URTEIL DES GERICHTSHOFES
11. November 1997(1)
[234s„Wettbewerb Artikel 85, 86 und 90 EG-Vertrag Zurückweisung einer
Beschwerde, die sowohl staatliche Maßnahmen als auch das Verhalten eines
Privaten betrifft Anwendbarkeit der Artikel 85 und 86 auf Unternehmen, die
sich an die nationalen Rechtsvorschriften halten“[s
In den verbundenen Rechtssachen C-359/95 P und C-379/95 P
Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch Francisco Enrique
González-Díaz und Richard Lyal, Juristischer Dienst, als Bevollmächtigte,
Zustellungsbevollmächtigter: Carlos Gómez de la Cruz, Juristischer Dienst, Centre
Wagner, Luxemburg-Kirchberg,
und
Französische Republik, vertreten durch Jean-François Dobelle, stellvertretender
Direktor in der Direktion für Rechtsfragen des Ministeriums für Auswärtige
Angelegenheiten, im Beistand von Catherine de Salins, Abteilungsleiterin in
derselben Direktion, und Jean-Marc Belorgey, Chargé de mission in derselben
Direktion, als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift: Französische Botschaft, 8 B,
boulevard Joseph II, Luxemburg,
Rechtsmittelführerinnen
betreffend zwei Rechtsmittel gegen das Urteil des Gerichts erster Instanz der
Europäischen Gemeinschaften (Erste erweiterte Kammer) vom 18. September 1995
in der Rechtssache T-548/93 (Ladbroke Racing/Kommission, Slg. 1995, II-2565)
wegen Aufhebung dieses Urteils,
anderer Verfahrensbeteiligter:
Ladbroke Racing Ltd, Gesellschaft englischen Rechts, Prozeßbevollmächtigte:
Jeremy Lever, QC, und Barrister Christopher Vajda, beauftragt durch Solicitor
Stephen Kon, Zustellungsanschrift: Kanzlei der Rechtsanwälte Winandy & Err, 60,
avenue Gaston Diderich, Luxemburg,
erläßt
DER GERICHTSHOF
unter Mitwirkung des Präsidenten G. C. Rodríguez Iglesias, der
Kammerpräsidenten C. Gulmann, H. Ragnemalm und R. Schintgen sowie der
Richter G. F. Mancini, P. J. G. Kapteyn (Berichterstatter), J. L. Murray,
D. A. O. Edward, J.-P. Puissochet, G. Hirsch und P. Jann,
Generalanwalt: G. Cosmas
Kanzler: H. von Holstein, Hilfskanzler
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der Parteien in der Sitzung vom 21. Januar 1997,
nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 13. Mai
1997,
folgendes
Urteil
- Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften (Rechtssache C-359/95 P) und
die Französische Republik (Rechtssache C-379/95 P) haben mit
Rechtsmittelschriften, die am 22. und 27. November 1995 bei der Kanzlei des
Gerichtshofes eingegangen sind, gemäß Artikel 49 der EG-Satzung des
Gerichtshofes ein Rechtsmittel gegen das Urteil des Gerichts erster Instanz vom
18. September 1995 in der Rechtssache T-548/93 (Ladbroke Racing/Kommission,
Slg. 1995, II-2565; im folgenden: angefochtenes Urteil) eingelegt, mit dem das
Gericht die in ihrem Schreiben vom 29. Juli 1993 enthaltene Entscheidung der
Kommission, mit der eine Beschwerde der Ladbroke Racing Ltd (im folgenden:
Ladbroke) gemäß den Artikeln 85 und 86 EG-Vertrag zurückgewiesen wurde (im
folgenden: streitige Entscheidung), für nichtig erklärt hat.
- Mit Beschluß des Präsidenten des Gerichtshofes vom 29. Januar 1996 sind die
Rechtssachen C-359/95 P und C-379/95 P zu gemeinsamem schriftlichem und
mündlichem Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden.
- Aus den Randnummern 2 bis 7 des angefochtenen Urteils ergibt sich, daß
Ladbroke am 24. November 1989 bei der Kommission eine Beschwerde (IV/33.374)
erhoben hatte, zum einen gemäß Artikel 90 EG-Vertrag gegen die Französische
Republik und zum anderen gemäß den Artikeln 85 und 86 des Vertrages gegen die
zehn führenden Rennvereine in Frankreich sowie den Pari mutuel urbain (PMU),
einen wirtschaftlichen Interessenverband, der von diesen zehn Rennvereinen in
Frankreich gegründet wurde, um ihre Rechte bei der Organisation von Wetten für
Pferderennen vom Typ der Totalisatorwette außerhalb von Rennplätzen
wahrzunehmen.
- Die Wahrnehmung dieser Rechte durch den PMU erfolgte anfänglich in Form
eines „gemeinsamen Dienstes“ gemäß einem aufgrund von Artikel 186 des
Finanzgesetzes vom 16. April 1930 erlassenen Dekret vom 11. Juli 1930 zur
Ausdehnung der Totalisatorwetten außerhalb von Rennplätzen, das in Artikel 1
bestimmte: „Mit Genehmigung des Ministers für Landwirtschaft können
Totalisatorwetten außerhalb der Pferderennplätze von den Pariser Rennvereinen
in Zusammenarbeit mit den Rennvereinen der Provinz organisiert und durchgeführt
werden.“ Nach Artikel 13 des Dekrets Nr. 74-954 vom 14. November 1974 über die
Pferderennvereine nimmt seit diesem Tag ausschließlich der PMU die Rechte der
Rennvereine in bezug auf die Totalisatorwetten außerhalb von Rennplätzen wahr,
da nach diesem Artikel „die Rennvereine, die zur Organisierung von
Totalisatorwetten außerhalb von Rennplätzen berechtigt sind, ... die Verwaltung
dieser Wetten einem gemeinsamen Dienst mit der Bezeichnung Pari mutuel urbain
[übertragen]“. Diese Ausschließlichkeit des PMU wird außerdem dadurch geschützt,
daß es anderen Personen als dem PMU untersagt ist, Wetten für Pferderennen
abzuschließen oder entgegenzunehmen (Artikel 8 der interministeriellen
Verordnung vom 13. September 1985 über den Pari mutuel urbain). Sie erstreckt
sich auf Wetten, die im Ausland für die in Frankreich veranstalteten Rennen
entgegengenommen werden, und auf Wetten, die in Frankreich für im Ausland
veranstaltete Rennen entgegengenommenen werden; diese Wetten können
ebenfalls nur von den zugelassenen Vereinen und/oder dem PMU abgeschlossen
werden (Artikel 15 Absatz 3 des Gesetzes Nr. 64-1279 vom 23. Dezember 1964 mit
dem Finanzgesetz für 1965 und Artikel 21 des Dekrets Nr. 83-878 vom 4. Oktober
1983 über Pferderennvereine und Totalisatorwetten) (Randnr. 3 des angefochtenen
Urteils).
- Die Beschwerde betraf insbesondere diese Art der Organisation von
Totalisatorwetten außerhalb von Rennplätzen in Frankreich.
- Bezüglich des Teils der Beschwerde, der gegen den PMU und seine
Mitgliedsvereine gerichtet war, behauptete Ladbroke, daß Vereinbarungen oder
aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen der in Frankreich zugelassenen
Rennvereine untereinander und mit dem PMU bestünden, die unter Verstoß gegen
Artikel 85 des Vertrages bezweckten, dem PMU ausschließliche Rechte für die
Verwaltung und Organisation der Totalisatorwetten außerhalb von Rennplätzen für
die von den genannten Vereinen veranstalteten oder kontrollierten Rennen
einzuräumen (Randnr. 5 des angefochtenen Urteils). Die Einräumung solcher
ausschließlicher Rechte zugunsten des PMU stelle außerdem unter Verstoß gegen
Artikel 86 des Vertrages den Mißbrauch einer beherrschenden Stellung durch die
Rennvereine dar (Randnr. 6 des angefochtenen Urteils).
- Dieser Teil der Beschwerde betraf ferner Vereinbarungen oder aufeinander
abgestimmte Verhaltensweisen, die unter Verstoß gegen Artikel 85 des Vertrages
bezweckten, einen Antrag auf staatliche Beihilfe zugunsten des PMU und deren
Gewährung zu unterstützen und es dem PMU zu ermöglichen, seine Tätigkeiten
auf andere Mitgliedstaaten als die Französische Republik auszudehnen (Randnr. 5
des angefochtenen Urteils). Dieser Teil war auch darauf gerichtet,
Zuwiderhandlungen gegen Artikel 86 des Vertrages abzustellen, die daraus folgten,
daß der PMU eine rechtswidrige staatliche Beihilfe erhalten und die durch diese
Beihilfe verschafften Vorteile zur wettbewerblichen Betätigung verwendet habe.
Schließlich wies Ladbroke die Kommission auf andere Fälle des Mißbrauchs einer
beherrschenden Stellung durch den PMU hin, die in der Ausbeutung der Wetter,
der Benutzer seiner Dienste, bestünden (Randnr. 6 des angefochtenen Urteils).
- Bezüglich des Teils der Beschwerde, der gegen die Französische Republik gerichtet
war, behauptete Ladbroke, diese habe in erster Linie gegen die Artikel 3 Buchstabe
g (früher 3 Buchstabe f), 5, 52, 53, 85, 86 und 90 Absatz 1 EG-Vertrag verstoßen,
indem sie Rechtsvorschriften erlassen und beibehalten habe, die den
Vereinbarungen der Rennvereine untereinander und mit dem PMU, durch die dem
PMU ausschließliche Rechte hinsichtlich der Entgegennahme von Wetten
außerhalb von Rennplätzen eingeräumt würden, eine Rechtsgrundlage gäben und
es jedermann untersagten, außerhalb von Rennplätzen Wetten für die in
Frankreich veranstalteten Pferderennen anders als über den PMU
entgegenzunehmen. Sodann habe die Französische Republik auch deshalb gegen
die Artikel 3 Buchstabe g (früher 3 Buchstabe f), 52, 53, 59, 62, 85, 86 und 90
Absatz 1 EG-Vertrag verstoßen, weil sie Rechtsvorschriften erlassen und
beibehalten habe, die es jedermann untersagten, in Frankreich Wetten für im
Ausland durchgeführte Rennen anders als durch Vermittlung der zugelassenen
Rennvereine und/oder des PMU abzuschließen. Schließlich habe sie gegen die
Artikel 90 Absatz 1, 92 und 93 EG-Vertrag verstoßen, indem sie dem PMU
rechtswidrige Beihilfen gewährt habe (Randnr. 7 des angefochtenen Urteils).
- Mit der streitigen Entscheidung wies die Kommission die Beschwerde gemäß den
Artikeln 85 und 86 des Vertrages gegen den PMU und seine Mitgliedsvereine aus
Gründen zurück, die zum einen die Unanwendbarkeit der Artikel 85 und 86 des
Vertrages und zum anderen das Fehlen eines Gemeinschaftsinteresses betrafen
(Randnrn. 13 bis 19 des angefochtenen Urteils).
- Die Kommission nahm zu den Aspekten der Beschwerde gegen die Französische
Republik in bezug auf Artikel 90 des Vertrages nicht Stellung. Bevor die
Kommission die streitige Entscheidung erließ, war eine von Ladbroke mit der
Begründung erhobene Untätigkeitsklage, die Kommission habe es unterlassen, von
ihren Befugnissen aus Artikel 90 Absatz 3 des Vertrages Gebrauch zu machen, vom
Gericht mit Urteil vom 27. Oktober 1994 in der Rechtssache T-32/93
(Ladbroke/Kommission, Slg. 1994, II-1015, Randnr. 37) als unzulässig abgewiesen
worden (Randnr. 10 des angefochtenen Urteils).
- Mit dem angefochtenen Urteil hat das Gericht die streitige Entscheidung mit der
Begründung aufgehoben, die Kommission habe, indem sie den gegen den PMU und
seine Mitgliedsvereine gerichteten Teil der Beschwerde wegen Unanwendbarkeit
der Artikel 85 und 86 des Vertrages und fehlenden Gemeinschaftsinteresses
endgültig zurückgewiesen habe, ohne zuvor ihre Prüfung der Vereinbarkeit der
nationalen französischen Rechtsvorschriften mit den Wettbewerbsregeln des
Vertrages abgeschlossen zu haben, ihre Verpflichtung nicht erfüllt, die ihr von den
Beschwerdeführern vorgetragenen tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte
aufmerksam zu prüfen, um dem Erfordernis der Gewißheit genügen zu können, das
eine endgültige Entscheidung über das Bestehen oder Nichtbestehen einer
Zuwiderhandlung kennzeichnen müsse (Randnr. 50 des angefochtenen Urteils). Die
Kommission habe daher ihre Überlegungen auf eine unzutreffende rechtliche
Auslegung der Voraussetzungen gestützt, unter denen eine endgültige Beurteilung
des Bestehens oder Nichtbestehens der angeblichen Zuwiderhandlungen erfolgen
könne (Randnr. 51 des angefochtenen Urteils).
- Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts wird auf Randnummern 1 bis 19 des
angefochtenen Urteils verwiesen.
- Die Kommission beantragt,
1. das angefochtene Urteil aufzuheben, soweit es die streitige Entscheidung für
nichtig erklärt,
2. die nach Artikel 173 EG-Vertrag erhobene Klage als unbegründet
abzuweisen und
3. Ladbroke die sowohl vor dem Gericht als auch vor dem Gerichtshof
aufgewandten Kosten aufzuerlegen.
- Die Französische Republik beantragt,
1. das angefochtene Urteil aufzuheben, soweit es die streitige Entscheidung für
nichtig erklärt, und
2. den von der Kommission beim Gericht gestellten Anträgen stattzugeben.
- Ladbroke beantragt,
1. die in den Rechtssachen C-359/95 P und C-379/95 P eingelegten
Rechtsmittel zurückzuweisen;
2. der Kommission und der Französischen Republik die Kosten von Ladbroke
aufzuerlegen;
3. hilfsweise, wenn der Gerichtshof den Rechtsmitteln stattgibt, die Sache zu
prüfen und über die Punkte der Klage von Ladbroke in der Rechtssache
T-548/93, über die noch nicht entschieden worden ist, zu entscheiden oder
die Sache zur Entscheidung über diese Punkte an das Gericht
zurückzuverweisen.
- Die Kommission stützt ihr Rechtsmittel auf drei Gründe. Mit dem ersten macht sie
geltend, das Gericht habe rechtsfehlerhaft angenommen, daß, wenn Artikel 90
sowie die Artikel 85 und 86 des Vertrages für die Lösung ein und derselben Sache
relevant sein könnten, die Kommission ihre Prüfung im Hinblick auf Artikel 90
abschließen müsse, bevor sie über die Anwendbarkeit der Artikel 85 und 86 oder
darüber befinde, ob ein Gemeinschaftsinteresse an der Bearbeitung der
Beschwerde bestehe. Das Gericht habe damit eine Prioritätsordnung zwischen dem
Verfahren nach der Verordnung Nr. 17 des Rates vom 6. Februar 1962, Erste
Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrages (ABl. 1962,
Nr. 13, S. 204), und dem gegen einen Mitgliedstaat gerichteten Verfahren wegen
Verletzung seiner Verpflichtungen aufgestellt, was unvereinbar sei mit ihrer
Befugnis, nach ihrem Ermessen zu entscheiden, welchem Aspekt einer Beschwerde
zuerst nachgegangen und gegen wen (Unternehmen oder Mitgliedstaat) das
Verfahren zuerst eingeleitet werde.
- Mit dem zweiten Rechtsmittelgrund wird geltend gemacht, das Gericht habe
rechtsfehlerhaft entschieden, daß dieser allgemeine Grundsatz auch dann gelte,
wenn eine Feststellung zu Artikel 90 des Vertrages für die Feststellung der
Anwendbarkeit der Artikel 85 oder 86 des Vertrages logischerweise nicht
erforderlich sei. Im vorliegenden Fall habe das Gericht die Feststellung der
Kommission nicht gebührend berücksichtigt, daß unabhängig davon, ob die
französischen Rechtsvorschriften mit dem Vertrag vereinbar seien, bestimmte, für
die Anwendung der Artikel 85 und 86 erforderliche Voraussetzungen nicht vorlägen
und jedenfalls kein hinreichendes Interesse an der Bearbeitung der Beschwerde
gemäß den Artikeln 85 und 86 bestehe.
- Mit dem dritten Rechtsmittelgrund wird ein Begründungsmangel geltend gemacht,
da das Gericht gegen die Verpflichtung verstoßen habe, zum einen darzulegen,
weshalb die Kommission vor einer Zurückweisung der in der Beschwerde gemäß
den Artikeln 85 und 86 gestellten Anträge die französischen Rechtsvorschriften imHinblick auf Artikel 90 habe prüfen müssen, und zum anderen anzugeben, weshalb
sie bei der Bestimmung der Priorität, die den verschiedenen Gesichtspunkten der
Beschwerde einzuräumen sei, nicht das Gemeinschaftsinteresse habe
berücksichtigen können oder inwiefern sie das Gemeinschaftsinteresse im
vorliegenden Fall offensichtlich fehlerhaft beurteilt habe.
- Die Französische Republik stützt ihr Rechtsmittel ebenfalls auf drei Gründe. Mit
dem ersten macht sie einen Rechtsfehler geltend, den das Gericht dadurch
begangen habe, daß es nicht die Rechtsprechung des Gerichtshofes berücksichtigt
habe, wonach, wenn staatliche Maßnahmen den Unternehmen keine
Handlungsfreiheit ließen, wie dies vorliegend seit 1974 der Fall sei, die Artikel 85
und 86 des Vertrages auf diese Unternehmen nicht angewandt werden könnten,
solange diese Maßnahmen in Kraft blieben.
- Zu diesem Rechtsmittelgrund der französischen Regierung stellt die Kommission
jedoch klar, daß zu unterscheiden sei zwischen staatlichen Maßnahmen, die den
Unternehmen gegen die Artikel 85 und 86 des Vertrages verstoßende
Verhaltensweisen vorschrieben, und solchen, die, ohne irgendein gegen diese
Vorschriften verstoßendes Verhalten zu verlangen, einen rechtlichen Rahmen
festlegten, der selbst den Wettbewerb beschränke. Im erstgenannten Fall finde
Artikel 85 trotz des Bestehens nationalrechtlicher Verpflichtungen auf das
Verhalten der Unternehmen weiter Anwendung, unabhängig von einer eventuellen
Anwendung der Artikel 3 Buchstabe g, 5 und 85 des Vertrages im Hinblick auf
diese staatliche Maßnahmen. Ein Unternehmen könne und müsse es nämlich
aufgrund des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts und der unmittelbaren Wirkung
der Artikel 85 Absatz 1 und 86 des Vertrages ablehnen, sich einer staatlichen
Maßnahme zu beugen, die ein gegen diese Vorschriften verstoßendes Verhalten
vorschreibe.
- Dagegen könnte Artikel 85 im zweitgenannten Fall unter bestimmten Umständen
nicht anwendbar sein. Dies treffe vorliegend zu, da die Rechtsvorschriften von 1974
nicht den Abschluß einer Vereinbarung zwischen den führenden Rennvereinen
vorschrieben, sondern selbst ausschließlich dem PMU die Organisation der
Totalisatorwetten außerhalb von Rennplätzen übertrügen. Die
wettbewerbsbeschränkende Wirkung ergebe sich somit unmittelbar aus den
nationalen Rechtsvorschriften, ohne daß ein Verhalten von Unternehmen
erforderlich sei.
- Mit dem zweiten Rechtsmittelgrund macht die französische Regierung einen
Rechtsfehler geltend, den das Gericht dadurch begangen habe, daß es nicht die
ständige Rechtsprechung berücksichtigt habe, wonach ein Antragsteller nach der
Verordnung Nr. 17 keinen Anspruch auf eine endgültige Entscheidung über das
Bestehen oder Nichtbestehen einer angeblichen Zuwiderhandlung gegen die Artikel
85 und 86 des Vertrages besitze. Das Gericht habe insbesondere die Begründung
der Kommission für das fehlende Gemeinschaftsinteresse an der Verfolgung der
Beschwerde nicht gebührend berücksichtigt, die auf den Umstand gestützt sei, daß
sich das Fehlen eines Wettbewerbs auf dem französischen Markt für
Wettannahmen seit 1974 unmittelbar aus den Rechtsvorschriften ergebe, so daß die
etwaige Feststellung einer Zuwiderhandlung gegen die Artikel 85 und 86 durch die
Rennvereine und den PMU keine praktische Auswirkung auf die
Wettbewerbssituation nach diesem Zeitpunkt hätte; für die Zeit vor 1974 könnte
die Feststellung einer etwaigen Zuwiderhandlung gegen die Vorschriften des
Vertrages nur zur Gewährung von Schadensersatz führen, dessen Zahlung die
Kommission aber nicht anordnen könne.
- Mit dem dritten Rechtsmittelgrund macht die französische Regierung geltend, das
Gericht habe das Ermessen der Kommission rechtsfehlerhaft in Frage gestellt,
wegen angeblich gegen den Vertrag verstoßender Rechtsvorschriften gegen einen
Mitgliedstaat vorzugehen.
- Mit ihren Rechtsmittelgründen zweifeln die Kommission und die Französische
Republik, wenn auch mit unterschiedlichen Worten und Zielen, die Stichhaltigkeit
der Ausführungen des Gerichts an, wonach die Kommission zuerst ihre Prüfung der
Vereinbarkeit der nationalen französischen Rechtsvorschriften mit den
Wettbewerbsregeln des Vertrages hätte abschließen müssen, bevor sie in der Lage
gewesen sei, die Beschwerde gemäß den Artikeln 85 und 86 des Vertrages
endgültig zurückzuweisen.
- Daher sind diese Ausführungen und die ihnen zugrunde liegenden Erwägungen zu
prüfen.
- Das Gericht hat in Randnummer 46 des angefochtenen Urteils festgestellt, daß die
Kommission „das Verfahren zur Prüfung der Beschwerde der Klägerin gemäß
Artikel 90 des Vertrages eingeleitet [hat], um die Vereinbarkeit der nationalen
französischen Rechtsvorschriften mit den anderen Vorschriften des Vertrages zu
beurteilen, und dieses Verfahren ... noch anhängig [ist]“. Demzufolge sei „zu
prüfen, ob die Kommission die Beschwerde der Klägerin gemäß den Artikeln 85
und 86 des Vertrages und der Verordnung Nr. 17 endgültig zurückweisen konnte,
ohne zuvor die Prüfung der Beschwerde gemäß Artikel 90 des Vertrages
abgeschlossen zu haben“.
- In Randnummer 47 des angefochtenen Urteils hat das Gericht darauf hingewiesen,
daß „die Kommission ... im schriftlichen Verfahren und in der mündlichen
Verhandlung vorgetragen [hat], die durch die Beschwerde der Klägerin
aufgeworfene Wettbewerbsproblematik könne nur durch die Prüfung der
Vereinbarkeit der nationalen französischen Rechtsvorschriften über das gesetzliche
Monopol des PMU mit den Vorschriften des Vertrages und durch ein etwaiges
Tätigwerden nach Artikel 90 des Vertrages gelöst werden; daher sei diese Prüfung
vorrangig, da ihre Ergebnisse für alle früheren oder künftigen Vereinbarungen
zwischen den Rennvereinen gälten (Klagebeantwortung, Nr. 46)“. Folglich
„[konnte] die Beurteilung der von Ladbroke in ihrer Beschwerde gerügten
Verhaltensweisen der Rennvereine und des PMU anhand der Artikel 85 und 86 des
Vertrages nicht ohne eine vorherige Prüfung der nationalen Rechtsvorschriften im
Hinblick auf die Bestimmungen des Vertrages vollständig erfolgen“.
- Das Gericht hat weiter ausgeführt, falls die Kommission die Vereinbarkeit der
betreffenden nationalen Rechtsvorschriften mit den Vertragsbestimmungen
feststellen sollte, müßten die mit diesen nationalen Rechtsvorschriften zu
vereinbarenden Verhaltensweisen der Rennvereine und des PMU ebenfalls als mit
den Artikeln 85 und 86 des Vertrages vereinbar angesehen werden, während, wenn
die fraglichen Verhaltensweisen mit den nationalen Rechtsvorschriften nicht
vereinbar seien, noch festzustellen sei, ob sie Zuwiderhandlungen gegen die Artikel
85 und 86 des Vertrages darstellten (Randnr. 48 des angefochtenen Urteils). Sollte
die Kommission dagegen feststellen, daß die Rechtsvorschriften gegen den Vertrag
verstießen, müsse anschließend geprüft werden, ob der Umstand, daß sich die
Vereine und der PMU an diese Rechtsvorschriften gehalten hätten, ihnen
gegenüber zum Erlaß von Maßnahmen führen könne, die auf Abstellung von
Zuwiderhandlungen gegen die Artikel 85 und 86 des Vertrages gerichtet seien
(Randnr. 49 des angefochtenen Urteils).
- Daher ist das Gericht in Randnummer 50 des angefochtenen Urteils zu der
Schlußfolgerung gelangt, daß „nicht davon ausgegangen werden [kann], daß die
Kommission, als sie die Entscheidung über die endgültige Zurückweisung der
Beschwerde der Klägerin gemäß den Artikeln 85 und 86 des Vertrages erließ, ohne
zuvor ihre Prüfung der Vereinbarkeit der nationalen französischen
Rechtsvorschriften mit den Bestimmungen des Vertrages abgeschlossen zu haben,
ihre Verpflichtung, die ihr von den Beschwerdeführern vorgetragenen tatsächlichen
und rechtlichen Gesichtspunkte aufmerksam zu prüfen, erfüllt hat ..., um dem
Erfordernis der Gewißheit genügen zu können, das eine endgültige Entscheidung
über das Bestehen oder Nichtbestehen einer Zuwiderhandlung kennzeichnen muß
... Sie war in dieser Phase somit nicht berechtigt, die genannten Bestimmungen des
Vertrages für unanwendbar auf die von der Klägerin erwähnten Verhaltensweisen
der führenden französischen Rennvereine und des PMU zu halten und im Anschluß
daran das Gemeinschaftsinteresse an einer Feststellung der von der Klägerin
behaupteten Zuwiderhandlungen mit der Begründung zu verneinen, daß es sich um
lange zurückliegende Zuwiderhandlungen gegen die Wettbewerbsregeln handele.“
- Die Erwägungen des Gerichts beruhen somit auf der Prämisse, daß die
Rechtmäßigkeit des Verhaltens der Unternehmen, die sich an die nationalen
Rechtsvorschriften halten, im Hinblick auf die Artikel 85 und 86 des Vertrages
sowie das gegen diese Unternehmen gebotene Vorgehen danach zu beurteilen sind,
ob diese Rechtsvorschriften mit dem Vertrag vereinbar sind.
- Die Vereinbarkeit nationaler Rechtsvorschriften mit den Wettbewerbsregeln des
Vertrages kann im Rahmen der Prüfung der Anwendbarkeit der Artikel 85 und 86
des Vertrages auf die Verhaltensweisen der Unternehmen, die sich an diese
Rechtsvorschriften halten, nicht als entscheidend angesehen werden.
- Zwar verlangt die Beurteilung der Verhaltensweisen der Rennvereine und des
PMU im Hinblick auf die Artikel 85 und 86 des Vertrages eine vorherige
Bewertung der französischen Rechtsvorschriften, doch bezieht sich diese Bewertung
nur auf die Auswirkungen, die diese Rechtsvorschriften auf die betreffenden
Verhaltensweisen haben können.
- Die Artikel 85 und 86 des Vertrages gelten nämlich nur für wettbewerbswidrige
Verhaltensweisen, die die Unternehmen aus eigener Initiative an den Tag legen
(vgl. zu Artikel 86 des Vertrages Urteile vom 20. März 1985 in der Rechtssache
41/83, Italien/Kommission, Slg. 1985, 873, Randnrn. 18 bis 20, vom 19. März 1991
in der Rechtssache C-202/88, Frankreich/Kommission, „Endgeräte“, Slg. 1991,
I-1223, Randnr. 55, und vom 13. Dezember 1991 in der Rechtssache C-18/88, GB-Inno-BM, Slg. 1991, I-5941, Randnr. 20). Wird den Unternehmen ein
wettbewerbswidriges Verhalten durch nationale Rechtsvorschriften vorgeschrieben
oder bilden diese einen rechtlichen Rahmen, der selbst jede Möglichkeit für ein
Wettbewerbsverhalten ihrerseits ausschließt, so sind die Artikel 85 und 86 nicht
anwendbar. In einem solchen Fall findet die Wettbewerbsbeschränkung nicht, wie
diese Vorschriften voraussetzen, in selbständigen Verhaltensweisen der
Unternehmen ihre Ursache (vgl. auch Urteil vom 16. Dezember 1975 in den
Rechtssachen 40/73 bis 48/73, 50/73, 54/73, 55/73, 56/73, 111/73, 113/73 und 114/73,
Suiker Unie u. a./Kommission, Slg. 1975, 1663, Randnrn. 36 bis 72, insbesondere
Randnrn. 65 und 66 sowie 71 und 72).
- Dagegen sind die Artikel 85 und 86 des Vertrages anwendbar, wenn sich
herausstellt, daß die nationalen Rechtsvorschriften die Möglichkeit eines
Wettbewerbs bestehenlassen, der durch selbständige Verhaltensweisen der
Unternehmen verhindert, eingeschränkt oder verfälscht werden kann (vgl. Urteile
vom 29. Oktober 1980 in den Rechtssachen 209/78 bis 215/78 und 218/78, Van
Landewyck u. a./Kommission, Slg. 1980, 3125, vom 10. Dezember 1985 in den
Rechtssachen 240/82, 241/82, 242/82, 261/82, 262/82, 268/82 und 269/82, Stichting
Sigarettenindustrie u. a./Kommission, Slg. 1985, 3831, und vom 17. Juli 1997 in der
Rechtssache C-219/95 P, Ferriere Nord/Kommission, Slg. 1997, I-0000).
- Im Rahmen einer von der Kommission vorgenommenen Prüfung der
Anwendbarkeit der Artikel 85 und 86 des Vertrages auf die Verhaltensweisen der
Unternehmen bezieht sich die vorherige Bewertung nationaler Rechtsvorschriften,
die Auswirkungen auf diese Verhaltensweisen haben, daher nur auf die Frage, ob
diese Vorschriften die Möglichkeit eines Wettbewerbs bestehenlassen, der durch
selbständige Verhaltensweisen der Unternehmen verhindert, eingeschränkt oder
verfälscht werden kann.
- Daraus folgt, daß das Gericht einen Rechtsfehler begangen hat, als es entschied,
daß die Kommission, indem sie die Beschwerde unter Berufung auf die
Unanwendbarkeit der Artikel 85 und 86 des Vertrages und das Fehlen eines
Gemeinschaftsinteresses endgültig zurückgewiesen habe, bevor sie ihre Prüfung der
Vereinbarkeit der nationalen französischen Rechtsvorschriften mit den
Wettbewerbsregeln des Vertrages abgeschlossen gehabt habe, ihre Überlegungen
auf eine unzutreffende rechtliche Auslegung der Voraussetzungen gestützt habe,
unter denen das Bestehen oder Nichtbestehen der angeblichen Zuwiderhandlungen
endgültig beurteilt werden könne.
- Daher ist das angefochtene Urteil aufzuheben, ohne daß die übrigen Argumente
der Rechtsmittelführerinnen geprüft zu werden brauchen.
Zur Zurückverweisung der Sache an das Gericht
- Nach Artikel 54 Absatz 1 der EG-Satzung des Gerichtshofes hebt der Gerichtshof,
wenn das Rechtsmittel begründet ist, die Entscheidung des Gerichts auf. Er kann
sodann den Rechtsstreit selbst endgültig entscheiden, wenn dieser zur Entscheidung
reif ist, oder die Sache zur Entscheidung an das Gericht zurückverweisen.
- Da der Rechtsstreit noch nicht zur Entscheidung reif ist, weil das Gericht nur über
eine der Rügen von Ladbroke befunden hat, ist die Sache an das Gericht
zurückzuverweisen.
Aus diesen Gründen
hatDER GERICHTSHOF
für Recht erkannt und entschieden:
- Das Urteil des Gerichts erster Instanz vom 18. September 1995 in der
Rechtssache T-548/93 (Ladbroke Racing/Kommission) wird aufgehoben.
- Die Sache wird an das Gericht erster Instanz zurückverwiesen.
- Die Kostenentscheidung bleibt vorbehalten.
Rodríguez Iglesias Gulmann Ragnemalm Schintgen
Mancini Kapteyn Murray Edward Puissochet Hirsch Jann
|
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 11. November 1997.
Der Kanzler
Der Präsident
R. Grass
G. C. Rodríguez Iglesias
1: Verfahrenssprache: Englisch.