URTEIL DES GERICHTSHOFES (Sechste Kammer)
30. April 1998 (1)
„Wettbewerb Vertrieb von Kraftfahrzeugen Gültigkeit des
Alleinvertriebvertrags Artikel 85 Absätze 1 und 3 EG-Vertrag Verordnung
(EWG) Nr. 123/85 Verordnung (EG) Nr. 1475/95“
In der Rechtssache C-230/96
betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 177 EG-Vertrag von der Cour d'appel
Douai (Frankreich) in dem bei dieser anhängigen Rechtsstreit
Cabour SA und Nord Distribution Automobile SA
gegen
Arnor „SOCO“ SARL,
Streithelferinnen: Automobiles Peugeot SA und Automobiles Citröen SA ,
vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung des Artikels 85
Absatz 1 EG-Vertrag und einiger Vorschriften der Verordnung (EWG) Nr. 123/85
der Kommission vom 12. Dezember 1984 über die Anwendung von Artikel 85
Absatz 3 des Vertrages auf Gruppen von Vertriebs- und
Kundendienstvereinbarungen über Kraftfahrzeuge (ABl. 1985, L 15, S. 16) sowie
der Verordnung (EG) Nr. 1475/95 der Kommission vom 28. Juni 1995 (ABl. L 145,
S. 25)
erläßt
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten H. Ragnemalm sowie der Richter
R. Schintgen (Berichterstatter), G. F. Mancini, P. J. G. Kapteyn und G. Hirsch,
Generalanwalt: G. Tesauro
Kanzler: D. Louterman-Hubeau, Hauptverwaltungsrätin
unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen
der Arnor „SOCO“ SARL, vertreten durch die Rechtsanwälte Henri-Patrick
Bednarski, Lille, Pierre Demolin und Yves Brulard, Mons und Paris, sowie
Miguel Troncoso Ferrer, Brüssel und Pamplona,
der Automobiles Peugeot SA und der Automobiles Citroën SA, vertreten
durch die Rechtsanwälte Xavier de Roux und Marie-Pia Hutin, Paris, und
Jacques Loesch, Luxemburg,
der französischen Regierung, vertreten durch Catherine de Salins,
Abteilungsleiterin in der Direktion für Rechtsfragen des Ministeriums für
Auswärtige Angelegenheiten, und durch Régine Loosli-Surrans, Chargé de
mission in derselben Direktion, als Bevollmächtigte,
der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch
Francisco Enrique González Diaz, Juristischer Dienst, und Guy Charrier,
zum Juristischen Dienst abgeordneter nationaler Beamter, als
Bevollmächtigte,
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der mündlichen Ausführungen der Arnor „SOCO“ SARL, der
Automobiles Peugeot SA und der Automobiles Citroën SA, der französischen
Regierung und der Kommission in der Sitzung vom 25. September 1997,
nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 16.
Dezember 1997,
folgendes
Urteil
- 1.
- Die Cour d'appel Douai hat mit Urteil vom 20. Juni 1996, beim Gerichtshof
eingegangen am 8. Juli 1996, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag drei Fragen nach der
Auslegung des Artikels 85 Absatz 1 EG-Vertrag und einiger Vorschriften der
Verordnung (EWG) Nr. 123/85 der Kommission vom 12. Dezember 1984 über die
Anwendung von Artikel 85 Absatz 3 des Vertrages auf Gruppen von Vertriebs- und
Kundendienstvereinbarungen über Kraftfahrzeuge (ABl. 1985, L 15, S. 16) sowie
der Verordnung (EG) Nr. 1475/95 der Kommission vom 28. Juni 1995 (ABl. L 145,
S. 25) zur Vorabentscheidung vorgelegt.
- 2.
- Diese Fragen stellen sich in einem Verfahren, das aufgrund einer Klage wegen
unlauteren Wettbewerbs anhängig ist, die die Cabour SA (im folgenden: Cabour)
und die Nord Distribution Automobile SA (im folgenden: Nord Distribution
Automobile), unterstützt von der Automobiles Peugeot SA (im folgenden: Peugeot)
und der Automobiles Citroën SA (im folgenden: Citröen), gegen die Arnor
„SOCO“ SARL (im folgenden: Arnor) erhoben haben.
Das Ausgangsverfahren
- 3.
- Die Firmen Cabour und Nord Distribution Automobile sind in Douai
Alleinvertriebshändler für die Kraftfahrzeugmarken Citröen und Peugeot. Sie sind
der Ansicht, daß die Firma Arnor, die keinem Vertriebsnetz eines
Kraftfahrzeugherstellers angehört, sich dadurch eines unlauteren Wettbewerbs
sowie rechtswidriger und irreführender Werbung schuldig gemacht habe, daß sie
ebenfalls Neufahrzeuge dieser Marken verkauft habe, und haben beim Tribunal de
commerce Klage mit dem Antrag erhoben, die Firma Arnor zur Zahlung von
Schadensersatz an sie zu verurteilen und ihr die Fortsetzung ihrer Tätigkeit zu
verbieten.
- 4.
- Mit Urteil vom 16. Juni 1994 hat das Tribunal de commerce Douai diese Klage mit
der Begründung abgewiesen, daß die Peugeot- und Citröen-Alleinvertriebsverträge
unvereinbar mit der Verordnung Nr. 123/85 seien und demzufolge der Firma Arnor
nicht entgegengehalten werden könnten.
- 5.
- Die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens haben gegen dieses Urteil Rechtsmittel
eingelegt und geltend gemacht, der von der Firma Arnor angeblich betriebene
unlautere Wettbewerb könne nach nationalem Recht mit Sanktionen belegt
werden.
- 6.
- Die Firma Arnor hat entgegnet, die Klage wegen unlauteren Wettbewerbs sei
abzuweisen, da die Vertragshändlerfirmen nicht nachgewiesen hätten, daß ihr
Vertriebsnetz nach Gemeinschaftsrecht zulässig sei.
- 7.
- Die Cour d'appel Douai ist der Ansicht, daß die Entscheidung in dem bei ihr
anhängigen Rechtsstreit von der Auslegung des Gemeinschaftsrechts abhänge; sie
hat beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen
zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Kann die gemäß Artikel 85 Absatz 3 EWG-Vertrag erlassene Verordnung
Nr. 123/85 der Kommission der Europäischen Gemeinschaften vom 12.
Dezember 1984 dahin ausgelegt werden, daß ein Alleinvertriebsvertrag
zwischen einem Kraftfahrzeughersteller und einem Vertragshändler unter
die Freistellung gemäß Artikel 1 dieser Verordnung fällt, wenn in diesem
Vertrag
a) die „sachlich gerechtfertigten Gründe“ im Sinne von Artikel 5 Absatz
2 Ziffer 1 Buchstaben a und b sowie Artikel 5 Absatz 3 nicht im
einzelnen festgelegt sind;
b) für den Vertragshändler außer bei Nachweis von sachlich
gerechtfertigten Gründen, die im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses
nicht bestehen die Möglichkeit ausgeschlossen wird, von anderen als
dem Hersteller angebotene neue Kraftfahrzeuge auch in anderen
Geschäftsbetrieben als denen, in denen die Vertragswaren angeboten
werden, zu verkaufen, wobei diese Vertragsklausel im Zusammenhang
mit der Auslegung der Artikel 3 Ziffer 3 und 5 Absatz 2 der
Verordnung zu sehen ist;
c) ein Verkaufsziel vorgegeben wird, wonach der Vertragshändler sich
verpflichtet, sich nach besten Kräften zu bemühen, im Laufe jedes
Jahreszeitraums Vertragsfahrzeuge in einem Umfang zu verkaufen,
der wenn er nicht einvernehmlich durch die Parteien festgelegt wird
vom Hersteller aufgrund von Vorausschätzungen, die er aufstellt,
oder von Kriterien, die er festlegt, festgesetzt wird, und bestimmt
wird, daß der Hersteller, wenn das Verkaufsziel am 31. August des
laufenden Jahreszeitraums nicht zu 90 % von 7/11 erreicht ist und
wenn der „Prozentsatz der gesamten Marktdurchdringung“ der
Vertragsfahrzeuge im Vertragsgebiet, beurteilt am 31. Juli des
laufenden Jahreszeitraums, unter 15 % bis 45 % je nach Lage dieses
Gebietes im Verhältnis zum nationalen Prozentsatz der
Marktdurchdringung für die gleichen Fahrzeuge liegt, mit einer
Kündigungsfrist von 3 oder 6 Monaten das Vertragsgebiet ändern
und/oder dem Vertragshändler das ausschließliche
Niederlassungsrecht entziehen oder den Vertriebsvertrag kündigen
kann, wobei diese Vertragsklauseln im Zusammenhang mit der
Auslegung des Artikels 4 Absatz 1 Ziffer 3 und des Artikels 5 Absatz
2 Ziffern 2 und 3 der Verordnung zu sehen sind?
2. Kann die Verordnung Nr. 1475/95 der Kommission der Europäischen
Gemeinschaften vom 28. Juni 1995, die an die Stelle der Verordnung Nr.
123/85 getreten ist, dahin ausgelegt werden, daß unter die Freistellung
gemäß Artikel 1 dieser Verordnung ein Alleinvertriebsvertrag fällt, der
Klauseln wie die oben unter 1 b und c genannten enthält, und zwar in
Anbetracht der Regelungen in Artikel 3 Nummer 3 und in Artikel 4 Absatz
1 Nummer 3 der Verordnung Nr. 1475/95 in Verbindung mit Artikel 5
Absatz 2 Nummern 2 und 3 sowie Absatz 3?
3. Sofern die Verordnungen Nrn. 123/85 und 1475/95 nicht dahin ausgelegt
werden könnten, daß Vertriebsverträge wie die oben in den ersten beiden
Fragen beschriebenen unter die in diesen Verordnungen vorgesehene
Freistellung fallen, ist dann Artikel 85 Absatz 1 EWG-Vertrag dahin
auszulegen, daß ein Alleinvertriebsnetz eines Kraftfahrzeugherstellers, das
für das gesamte Gebiet eines Mitgliedstaats auf derartigen
Vertriebsverträgen beruht, unter das in dieser Vorschrift ausgesprochene
Verbot fiele?
Rechtlicher Rahmen
- 8.
- Nach Artikel 1 der Verordnung Nr. 123/85 und Artikel 1 der Verordnung Nr.
1475/95, die ab 1. Oktober 1995 an die Stelle der Verordnung Nr. 123/85 getreten
ist, sind von der Anwendung des Verbotes des Artikels 85 Absatz 1 des Vertrages
Vereinbarungen freigestellt, mit denen ein Lieferant einen zugelassenen
Wiederverkäufer mit dem Vertrieb der Vertragswaren in einem bestimmten Gebiet
betraut und sich verpflichtet, ihm die Belieferung mit Fahrzeugen und Ersatzteilen
in diesem Gebiet vorzubehalten.
- 9.
- Gemäß Artikel 3 Ziffer 3 der Verordnung Nr. 123/85 gilt die aufgrund von Artikel
85 Absatz 3 des Vertrages gewährte Freistellung, wenn die in Artikel 1 genannte
Verpflichtung mit der Verpflichtung des Händlers verbunden ist, mit Vertragswaren
im Wettbewerb stehende neue Kraftfahrzeuge nicht zu vertreiben und von anderen
als dem Hersteller angebotene neue Kraftfahrzeuge in Geschäftsbetrieben, in
denen Vertragswaren angeboten werden, nicht zu vertreiben.
- 10.
- Nach Artikel 4 Absatz 1 Ziffer 3 der Verordnung Nr. 123/85 wird durch die
Freistellung auch die Verpflichtung des Händlers erfaßt, „sich zu bemühen, binnen
eines bestimmten Zeitraums innerhalb des Vertragsgebiets Vertragswaren
mindestens in dem Umfang abzusetzen, den der Lieferant aufgrund von
Vorausschätzungen des Absatzes des Händlers festsetzt, wenn sich die
Vertragspartner nicht darüber einigen“.
- 11.
- Artikel 5 Absätze 2, 3 und 4 der Verordnung Nr. 123/85 lautet wie folgt:
„(2) Sofern der Händler ... Verpflichtungen zur Verbesserung der Struktur von
Vertrieb und Kundendienst übernommen hat, gilt die Freistellung nach Artikel 3
Ziffern 3 und 5 für die Verpflichtungen, außer Kraftfahrzeugen des
Vertragsprogramms weitere neue Kraftfahrzeuge nicht zu vertreiben oder nicht
zum Gegenstand einer Vertriebs- und Kundendienstvereinbarung zu machen, unter
der Voraussetzung,
1. daß die Vertragspartner
a) vereinbaren, daß der Lieferant zustimmt, den Händler von
Verpflichtungen entsprechend Artikel 3 Ziffern 3 und 5 zu befreien,
falls der Händler nachweist, daß sachlich gerechtfertigte Gründe dafür
vorliegen;
b) einen Vorbehalt zugunsten des Lieferanten, mit bestimmten weiteren
innerhalb des Vertragsgebiets tätigen Unternehmen Vertriebs- und
Kundendienstvereinbarungen über Vertragswaren zu schließen oder
das Vertragsgebiet zu ändern, nur für den Fall vereinbaren, daß er
nachweist, daß sachlich gerechtfertigte Gründe dafür vorliegen;
2. daß die Dauer der Vereinbarung mindestens vier Jahre oder die Frist für
die ordentliche Kündigung der auf unbestimmte Dauer geschlossenen
Vereinbarung für beide Vertragspartner mindestens ein Jahr beträgt, es sei
denn,
der Lieferant hat kraft Gesetzes oder aufgrund besonderer Absprache
bei Beendigung der Vereinbarung eine angemessene Entschädigung
zu zahlen, oder
es handelt sich um den Beitritt des Händlers zum Vertriebsnetz und
die erste vereinbarte Vertragsdauer oder Möglichkeit zu ordentlicher
Kündigung;
3. daß jeder Vertragspartner sich verpflichtet, den anderen mindestens sechs
Monate vor Beendigung der Vereinbarung davon zu unterrichten, daß er
eine auf bestimmte Dauer abgeschlossene Vereinbarung nicht verlängern
will.
(3) Bestimmte sachlich gerechtfertigte Gründe im Sinne dieses Artikels, die bei
Abschluß der Vereinbarung im einzelnen festgelegt werden, können von einem
Vertragspartner nur eingewandt werden, wenn sie gegenüber Unternehmen des
Vertriebsnetzes in vergleichbaren Fällen ohne Diskriminierung angewandt werden.
(4) Das Recht eines Vertragspartners auf außerordentliche Kündigung der
Vereinbarung wird durch die in diesem Artikel genannten Voraussetzungen für die
Freistellung nicht berührt.“
- 12.
- Der Wortlaut der entsprechenden Artikel der Verordnung Nr. 1475/95 weicht von
dem der Verordnung Nr. 123/85 ab.
- 13.
- So gilt die Verpflichtung, keine von anderen als dem Hersteller angebotenen
Neufahrzeuge zu verkaufen, nach Artikel 3 Nummer 3 der Verordnung Nr. 1475/95
weiter, es wird aber klargestellt, daß der Verkauf von Neufahrzeugen einer anderen
Marke zulässig ist, wenn er nur „in räumlich getrennten Verkaufslokalen unter
getrennter Geschäftsführung mit eigener Rechtspersönlichkeit und in einer Weise
... [erfolgt], die eine Verwechslung der Marken ausschließt“.
- 14.
- Nach Artikel 4 Absatz 1 Nummer 3 der Verordnung steht einer Freistellung die
Verpflichtung des Händlers nicht entgegen, „sich zu bemühen, in einem
bestimmten Zeitraum innerhalb des Vertragsgebiets Vertragswaren mindestens in
dem Umfang abzusetzen, der von den Vertragspartnern einvernehmlich oder bei
fehlendem Einvernehmen über die jährliche Mindestmenge der zu verkaufenden
Vertragswaren durch einen sachverständigen Dritten anhand der im Vertragsgebiet
bisher erzielten Verkäufe und der Vorausschätzungen für zukünftige Verkäufe in
diesem Gebiet und in dem betreffenden Mitgliedstaat festgesetzt worden ist“.
- 15.
- Artikel 5 Absätze 2 und 3 der Verordnung Nr. 1475/95 bestimmt:
„(2) Sofern der Händler nach Artikel 4 Absatz 1 Verpflichtungen zur Verbesserung
der Strukturen von Vertrieb und Kundendienst übernommen hat, gilt die
Freistellung unter der Voraussetzung,
...
2. daß die Dauer der Vereinbarung mindestens fünf Jahre oder die Frist für
die ordentliche Kündigung einer auf unbestimmte Dauer geschlossenen
Vereinbarung für beide Vertragspartner mindestens zwei Jahre beträgt;
diese Frist verkürzt sich auf mindestens ein Jahr,
wenn der Lieferant kraft Gesetzes oder aufgrund besonderer
Absprache bei Beendigung der Vereinbarung eine angemessene
Entschädigung zu zahlen hat, oder
wenn es sich um den Beitritt des Händlers zum Vertriebsnetz und die
erste vereinbarte Vertragsdauer oder Möglichkeit zu ordentlicher
Kündigung handelt;
3. daß jeder Vertragspartner sich verpflichtet, den anderen mindestens sechs
Monate vor Beendigung der Vereinbarung davon zu unterrichten, daß er
eine auf bestimmte Dauer geschlossene Vereinbarung nicht verlängern will.
(3) Die in den Absätzen 1 und 2 genannten Voraussetzungen für die Freistellung
berühren nicht
das Recht des Lieferanten, die Vereinbarung innerhalb einer Frist von
mindestens einem Jahr zu kündigen, falls sich die Notwendigkeit ergibt, das
Vertriebsnetz insgesamt oder zu einem wesentlichen Teil umzustrukturieren,
das Recht eines Vertragspartners zur außerordentlichen Kündigung, wenn
die andere Vertragspartei eine der ihr obliegenden wesentlichen
Verpflichtungen nicht erfüllt.
In jedem dieser Fälle müssen die Vertragspartner bei fehlendem Einvernehmen
einem zügigen Verfahren zur Beilegung der streitigen Angelegenheit durch
Inanspruchnahme eines sachverständigen Dritten oder eines Schiedsrichters
zustimmen; das Recht der Vertragspartner, das nach nationalem Recht zuständige
Gericht anzurufen, bleibt unberührt.“
Zur Zulässigkeit
- 16.
- Die französische Regierung, die Kommission sowie die Firmen Peugeot und
Citröen haben in Zweifel gezogen, daß die Fragen in Anbetracht der Urteile vom
15. Februar 1996 in der Rechtssache C-226/94 (Grand garage albigeois u. a., Slg.
1996, I-651) und in der Rechtssache C-309/94 (Nissan France u. a., Slg. 1996, I-677)
für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits erheblich seien; aus diesen Urteilen
ergebe sich, daß die Verordnung Nr. 123/85 zwar die vertraglichen Beziehungen
zwischen den Lieferanten und ihren zugelassenen Händlern betreffe, daß sie jedoch
nicht die Tätigkeit Dritter, die auf dem Markt außerhalb des Bereichs der
Vertriebsvereinbarungen tätig werden könnten, regeln solle.
- 17.
- Die gleiche Schlußfolgerung gelte im vorliegenden Fall, da es im Ausgangsverfahren
nicht um einen Rechtsstreit zwischen einem Lieferanten und dessen Händler gehe,
sondern um eine Klage von zugelassenen Vertragshändlern gegen einen von den
offiziellen Vertriebsnetzen unabhängigen Wiederverkäufer.
- 18.
- Die französische Regierung fügt hinzu, auf jeden Fall brauche die zweite Frage, die
die Auslegung der Verordnung Nr. 1475/95 betreffe, nicht beantwortet zu werden,
da der dem Vorlageurteil zugrunde liegende Sachverhalt sich allein während der
Geltung der Verordnung Nr. 123/85 abgespielt habe.
- 19.
- Zur Auslegung der Vorschriften der Verordnung Nr. 123/85 führt die Cour d'appel
Douai aus, von der Vereinbarkeit der von der Beklagten des Ausgangsverfahrens
beanstandeten Klauseln hänge der Ausgang des bei ihr anhängigen Rechtsstreits
ab. Erstens sei dieses Problem in dem mit der Berufung angefochtenen Urteil mit
dem Ergebnis geprüft worden, daß die Unvereinbarkeit dieser Klauseln mit der
Verordnung festgestellt worden sei. Zweitens könne die Frage, ob die Stellung der
Vertragshändler gegenüber den nicht zugelassenen Wiederverkäufern rechtlich
geschützt sei, ausschlaggebend dafür sein, ob die Alleinvertriebsverträge Dritten
entgegengehalten werden könnten. Wenn es an einer solchen geschützten Stellung
fehle, könne eine Klage wegen unlauteren Wettbewerbs nämlich kaum Erfolg
haben.
- 20.
- Was die Vorschriften der Verordnung Nr. 1475/95 angeht, ist die Cour d'appel
Douai der Ansicht, die Auslegung dieser Verordnung sei erforderlich, da die Klage
wegen unlauteren Wettbewerbs nicht nur auf Ersatz des zur Zeit der
Anwendbarkeit der Verordnung Nr. 123/85 erlittenen Schadens, sondern auch auf
das Verbot der Tätigkeit des unabhängigen Wiederverkäufers für die Zeit nach
dem Inkrafttreten der Verordnung Nr. 1475/95 gerichtet sei.
- 21.
- Im Hinblick auf die Entscheidung über die Zulässigkeit der Fragen, ist darauf
hinzuweisen, daß es nach ständiger Rechtsprechung allein Sache der nationalen
Gerichte, bei denen der Rechtsstreit anhängig ist und die die Verantwortung für
die zu treffende gerichtliche Entscheidung tragen, ist, unter Berücksichtigung der
Besonderheiten der jeweiligen Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer
Vorabentscheidung für den Erlaß ihres Urteils als auch die Erheblichkeit der dem
Gerichtshof von ihnen vorgelegten Fragen zu beurteilen. Das Ersuchen eines
nationalen Gerichts kann nur zurückgewiesen werden, wenn offensichtlich kein
Zusammenhang zwischen der erbetenen Auslegung des Gemeinschaftsrechts und
der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsverfahrens besteht (vgl. u. a. Urteil
vom 26. Oktober 1995 in der Rechtssache C-143/94, Furlanis, Slg. 1995, I-3633,
Randnr. 12). Das ist im Ausgangsverfahren jedoch nicht der Fall.
- 22.
- Zum einen hat das vorlegende Gericht nämlich hinreichend dargelegt, daß der
Ausgang eines Verfahrens wegen unlauteren Wettbewerbs auch dann, wenn die
Alleinvertriebsverträge für Kraftfahrzeuge Dritten aufgrund der zitierten Urteile
in den Rechtssachen Grand garage albigeois u. a. und Nissan France u. a. nicht
entgegengehalten werden können, in seinem nationalen Recht von der Gültigkeit
dieser Verträge nach der Verordnung Nr. 123/85 abhängen kann.
- 23.
- Zum anderen genügt die Notwendigkeit, der Beklagten des Ausgangsverfahrens
gegebenenfalls aufgeben zu müssen, ihre Tätigkeit in der Zukunft einzustellen, um
die Auslegung der einschlägigen Vorschriften der Verordnung Nr. 1475/95 zu
rechtfertigen (siehe in diesem Sinne das Urteil vom 11. November 1997 in der
Rechtssache C-408/95, Eurotunnel u. a., Slg. 1997, I-6315, Randnr. 24).
- 24.
- Somit sind die Fragen des vorlegenden Gerichts zu beantworten.
Zur ersten Frage
- 25.
- Mit der ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im wesentlichen wissen, ob
die Verordnung Nr. 123/85 dahin auszulegen ist, daß die Freistellung, die durch sie
gewährt wird, für einen Vertrag gilt, in dem erstens die sachlich gerechtfertigten
Gründe, aufgrund deren sich die Vertragsparteien vom Wettbewerbsverbot
freimachen können, nicht im einzelnen angegeben sind, der es ferner dem
Vertriebshändler verbietet, Neufahrzeuge jeder anderen Marke zu verkaufen, und
zwar auch in anderen Geschäftsbetrieben als denen, in denen die Vertragswaren
angeboten werden, und durch den schließlich dem Vertriebshändler ein bestimmtes
vom Hersteller festgesetztes Verkaufsziel vorgegeben wird, wobei die
Nichterreichung dieses Zieles durch eine Änderung des Vertragsgebiets, die
Entziehung des ausschließlichen Niederlassungsrechts oder die Kündigung des
Vertriebsvertrags geahndet wird.
- 26.
- Was den ersten Teil dieser Frage angeht, ist darauf hinzuweisen, daß die Befreiung
von der Verpflichtung, keine anderen Neufahrzeuge zu verkaufen als diejenigen des
Vertragsprogramms und darüber keine Vertriebs- oder
Kundendienstvereinbarungen zu schließen, nach Artikel 5 Absatz 2 Ziffer 1
Buchstaben a und b der Verordnung Nr. 123/85 davon abhängig ist, daß die
Parteien die Möglichkeit vorsehen, sich von ihren jeweiligen Verpflichtungen beim
Nachweis sachlich gerechtfertigter Gründe zu befreien.
- 27.
- Wie der Generalanwalt in seinen Schlußanträgen unter Nummer 22 zu Recht
hervorgehoben hat, enthalten diese Vorschriften lediglich den Grundsatz, daß die
Parteien in ihrem Vertrag die Möglichkeit vorsehen müssen, sich durch den
Nachweis solcher sachlich gerechtfertigter Gründe vom Wettbewerbsverbot
freizumachen, ohne jedoch vorzuschreiben, daß der Vertrag eine erschöpfende
Liste der Gründe enthalten muß, die geltend gemacht werden können.
- 28.
- Artikel 5 Absatz 2 Ziffer 1 Buchstaben a und b der Verordnung Nr. 123/85 ist
demnach dahin auszulegen, daß die durch die Verordnung gewährte Freistellung
für eine Klausel eines Alleinvertriebsvertrags gilt, die lediglich vorsieht, daß die
Parteien sich auf sachlich gerechtfertigte Gründe berufen können, um sich von
ihren jeweiligen Wettbewerbsverboten freizumachen, ohne daß darin im einzelnen
angegeben wird, worin diese Gründe bestehen können.
- 29.
- Was den zweiten Teil der ersten Frage angeht, ist darauf hinzuweisen, daß Artikel
3 Ziffer 3 der Verordnung Nr. 123/85 dem Hersteller die Möglichkeit einräumt, den
Vertriebshändler zu verpflichten, mit den Vertragswaren im Wettbewerb stehende
Neufahrzeuge nicht zu vertreiben und von anderen Herstellern angebotene
Neufahrzeuge in Geschäftsbetrieben, in denen die Vertragswaren angeboten
werden, nicht zu vertreiben.
- 30.
- In Anbetracht des allgemeinen Verbotes wettbewerbsbeschränkender
Vereinbarungen in Artikel 85 Absatz 1 des Vertrages dürfen in einer
Gruppenfreistellungsverordnung enthaltene Ausnahmevorschriften aber nicht
extensiv und nicht so ausgelegt werden, daß die Wirkungen der Verordnung über
das hinausgehen, was zum Schutz der Interessen, deren Wahrung sie dienen soll,
erforderlich ist (Urteil vom 24. Oktober 1995 in der Rechtssache C-70/93,
Bayerische Motorenwerke, Slg. 1995, I-3439, Randnr. 28).
- 31.
- Die Ausnahmeregelung in Artikel 3 Ziffer 3 der Verordnung erfaßt daher nicht die
dem Vertragshändler gegebenenfalls auferlegte Verpflichtung, von anderen als dem
Hersteller angebotene neue Kraftfahrzeuge in anderen Geschäftsbetrieben als
denjenigen, in denen Vertragswaren angeboten werden, nicht zu verkaufen.
- 32.
- Diese Auslegung ist auch dann geboten, wenn der Händler sich auf in Artikel 5
Absatz 2 vorgesehene sachlich gerechtfertigte Gründe berufen kann. Wie der
Generalanwalt in seinen Schlußanträgen unter Nummer 25 zu Recht ausgeführt
hat, erlaubt der Umstand, daß der Händler sich auf sachlich gerechtfertigte Gründe
berufen kann, den Händlern lediglich, wenn sachlich gerechtfertigte Gründe
vorliegen, Kraftfahrzeuge einer anderen Marke, die aber nicht mit Vertragswaren
im Wettbewerb stehen, auch an Örtlichkeiten zu vertreiben, an denen
Vertragswaren verkauft werden. Sie kann dagegen nicht dahin ausgelegt werden,
daß das Vorliegen von sachlich gerechtfertigten Gründen nachzuweisen ist, damit
von anderen als dem Hersteller gelieferte Fahrzeuge in anderen Geschäftsräumen
als denjenigen vertrieben werden können, in denen Vertragswaren verkauft werden.
- 33.
- Die Artikel 3 Ziffer 3 und 5 Absatz 2 der Verordnung Nr. 123/85 sind demnach
dahin auszulegen, daß die durch die Verordnung gewährte Freistellung nicht für
eine Vertragsklausel gilt, die dem Händler außer bei Vorliegen sachlich
gerechtfertigter Gründe verbietet, neue Fahrzeuge jeder anderen Marke auch in
anderen Geschäftsräumen als denjenigen zu vertreiben, in denen die Vertragswaren
angeboten werden.
- 34.
- Was den dritten Teil der ersten Frage angeht, ist darauf hinzuweisen, daß die
Hersteller nach Artikel 4 Absatz 1 Ziffer 3 der Verordnung Nr. 123/85 die Händler
dazu verpflichten dürfen, sich darum zu bemühen, innerhalb des Vertragsgebiets
eine Mindestzahl von Vertragswaren abzusetzen.
- 35.
- Daraus folgt, daß zum einen die Möglichkeit, Verkaufsziele festzulegen, in der
Verordnung Nr. 123/85 ausdrücklich vorgesehen ist und daß zum anderen die dem
Vertragshändler auferlegte Verpflichtung, ein solches Ziel zu erreichen, nur eine
bloße Verpflichtung zum Einsatz geeigneter Mittel sein kann.
- 36.
- Außerdem ist darauf hinzuweisen, daß Artikel 5 Absatz 2 der Verordnung Nr.
123/85 Fristen für die Kündigung des Vertrages vorsieht und daß die Parteien nach
Artikel 5 Absatz 4 die außerordentliche Kündigung der Vereinbarung aussprechen
können.
- 37.
- Die Verordnung Nr. 123/85 verbietet folglich nicht, für den Fall, daß der
Vertragshändler das angestrebte Verkaufsziel aufgrund einer Verletzung seiner
Verpflichtung zum Einsatz geeigneter Mittel nicht erreicht, Sanktionen vorzusehen,
die bis zur Kündigung der Vereinbarung gehen können.
- 38.
- Die Artikel 4 Absatz 1 Ziffer 3 und 5 Absatz 2 Ziffern 2 und 3 der Verordnung Nr.
123/85 sind demnach dahin auszulegen, daß die durch die Verordnung eingeräumte
Freistellung für eine Vertragsklausel gilt, die dem Händler ein bestimmtes
Verkaufsziel vorgibt und die bis zur Kündigung des Vertrags gehende Sanktionen
für den Fall vorsieht, daß dieses Ziel nicht erreicht wird, jedoch unter der
Voraussetzung, daß die Festsetzung des Verkaufsziels den Ausdruck einer bloßen
Verpflichtung zum Einsatz geeigneter Mittel darstellt.
Zur zweiten Frage
- 39.
- Die zweite Frage des vorlegenden Gerichts geht im wesentlichen dahin, ob die
Antworten auf den zweiten und den dritten Teil der ersten Frage auch für die
entsprechenden Vorschriften der Verordnung Nr. 1475/95 gelten.
- 40.
- Was den ersten Teil dieser Frage angeht, genügt der Hinweis, daß Artikel 3
Nummer 3 der Verordnung Nr. 1475/95 ausdrücklich vorsieht, daß die Freistellung
für die Verpflichtung gilt, neue Kraftfahrzeuge einer anderen Marke nur in
räumlich getrennten Verkaufslokalen unter getrennter Geschäftsführung mit
eigener Rechtspersönlichkeit und in einer Weise zu vertreiben, die eine
Verwechslung der Marken ausschließt.
- 41.
- Die Artikel 3 Nummer 3 und 5 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1475/95 sind
demnach dahin auszulegen, daß die durch die Verordnung gewährte Freistellung
nicht für eine Vertragsklausel gilt, die dem Händler außer bei Vorliegen sachlich
gerechtfertigter Gründe verbietet, Neufahrzeuge anderer Marken auch in
Geschäftsräumen zu vertreiben, die von denjenigen getrennt sind, in denen die
Vertragswaren angeboten werden.
- 42.
- Was den zweiten Teil der zweiten Frage angeht, ist zunächst festzustellen, daß
Artikel 5 Absatz 3 der Verordnung Nr. 1475/95 wie Artikel 5 Absatz 4 der
Verordnung Nr. 123/85 das Recht eines Vertragspartners zur außerordentlichen
Kündigung der Vereinbarung vorsieht, daß dieses Recht aber nach der
ausdrücklichen Regelung in dem Artikel der neuen Verordnung nur entsteht, wenn
die andere Vertragspartei eine ihrer wesentlichen Verpflichtungen nicht erfüllt.
- 43.
- Sodann ist darauf hinzuweisen, daß durch Artikel 4 Absatz 1 Nummer 3 der
Verordnung Nr. 1475/95 im Verhältnis zum gleichen Punkt in der Verordnung Nr.
123/85 eine zusätzliche Voraussetzung aufgestellt wird. Die Festsetzung der
Verkaufsziele muß nämlich, wenn sie unter diese Vorschrift fallen soll, nicht nur
den Ausdruck einer bloßen Verpflichtung zum Einsatz geeigneter Mittel darstellen,
sondern sie muß darüber hinaus auch einvernehmlich oder bei fehlendem
Einvernehmen durch einen sachverständigen Dritten erfolgen.
- 44.
- Im Rahmen der Verordnung Nr. 1475/95 kann die Festsetzung der Verkaufsziele
folglich nicht einseitig durch den Hersteller erfolgen.
- 45.
- Die Artikel 4 Absatz 1 Nummer 3 und 5 Absätze 2 und 3 der Verordnung Nr.
1475/95 sind demnach dahin auszulegen, daß die durch die Verordnung gewährte
Freistellung für eine Vertragsklausel gilt, die dem Händler ein bestimmtes
Verkaufsziel vorgibt, und die für den Fall, daß dieses Ziel nicht erreicht wird,
Sanktionen vorsieht, die bis zur Kündigung des Vertrages gehen können, jedoch
unter der Voraussetzung, daß die Festsetzung des Verkaufsziels den Ausdruck
einer bloßen Verpflichtung zum Einsatz geeigneter Mittel darstellt und daß diese
Festsetzung einvernehmlich von den Parteien oder bei fehlendem Einvernehmen
von einem sachverständigen Dritten vorgenommen wird.
Zur dritten Frage
- 46.
- Die dritte Frage des vorlegenden Gerichts geht im wesentlichen dahin, ob das
Verbot des Artikels 85 Absatz 1 des Vertrages einen Kraftfahrzeugvertriebsvertrag
dann erfaßt, wenn für diesen keine Gruppenfreistellung gilt.
- 47.
- Als Durchführungsverordnungen zu Artikel 85 Absatz 3 EWG-Vertrag beschränken
sich die Verordnung Nr. 123/85 und die Verordnung Nr. 1475/95 darauf, den
Wirtschaftsteilnehmern des Kraftfahrzeugsektors bestimmte Möglichkeiten an die
Hand zu geben, ihre Vertriebs- und Kundendienstvereinbarungen dem Verbot des
Artikels 85 Absatz 1 zu entziehen, obwohl sie bestimmte Arten von Alleinvertriebs-
und Wettbewerbsverbotsklauseln enthalten. Die Vorschriften der
Freistellungsverordnungen verpflichten die Wirtschaftsteilnehmer jedoch nicht dazu,
von diesen Möglichkeiten Gebrauch zu machen. Sie bewirken auch weder eine
Änderung des Inhalts einer solchen Vereinbarung noch deren Nichtigkeit, wenn
nicht alle Voraussetzungen dieser Verordnungen erfüllt sind (vgl. Urteil vom 18.
Dezember 1986 in der Rechtssache 10/86, VAG France, Slg. 1986, 4071,
Randnr. 12).
- 48.
- Erfüllt eine Vereinbarung nicht alle in einer Freistellungsverordnung vorgesehenen
Voraussetzungen, so fällt sie nur unter das Verbot des Artikels 85 Absatz 1, wenn
sie eine spürbare Einschränkung des Wettbewerbs innerhalb des Gemeinsamen
Marktes bezweckt oder bewirkt und wenn sie geeignet ist, den Handel zwischen
den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen (vgl. Urteile vom 30. Juni 1966 in der
Rechtssache 56/65, Société Technique Minière [LTM], Slg. 1966, 282, und vom 13.
Juli 1966 in den verbundenen Rechtssachen 56/64 und 58/64, Consten und
Grundig/Kommission, Slg. 1966, 322).
- 49.
- Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, auf der Grundlage aller ihm zur Verfügung
stehenden Angaben und unter Berücksichtigung des wirtschaftlichen und
rechtlichen Zusammenhangs, in dem die Vereinbarung steht, festzustellen, ob diese
Voraussetzungen in der bei ihm anhängigen Sache erfüllt sind.
- 50.
- Dabei darf eine Vereinbarung nicht von den tatsächlichen oder rechtlichen
Begleitumständen, die dazu führen, daß sie eine Verhinderung, Einschränkung oder
Verfälschung des Wettbewerbs bewirkt, losgelöst werden. In diesem
Zusammenhang ist das Bestehen gleichartiger Verträge ein Sachverhalt, der
gemeinsam mit anderen eine Gesamtheit wirtschaftlicher und rechtlicher
Begleitumstände bilden kann, in deren Zusammenhang der Vertrag bei seiner
Beurteilung betrachtet werden muß (vgl. Urteil vom 12. Dezember 1967 in der
Rechtssache 23/67, Brasserie de Haecht, Slg. 1967, 544).
- 51.
- Für den Fall, daß das vorlegende Gericht die Nichtigkeit einer oder mehrerer
Vertragsklauseln feststellen sollte, ist hinzuzufügen, daß nach der Rechtsprechung
des Gerichtshofes (vgl. Urteil VAG France, a. a. O., Randnr. 14) die Auswirkungen
der Nichtigkeit der mit Artikel 85 Absatz 1 unvereinbaren vertraglichen
Bestimmungen auf die übrigen Bestandteile des Vertrages oder auf andere
vertragliche Verpflichtungen nicht nach Gemeinschaftsrecht zu beurteilen sind. Es
ist daher auch Sache des vorlegenden Gerichts, nach dem geltenden nationalen
Recht zu beurteilen, welche Bedeutung und welche Auswirkungen für die gesamten
vertraglichen Beziehungen eine eventuelle Nichtigkeit bestimmter Vertragsklauseln
aufgrund von Artikel 85 Absatz 2 hat.
- 52.
- Auf die dritte Frage ist daher zu antworten, daß das Verbot des Artikels 85 Absatz
1 des Vertrages Klauseln in einem Kraftfahrzeugvertriebsvertrag auch in dem Fall
erfaßt, daß für diese die Gruppenfreistellung nicht gilt, wenn diese Klauseln unter
Berücksichtigung des wirtschaftlichen und rechtlichen Zusammenhangs eine
spürbare Einschränkung des Wettbewerbs innerhalb des Gemeinsamen Marktes
bezwecken oder bewirken und wenn sie geeignet sind, den Handel zwischen den
Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen.
Kosten
- 53.
- Die Auslagen der französischen Regierung und der Kommission der Europäischen
Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht
erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein
Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die
Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
auf die ihm von der Cour d'appel de Douai mit Urteil vom 20. Juni 1996
vorgelegten Fragen für Recht erkannt:
1. Artikel 5 Absatz 2 Ziffer 1 Buchstaben a und b der Verordnung (EWG) Nr.
123/85 der Kommission vom 12. Dezember 1984 über die Anwendung von
Artikel 85 Absatz 3 des Vertrages auf Gruppen von Vertriebs- und
Kundendienstvereinbarungen über Kraftfahrzeuge ist dahin auszulegen, daß
die durch die Verordnung gewährte Freistellung für eine Klausel eines
Alleinvertriebsvertrags gilt, die lediglich vorsieht, daß die Parteien sich auf
sachlich gerechtfertigte Gründe berufen können, um sich von ihren
jeweiligen Wettbewerbsverboten freizumachen, ohne daß darin im einzelnen
angegeben wird, worin diese Gründe bestehen können.
Die Artikel 3 Ziffer 3 und 5 Absatz 2 der Verordnung Nr. 123/85 sind dahin
auszulegen, daß die durch die Verordnung gewährte Freistellung nicht für
eine Vertragsklausel gilt, die dem Händler außer bei Vorliegen sachlich
gerechtfertigter Gründe verbietet, neue Fahrzeuge jeder anderen Marke
auch in anderen Geschäftsräumen als denjenigen zu vertreiben, in denen
die Vertragswaren angeboten werden.
Die Artikel 4 Absatz 1 Ziffer 3 und 5 Absatz 2 Ziffern 2 und 3 der
Verordnung Nr. 123/85 sind dahin auszulegen, daß die durch die
Verordnung eingeräumte Freistellung für eine Vertragsklausel gilt, die dem
Händler ein bestimmtes Verkaufsziel vorgibt und die bis zur Kündigung des
Vertrages gehende Sanktionen für den Fall vorsieht, daß dieses Ziel nicht
erreicht wird, jedoch unter der Voraussetzung, daß die Festsetzung des
Verkaufsziels den Ausdruck einer bloßen Verpflichtung zum Einsatz
geeigneter Mittel darstellt.
2. Die Artikel 3 Nummer 3 und 5 Absatz 2 der Verordnung (EG) Nr. 1475/95
der Kommission vom 28. Juni 1995 über die Anwendung von Artikel 85
Absatz 3 des Vertrages auf Gruppen von Vertriebs- und
Kundendienstvereinbarungen über Kraftfahrzeuge sind dahin auszulegen,
daß die durch die Verordnung gewährte Freistellung nicht für eine
Vertragsklausel gilt, die dem Händler außer bei Vorliegen sachlich
gerechtfertigter Gründe verbietet, Neufahrzeuge anderer Marken auch in
Geschäftsräumen zu vertreiben, die von denjenigen getrennt sind, in denen
die Vertragswaren angeboten werden.
Die Artikel 4 Absatz 1 Nummer 3 und 5 Absätze 2 und 3 der Verordnung
Nr. 1475/95 sind dahin auszulegen, daß die durch die Verordnung gewährte
Freistellung für eine Vertragsklausel gilt, die dem Händler ein bestimmtes
Verkaufsziel vorgibt, und die für den Fall, daß dieses Ziel nicht erreicht
wird, Sanktionen vorsieht, die bis zur Kündigung des Vertrages gehen
können, jedoch unter der Voraussetzung, daß die Festsetzung des
Verkaufsziels den Ausdruck einer bloßen Verpflichtung zum Einsatz
geeigneter Mittel darstellt und daß diese Festsetzung einvernehmlich von
den Parteien oder bei fehlendem Einvernehmen von einem sachverständigen
Dritten vorgenommen wird.
3. Das Verbot des Artikels 85 Absatz 1 des Vertrages erfaßt Klauseln in einem
Kraftfahrzeugvertriebsvertrag auch in dem Fall, daß für diese die
Gruppenfreistellung nicht gilt, wenn diese Klauseln unter Berücksichtigung
des wirtschaftlichen und rechtlichen Zusammenhangs eine spürbare
Einschränkung des Wettbewerbs innerhalb des Gemeinsamen Marktes
bezwecken oder bewirken und wenn sie geeignet sind, den Handel zwischen
den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen.
RagnemalmSchintgen
Mancini
Kapteyn Hirsch
|
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 30. April 1998.
Der Kanzler
Der Präsident der Sechsten Kammer
R. Grass
H. Ragnemalm