der von ihm im Jahr 2005 begangenen Straftaten verurteilt worden sei, sei nur deshalb vollstreckbar, weil er in seiner Abwesenheit der Nichtzahlung von Unterhalt für schuldig befunden und deshalb verurteilt worden sei, und es stehe außer Zweifel, dass Art. 6 EMRK auf ein Verfahren, das zu einer solchen Verurteilung in Abwesenheit geführt habe, Anwendung finde.

32      Außerdem erscheine es, da Art. 4a des Rahmenbeschlusses 2002/584 und Section 45 des Gesetzes von 2003 über den Europäischen Haftbefehl einer Übergabe von LU zur Verbüßung der Strafe, zu der er in seiner Abwesenheit wegen Nichtzahlung von Unterhalt verurteilt worden sei, entgegenstünden, als Anomalie, dass er den ungarischen Behörden übergeben werden könne, um die Strafe, zu der er wegen der im Jahr 2005 begangenen Taten verurteilt worden sei, zu verbüßen, obwohl diese Strafe nur wegen der Verurteilung in Abwesenheit vollstreckbar sei.

33      Der Beschluss der Miskolci Törvényszék (Gerichtshof Miskolc), mit dem die Aussetzung der Vollstreckung der ersten Freiheitsstrafe widerrufen worden sei, könne als so eng mit der Verurteilung wegen Nichtzahlung von Unterhalt verbunden angesehen werden, dass ein Verstoß dieser Verurteilung gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK auch den Beschluss erfasse.

34      Unter diesen Umständen hat der Court of Appeal (Berufungsgericht) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      a)      Wenn um die Übergabe der gesuchten Person zur Verbüßung einer Freiheitsstrafe ersucht wird, die zunächst zur Bewährung ausgesetzt worden war, deren Vollstreckung aber später aufgrund der Verurteilung der gesuchten Person wegen einer weiteren Straftat angeordnet wurde, und wenn dieser Vollstreckungsbeschluss von dem Gericht erlassen wurde, das die gesuchte Person wegen dieser weiteren Straftat verurteilt hat, ist dann das Verfahren, das zu dieser späteren Verurteilung und dem Vollstreckungsbeschluss geführt hat, im Sinne von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl Teil der „Verhandlung …, die zu der Entscheidung geführt hat“?

b)      Ist es für die Antwort auf Frage 1 Buchst. a von Bedeutung, ob das Gericht, das den Vollstreckungsbeschluss erlassen hat, dazu rechtlich verpflichtet war oder ob der Vollstreckungsbeschluss in seinem Ermessen stand?

2.      Ist die vollstreckende Justizbehörde unter den in Frage 1 dargelegten Umständen berechtigt, zu prüfen, ob die Verhandlungen, die zu der späteren Verurteilung und dem Vollstreckungsbeschluss geführt haben und die in Abwesenheit der gesuchten Person stattfanden, im Einklang mit Art. 6 EMRK durchgeführt wurden, und insbesondere, ob die Abwesenheit der gesuchten Person zu einer Verletzung der Verteidigungsrechte und/oder des Rechts der gesuchten Person auf ein faires Verfahren geführt hat?

3.      a)      Ist die vollstreckende Justizbehörde, wenn sie sich unter den in Frage 1 genannten Umständen davon überzeugt hat, dass das Verfahren, das zu der späteren Verurteilung und dem Vollstreckungsbeschluss geführt hat, nicht im Einklang mit Art. 6 EMRK durchgeführt wurde, und insbesondere davon, dass die Abwesenheit der gesuchten Person eine Verletzung der Verteidigungsrechte und/oder des Rechts der gesuchten Person auf ein faires Verfahren darstellt, berechtigt und/oder verpflichtet, a) die Übergabe der gesuchten Person mit der Begründung abzulehnen, dass eine solche Übergabe gegen Art. 6 EMRK und/oder Art. 47 und Art. 48 Abs. 2 der Charta verstoßen würde, und/oder b) von der ausstellenden Justizbehörde als Bedingung für die Übergabe die Garantie zu verlangen, dass die gesuchte Person nach der Übergabe Anspruch auf ein Wiederaufnahmeverfahren oder ein Berufungsverfahren hat, an dem sie teilnehmen kann und das eine erneute Prüfung des Sachverhalts, einschließlich neuer Beweismittel, ermöglicht, die zur Aufhebung der ursprünglichen Entscheidung in Bezug auf die Verurteilung, die zum Vollstreckungsbeschluss geführt hat, führen kann?

b)      Ist für die Zwecke der vorstehenden Frage 3 Buchst. a zu prüfen, ob die Übergabe der gesuchten Person den Wesensgehalt ihrer Grundrechte nach Art. 6 EMRK und/oder Art. 47 und Art. 48 Abs. 2 der Charta verletzen würde, und wenn ja, reicht der Umstand, dass die Verhandlung, die zu der späteren Verurteilung und dem Vollstreckungsbeschluss geführt hat, in Abwesenheit durchgeführt wurde und dass die gesuchte Person im Fall ihrer Übergabe kein Recht auf Wiederaufnahme des Verfahrens oder auf einen Rechtsbehelf haben wird, aus, um der vollstreckenden Justizbehörde die Feststellung zu ermöglichen, dass die Übergabe den Wesensgehalt dieser Rechte verletzen würde?

 Rechtssache C515/21

35      Am 29. Mai 2015 wurde PH vom Sąd Rejonowy dla Wrocławia-Śródmieścia (Rayongericht Wrocław-Śródmieście, Polen) in seiner Anwesenheit wegen einer im Jahr 2015 begangenen Straftat zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt. Die Vollstreckung der Strafe wurde für fünf Jahre zur Bewährung ausgesetzt. PH legte gegen dieses Urteil kein Rechtsmittel ein.

36      Am 21. Februar 2017 wurde PH vom Sąd Rejonowy w Bydgoszczy (Rayongericht Bydgoszcz, Polen) einer zweiten Straftat für schuldig befunden und zu einer Freiheitsstrafe von 14 Monaten verurteilt. PH hatte von der Verhandlung vor diesem Gericht keine Kenntnis und erschien zu ihr weder persönlich, noch war er dort anwaltlich vertreten.

37      Am 16. Mai 2017 ordnete der Sąd Rejonowy dla Wrocławia-Śródmieścia (Rayongericht Wrocław-Śródmieście) gemäß Art. 75 § 1 des polnischen Strafgesetzbuchs die Vollstreckung der von ihm gegen PH verhängten Freiheitsstrafe von einem Jahr mit der Begründung an, dass PH während seiner Bewährungszeit eine zweite Straftat begangen habe. Das Gericht verfügte insoweit über kein Ermessen.

38      PH hatte von dem Verfahren vor dem Sąd Rejonowy dla Wrocławia-Śródmieścia (Rayongericht Wrocław-Śródmieście), das zu der Entscheidung führte, die Aussetzung der Vollstreckung seiner ersten Freiheitsstrafe zu widerrufen, keine Kenntnis und erschien weder persönlich zu der mündlichen Verhandlung vom 16. Mai 2017, noch war er dort anwaltlich vertreten.

39      Die Frist, innerhalb deren PH gegen seine Verurteilung wegen der zweiten Straftat Berufung einlegen konnte, ist inzwischen abgelaufen, und im Fall einer Übergabe hat PH keinen Anspruch auf rechtliches Gehör, außer im Rahmen eines etwaigen außerordentlichen Rechtsbehelfs.

40      Am 26. Februar 2019 erließ der Sąd Rejonowy dla Wrocławia-Śródmieścia (Rayongericht Wrocław-Śródmieście) einen Europäischen Haftbefehl gegen PH, der sich in Irland befindet, zur Vollstreckung der am 29. Mai 2015 gegen ihn verhängten Freiheitsstrafe von einem Jahr.

41      Mit Entscheidung vom 16. November 2020 ordnete der High Court (Obergericht) auf der Grundlage dieses Haftbefehls die Übergabe von PH an. PH legte gegen diese Entscheidung Rechtsmittel beim Court of Appeal (Berufungsgericht) ein.

42      Der Court of Appeal (Berufungsgericht) hebt hervor, dass die in Abwesenheit durchgeführte Verhandlung, die zur zweiten Verurteilung von PH geführt habe, weder mit Art. 6 EMRK noch mit den Art. 47 und 48 der Charta vereinbar zu sein scheine, da PH offenbar nicht auf sein Recht verzichtet habe, bei dieser Verhandlung anwesend zu sein.

43      Unter diesen Umständen hat der Court of Appeal (Berufungsgericht) aus ähnlichen wie den oben in den Rn. 27 bis 33 dargelegten Gründen beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Wenn um die Übergabe der gesuchten Person zur Verbüßung einer Freiheitsstrafe ersucht wird, die zunächst zur Bewährung ausgesetzt worden war, deren Vollstreckung aber später aufgrund der späteren Verurteilung der gesuchten Person wegen einer weiteren Straftat angeordnet wurde, und wenn dieser Vollstreckungsbeschluss aufgrund dieser Verurteilung zwingend vorgeschrieben war, ist dann das Verfahren, das zu dieser späteren Verurteilung, und/oder das Verfahren, das zu dem Vollstreckungsbeschluss geführt hat, im Sinne von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl Teil der „Verhandlung …, die zu der Entscheidung geführt hat“?

2.      Ist die vollstreckende Justizbehörde unter den in Frage 1 genannten Umständen berechtigt und/oder verpflichtet, zu prüfen, ob die Verhandlungen, die zu der späteren Verurteilung und/oder dem Vollstreckungsbeschluss geführt haben und die in Abwesenheit der gesuchten Person stattfanden, im Einklang mit Art. 6 EMRK durchgeführt wurden, und insbesondere, ob die Abwesenheit der gesuchten Person in dieser Verhandlung zu einer Verletzung der Verteidigungsrechte und/oder des Rechts der gesuchten Person auf ein faires Verfahren geführt hat?

3.      a)      Ist die vollstreckende Justizbehörde, die sich unter den in Frage 1 genannten Umständen davon überzeugt hat, dass das Verfahren, das zu der späteren Verurteilung und dem Vollstreckungsbeschluss geführt hat, nicht im Einklang mit Art. 6 EMRK durchgeführt wurde, und insbesondere, dass die Abwesenheit der gesuchten Person eine Verletzung der Verteidigungsrechte und/oder des Rechts der gesuchten Person auf ein faires Verfahren darstellt, berechtigt und/oder verpflichtet, a) die Übergabe der gesuchten Person mit der Begründung abzulehnen, dass eine solche Übergabe gegen Art. 6 EMRK und/oder Art. 47 und Art. 48 Abs. 2 der Charta verstoßen würde, und/oder b) von der ausstellenden Justizbehörde als Bedingung für die Übergabe die Garantie zu verlangen, dass die gesuchte Person nach ihrer Übergabe Anspruch auf ein Wiederaufnahmeverfahren oder ein Berufungsverfahren hat, an dem sie teilnehmen kann und das eine erneute Prüfung des Sachverhalts, einschließlich neuer Beweismittel, ermöglicht, die zur Aufhebung der ursprünglichen Entscheidung in Bezug auf die Verurteilung, die zum Vollstreckungsbeschluss geführt hat, führen kann?

b)      Ist für die Zwecke der vorstehenden Frage 3 Buchst. a zu prüfen, ob die Übergabe der gesuchten Person den Wesensgehalt ihrer Grundrechte aus Art. 6 EMRK und/oder Art. 47 und Art. 48 Abs. 2 der Charta verletzen würde, und wenn ja, reicht der Umstand, dass die Verhandlung, die zu der späteren Verurteilung und dem Vollstreckungsbeschluss geführt hat, in Abwesenheit durchgeführt wurde und dass die gesuchte Person im Fall ihrer Übergabe kein Recht auf Wiederaufnahme des Verfahrens oder auf einen Rechtsbehelf haben wird, aus, um der vollstreckenden Justizbehörde die Feststellung zu ermöglichen, dass die Übergabe den Wesensgehalt dieser Rechte verletzen würde?

44      Durch Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 20. September 2021 sind die Rechtssachen C‑514/21 und C‑515/21 zu gemeinsamem mündlichen Verfahren und zu gemeinsamem Urteil verbunden worden.

 Zu den Vorlagefragen

 Zur ersten Frage

45      Mit seiner ersten Frage in den verbundenen Rechtssachen C‑514/21 und C‑515/21 möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 im Licht der Art. 47 und 48 der Charta dahin auszulegen ist, dass in einem Fall, in dem die Aussetzung der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe wegen einer erneuten strafrechtlichen Verurteilung widerrufen und zur Vollstreckung dieser Strafe ein Europäischer Haftbefehl ausgestellt wird, die in Abwesenheit ergangene Widerrufsentscheidung oder die ebenfalls in Abwesenheit ergangene zweite strafrechtliche Verurteilung eine „Entscheidung“ im Sinne dieser Bestimmung darstellt.

46      Erstens ist darauf hinzuweisen, dass der Rahmenbeschluss 2002/584 darauf abzielt, durch die Einführung eines vereinfachten und wirksamen Systems der Übergabe von Personen, die wegen einer Straftat verurteilt worden sind oder einer Straftat verdächtigt werden, die justizielle Zusammenarbeit zu erleichtern und zu beschleunigen, um zur Verwirklichung des der Europäischen Union gesteckten Ziels beizutragen, sich zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu entwickeln, beruhend auf dem hohen Maß an Vertrauen, das zwischen den Mitgliedstaaten bestehen muss (Urteil vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 67 und die dort angeführte Rechtsprechung).

47      Hierzu ergibt sich aus diesem Rahmenbeschluss und insbesondere aus seinem Art. 1 Abs. 2, dass die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls den Grundsatz darstellt, während die Ablehnung der Vollstreckung als eng auszulegende Ausnahme ausgestaltet ist (Urteil vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 68 und die dort angeführte Rechtsprechung).

48      Zweitens geht schon aus dem Wortlaut von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 hervor, dass die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung eines zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellten Europäischen Haftbefehls verweigern kann, wenn der Betroffene nicht persönlich zu der Verhandlung erschienen ist, die zu der Entscheidung geführt hat, es sei denn, aus dem Europäischen Haftbefehl geht hervor, dass die in Art. 4a Abs. 1 Buchst. a bis d genannten Voraussetzungen erfüllt sind (Urteil vom 17. Dezember 2020, Generalstaatsanwaltschaft Hamburg, C‑416/20 PPU, EU:C:2020:1042, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).

49      Art. 4a schränkt damit die Möglichkeit, die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls zu verweigern, ein, indem er in genauer und einheitlicher Weise aufzählt, unter welchen Voraussetzungen die Anerkennung und Vollstreckung einer Entscheidung, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen ist, zu der der Betroffene nicht persönlich erschienen war, nicht verweigert werden dürfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Dezember 2020, Generalstaatsanwaltschaft Hamburg, C‑416/20 PPU, EU:C:2020:1042, Rn. 35 und 36 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

50      Art. 4a des Rahmenbeschlusses 2002/584 zielt darauf ab, ein hohes Schutzniveau zu gewährleisten und es der vollstreckenden Behörde zu ermöglichen, den Betroffenen trotz seiner Abwesenheit bei der Verhandlung, die zu seiner Verurteilung geführt hat, unter uneingeschränkter Achtung seiner Verteidigungsrechte zu übergeben (Urteil vom 17. Dezember 2020, Generalstaatsanwaltschaft Hamburg, C‑416/20 PPU, EU:C:2020:1042, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung). Insbesondere geht aus Art. 1 des Rahmenbeschlusses 2009/299 im Licht seiner Erwägungsgründe 1 und 15 ausdrücklich hervor, dass Art. 4a in den Rahmenbeschluss 2002/584 eingefügt wurde, um das Recht des Angeklagten zu schützen, persönlich zu dem gegen ihn eingeleiteten Strafverfahren zu erscheinen, und zugleich die gegenseitige Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen zwischen den Mitgliedstaaten zu verbessern.

51      Art. 4a ist zudem im Einklang mit Art. 47 Abs. 2 und 3 sowie Art. 48 der Charta auszulegen und anzuwenden, die nach den Erläuterungen zur Charta Art. 6 EMRK entsprechen. Der Gerichtshof hat daher darauf zu achten, dass seine Auslegung von Art. 47 Abs. 2 und 3 sowie von Art. 48 der Charta ein Schutzniveau gewährleistet, das nicht hinter dem durch Art. 6 EMRK in seiner Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte garantierten Niveau zurückbleibt (Urteil vom 15. September 2022, HN [Verfahren eines aus dem Hoheitsgebiet abgeschobenen Angeklagten], C‑420/20, EU:C:2022:679, Rn. 55).

52      Drittens ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs unter der Wendung „Verhandlung …, die zu der Entscheidung geführt hat“ im Sinne von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 das Verfahren zu verstehen, das zu der justiziellen Entscheidung geführt hat, mit der die Person, um deren Übergabe im Rahmen der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls ersucht wird, rechtskräftig verurteilt wurde (Urteile vom 10. August 2017, Tupikas, C‑270/17 PPU, EU:C:2017:628, Rn. 74, und vom 22. Dezember 2017, Ardic, C‑571/17 PPU, EU:C:2017:1026, Rn. 64).

53      Dagegen stellt eine Entscheidung über die Vollstreckung oder die Anwendung einer zuvor verhängten Freiheitsstrafe keine „Entscheidung“ im Sinne von Art. 4a Abs. 1 dar, es sei denn, sie berührt die Feststellung der Schuld oder sie bezweckt oder bewirkt eine Änderung von Art oder Maß der Strafe und die sie erlassende Behörde verfügte insoweit über ein Ermessen. Folglich fällt eine Entscheidung, mit der die Aussetzung der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe widerrufen wird, weil der Betroffene gegen eine objektive Voraussetzung für die Aussetzung verstoßen hat, etwa durch die Begehung einer weiteren Straftat während der Bewährungszeit, nicht in den Anwendungsbereich von Art. 4a Abs. 1, da sowohl die Art als auch das Maß der Strafe unverändert bleiben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Dezember 2017, Ardic, C‑571/17 PPU, EU:C:2017:1026, Rn. 77, 81, 82 und 88).

54      Da die mit der Entscheidung über einen solchen Widerruf betraute Behörde keine inhaltliche Prüfung des Sachverhalts, der zu der strafrechtlichen Verurteilung geführt hat, vorzunehmen hat, ist es im Übrigen irrelevant, dass sie über ein Ermessen verfügt, es sei denn, sie ist befugt, das Maß oder die Art der in der Entscheidung, mit der die gesuchte Person rechtskräftig verurteilt wurde, verhängten Freiheitsstrafe zu ändern (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Dezember 2017, Ardic, C‑571/17 PPU, EU:C:2017:1026, Rn. 80).

55      Diese enge Auslegung der Wendung „Verhandlung …, die zu der Entscheidung geführt hat“ im Sinne von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 steht überdies im Einklang mit der Systematik der durch den Rahmenbeschluss geschaffenen Regelung. Wie oben in Rn. 47 hervorgehoben, stellt diese Bestimmung nämlich eine Ausnahme von der Regel dar, wonach die vollstreckende Justizbehörde verpflichtet ist, die gesuchte Person an den Ausstellungsmitgliedstaat zu übergeben, und ist daher eng auszulegen.

56      Eine solche Auslegung vermag zudem das mit dem Rahmenbeschluss verfolgte Ziel, das darin besteht, die justizielle Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten, beruhend auf den Grundsätzen des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung, zu erleichtern und zu beschleunigen (siehe oben, Rn. 46), am besten zu gewährleisten, indem verhindert wird, dass die vollstreckende Justizbehörde eine allgemeine Funktion der Kontrolle aller im Ausstellungsmitgliedstaat erlassenen verfahrensrechtlichen Entscheidungen übernimmt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 10. August 2017, Tupikas, C‑270/17 PPU, EU:C:2017:628, Rn. 87 und 88, sowie vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 88).

57      Insoweit darf nach ständiger Rechtsprechung zum einen der Rahmenbeschluss 2002/584 im Licht der Bestimmungen der Charta nicht so ausgelegt werden, dass die Wirksamkeit des Systems der justiziellen Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten, zu dessen wesentlichen Bausteinen der Europäische Haftbefehl in seiner Ausgestaltung durch den Unionsgesetzgeber gehört, in Frage gestellt wird (Urteil vom 22. Februar 2022, Openbaar Ministerie [Im Ausstellungsmitgliedstaat durch Gesetz errichtetes Gericht], C‑562/21 PPU und C‑563/21 PPU, EU:C:2022:100, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung), und zum anderen ist in erster Linie der Ausstellungsmitgliedstaat dafür verantwortlich, zu gewährleisten, dass die Rechte der Person, um deren Übergabe ersucht wird, gewahrt werden (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteil vom 23. Januar 2018, Piotrowski, C‑367/16, EU:C:2018:27, Rn. 49 und 50).

58      Eine solche Auslegung von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 steht auch im Einklang mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Nach seiner Rechtsprechung fallen zum einen Verfahren betreffend die Modalitäten der Strafvollstreckung nicht in den Anwendungsbereich von Art. 6 EMRK, und zum anderen können Maßnahmen, die ein Gericht nach der rechtskräftigen Verhängung einer Strafe oder während ihrer Vollstreckung trifft, nur dann als „Strafen“ im Sinne der EMRK angesehen werden, wenn sie zu einer Neufestlegung oder einer Änderung des Umfangs der ursprünglich verhängten Strafe führen können (vgl. u. a. EGMR, 3. April 2012, Boulois/Luxemburg, CE:ECHR:2012:0403JUD003757504, § 87, EGMR, 10. November 2015, Çetin/Türkei, CE:ECHR:2015:1110DEC003285709, §§ 42 bis 47, EGMR, 12. November 2019, Abedin/Vereinigtes Königreich, CE:ECHR:2019:1112DEC005402616, §§ 29 bis 37, EGMR, 22. Juni 2021, Ballıktaş Bingöllü, CE:ECHR:2021:0622JUD007673012, § 48, und EGMR, 10. November 2022, Kupinskyy/Ukraine, CE:ECHR:2022:1110JUD000508418, §§ 47 bis 52).

59      Viertens ist als erster Aspekt festzustellen, dass eine justizielle Entscheidung, mit der der Betroffene verurteilt wird, im Gegensatz zu Fragen betreffend die Modalitäten der Vollstreckung oder Anwendung einer Strafe unter den strafrechtlichen Teil von Art. 6 EMRK fällt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 10. August 2017, Zdziaszek, C‑271/17 PPU, EU:C:2017:629, Rn. 85, und vom 22. Dezember 2017, Ardic, C‑571/17 PPU, EU:C:2017:1026, Rn. 75 und die dort angeführte Rechtsprechung).

60      Als zweiter Aspekt stellt das Recht des Angeklagten auf Anwesenheit in der Verhandlung ein wesentliches Element des Anspruchs auf rechtliches Gehör dar und ist allgemeiner betrachtet von entscheidender Bedeutung für die Beachtung des in Art. 47 Abs. 2 und 3 und in Art. 48 der Charta verankerten Rechts auf ein faires Strafverfahren (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. September 2022, HN [Verfahren eines aus dem Hoheitsgebiet abgeschobenen Angeklagten], C‑420/20, EU:C:2022:679, Rn. 54 bis 56 und die dort angeführte Rechtsprechung).

61      Hierzu hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschieden, dass es eine eklatante Rechtsverweigerung darstellt, wenn eine Person, von der nicht erwiesen ist, dass sie auf ihr Recht verzichtet hatte, persönlich zu erscheinen und sich zu verteidigen, oder dass sie die Absicht hatte, sich dem Zugriff der Justiz zu entziehen, in Abwesenheit verurteilt wird, ohne dass sie die Möglichkeit hat, im Anschluss an die Gewährung rechtlichen Gehörs zur tatsächlichen und rechtlichen Begründetheit der gegen sie erhobenen Anschuldigung ein neues Urteil zu erwirken (EGMR, 1. März 2006, Sejdovic/Italien, CE:ECHR:2006:0301JUD005658100, § 82, und EGMR, 9. Juli 2019, Kislov/Russland, CE:ECHR:2019:0709JUD000359810, §§ 106, 107 und 115).

62      Im vorliegenden Fall ist ferner darauf hinzuweisen, dass die zweiten strafrechtlichen Verurteilungen von PH und LU die zuständige nationale Behörde zwangen oder ihr gestatteten, die Aussetzung der Vollstreckung der ersten Freiheitsstrafen, zu denen diese Personen bereits verurteilt worden waren, zu widerrufen, und dass dieser Widerruf seinerseits die Ausstellung der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Europäischen Haftbefehle ermöglichte, da die ersten gegen PH und LU verhängten Freiheitsstrafen durch den Widerruf vollstreckbar geworden waren.

63      Ergeht gegen eine Person, die in Abwesenheit strafrechtlich verurteilt wurde, ein Europäischer Haftbefehl, und hätte dieser Haftbefehl, wie im vorliegenden Fall, ohne die Verurteilung nicht erlassen werden können, stellt diese somit einen notwendigen Umstand für die Ausstellung des Haftbefehls dar, der mit einem fundamentalen Mangel behaftet sein kann, durch den das in Art. 47 Abs. 2 und 3 und in Art. 48 der Charta gewährleistete Recht des Beschuldigten, persönlich zu seiner Verhandlung zu erscheinen, in schwerwiegender Weise beeinträchtigt wird.

64      Als dritter Aspekt hat der Unionsgesetzgeber, wie oben in Rn. 50 ausgeführt, entschieden, dem Recht des Beschuldigten, persönlich zu seiner Verhandlung zu erscheinen, im Rahmen des Mechanismus des Europäischen Haftbefehls besondere Bedeutung beizumessen, indem er in Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 einen speziell dem Schutz dieses Rechts gewidmeten fakultativen Grund für die Ablehnung der Vollstreckung eines solchen Haftbefehls geschaffen hat. Außerdem ist, wie oben in Rn. 51 hervorgehoben, ein solcher Ablehnungsgrund im Einklang mit den oben in den Rn. 60 und 61 dargelegten Anforderungen auszulegen, die sich aus Art. 47 Abs. 2 und 3 sowie aus Art. 48 der Charta ergeben.

65      Soll Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 nicht ein großer Teil seiner Wirksamkeit genommen werden, muss die vollstreckende Justizbehörde daher, wenn sie darüber befindet, ob nach dieser Bestimmung die Übergabe der gesuchten Person abzulehnen ist, nicht nur berücksichtigen können, ob das Verfahren, das zu dem rechtskräftigen Urteil geführt hat, zu dessen Vollstreckung der Europäische Haftbefehl erlassen wurde, in Abwesenheit durchgeführt wurde, sondern auch, ob ein anderes Verfahren, das zu einer strafrechtlichen Verurteilung geführt hat und ohne das ein solcher Haftbefehl nicht hätte erlassen werden können, in Abwesenheit durchgeführt wurde.

66      Überdies kann sich, wie die Europäische Kommission hervorgehoben hat, die Wendung „Verhandlung …, die zu der Entscheidung geführt hat“ auf mehr als eine gerichtliche Entscheidung beziehen, wenn dies zur Verwirklichung des mit Art. 4a Abs. 1, der u. a. die Verteidigungsrechte der Betroffenen dadurch stärken soll, dass ihr Grundrecht auf ein faires Strafverfahren gewährleistet wird, verfolgten Ziels erforderlich ist (vgl. entsprechend Urteil vom 10. August 2017, Zdziaszek, C‑271/17 PPU, EU:C:2017:629, Rn. 94).

67      Folglich ist eine justizielle Entscheidung, mit der die gesuchte Person in Abwesenheit verurteilt wurde, im Licht der Art. 47 und 48 der Charta als „Entscheidung“ im Sinne von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 anzusehen, wenn ihr Erlass die Ausstellung des Europäischen Haftbefehls bedingt hat.

68      Nach alledem ist Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 im Licht der Art. 47 und 48 der Charta dahin auszulegen, dass in einem Fall, in dem die Aussetzung der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe wegen einer erneuten strafrechtlichen Verurteilung widerrufen und zur Vollstreckung dieser Strafe ein Europäischer Haftbefehl ausgestellt wird, die in Abwesenheit erfolgte erneute strafrechtliche Verurteilung eine „Entscheidung“ im Sinne dieser Bestimmung darstellt. Bei der Entscheidung, die Aussetzung der Vollstreckung der Strafe zu widerrufen, ist dies nicht der Fall.

 Zur zweiten und zur dritten Frage

69      Mit seiner zweiten und seiner dritten Frage in den verbundenen Rechtssachen C‑514/21 und C‑515/21, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob der Rahmenbeschluss 2002/584 im Licht der Art. 47 und 48 der Charta dahin auszulegen ist, dass er es der vollstreckenden Justizbehörde gestattet oder sie zwingt, die Übergabe der gesuchten Person an den Ausstellungsmitgliedstaat abzulehnen oder ihre Übergabe von der Garantie abhängig zu machen, dass diese Person in dem betreffenden Mitgliedstaat in den Genuss eines Wiederaufnahmeverfahrens oder eines Berufungsverfahrens kommen kann, wenn das in Abwesenheit durchgeführte Verfahren, das zum Widerruf der Aussetzung der Vollstreckung der Freiheitsstrafe, zu deren Vollstreckung der Europäische Haftbefehl ergangen ist, oder zu einer zweiten, die Ausstellung dieses Haftbefehls bedingenden strafrechtlichen Verurteilung der betreffenden Person geführt hat, gegen Art. 47 oder Art. 48 Abs. 2 der Charta verstieß. Es möchte ferner wissen, ob ein solcher Verstoß den Wesensgehalt der in diesen Artikeln garantierten Rechte berühren muss.

70      Erstens ergibt sich aus der Antwort auf die erste Frage in den verbundenen Rechtssachen C‑514/21 und C‑515/21, dass die in Abwesenheit erfolgte strafrechtliche Verurteilung, ohne die die Aussetzung der Vollstreckung der Freiheitsstrafe, zu deren Vollstreckung der Europäische Haftbefehl ergangen ist, nicht widerrufen worden wäre, Teil der „Verhandlung …, die zu der Entscheidung geführt hat“ im Sinne von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 ist.

71      In Anbetracht dessen ist erstens darauf hinzuweisen, dass in Art. 4a Abs. 1 Buchst. a bis d in genauer und einheitlicher Weise aufgezählt wird, unter welchen Voraussetzungen die Anerkennung und Vollstreckung einer im Anschluss an eine Verhandlung, zu der der Betroffene nicht persönlich erschienen ist, ergangenen Entscheidung nicht verweigert werden darf (Urteil vom 22. Dezember 2017, Ardic, C‑571/17 PPU, EU:C:2017:1026, Rn. 71 und die dort angeführte Rechtsprechung).

72      Daraus folgt, dass Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 der vollstreckenden Justizbehörde nicht gestattet, die Übergabe der betreffenden Person zu verweigern, wenn der Europäische Haftbefehl in Bezug auf die justizielle Entscheidung, mit der die Freiheitsstrafe verhängt wurde, zu deren Vollstreckung er ergangen ist, eine der in Art. 4a Abs. 1 Buchst. a bis d vorgesehenen Angaben enthält.

73      In allen in Art. 4a Abs. 1 Buchst. a bis d des Rahmenbeschlusses 2002/584 genannten Fällen beeinträchtigt nämlich die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls weder die Verteidigungsrechte der betreffenden Person noch ihre in Art. 47 und in Art. 48 Abs. 2 der Charta verankerten Rechte auf einen wirksamen Rechtsbehelf und auf ein faires Verfahren (Urteil vom 26. Februar 2013, Melloni, C‑399/11, EU:C:2013:107, Rn. 44 und 53).

74      Aus denselben Gründen kann die vollstreckende Justizbehörde die Übergabe der gesuchten Person an den Ausstellungsmitgliedstaat nicht nach Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 verweigern, wenn der Europäische Haftbefehl in Bezug auf die oben in Rn. 70 erwähnte strafrechtliche Verurteilung in Abwesenheit eine der in Art. 4a Abs. 1 Buchst. a bis d genannten Angaben enthält.

75      Umgekehrt muss die vollstreckende Justizbehörde, wenn der Europäische Haftbefehl keine der in Art. 4a Abs. 1 Buchst. a bis d des Rahmenbeschlusses 2002/584 genannten Angaben enthält, in der Lage sein, die Übergabe der gesuchten Person unabhängig davon zu verweigern, ob der Wesensgehalt ihrer Verteidigungsrechte verletzt wurde, da sich ein derartiges Erfordernis weder aus dem Wortlaut von Art. 4a noch aus seinem oben in Rn. 50 dargelegten Zweck ergibt.

76      Ferner geht schon aus dem Wortlaut von Art. 4a, insbesondere daraus, dass die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung des Haftbefehls verweigern „kann“, hervor, dass sie über ein Ermessen hinsichtlich der Frage verfügen muss, ob seine Vollstreckung in einem solchen Fall zu verweigern ist oder nicht. Aus Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 kann mithin nicht geschlossen werden, dass die vollstreckende Justizbehörde in einem Fall wie dem in der vorstehenden Randnummer beschriebenen verpflichtet ist, die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls zu verweigern, ohne die Möglichkeit zu haben, die besonderen Umstände des jeweiligen Einzelfalls zu berücksichtigen (vgl. entsprechend Urteil vom 29. April 2021, X [Europäischer Haftbefehl – Ne bis in idem], C‑665/20 PPU, EU:C:2021:339, Rn. 43 und 44).

77      Diese Auslegung wird durch die Systematik des Rahmenbeschlusses bestätigt. Wie oben in Rn. 47 ausgeführt, stellt die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls nämlich den im Rahmenbeschluss aufgestellten Grundsatz dar, während die Gründe für die Ablehnung der Anerkennung und Vollstreckung Ausnahmen sind. Würde der vollstreckenden Justizbehörde die Möglichkeit genommen, besondere Umstände des jeweiligen Einzelfalls zu berücksichtigen, die sie zu der Annahme veranlassen könnten, dass die Voraussetzungen für die Ablehnung der Übergabe nicht erfüllt sind, würde dies dazu führen, dass die in Art. 4a des Rahmenbeschlusses vorgesehene bloße Befugnis durch eine echte Verpflichtung ersetzt würde, so dass die Ausnahme in Form einer Ablehnung der Übergabe zur Grundregel gemacht würde (vgl. entsprechend Urteil vom 29. April 2021, X [Europäischer Haftbefehl – Ne bis in idem], C‑665/20 PPU, EU:C:2021:339, Rn. 47).

78      Wie die Generalanwältin in Nr. 115 ihrer Schlussanträge im Wesentlichen hervorgehoben hat, kann die vollstreckende Justizbehörde aus diesem Blickwinkel andere Umstände berücksichtigen, die es ihr ermöglichen, sich Gewissheit darüber zu verschaffen, dass die Übergabe des Betroffenen nicht zu einer Verletzung seiner Verteidigungsrechte führt, und ihn daraufhin an den Ausstellungsmitgliedstaat zu übergeben. Dabei kann u. a. das Verhalten des Betroffenen eine Rolle spielen, insbesondere der Umstand, dass er versucht hat, sich der Zustellung der an ihn gerichteten Informationen zu entziehen oder jeden Kontakt mit seinen Anwälten zu vermeiden (Urteil vom 17. Dezember 2020, Generalstaatsanwaltschaft Hamburg, C‑416/20 PPU, EU:C:2020:1042, Rn. 51 und 52 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

79      Zweitens hat der Gerichtshof wiederholt entschieden, dass die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls nur an eine der in Art. 5 des Rahmenbeschlusses 2002/584 abschließend aufgeführten Bedingungen geknüpft werden kann (Urteil vom 14. Juli 2022, Procureur général près la cour d’appel d’Angers, C‑168/21, EU:C:2022:558, Rn. 60 und die dort angeführte Rechtsprechung).

80      Die Verpflichtung des Ausstellungsmitgliedstaats, der Person, gegen die sich ein Europäischer Haftbefehl richtet, das Recht auf eine neue Verhandlung zuzuerkennen, wenn sie unter Verletzung ihrer Verteidigungsrechte in Abwesenheit verurteilt wurde, gehört aber nicht zu den in Art. 5 genannten Bedingungen. Folglich hindert das Unionsrecht die vollstreckende Justizbehörde daran, die Übergabe der Person, gegen die sich ein Europäischer Haftbefehl richtet, an eine solche Bedingung zu knüpfen.

81      Gleichwohl muss die vollstreckende Justizbehörde, um eine wirksame Zusammenarbeit in Strafsachen zu gewährleisten, von den in Art. 15 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgesehenen Instrumenten umfassend Gebrauch machen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 132 und die dort angeführte Rechtsprechung).

82      Daher kann sich diese Behörde veranlasst sehen, gegebenenfalls mittels eines Ersuchens um zusätzliche Informationen im Sinne von Art. 15 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses die Zusicherung des Ausstellungsmitgliedstaats einzuholen, dass die Person, gegen die sich der Europäische Haftbefehl richtet, darüber unterrichtet wird, dass sie nach dem Recht des Ausstellungsmitgliedstaats Anspruch auf ein neues Verfahren hat, an dem sie teilnehmen kann und bei dem der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, erneut geprüft werden und die ursprünglich ergangene Entscheidung aufgehoben werden kann; gibt der Ausstellungsmitgliedstaat eine solche Zusicherung, ist die vollstreckende Justizbehörde nach Art. 4a Abs. 1 Buchst. d des Rahmenbeschlusses verpflichtet, die betreffende Person zu übergeben.

83      Zweitens ergibt sich aus der Antwort auf die erste Frage (siehe oben, Rn. 68), dass die Entscheidung, die Aussetzung der Freiheitsstrafe, zu deren Vollstreckung der Europäische Haftbefehl ausgestellt wurde, zu widerrufen, nicht in den Anwendungsbereich von Art. 4a des Rahmenbeschlusses 2002/584 fällt, so dass der Umstand, dass diese Entscheidung in Abwesenheit ergangen ist, die Weigerung einer vollstreckenden Justizbehörde, die gesuchte Person zu übergeben, nicht rechtfertigen kann.

84      Da ein solcher Umstand zudem nicht zu den zwingenden oder fakultativen Ablehnungsgründen gehört, die in den Art. 3 und 4 des Rahmenbeschlusses aufgeführt sind, können auch diese Bestimmungen keine solche Weigerung rechtfertigen.

85      Wie die Generalanwältin in Nr. 126 ihrer Schlussanträge im Wesentlichen hervorgehoben hat, kann die Übergabe der gesuchten Person jedoch ausnahmsweise auf der Grundlage von Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses abgelehnt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 72).

86      Insoweit ist allerdings insbesondere darauf hinzuweisen, dass eine vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls nur dann auf der Grundlage von Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in Verbindung mit Art. 47 der Charta ablehnen kann, wenn sie zum einen über Anhaltspunkte dafür verfügt, dass aufgrund systemischer oder allgemeiner Mängel eine echte Gefahr der Verletzung des in Art. 47 Abs. 2 der Charta verbürgten Grundrechts auf ein faires Verfahren besteht, und zum anderen konkret und genau geprüft hat, ob es in Anbetracht der persönlichen Situation der gesuchten Person, der Art der ihr zur Last gelegten Straftat und des der Ausstellung des Haftbefehls zugrunde liegenden Sachverhalts ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die besagte Person im Fall ihrer Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat einer solchen Gefahr ausgesetzt sein wird (Urteil vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 97).

87      Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob die in der vorstehenden Randnummer aufgezählten Voraussetzungen im vorliegenden Fall erfüllt sind.

88      Schließlich darf die vollstreckende Justizbehörde einem Europäischen Haftbefehl, der die Mindesterfordernisse, von denen seine Gültigkeit abhängt – dazu zählen die in Art. 1 Abs. 1 und in Art. 8 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgesehenen Erfordernisse –, nicht erfüllt, keine Folge leisten (vgl. hierzu Urteil vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 69 und 70). Im vorliegenden Fall gibt es – vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht – keine Anhaltspunkte dafür, dass die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Europäischen Haftbefehle diese Mindesterfordernisse nicht erfüllten.

89      Da die Gründe, aus denen die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls abgelehnt werden kann, im Rahmenbeschluss 2002/584 abschließend aufgezählt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 73), verwehrt der Rahmenbeschluss es einer vollstreckenden Justizbehörde, die Übergabe einer Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ergangen ist, mit der Begründung abzulehnen, dass die Aussetzung der Vollstreckung dieser Strafe durch eine in Abwesenheit ergangene Entscheidung widerrufen worden sei.

90      Wie oben in Rn. 80 ausgeführt, gestattet dieser Rahmenbeschluss es auch nicht, die Übergabe der gesuchten Person davon abhängig zu machen, dass sie im Ausstellungsmitgliedstaat eine gerichtliche Überprüfung der in ihrer Abwesenheit ergangenen Entscheidung erwirken kann, aufgrund deren die Aussetzung der Freiheitsstrafe, zu deren Vollstreckung der Haftbefehl ergangen ist, widerrufen wurde.

91      Dieser Umstand gehört nämlich nicht zu den in Art. 5 des Rahmenbeschlusses 2002/584 abschließend aufgezählten Voraussetzungen, an die die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls geknüpft werden kann (siehe oben, Rn. 79).

92      Aus alledem folgt, dass

–        Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen ist, dass er es der vollstreckenden Justizbehörde gestattet, die Übergabe der gesuchten Person an den Ausstellungsmitgliedstaat abzulehnen, wenn das Verfahren, das zu einer die Ausstellung des Europäischen Haftbefehls bedingenden zweiten strafrechtlichen Verurteilung dieser Person geführt hat, in ihrer Abwesenheit durchgeführt wurde, es sei denn, der Europäische Haftbefehl enthält in Bezug auf dieses Verfahren eine der in Art. 4a Abs. 1 Buchst. a bis d vorgesehenen Angaben;

–        der Rahmenbeschluss 2002/584 im Licht von Art. 47 und Art. 48 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen ist, dass er es der vollstreckenden Justizbehörde verwehrt, die Übergabe der gesuchten Person an den Ausstellungsmitgliedstaat mit der Begründung abzulehnen, dass das Verfahren, das zum Widerruf der Aussetzung der Freiheitsstrafe, zu deren Vollstreckung der Europäische Haftbefehl ergangen ist, geführt hat, in Abwesenheit dieser Person durchgeführt wurde, oder ihre Übergabe von der Garantie abhängig zu machen, dass sie in dem betreffenden Mitgliedstaat in den Genuss eines Wiederaufnahmeverfahrens oder eines Berufungsverfahrens kommen kann, das es ermöglicht, einen solchen Widerruf oder ihre zweite, in ihrer Abwesenheit erfolgte strafrechtliche Verurteilung, die die Ausstellung des Haftbefehls bedingt hat, zu überprüfen.

 Kosten

93      Für die Beteiligten der Ausgangsverfahren ist das Verfahren Teil der beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahren; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung ist im Licht von Art. 47 und Art. 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union

dahin auszulegen, dass

in einem Fall, in dem die Aussetzung der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe wegen einer erneuten strafrechtlichen Verurteilung widerrufen und zur Vollstreckung dieser Strafe ein Europäischer Haftbefehl ausgestellt wird, die in Abwesenheit erfolgte erneute strafrechtliche Verurteilung eine „Entscheidung“ im Sinne dieser Bestimmung darstellt. Bei der Entscheidung, die Aussetzung der Vollstreckung der Strafe zu widerrufen, ist dies nicht der Fall.

2.      Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung

ist dahin auszulegen, dass

er es der vollstreckenden Justizbehörde gestattet, die Übergabe der gesuchten Person an den Ausstellungsmitgliedstaat abzulehnen, wenn das Verfahren, das zu einer die Ausstellung des Europäischen Haftbefehls bedingenden zweiten strafrechtlichen Verurteilung dieser Person geführt hat, in ihrer Abwesenheit durchgeführt wurde, es sei denn, der Europäische Haftbefehl enthält in Bezug auf dieses Verfahren eine der in Art. 4a Abs. 1 Buchst. a bis d vorgesehenen Angaben.

3.      Der Rahmenbeschluss 2002/584 in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung ist im Licht von Art. 47 und Art. 48 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union

dahin auszulegen, dass

er es der vollstreckenden Justizbehörde verwehrt, die Übergabe der gesuchten Person an den Ausstellungsmitgliedstaat mit der Begründung abzulehnen, dass das Verfahren, das zum Widerruf der Aussetzung der Freiheitsstrafe, zu deren Vollstreckung der Europäische Haftbefehl ergangen ist, geführt hat, in Abwesenheit dieser Person durchgeführt wurde, oder ihre Übergabe von der Garantie abhängig zu machen, dass sie in dem betreffenden Mitgliedstaat in den Genuss eines Wiederaufnahmeverfahrens oder eines Berufungsverfahrens kommen kann, das es ermöglicht, einen solchen Widerruf oder ihre zweite, in ihrer Abwesenheit erfolgte strafrechtliche Verurteilung, die die Ausstellung des Haftbefehls bedingt hat, zu überprüfen.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Englisch.