Language of document : ECLI:EU:C:2022:467

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

16. Juni 2022(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Anerkennung von Berufsqualifikationen – Richtlinie 2005/36/EG – Art. 2 – Anwendungsbereich – Art. 13 Abs. 2 – Reglementierte Berufe – Bedingungen für den Erwerb des Rechts zum Führen der Berufsbezeichnung eines Psychotherapeuten auf der Grundlage eines Psychotherapie-Diploms, das von einer in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenen Universität ausgestellt wurde – Art. 45 und 49 AEUV – Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit – Beurteilung der Gleichwertigkeit der betreffenden Ausbildung – Art. 4 Abs. 3 EUV – Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten – Infragestellung des Maßes an Kenntnissen und Qualifikationen, das ein in einem anderen Mitgliedstaat ausgestelltes Diplom vermuten lässt, durch den Aufnahmemitgliedstaat – Bedingungen“

In der Rechtssache C‑577/20

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Korkein hallinto-oikeus (Oberster Verwaltungsgerichtshof, Finnland) mit Entscheidung vom 29. Oktober 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 4. November 2020, in dem Verfahren

A,

Beteiligte:

Sosiaali- ja terveysalan lupa- ja valvontavirasto,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, des Vizepräsidenten des Gerichtshofs L. Bay Larsen (Berichterstatter), der Richterin I. Ziemele sowie der Richter P. G. Xuereb und A. Kumin,

Generalanwalt: M. Szpunar,

Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 2. Dezember 2021,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von A, vertreten durch A. Palmujoki, Asianajaja, und J. Pihlaja,

–        der Sosiaali- ja terveysalan lupa- ja valvontavirasto, vertreten durch K. Heiskanen, M. Henriksson und M. Mikkonen als Bevollmächtigte,

–        der finnischen Regierung, vertreten durch M. Pere als Bevollmächtigte,

–        der französischen Regierung, vertreten durch A.‑L. Desjonquères und N. Vincent als Bevollmächtigte,

–        der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und J. Langer als Bevollmächtigte,

–        der norwegischen Regierung, vertreten durch K. S. Borge als Bevollmächtigte im Beistand von I. Meinich und T. Sunde, Advokater,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Armati und T. Sevón als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 10. März 2022

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 13 Abs. 2 der Richtlinie 2005/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. September 2005 über die Anerkennung von Berufsqualifikationen (ABl. 2005, L 255, S. 22) in der durch die Richtlinie 2013/55/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. November 2013 (ABl. 2013, L 354, S. 132) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung 2005/36) sowie der Art. 45 und 49 AEUV.

2        Es ergeht im Rahmen eines von A eingeleiteten Verfahrens wegen der Entscheidung der Sosiaali- ja terveysalan lupa- ja valvontavirasto (Genehmigungs- und Aufsichtsbehörde für die Bereiche Soziales und Gesundheit, Finnland) (im Folgenden: Valvira), mit der es abgelehnt wurde, ihr das Recht zur Führung der Berufsbezeichnung eines Psychotherapeuten in Finnland zuzuerkennen.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Die Erwägungsgründe 1, 3, 6, 11, 17 und 44 der Richtlinie 2005/36 lauten:

„(1)      Nach Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe c des Vertrages ist die Beseitigung der Hindernisse für den freien Personen- und Dienstleistungsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten eines der Ziele der Gemeinschaft. Dies bedeutet für die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten insbesondere die Möglichkeit, als Selbstständige oder abhängig Beschäftigte einen Beruf in einem anderen Mitgliedstaat als dem auszuüben, in dem sie ihre Berufsqualifikationen erworben haben. Ferner sieht Artikel 47 Absatz 1 des Vertrags vor, dass Richtlinien für die gegenseitige Anerkennung der Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise erlassen werden.

(3)      Diese Richtlinie gibt Personen, die ihre Berufsqualifikationen in einem Mitgliedstaat erworben haben, Garantien hinsichtlich des Zugangs zu demselben Beruf und seiner Ausübung in einem anderen Mitgliedstaat unter denselben Voraussetzungen wie Inländern; sie schließt jedoch nicht aus, dass der Migrant nicht diskriminierende Ausübungsvoraussetzungen, die dieser Mitgliedstaat vorschreibt, erfüllen muss, soweit diese objektiv gerechtfertigt und verhältnismäßig sind.

(6)      Im Rahmen der Erleichterung der Erbringung von Dienstleistungen ist der öffentlichen Gesundheit und Sicherheit sowie dem Verbraucherschutz unbedingt Rechnung zu tragen. Daher sollten spezifische Bestimmungen für reglementierte Berufe vorgesehen werden, die die öffentliche Gesundheit oder Sicherheit berühren und deren Angehörige vorübergehend oder gelegentlich grenzüberschreitende Dienstleistungen erbringen.

(11)      Für die Berufe, die unter die allgemeine Regelung zur Anerkennung von Ausbildungsnachweisen – nachstehend ‚allgemeine Regelung‘ genannt – fallen, sollten die Mitgliedstaaten die Möglichkeit behalten, das Mindestniveau der notwendigen Qualifikation festzulegen, um die Qualität der in ihrem Hoheitsgebiet erbrachten Leistungen zu sichern. Nach den Artikeln 10, 39 und 43 des Vertrags sollten sie einem Angehörigen eines Mitgliedstaates jedoch nicht vorschreiben, dass er Qualifikationen, die sie in der Regel durch schlichte Bezugnahme auf die in ihrem innerstaatlichen Bildungssystem ausgestellten Diplome bestimmen, erwirbt, wenn die betreffende Person diese Qualifikationen bereits ganz oder teilweise in einem anderen Mitgliedstaat erworben hat. Deshalb sollte vorgesehen werden, dass jeder Aufnahmemitgliedstaat, in dem ein Beruf reglementiert ist, die in einem anderen Mitgliedstaat erworbenen Qualifikationen berücksichtigen und dabei beurteilen muss, ob sie den von ihm geforderten Qualifikationen entsprechen. Dieses allgemeine System zur Anerkennung steht jedoch dem nicht entgegen, dass ein Mitgliedstaat jeder Person, die einen Beruf in diesem Mitgliedstaat ausübt, spezifische Erfordernisse vorschreibt, die durch die Anwendung der durch das allgemeine Interesse gerechtfertigten Berufsregeln begründet sind. Diese betreffen insbesondere die Regeln hinsichtlich der Organisation des Berufs, die beruflichen Standards, einschließlich der standesrechtlichen Regeln, die Vorschriften für die Kontrolle und die Haftung. Schließlich zielt diese Richtlinie nicht auf einen Eingriff in das berechtigte Interesse der Mitgliedstaaten ab, zu verhindern, dass einige ihrer Staatsangehörigen sich in missbräuchlicher Weise der Anwendung des nationalen Rechts im Bereich der Berufe entziehen.

(17)      Damit alle Sachverhalte berücksichtigt werden, die bisher keiner Regelung zur Anerkennung von Berufsqualifikationen unterliegen, sollte die allgemeine Regelung auf die Fälle ausgedehnt werden, die nicht durch eine Einzelregelung abgedeckt werden, entweder weil der Beruf unter keine der Regelungen fällt oder weil der Beruf zwar unter eine bestimmte Regelung fällt, der Antragsteller aus besonderen und außergewöhnlichen Gründen die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme dieser Regelung jedoch nicht erfüllt.

(44)      Diese Richtlinie lässt die Maßnahmen unberührt, die erforderlich sind, um ein hohes Gesundheits- und Verbraucherschutzniveau sicherzustellen“.

4        Art. 1 („Gegenstand“) dieser Richtlinie bestimmt:

„Diese Richtlinie legt die Vorschriften fest, nach denen ein Mitgliedstaat, der den Zugang zu einem reglementierten Beruf oder dessen Ausübung in seinem Hoheitsgebiet an den Besitz bestimmter Berufsqualifikationen knüpft (im Folgenden ‚Aufnahmemitgliedstaat‘ genannt), für den Zugang zu diesem Beruf und dessen Ausübung die in einem oder mehreren anderen Mitgliedstaaten (im Folgenden ‚Herkunftsmitgliedstaat‘ genannt) erworbenen Berufsqualifikationen anerkennt, die ihren Inhaber berechtigen, dort denselben Beruf auszuüben.

Mit dieser Richtlinie werden auch Regeln über den partiellen Zugang zu einem reglementierten Beruf sowie die Anerkennung von in einem anderen Mitgliedstaat absolvierten Berufspraktika festgelegt.“

5        Nach Art. 2 („Anwendungsbereich“) Abs. 1 Unterabs. 1 dieser Richtlinie gilt diese für alle Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, die als Selbständige oder abhängig Beschäftigte, einschließlich der Angehörigen der freien Berufe, einen reglementierten Beruf in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem sie ihre Berufsqualifikationen erworben haben, ausüben wollen.

6        Art. 3 („Begriffsbestimmungen“) Abs. 1 dieser Richtlinie sieht vor:

„Für die Zwecke dieser Richtlinie gelten folgende Begriffsbestimmungen:

a)      ‚reglementierter Beruf‘ ist eine berufliche Tätigkeit oder eine Gruppe beruflicher Tätigkeiten, bei der die Aufnahme oder Ausübung oder eine der Arten der Ausübung direkt oder indirekt durch Rechts- und Verwaltungsvorschriften an den Besitz bestimmter Berufsqualifikationen gebunden ist; eine Art der Ausübung ist insbesondere die Führung einer Berufsbezeichnung, die durch Rechts- oder Verwaltungsvorschriften auf Personen beschränkt ist, die über eine bestimmte Berufsqualifikation verfügen. Trifft Satz 1 dieser Begriffsbestimmung nicht zu, so wird ein unter Absatz 2 fallender Beruf als reglementierter Beruf behandelt;

b)      ‚Berufsqualifikationen‘ sind die Qualifikationen, die durch einen Ausbildungsnachweis, einen Befähigungsnachweis nach Artikel 11 Buchstabe a Ziffer i und/oder Berufserfahrung nachgewiesen werden;

c)      ‚Ausbildungsnachweise‘ sind Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstige Befähigungsnachweise, die von einer Behörde eines Mitgliedstaats, die entsprechend dessen Rechts- und Verwaltungsvorschriften benannt wurde, für den Abschluss einer überwiegend in der Gemeinschaft absolvierten Berufsausbildung ausgestellt werden. Findet Satz 1 keine Anwendung, so sind Ausbildungsnachweise im Sinne des Absatzes 3 den hier genannten Ausbildungsnachweisen gleichgestellt;

d)      ‚zuständige Behörde‘: jede von den Mitgliedstaaten mit der besonderen Befugnis ausgestattete Behörde oder Stelle, Ausbildungsnachweise und andere Dokumente oder Informationen auszustellen bzw. entgegenzunehmen sowie Anträge zu erhalten und Beschlüsse zu fassen, auf die in der vorliegenden Richtlinie abgezielt wird;

e)      ‚reglementierte Ausbildung‘ ist eine Ausbildung, die speziell auf die Ausübung eines bestimmten Berufes ausgerichtet ist und aus einem abgeschlossenen Ausbildungsgang oder mehreren abgeschlossenen Ausbildungsgängen besteht, der gegebenenfalls durch eine Berufsausbildung, durch ein Berufspraktikum oder durch Berufspraxis ergänzt wird;

Der Aufbau und das Niveau der Berufsausbildung, des Berufspraktikums oder der Berufspraxis müssen in den Rechts- und Verwaltungsvorschriften des jeweiligen Mitgliedstaats festgelegt sein oder von einer zu diesem Zweck bestimmten Behörde kontrolliert oder genehmigt werden;

…“

7        Art. 4 („Wirkungen der Anerkennung“) der Richtlinie 2005/36 sieht vor:

„(1)      Die Anerkennung der Berufsqualifikationen durch den Aufnahmemitgliedstaat ermöglicht es den begünstigten Personen, in diesem Mitgliedstaat denselben Beruf wie den, für den sie in ihrem Herkunftsmitgliedstaat qualifiziert sind, aufzunehmen und unter denselben Voraussetzungen wie Inländer auszuüben.

(2)      Für die Zwecke dieser Richtlinie ist der Beruf, den der Antragsteller im Aufnahmemitgliedstaat ausüben möchte, derselbe wie derjenige, für den er in seinem Herkunftsmitgliedstaat qualifiziert ist, wenn die Tätigkeiten, die er umfasst, vergleichbar sind.

…“

8        Art. 13 („Anerkennungsbedingungen“) dieser Richtlinie lautet:

„(1)      Setzt die Aufnahme oder Ausübung eines reglementierten Berufs in einem Aufnahmemitgliedstaat den Besitz bestimmter Berufsqualifikationen voraus, so gestattet die zuständige Behörde dieses Mitgliedstaats den Antragstellern die Aufnahme oder Ausübung dieses Berufs unter denselben Voraussetzungen wie Inländern, wenn sie den Befähigungs- oder Ausbildungsnachweis nach Artikel 11 besitzen, der in einem anderen Mitgliedstaat erforderlich ist, um in dessen Hoheitsgebiet die Erlaubnis zur Aufnahme und Ausübung dieses Berufs zu erhalten.

Befähigungs- oder Ausbildungsnachweise werden in einem Mitgliedstaat von einer nach dessen Rechts- und Verwaltungsvorschriften benannten zuständigen Behörde ausgestellt.

(2)      Aufnahme und Ausübung eines Berufs, wie in Absatz 1 beschrieben, müssen auch den Antragstellern gestattet werden, die den betreffenden Beruf ein Jahr lang in Vollzeit oder während einer entsprechende[n] Gesamtdauer in Teilzeit in den vorangegangenen zehn Jahren in einem anderen Mitgliedstaat, in dem dieser Beruf nicht reglementiert ist, ausgeübt haben und die im Besitz eines oder mehrerer in einem anderen Mitgliedstaat, in dem dieser Beruf nicht reglementiert ist, ausgestellten Befähigungs- oder Ausbildungsnachweise sind.

Die Befähigungs- oder Ausbildungsnachweise müssen

a)      in einem Mitgliedstaat von einer entsprechend dessen Rechts- und Verwaltungsvorschriften benannten zuständigen Behörde ausgestellt worden sein;

b)      bescheinigen, dass der Inhaber auf die Ausübung des betreffenden Berufs vorbereitet wurde.

Die in Unterabsatz 1 genannte einjährige Berufserfahrung darf allerdings nicht verlangt werden, wenn durch den Ausbildungsnachweis, über [den] der Antragsteller verfügt, ein reglementierter Ausbildungsgang belegt wird.

…“

 Finnisches Recht

 Gesetz über Angehörige der Gesundheitsberufe

9        Nach § 2 Abs. 1 Nr. 2 des Laki terveydenhuollon ammattihenkilöistä (559/1994) (Gesetz über Angehörige der Gesundheitsberufe [559/1994], im Folgenden: Berufsangehörigengesetz) ist unter „Angehöriger eines Gesundheitsberufs“ im Sinne dieses Gesetzes eine Person zu verstehen, die aufgrund dieses Gesetzes das Recht hat, die durch Verordnung der Regierung geregelte Berufsbezeichnung eines Angehörigen der Gesundheitsberufe (Berufsangehöriger mit geschützter Berufsbezeichnung) zu führen. Nach § 2 Abs. 2 dieses Gesetzes ist ein autorisierter oder zugelassener Berufsangehöriger bzw. ein Berufsangehöriger mit geschützter Berufsbezeichnung berechtigt, in dem betreffenden Beruf tätig zu sein und die betreffende Berufsbezeichnung zu führen. Im Beruf eines Berufsangehörigen mit geschützter Berufsbezeichnung können auch andere Personen tätig sein, die über eine ausreichende Ausbildung, Erfahrung und berufliches Können verfügen.

10      Nach § 3a Abs. 3 des Berufsangehörigengesetzes fungiert Valvira in Hinblick auf Angehörige der Gesundheitsberufe als zuständige Behörde im Sinne der Richtlinie 2005/36 und des Laki ammattipätevyyden tunnustamisesta (1384/2015) (Gesetz über die Anerkennung von Berufsqualifikationen [1384/2015], im Folgenden: Gesetz über die Anerkennung von Berufsqualifikationen).

 Verordnung über Angehörige der Gesundheitsberufe

11      Nach § 1 der Asetus terveydenhuollon ammattihenkilöistä (564/1994) (Verordnung über Angehörige der Gesundheitsberufe [564/1994], im Folgenden: Berufsangehörigenverordnung) ist u. a. „Psychotherapeut“ eine geschützte Berufsbezeichnung für Angehörige der Gesundheitsberufe im Sinne von § 2 Abs. 1 Nr. 2 des Berufsangehörigengesetzes.

12      Nach § 2a Abs. 1 dieser Verordnung ist Voraussetzung für das Führen der geschützten Berufsbezeichnung eines Psychotherapeuten, dass die betreffende Person eine von einer Universität bzw. von einer Universität gemeinsam mit einer anderen Ausbildungseinrichtung organisierte Psychotherapeutenausbildung absolviert hat.

 Gesetz über die Anerkennung von Berufsqualifikationen

13      Nach § 6 Abs. 1 des Gesetzes über die Anerkennung von Berufsqualifikationen beruht die Anerkennung einer Berufsqualifikation auf einem Befähigungsnachweis, einem individuellen Ausbildungsnachweis oder einer Kombination von Urkunden dieser Art, die eine zuständige Behörde in einem anderen Mitgliedstaat als der Republik Finnland ausgestellt hat. Voraussetzung der Anerkennung einer Berufsqualifikation ist, dass eine Person in ihrem Herkunftsmitgliedstaat das Recht hat, in dem Beruf zu arbeiten, für dessen Ausübung sie den Beschluss über die Anerkennung der Berufsqualifikation beantragt.

14      Nach § 6 Abs. 2 dieses Gesetzes gilt eine Anerkennung von Berufsqualifikationen auch für Antragsteller, die in den letzten zehn Jahren ihren Beruf in Vollzeit während eines Jahres bzw. in Teilzeit während eines entsprechenden Zeitraums in einem anderen Mitgliedstaat als der Republik Finnland ausgeübt haben, in dem der fragliche Beruf nicht reglementiert ist, und die über einen oder mehrere Befähigungs- oder Ausbildungsnachweise verfügen. Diese Urkunden müssen die Befähigung des Inhabers zur Ausübung des fraglichen Berufs bescheinigen. Die einjährige Berufserfahrung wird jedoch nicht verlangt, wenn in den Ausbildungsnachweisen des Antragstellers eine reglementierte Ausbildung bescheinigt wird.

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

15      A, eine finnische Staatsangehörige, beantragte bei Valvira auf der Grundlage eines Postgraduate Diploma in Solution Focused Therapy (Postgraduales Diplom, mit dem eine Ausbildung in „Lösungsfokussierte Therapie“ bescheinigt wird, im Folgenden: in Rede stehende Ausbildung), das am 27. November 2017 von der University of the West of England (Universität Westenglands, Vereinigtes Königreich) (im Folgenden: UWE) ausgestellt worden war, das Recht zum Führen der nach der finnischen Regelung geschützten Berufsbezeichnung eines Psychotherapeuten.

16      Die in Rede stehende Ausbildung war von der UWE in Finnland in finnischer Sprache in Kooperation mit der Helsingin Psykoterapiainstituutti Oy, einer in Finnland tätigen finnischen Aktiengesellschaft, veranstaltet worden.

17      Im Jahr 2017 wurde Valvira von früheren Teilnehmern an dieser Ausbildung kontaktiert, die ihr ihre Bedenken hinsichtlich zahlreicher Unzulänglichkeiten des tatsächlichen Inhalts der Ausbildung und ihrer praktischen Durchführungsweise im Hinblick auf die vorgesehenen Ziele zum Ausdruck brachten. Valvira kontaktierte selbst weitere Personen, die daran teilgenommen hatten und ähnliche Erfahrungen beschrieben.

18      Da Valvira Zweifel an der Gleichwertigkeit der in Rede stehenden Ausbildung mit den in der finnischen Regelung vorgesehenen Anforderungen hinsichtlich des Zugangs zum Beruf des Psychotherapeuten und seiner Ausübung hegte, lehnte sie den Antrag von A mit Bescheid vom 29. Juni 2018 mit der Begründung ab, dass A ihr keine ausreichenden Informationen über den Inhalt dieser Ausbildung habe zukommen lassen. Mit Bescheid vom 10. September 2018 wies Valvira den von A gegen den Bescheid vom 29. Juni 2018 eingelegten Widerspruch zurück.

19      Mit Urteil vom 25. April 2019 wies das Helsingin hallinto-oikeus (Verwaltungsgericht Helsinki, Finnland) die von A gegen den Bescheid von Valvira vom 10. September 2018 erhobene Klage ab. Dieses Gericht entschied, dass die in Rede stehende Ausbildung ungeachtet dessen, dass sie faktisch in Finnland in finnischer Sprache veranstaltet worden sei, als im Vereinigten Königreich absolviert anzusehen sei. Die in der Richtlinie 2005/36 vorgesehene allgemeine Regelung für die Anerkennung von Ausbildungsnachweisen verpflichte jedoch nicht zur Bewilligung des Antrags, weil A den Beruf des Psychotherapeuten weder im Vereinigten Königreich, in dem Ausbildung und Beruf des Psychotherapeuten nicht reglementiert seien, noch in einem anderen Mitgliedstaat mit ähnlicher Regelung ausgeübt habe.

20      Das Helsingin hallinto-oikeus (Verwaltungsgericht Helsinki) sah es als erwiesen an, dass es bei der in Rede stehenden Ausbildung erhebliche Defizite und Unterschiede zur Psychotherapieausbildung in Finnland gegeben habe, und stellte fest, dass Valvira zu Recht entschieden habe, dass A den Nachweis, dass ihre Kenntnisse und Qualifikationen denen eines Absolventen einer finnischen Psychotherapieausbildung entsprochen hätten, nicht erbracht habe. Die vom AEU‑Vertrag garantierten Grundfreiheiten führten auch nicht dazu, dass die ablehnende Entscheidung von Valvira rechtswidrig werde.

21      Mit ihrem beim vorlegenden Gericht, dem Korkein hallinto-oikeus (Oberster Verwaltungsgerichtshof, Finnland), eingelegten Rechtsmittel macht A geltend, dass die in Rede stehende Ausbildung als in Finnland durchgeführt anzusehen sei und dass die UWE als zuständige Behörde bestätigt habe, dass diese Ausbildung den Anforderungen an die Ausbildung von Psychotherapeuten entspreche, die in Finnland in der Verordnung über Angehörige der Gesundheitsberufe vorgesehen seien. Daher müsse die in Rede stehende Ausbildung so anerkannt werden, dass sie ihr wie beantragt das Recht zum Führen der Berufsbezeichnung eines Psychotherapeuten verleihe.

22      Falls jedoch angenommen werde, dass die in Rede stehende Ausbildung nicht in Finnland durchgeführt worden sei, müsse ihre Gleichwertigkeit mit der Ausbildung von Psychotherapeuten in Finnland auf der Grundlage der von A und den Ausbildungsträgern übermittelten, das Vorlesungsverzeichnis und die Qualität der in Rede stehenden Ausbildung betreffenden Urkunden beurteilt werden. Valvira habe keine solche Beurteilung vorgenommen, sondern ihre ablehnende Entscheidung auf anonyme Schreiben, ein bei einer als Konkurrentin der UWE anzusehenden finnischen Universität eingeholtes Gutachten und selbst vorgenommene Interviews gestützt. Der unionsrechtliche Grundsatz der Loyalität gebiete jedoch, dass Valvira ein von der UWE in ihrer Eigenschaft als zuständige Behörde eines anderen Mitgliedstaats ausgestelltes Dokument nicht in Frage stelle.

23      Nach Ansicht von Valvira muss die in einem anderen Mitgliedstaat absolvierte Ausbildung zum Psychotherapeuten mit der aktuellen, von finnischen Universitäten durchgeführten Ausbildung vergleichbar sein. Die in Rede stehende Ausbildung erfülle in vielerlei Hinsicht nicht die inhaltlichen und qualitativen Voraussetzungen, die die Psychotherapieausbildung in Finnland erfüllen müsse, und könne daher nicht zur Führung der Berufsbezeichnung eines Psychotherapeuten führen. Valvira ergänzt, dass sie den von Universitäten und anderen Bildungseinrichtungen der anderen Mitgliedstaaten ausgestellten Zeugnissen und den von diesen erteilten Auskünften über den Inhalt und die praktische Durchführungsweise der angebotenen Ausbildungen vertraue und diese nur insoweit untersuche, als dies erforderlich sei, um zu klären, ob zwischen der finnischen Ausbildung und der entsprechenden Ausbildung in einem anderen Mitgliedstaat Unterschiede bestünden.

24      Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass es bereits im Rahmen einer anderen Rechtssache entschieden habe, dass man die in Rede stehende Ausbildung nicht als eine in Finnland absolvierte Ausbildung im Sinne des Berufsangehörigengesetzes ansehen könne. In Finnland sei der Beruf des Psychotherapeuten als reglementierter Beruf im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2005/36 anzusehen, weil das Recht zum Führen der fraglichen Berufsbezeichnung nur einer Person zustehe, die die Voraussetzungen für die Berufsqualifikation nach der geltenden finnischen Regelung erfülle.

25      Der Beruf des Psychotherapeuten unterliege der allgemeinen Regelung für die Anerkennung von Ausbildungsnachweisen, die u. a. in den Art. 10 bis 14 dieser Richtlinie vorgesehen sei. Da der Beruf und die Ausbildung von Psychotherapeuten im Vereinigten Königreich nicht geregelt seien, sei Art. 13 Abs. 2 der Richtlinie auf die Situation von A anwendbar.

26      Da A jedoch die in dieser Bestimmung vorgesehene Voraussetzung nicht erfülle, dass sie den Beruf des Psychotherapeuten in einem anderen Mitgliedstaat ausgeübt haben müsse, in dem dieser Beruf nicht reglementiert sei, könne sie sich nicht auf das Recht auf Zugang zu diesem Beruf in Finnland berufen.

27      Das vorlegende Gericht fragt sich, ob die Situation von A ungeachtet der Bestimmungen der Richtlinie 2005/36 auch im Hinblick auf die in den Art. 45 und 49 AEUV garantierten Grundfreiheiten und die dazu ergangene Rechtsprechung des Gerichtshofs zu prüfen ist. Bejahendenfalls fragt sich das vorlegende Gericht, ob sich die zuständige Behörde des Aufnahmemitgliedstaats bei ihrem Bestreben, Gewissheit darüber zu erlangen, dass das in einem anderen Mitgliedstaat ausgestellte Diplom seinem Inhaber die gleichen oder zumindest gleichwertige Kenntnisse und Qualifikationen bescheinige wie ein nationales Diplom, auch auf anderweitig erlangte Auskünfte über die Durchführungsweise der in Rede stehenden Ausbildung stützen könne oder ob sie sich an die von einer Universität eines anderen Mitgliedstaats hierzu erteilten Auskünfte halten müsse.

28      Vor diesem Hintergrund hat der Korkein hallinto-oikeus (Oberster Verwaltungsgerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Sind die im AEU‑Vertrag garantierten Grundfreiheiten und die Richtlinie 2005/36 dahin auszulegen, dass die zuständige Behörde des Aufnahmemitgliedstaats das Recht eines Antragstellers auf Ausübung eines reglementierten Berufs nach den Art. 45 und 49 AEUV und der Rechtsprechung des Gerichtshofs in diesem Zusammenhang (insbesondere Urteile vom 7. Mai 1991, Vlassopoulou, C‑340/89, EU:C:1991:193, und vom 6. Oktober 2015, Brouillard, C‑298/14, EU:C:2015:652) zu beurteilen hat, obwohl in Art. 13 Abs. 2 der Richtlinie 2005/36 die Voraussetzungen für die Ausübung eines reglementierten Berufs vereinheitlicht sein dürften, unter denen der Aufnahmemitgliedstaat die Berufsausübung einem Antragsteller zu gestatten hat, der einen Ausbildungsnachweis aus einem Staat hat, in dem der Beruf nicht reglementiert ist, der aber nicht die in dieser Vorschrift der Richtlinie aufgestellte Anforderung an die Ausübung des Berufs erfüllt?

2.      Falls die erste Vorlagefrage bejaht wird: Steht das Unionsrecht – unter Berücksichtigung der Ausführungen im Urteil vom 6. Oktober 2015, Brouillard (C‑298/14, EU:C:2015:652, Rn. 55), zu den ausschließlichen Beurteilungskriterien für die Gleichwertigkeit von Prüfungszeugnissen – dem entgegen, dass die zuständige Behörde des Aufnahmemitgliedstaats in einer Situation wie der im vorliegenden Verfahren in Rede stehenden ihre Bewertung der Gleichwertigkeit einer Ausbildung auch auf andere als die vom Ausbildungsträger oder den Behörden des anderen Mitgliedstaats erlangten Auskünfte über den genaueren Inhalt und die Durchführungsweise der Ausbildung stützt?

 Vorbemerkung

29      Es ist darauf hinzuweisen, dass sich der maßgebliche Sachverhalt des Ausgangsverfahrens ereignete, als das Unionsrecht noch für das Vereinigte Königreich galt. Somit sind die Art. 45 und 49 AEUV sowie die Richtlinie 2005/36 auf den vorliegenden Fall anwendbar.

 Zur ersten Frage

30      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 13 Abs. 2 der Richtlinie 2005/36 sowie die Art. 45 und 49 AEUV dahin auszulegen sind, dass ein Antrag auf Zugang zu einem reglementierten Beruf und auf Erlaubnis zu dessen Ausübung im Aufnahmemitgliedstaat, der nach Art. 13 Abs. 2 dieser Richtlinie von einer Person gestellt wird, die zum einen Inhaber eines Ausbildungsnachweises für diesen Beruf ist, der in einem Mitgliedstaat ausgestellt wurde, in dem dieser Beruf nicht reglementiert ist, und zum anderen die Anforderung, diesen Beruf während des in Art. 13 Abs. 2 dieser Richtlinie genannten Mindestzeitraums ausgeübt zu haben, nicht erfüllt, von der zuständigen Behörde des Aufnahmemitgliedstaats im Hinblick auf Art. 45 oder Art. 49 AEUV zu beurteilen ist.

31      Zunächst ist im vorliegenden Fall festzustellen, dass A zwar in der Tat in Finnland in finnischer Sprache eine von der UWE in Kooperation mit Helsingin Psykoterapiainstituutti organisierte Ausbildung absolviert hat, doch wurde A das Psychotherapie-Diplom nach Abschluss dieser Ausbildung von der UWE ausgestellt, die ihren Sitz im Vereinigten Königreich hat.

32      Nach Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2005/36 gilt diese aber für alle Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, die als Selbständige oder abhängig Beschäftigte, einschließlich der Angehörigen der freien Berufe, einen reglementierten Beruf in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem sie ihre Berufsqualifikationen erworben haben, ausüben wollen.

33      Ferner sind nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. b bis d dieser Richtlinie unter „Berufsqualifikationen“ u. a. die Qualifikationen zu verstehen, die durch einen Ausbildungsnachweis, wie insbesondere ein Diplom, nachgewiesen werden, der von einer zuständigen Behörde eines Mitgliedstaats für den Abschluss einer überwiegend in der Europäischen Union absolvierten Berufsausbildung ausgestellt wird.

34      Da der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Ausbildungsnachweis für den Abschluss einer in der Union absolvierten Berufsausbildung von einer zuständigen Stelle eines anderen Mitgliedstaats als dem, in dem A einen reglementierten Beruf ausüben möchte, ausgestellt worden ist, fällt der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Sachverhalt folglich in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2005/36.

35      Aus dem Vorabentscheidungsersuchen und insbesondere aus der ersten Frage geht jedoch hervor, dass A nicht die in Art. 13 Abs. 2 der Richtlinie 2005/36 vorgesehene Anforderung erfüllt, den Beruf, den sie für sich beansprucht, während des in dieser Bestimmung genannten Mindestzeitraums ausgeübt zu haben. Unter diesen Umständen kann sich A nicht nur nicht auf diese Bestimmung und allgemein auf die in den Art. 10 bis 14 der Richtlinie 2005/36 vorgesehene allgemeine Regelung für die Anerkennung von Ausbildungsnachweisen berufen, sondern kann sich ebenso wenig auf eine andere mit dieser Richtlinie eingeführte Regelung für die Anerkennung von Berufsqualifikationen berufen.

36      Somit ist zu klären, ob eine Situation wie die von A anhand der Art. 45 oder 49 AEUV zu beurteilen ist.

37      Als Erstes ist insoweit darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof festgestellt hat, dass die Freizügigkeit nicht voll verwirklicht wäre, wenn die Mitgliedstaaten die Anwendung der Art. 45 und 49 AEUV denjenigen ihrer Staatsangehörigen versagen dürften, die von den darin vorgesehenen Erleichterungen Gebrauch gemacht und dank dieser Erleichterungen berufliche Qualifikationen in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen erworben haben, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen. Dasselbe gilt, wenn ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats in einem anderen Mitgliedstaat eine akademische Qualifikation erworben hat, auf die er sich in dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, berufen will (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2015, Brouillard, C‑298/14, EU:C:2015:652, Rn. 27).

38      In der Rechtssache, in der das Urteil vom 6. Oktober 2015, Brouillard (C‑298/14, EU:C:2015:652), ergangen ist, hat sich der Betroffene in dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besaß, auf ein in einem anderen Mitgliedstaat erworbenes Hochschuldiplom berufen. In Rn. 29 dieses Urteils hat der Gerichtshof ausgeführt, dass ihm die Anwendung der Vorschriften des AEU‑Vertrags über die Freizügigkeit nicht versagt werden darf und dass der Umstand, dass das Diplom durch ein Fernstudium erlangt wurde, insoweit unerheblich ist.

39      Dasselbe würde für eine Person wie A gelten, die sich in dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, auf ein in einem anderen Mitgliedstaat erworbenes Hochschuldiplom beruft, auch wenn dies im Anschluss an eine Ausbildung erfolgt, die im ersten Mitgliedstaat in Kooperation mit einer für die Ausstellung eines solchen Diploms des anderen Mitgliedstaats zuständigen Stelle durchgeführt wurde.

40      Als Zweites ist darauf hinzuweisen, dass die Behörden eines Mitgliedstaats, die mit einem Antrag eines Unionbürgers auf Zulassung zu einem Beruf befasst sind, dessen Aufnahme nach nationalem Recht vom Besitz eines Diploms oder einer beruflichen Qualifikation oder von Zeiten praktischer Erfahrung abhängt, sämtliche Diplome, Prüfungszeugnisse oder sonstigen Befähigungsnachweise sowie die einschlägige Erfahrung des Betroffenen in der Weise berücksichtigen müssen, dass sie die durch diese Nachweise und diese Erfahrung belegten Fachkenntnisse mit den nach nationalem Recht vorgeschriebenen Kenntnissen und Qualifikationen vergleichen (Urteil vom 8. Juli 2021, Lietuvos Respublikos sveikatos apsaugos ministerija, C‑166/20, EU:C:2021:554, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).

41      Da diese Rechtsprechung nur einen den Grundfreiheiten des AEU‑Vertrags innewohnenden Grundsatz zum Ausdruck bringt, wird diesem Grundsatz nicht dadurch ein Teil seiner rechtlichen Bedeutung genommen, dass Richtlinien für die gegenseitige Anerkennung von Diplomen erlassen werden (Urteil vom 8. Juli 2021, Lietuvos Respublikos sveikatos apsaugos ministerija, C‑166/20, EU:C:2021:554, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).

42      Die Richtlinien für die gegenseitige Anerkennung von Diplomen, insbesondere die Richtlinie 2005/36, haben nämlich nicht das Ziel, die Anerkennung von Diplomen, Prüfungszeugnissen und sonstigen Befähigungsnachweisen in nicht von ihnen erfassten Sachverhalten zu erschweren und dürfen dies auch nicht bewirken (Urteil vom 3. März 2022, Sosiaali- ja terveysalan lupa- ja valvontavirasto [Ärztliche Grundausbildung], C‑634/20, EU:C:2022:149, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).

43      In einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens, in der, wie sich aus Rn. 35 des vorliegenden Urteils ergibt, die Betroffene nicht die Voraussetzungen der mit dieser Richtlinie eingeführten Regelungen für die Anerkennung von Berufsqualifikationen erfüllt, muss der betreffende Aufnahmemitgliedstaat aber seinen in Rn. 40 des vorliegenden Urteils angeführten Verpflichtungen im Bereich der Anerkennung von Berufsqualifikationen, die auf Situationen anwendbar sind, die sowohl unter Art. 45 AEUV als auch unter Art. 49 AEUV fallen, nachkommen (vgl. entsprechend Urteil vom 8. Juli 2021, Lietuvos Respublikos sveikatos apsaugos ministerija, C‑166/20, EU:C:2021:554, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).

44      Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 13 Abs. 2 der Richtlinie 2005/36 sowie die Art. 45 und 49 AEUV dahin auszulegen sind, dass ein Antrag auf Zugang zu einem reglementierten Beruf und auf Erlaubnis zu dessen Ausübung im Aufnahmemitgliedstaat, der nach Art. 13 Abs. 2 dieser Richtlinie von einer Person gestellt wird, die zum einen Inhaber eines Ausbildungsnachweises für diesen Beruf ist, der in einem Mitgliedstaat ausgestellt wurde, in dem dieser Beruf nicht reglementiert ist, und zum anderen die Anforderung, diesen Beruf während des in Art. 13 Abs. 2 dieser Richtlinie genannten Mindestzeitraums ausgeübt zu haben, nicht erfüllt, von der zuständigen Behörde des Aufnahmemitgliedstaats im Hinblick auf Art. 45 oder Art. 49 AEUV zu beurteilen ist.

 Zur zweiten Frage

45      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob das Unionsrecht, insbesondere die Art. 45 und 49 AEUV, dahin auszulegen ist, dass es dem entgegensteht, dass die zuständige Behörde des Aufnahmemitgliedstaats, bei der ein Antrag auf Erlaubnis zur Ausübung eines reglementierten Berufs in diesem Mitgliedstaat gestellt worden ist, ihre Bewertung der Gleichwertigkeit der Ausbildung, auf die sich der Antragsteller im Hinblick auf die entsprechenden Ausbildungen in diesem Mitgliedstaat beruft, auch auf andere als die vom Ausbildungsträger oder den Behörden des anderen Mitgliedstaats erlangten Auskünfte über den genauen Inhalt und die konkrete Durchführungsweise dieser Ausbildung stützt.

46      Es ist darauf hinzuweisen, dass in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens, in der die Betroffene nicht die Voraussetzungen der mit der Richtlinie 2005/36 eingeführten Regelungen für die Anerkennung von Berufsqualifikationen erfüllt, auf die aber Art. 45 AEUV oder Art. 49 AEUV anwendbar ist, der betreffende Mitgliedstaat seinen Verpflichtungen im Bereich der Anerkennung von Berufsqualifikationen, auf die in Rn. 40 des vorliegenden Urteils hingewiesen worden ist, nachkommen muss (vgl. entsprechend Urteil vom 3. März 2022, Sosiaali- ja terveysalan lupa- ja valvontavirasto [Ärztliche Grundausbildung], C‑634/20, EU:C:2022:149, Rn. 41).

47      Die in Rn. 40 des vorliegenden Urteils angeführte vergleichende Prüfung muss es den Behörden des Aufnahmemitgliedstaats ermöglichen, objektiv zu überprüfen, ob ein ausländisches Diplom seinem Inhaber die gleichen oder zumindest gleichwertige Kenntnisse und Qualifikationen wie das innerstaatliche Diplom bescheinigt. Diese Beurteilung der Gleichwertigkeit eines ausländischen Diploms muss ausschließlich danach erfolgen, welches Maß an Kenntnissen und Qualifikationen dieses Diplom unter Berücksichtigung von Art und Dauer des Studiums und einer entsprechenden praktischen Ausbildung bei seinem Inhaber vermuten lässt (Urteil vom 3. März 2022, Sosiaali- ja terveysalan lupa- ja valvontavirasto [Ärztliche Grundausbildung], C‑634/20, EU:C:2022:149, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).

48      Hierzu ist festzustellen, dass diese vergleichende Prüfung das gegenseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten in die von jedem Mitgliedstaat ausgestellten Befähigungsnachweise voraussetzt, mit denen Berufsqualifikationen bescheinigt werden. Daher ist die Behörde des Aufnahmemitgliedstaats grundsätzlich verpflichtet, ein von der Behörde eines anderen Mitgliedstaats ausgestelltes Dokument, wie insbesondere ein Diplom, als richtig anzusehen.

49      Wenn die zuständige Behörde eines Mitgliedstaats an der Echtheit oder Richtigkeit einer Urkunde ernsthafte, einen bloßen Verdacht übersteigende Zweifel hegt, muss jedoch die Behörde oder Einrichtung, die die Urkunde ausgestellt hat, auf Ersuchen der erstgenannten Behörde die Rechtmäßigkeit der Urkunde überprüfen und sie gegebenenfalls zurückziehen (Urteil vom 19. Juni 2003, Tennah-Durez, C‑110/01, EU:C:2003:357, Rn. 80).

50      Wenn die zuständige Behörde eines Mitgliedstaats die ausstellende Behörde mit konkreten Anhaltspunkten befasst, die ein Bündel übereinstimmender Indizien bilden, die darauf schließen lassen, dass das Diplom, auf das sich der Antragsteller beruft, nicht das Maß an Kenntnissen und Qualifikationen widerspiegelt, deren Erwerb durch den Inhaber es aufgrund der in Rn. 47 des vorliegenden Urteils angeführten Regelung vermuten lässt, ist die ausstellende Behörde daher nach dem in Art. 4 Abs. 3 EUV verankerten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit verpflichtet, im Licht dieser Anhaltspunkte die Rechtmäßigkeit der Ausstellung dieses Diploms zu überprüfen und es gegebenenfalls zurückzuziehen.

51      Zu diesen konkreten Anhaltspunkten können gegebenenfalls u. a. Auskünfte gehören, die von anderen Personen als den Trägern der betreffenden Ausbildung oder den Behörden eines anderen Mitgliedstaats, die im Rahmen ihrer Aufgaben handeln, übermittelt werden.

52      Die Behörde des Aufnahmemitgliedstaats, die, wie sich aus der in Rn. 48 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ergibt, grundsätzlich verpflichtet ist, ein von der Behörde eines anderen Mitgliedstaats ausgestelltes Dokument wie ein Diplom als richtig anzusehen, kann grundsätzlich nicht das Maß an Kenntnissen und Berufsqualifikationen in Frage stellen, deren Erwerb durch seinen Inhaber dieses Diplom vermuten lässt, wenn die ausstellende Behörde im Licht der in Rn. 50 des vorliegenden Urteils angeführten Anhaltspunkte die Rechtmäßigkeit der Ausstellung des Diploms überprüft hat, ohne es zurückzuziehen (vgl. entsprechend Urteil vom 19. Juni 2003, Tennah-Durez, C‑110/01, EU:C:2003:357, Rn. 79). Nur ausnahmsweise wäre die zuständige Behörde des Aufnahmemitgliedstaats berechtigt, das Maß an Kenntnissen und Qualifikationen in Frage zu stellen, deren Erwerb durch seinen Inhaber dieses Diplom vermuten lässt.

53      Wenn also die Umstände des vorliegenden Falles, die wie im Ausgangsverfahren im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats eingetreten sind, offensichtlich die fehlende Richtigkeit dieses Diploms erkennen lassen, kann dieser Mitgliedstaat nicht verpflichtet sein, sie außer Acht zu lassen (vgl. entsprechend Urteil vom 27. September 1989, van de Bijl, 130/88, EU:C:1989:349, Rn. 25 und 26).

54      Dem Aufnahmemitgliedstaat kann nämlich nicht das Recht abgesprochen werden, Maßnahmen zu ergreifen, um zu verhindern, dass die im AEU‑Vertrag verankerte Personenfreizügigkeit von den Betroffenen dazu benutzt wird, sich den Anforderungen im Bereich der Berufsausbildung zu entziehen, die Inhabern eines nationalen Diploms auferlegt werden (vgl. entsprechend Urteil vom 27. September 1989, van de Bijl, 130/88, EU:C:1989:349, Rn. 26).

55      Insbesondere ist entschieden worden, dass der Schutz der öffentlichen Gesundheit einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses darstellt, der geeignet ist, eine nationale Maßnahme zu rechtfertigen, die diese Verkehrsfreiheiten beschränkt, sofern sie zur Erreichung des verfolgten Ziels geeignet ist und nicht über das hierfür erforderliche Maß hinausgeht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. September 2017, Malta Dental Technologists Association und Reynaud, C‑125/16, EU:C:2017:707, Rn. 58 und 59).

56      In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die fehlende Richtigkeit eines Diploms insbesondere dann offenkundig ist, wenn klar ist, dass sich der tatsächliche Inhalt der Ausbildung erheblich vom Inhalt der Ausbildung, wie er sich aus dem betreffenden Diplom ergibt, unterscheidet.

57      Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass die Art. 45 und 49 AEUV in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV dahin auszulegen sind, dass die zuständige Behörde des Aufnahmemitgliedstaats, bei der ein Antrag auf Erlaubnis zur Ausübung eines reglementierten Berufs in diesem Mitgliedstaat gestellt wird, verpflichtet ist, ein von der Behörde eines anderen Mitgliedstaats ausgestelltes Diplom als richtig anzusehen, und das Maß an Kenntnissen und Qualifikationen, deren Erwerb durch seinen Inhaber dieses Diplom vermuten lässt, grundsätzlich nicht in Frage stellen kann. Nur wenn sie ernsthafte Zweifel hat, die auf konkreten Anhaltspunkten beruhen, die ein Bündel übereinstimmender Indizien bilden, die darauf schließen lassen, dass das Diplom, auf das sich der Antragsteller beruft, nicht das Maß an Kenntnissen und Qualifikationen widerspiegelt, deren Erwerb durch seinen Inhaber es vermuten lässt, kann diese Behörde die ausstellende Behörde ersuchen, die Rechtmäßigkeit der Ausstellung dieses Diploms im Licht dieser Anhaltspunkte zu überprüfen, wobei diese Behörde es gegebenenfalls zurückzuziehen hat. Zu diesen konkreten Anhaltspunkten können gegebenenfalls u. a. Auskünfte gehören, die von anderen Personen als den Trägern der betreffenden Ausbildung oder den Behörden eines anderen Mitgliedstaats, die im Rahmen ihrer Aufgaben handeln, übermittelt werden. Hat die ausstellende Behörde die Rechtmäßigkeit der Ausstellung des Diploms im Licht dieser Anhaltspunkte überprüft, ohne es zurückzuziehen, so kann die Behörde des Aufnahmemitgliedstaats die Rechtmäßigkeit der Ausstellung dieses Diploms nur ausnahmsweise in Frage stellen, wenn die Umstände des konkreten Falls offensichtlich erkennen lassen, dass das betreffende Diplom nicht richtig ist.

 Kosten

58      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 13 Abs. 2 der Richtlinie 2005/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. September 2005 über die Anerkennung von Berufsqualifikationen in der durch die Richtlinie 2013/55/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. November 2013 geänderten Fassung sowie die Art. 45 und 49 AEUV sind dahin auszulegen, dass ein Antrag auf Zugang zu einem reglementierten Beruf und auf Erlaubnis zu dessen Ausübung im Aufnahmemitgliedstaat, der nach Art. 13 Abs. 2 dieser Richtlinie von einer Person gestellt wird, die zum einen Inhaber eines Ausbildungsnachweises für diesen Beruf ist, der in einem Mitgliedstaat ausgestellt wurde, in dem dieser Beruf nicht reglementiert ist, und zum anderen die Anforderung, diesen Beruf während des in Art. 13 Abs. 2 dieser Richtlinie genannten Mindestzeitraums ausgeübt zu haben, nicht erfüllt, von der zuständigen Behörde des Aufnahmemitgliedstaats im Hinblick auf Art. 45 oder Art. 49 AEUV zu beurteilen ist.

2.      Die Art. 45 und 49 AEUV in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV sind dahin auszulegen, dass die zuständige Behörde des Aufnahmemitgliedstaats, bei der ein Antrag auf Erlaubnis zur Ausübung eines reglementierten Berufs in diesem Mitgliedstaat gestellt wird, verpflichtet ist, ein von der Behörde eines anderen Mitgliedstaats ausgestelltes Diplom als richtig anzusehen, und das Maß an Kenntnissen und Qualifikationen, deren Erwerb durch seinen Inhaber dieses Diplom vermuten lässt, grundsätzlich nicht in Frage stellen kann. Nur wenn sie ernsthafte Zweifel hat, die auf konkreten Anhaltspunkten beruhen, die ein Bündel übereinstimmender Indizien bilden, die darauf schließen lassen, dass das Diplom, auf das sich der Antragsteller beruft, nicht das Maß an Kenntnissen und Qualifikationen widerspiegelt, deren Erwerb durch seinen Inhaber es vermuten lässt, kann diese Behörde die ausstellende Behörde ersuchen, die Rechtmäßigkeit der Ausstellung dieses Diploms im Licht dieser Anhaltspunkte zu überprüfen, wobei diese Behörde es gegebenenfalls zurückzuziehen hat. Zu diesen konkreten Anhaltspunkten können gegebenenfalls u. a. Auskünfte gehören, die von anderen Personen als den Trägern der betreffenden Ausbildung oder den Behörden eines anderen Mitgliedstaats, die im Rahmen ihrer Aufgaben handeln, übermittelt werden. Hat die ausstellende Behörde die Rechtmäßigkeit der Ausstellung des Diploms im Licht dieser Anhaltspunkte überprüft, ohne es zurückzuziehen, so kann die Behörde des Aufnahmemitgliedstaats die Rechtmäßigkeit der Ausstellung dieses Diploms nur ausnahmsweise in Frage stellen, wenn die Umstände des konkreten Falls offensichtlich erkennen lassen, dass das betreffende Diplom nicht richtig ist.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Finnisch.