SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
MANUEL CAMPOS SÁNCHEZ-BORDONA
vom 11. April 2024(1)
Rechtssache C‑187/23 [Albausy](i)
E. V. G.‑T.,
Beteiligte:
P. T.,
F. T.,
G. T.
(Vorabentscheidungsersuchen des Amtsgerichts Lörrach [Deutschland])
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Verordnung (EU) Nr. 650/2012 – Ausstellung eines Europäischen Nachlasszeugnisses – Einwände während des Ausstellungsverfahrens“
1. Die Verordnung (EU) Nr. 650/2012(2) zielt darauf ab, Hindernisse für den freien Verkehr von Personen auszuräumen, die ihre Rechte im Zusammenhang mit einem Erbfall mit grenzüberschreitendem Bezug durchsetzen wollen.
2. Zu diesem Zweck führt die Verordnung Nr. 650/2012 für den Binnenmarkt ein Europäisches Nachlasszeugnis(3) ein und regelt seine Ausstellung und seine Wirkungen im Detail. Mit diesem Zeugnis sind die Erben, Vermächtnisnehmer, Testamentsvollstrecker oder Nachlassverwalter in der Lage, ihren Status oder ihre Rechte und Befugnisse in einem anderen Mitgliedstaat einfach nachzuweisen.
3. Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen geht darauf zurück, dass die Ehefrau des Verstorbenen, die sich als Alleinerbin ansieht, bei der zuständigen nationalen Behörde die Ausstellung eines Europäischen Nachlasszeugnisses beantragt hat. Vor dieser Behörde und in demselben Verfahren erheben der Sohn und die Enkelkinder des Verstorbenen Einwände gegen die Gültigkeit des vorgelegten Testaments. Streitig ist, wie sich diese Einwände auf die Ausstellung des Zeugnisses auswirken.
4. Der Gerichtshof hat bereits andere Vorlagefragen im Zusammenhang mit dieser Art von Zeugnissen beantwortet(4), jedoch ging es in keinem der Vorabentscheidungsverfahren um die hier angesprochenen Zweifel, mit denen er sich nur befassen muss, wenn er das Vorabentscheidungsersuchen für zulässig erachtet.
I. Rechtlicher Rahmen. Unionsrecht
A. Verordnung Nr. 650/2012
5. Art. 62 („Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses“) Abs. 1 bestimmt:
„Mit dieser Verordnung wird ein Europäisches Nachlasszeugnis (im Folgenden ‚Zeugnis‘) eingeführt, das zur Verwendung in einem anderen Mitgliedstaat ausgestellt wird und die in Artikel 69 aufgeführten Wirkungen entfaltet.“
6. Art. 63 („Zweck des Zeugnisses“) lautet:
„(1) Das Zeugnis ist zur Verwendung durch Erben, durch Vermächtnisnehmer mit unmittelbarer Berechtigung am Nachlass und durch Testamentsvollstrecker oder Nachlassverwalter bestimmt, die sich in einem anderen Mitgliedstaat auf ihre Rechtsstellung berufen oder ihre Rechte als Erben oder Vermächtnisnehmer oder ihre Befugnisse als Testamentsvollstrecker oder Nachlassverwalter ausüben müssen.
(2) Das Zeugnis kann insbesondere als Nachweis für einen oder mehrere der folgenden speziellen Aspekte verwendet werden:
a) die Rechtsstellung und/oder die Rechte jedes Erben oder gegebenenfalls Vermächtnisnehmers, der im Zeugnis genannt wird, und seinen jeweiligen Anteil am Nachlass;
b) die Zuweisung eines bestimmten Vermögenswerts oder bestimmter Vermögenswerte des Nachlasses an die in dem Zeugnis als Erbe(n) oder gegebenenfalls als Vermächtnisnehmer genannte(n) Person(en);
c) die Befugnisse der in dem Zeugnis genannten Person zur Vollstreckung des Testaments oder Verwaltung des Nachlasses.“
7. Art. 64 („Zuständigkeit für die Erteilung des Zeugnisses“) legt fest:
„Das Zeugnis wird in dem Mitgliedstaat ausgestellt, dessen Gerichte nach den Artikeln 4, 7, 10 oder 11 zuständig sind. Ausstellungsbehörde ist
a) ein Gericht im Sinne des Artikels 3 Absatz 2 oder
b) eine andere Behörde, die nach innerstaatlichem Recht für Erbsachen zuständig ist.“
8. In Art. 65 („Antrag auf Ausstellung eines Zeugnisses“) Abs. 3 Buchst. l heißt es:
„Der Antrag muss die nachstehend aufgeführten Angaben enthalten, soweit sie dem Antragsteller bekannt sind und von der Ausstellungsbehörde zur Beschreibung des Sachverhalts, dessen Bestätigung der Antragsteller begehrt, benötigt werden; dem Antrag sind alle einschlägigen Schriftstücke beizufügen, und zwar entweder in Urschrift oder in Form einer Abschrift, die die erforderlichen Voraussetzungen für ihre Beweiskraft erfüllt, unbeschadet des Artikels 66 Absatz 2:
…
l) eine Erklärung des Inhalts, dass nach bestem Wissen des Antragstellers kein Rechtsstreit in Bezug auf den zu bescheinigenden Sachverhalt anhängig ist“.
9. Art. 66 („Prüfung des Antrags“) bestimmt:
„(1) Nach Eingang des Antrags überprüft die Ausstellungsbehörde die vom Antragsteller übermittelten Angaben, Erklärungen, Schriftstücke und sonstigen Nachweise. Sie führt von Amts wegen die für diese Überprüfung erforderlichen Nachforschungen durch, soweit ihr eigenes Recht dies vorsieht oder zulässt, oder fordert den Antragsteller auf, weitere Nachweise vorzulegen, die sie für erforderlich erachtet.
…
(4) Die Ausstellungsbehörde unternimmt alle erforderlichen Schritte, um die Berechtigten von der Beantragung eines Zeugnisses zu unterrichten. Sie hört, falls dies für die Feststellung des zu bescheinigenden Sachverhalts erforderlich ist, jeden Beteiligten, Testamentsvollstrecker oder Nachlassverwalter und gibt durch öffentliche Bekanntmachung anderen möglichen Berechtigten Gelegenheit, ihre Rechte geltend zu machen.
…“
10. Art. 67 („Ausstellung des Zeugnisses“) legt fest:
„(1) Die Ausstellungsbehörde stellt das Zeugnis unverzüglich nach dem in diesem Kapitel festgelegten Verfahren aus, wenn der zu bescheinigende Sachverhalt nach dem auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Recht oder jedem anderen auf einen spezifischen Sachverhalt anzuwendenden Recht feststeht. Sie verwendet das nach dem Beratungsverfahren nach Artikel 81 Absatz 2 erstellte Formblatt.
Die Ausstellungsbehörde stellt das Zeugnis insbesondere nicht aus,
a) wenn Einwände gegen den zu bescheinigenden Sachverhalt anhängig sind oder
b) wenn das Zeugnis mit einer Entscheidung zum selben Sachverhalt nicht vereinbar wäre.
…“
11. Art. 69 („Wirkungen des Zeugnisses“) lautet:
„(1) Das Zeugnis entfaltet seine Wirkungen in allen Mitgliedstaaten, ohne dass es eines besonderen Verfahrens bedarf.
(2) Es wird vermutet, dass das Zeugnis die Sachverhalte, die nach dem auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Recht oder einem anderen auf spezifische Sachverhalte anzuwendenden Recht festgestellt wurden, zutreffend ausweist. Es wird vermutet, dass die Person, die im Zeugnis als Erbe, Vermächtnisnehmer, Testamentsvollstrecker oder Nachlassverwalter genannt ist, die in dem Zeugnis genannte Rechtsstellung und/oder die in dem Zeugnis aufgeführten Rechte oder Befugnisse hat und dass diese Rechte oder Befugnisse keinen anderen als den im Zeugnis aufgeführten Bedingungen und/oder Beschränkungen unterliegen.
(3) Wer auf der Grundlage der in dem Zeugnis enthaltenen Angaben einer Person Zahlungen leistet oder Vermögenswerte übergibt, die in dem Zeugnis als zur Entgegennahme derselben berechtigt bezeichnet wird, gilt als Person, die an einen zur Entgegennahme der Zahlungen oder Vermögenswerte Berechtigten geleistet hat, es sei denn, er wusste, dass das Zeugnis inhaltlich unrichtig ist, oder ihm war dies infolge grober Fahrlässigkeit nicht bekannt.
(4) Verfügt eine Person, die in dem Zeugnis als zur Verfügung über Nachlassvermögen berechtigt bezeichnet wird, über Nachlassvermögen zugunsten eines anderen, so gilt dieser andere, falls er auf der Grundlage der in dem Zeugnis enthaltenen Angaben handelt, als Person, die von einem zur Verfügung über das betreffende Vermögen Berechtigten erworben hat, es sei denn, er wusste, dass das Zeugnis inhaltlich unrichtig ist, oder ihm war dies infolge grober Fahrlässigkeit nicht bekannt.
(5) Das Zeugnis stellt ein wirksames Schriftstück für die Eintragung des Nachlassvermögens in das einschlägige Register eines Mitgliedstaats dar, unbeschadet des Artikels 1 Absatz 2 Buchstaben k und l.“
B. Durchführungsverordnung Nr. 1329/2014(5)
12. Art. 1 Abs. 5 sieht vor:
„Für das Europäische Nachlasszeugnis gemäß Artikel 67 Absatz 1 der Verordnung … Nr. 650/2012 ist das Formblatt V in Anhang 5 zu verwenden.“
13. Am Ende von Formblatt 5 in Anhang 5 ist vermerkt, dass die Behörde bestätigt, „dass zum Zeitpunkt der Erstellung des Zeugnisses keine der darin enthaltenen Angaben von den Berechtigten bestritten worden ist“.
II. Sachverhalt, Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
14. P. T., französischer Staatsangehöriger, war zuletzt wohnhaft in Deutschland und verstarb am 15. September 2021.
15. Am 23. November 2021 beantragte E. V. G.‑T., die Ehefrau von P. T. zum Zeitpunkt seines Todes, beim Amtsgericht Lörrach (Deutschland) ein Europäisches Nachlasszeugnis, das sie als Alleinerbin zeigt(6).
16. Zu diesem Zweck legte sie ein von beiden Ehegatten unterschriebenes Testament mit folgendem Inhalt vor:
„Gemeinschaftliches Testament
Wir, die Eheleute E. G.‑T., geb. am …, und P. T., geb. am …, beide wohnhaft in …, erklären wie folgt:
1) Wir sind durch frühere erbrechtliche Verfügungen nicht gebunden und haben keine erbrechtlichen Verfügungen getroffen. Vorsorglich widerrufen wir alle bisher von uns einseitig oder gemeinsam getroffenen Verfügungen.
2) Wir setzen uns gegenseitig zu Alleinerben ein. Diese Erbeinsetzung erfolgt wechselbezüglich und mit Bindungswirkung. Der Längstlebende ist im Übrigen durch diese Bestimmung nicht beschränkt. Er ist frei, seinen Erbfall selbst zu regeln, und zwar auch schon vor dem Tod des Erstversterbenden, jedoch nur den Fall, dass er der Längstlebende wird.
3) Wir sind beide in Deutschland wohnhaft und wünschen die Anwendung des Deutschen Erbrechts, welches wir im Rahmen der Rechtswahl, soweit zulässig[,] als das anzuwendende Recht bestimmen. Diese Bestimmung ist wechselbezüglich.
R., den 23.07.2020 E. G.‑T. Das ist auch mein Wille P. T.“
17. Außerdem existiert ein älteres, handschriftlich vom Erblasser geschriebenes und unterschriebenes Testament mit folgendem Inhalt:
„Ich, P. M. J. T., geboren am … in A., wohnhaft in …, Spanien, widerrufe alle früheren Verfügungen von Todes wegen. Ich vermache den verfügbaren Erbschaftsanteil meines Nachlasses meinen beiden Enkelkindern, den Söhnen von P., N. A. J. T., geboren am …, und J. N. J. T., geboren am … Sie werden sich diesen zu gleichen Anteilen teilen. Ich benenne meinen Sohn P. und nur ihn, meine Trauerfeier mit einer gregorianischen Messe und meine Beisetzung in … in Spanien zu organisieren. A., am 31. Mai 2001 Das ist mein Testament. P. T.“
18. E. V. G.‑T. hält sich aufgrund des Testaments vom 23. Juli 2020 für die Alleinerbin von P. T. Der Sohn und die Enkelkinder von P. T. hingegen halten dieses Testament für ungültig, da der Erblasser bei der Testamentserrichtung nicht mehr testierfähig gewesen und die Unterschrift nicht seine eigene sei.
19. Nach Angaben des vorlegenden Gerichts war der Erblasser aber noch testierfähig(7), und die Unterschrift auf dem vorgelegten Testament stammt von ihm(8).
20. Vor diesem Hintergrund ist das Amtsgericht Lörrach der Auffassung, dass die Ausstellung des Zeugnisses von der Auslegung der Verordnung Nr. 650/2012 abhängt, und hat daher das Verfahren ausgesetzt(9) und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Ist Art. 67 Abs. 1 Unterabs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 650/2012 so auszulegen, dass damit auch Einwendungen gemeint sind, die im Ausstellungsverfahren des Europäischen Nachlasszeugnisses selbst erhoben worden sind, und das Gericht diese nicht prüfen darf und damit nicht nur Einwendungen gemeint sind, die in einem anderen Verfahren geltend gemacht worden sind?
2. Falls die erste Frage mit Ja beantwortet wird: Ist Art. 67 Abs. 1 Unterabs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 650/2012 dahin gehend auszulegen, dass ein Europäisches Nachlasszeugnis selbst dann nicht ausgestellt werden darf, wenn Einwendungen im Verfahren über die Ausstellung des Europäischen Nachlasszeugnisses erhoben worden sind, diese aber schon in dem Erbscheinsverfahren nach deutschem Recht geprüft worden sind?
3. Falls die erste Frage mit Ja beantwortet wird: Ist Art. 67 Abs. 1 Unterabs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 650/2012 dahin gehend auszulegen, dass damit jegliche Einwendungen gemeint sind, selbst wenn diese unsubstantiiert vorgetragen worden sind und über diese Tatsache kein förmlicher Beweis zu erheben ist?
4. Falls die erste Frage mit Nein beantwortet wird: In welcher Form muss das Gericht die Gründe angeben, die das Gericht zur Zurückweisung der Einwendungen und zur Ausstellung des Europäischen Nachlasszeugnisses bewogen haben?
III. Verfahren vor dem Gerichtshof
21. Das Vorabentscheidungsersuchen ist am 23. März 2023 beim Gerichtshof eingegangen.
22. Die deutsche und die spanische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen abgegeben. Sie alle sowie E. V. G.‑T. haben an der mündlichen Verhandlung vom 31. Januar 2024 teilgenommen.
IV. Würdigung
23. Das vorlegende Gericht äußert Zweifel an der Funktion der Behörde, die das Europäische Nachlasszeugnis ausstellt, sowie an der Reichweite der Befugnisse dieser Behörde im Rahmen von Art. 67 der Verordnung Nr. 650/2012.
A. Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens
24. Die spanische Regierung vertritt den Standpunkt, das Vorabentscheidungsersuchen sei nicht zulässig, da die Ausstellung des Europäischen Nachlasszeugnisses keine Rechtsprechungstätigkeit darstelle, wie es Art. 267 AEUV verlange(10).
25. Die Zulässigkeit eines Vorabentscheidungsersuchens hängt davon ab, ob es von einem „Gericht“ im Sinne von Art. 267 AEUV stammt, das dabei in Ausübung seiner Rechtssprechungstätigkeit handelt(11).
26. Für die Feststellung, ob die betreffende nationale Einrichtung diese beiden Voraussetzungen erfüllt, prüft der Gerichtshof u. a. „die spezifische Natur der Aufgaben …, die sie in dem konkreten normativen Kontext ausübt, in dem sie sich zur Anrufung des Gerichtshofs veranlasst sieht, um zu überprüfen, ob bei der Einrichtung ein Rechtsstreit anhängig ist und sie im Rahmen eines Verfahrens, das auf eine Entscheidung mit Rechtsprechungscharakter abzielt, zu entscheiden hat“(12).
27. Sind diese Voraussetzungen nicht erfüllt, kann nämlich, selbst wenn die Einrichtung die übrigen in der Rechtsprechung des Gerichtshofs aufgestellten Voraussetzungen erfüllt, nicht davon ausgegangen werden, dass sie eine Rechtsprechungstätigkeit ausübt(13).
28. Die Einrede der Unzulässigkeit könnte angesichts der in der Verordnung Nr. 650/2012 enthaltenen Vorgaben zum Europäischen Nachlasszeugnis und der mit seiner Ausstellung verbundenen Tätigkeit gerechtfertigt sein. Aus diesen Vorgaben ergibt sich aus den Gründen, die ich nachstehend darstellen werde, dass die Behörde, die ein Zeugnis nach Art. 67 der Verordnung Nr. 650/2012 ausstellt, selbst dann, wenn es sich um ein Gericht handelt, nicht im Rahmen eines Verfahrens zu entscheiden hat, das auf eine Entscheidung mit Rechtsprechungscharakter abzielt.
1. Zweck und Wirkungen des Europäischen Nachlasszeugnisses
29. Mit der Verordnung Nr. 650/2012 wird ein Europäisches Nachlasszeugnis geschaffen, für das eine einheitliche und gegenüber vergleichbaren nationalen Bescheinigungen autonome Regelung gilt. Diese Regelung unterscheidet sich von derjenigen, die in der Verordnung selbst für die Anerkennung von Entscheidungen und öffentlichen Urkunden vorgesehen ist(14).
30. Das Europäische Nachlasszeugnis ist zur Verwendung durch Erben, Vermächtnisnehmer, Testamentsvollstrecker oder Nachlassverwalter bestimmt, die sich in einem anderen Mitgliedstaat auf ihre Rechtsstellung berufen oder ihre sich daraus ergebenden Rechte oder Befugnisse ausüben müssen(15). Die Verwendung des Zeugnisses ist jedoch nicht verpflichtend(16).
31. Um diesen Zweck zu erfüllen, hat das Zeugnis folgende, in der gesamten Union identische Wirkungen(17):
– Es dient zum Nachweis(18) der bescheinigten Sachverhalte(19). Bei Vorlage des Zeugnisses kann der Besitzer seine Rechte oder Ansprüche in jedem Mitgliedstaat geltend machen, ohne dass von ihm ein weiterer Nachweis gefordert werden kann. Es wird vermutet, dass die im Zeugnis genannte Rechtsstellung und die aufgeführten Rechte oder Befugnisse zutreffend ausgewiesen werden(20).
– Es schützt Dritte im Geschäftsverkehr mit den im Zeugnis genannten Personen, wenn sie auf der Grundlage der im Zeugnis enthaltenen Angaben Zahlungen leisten, Vermögenswerte übergeben oder Nachlassvermögen erwerben oder entgegennehmen, „es sei denn, [sie] wusste[n], dass das Zeugnis inhaltlich unrichtig ist, oder [ihnen] war dies infolge grober Fahrlässigkeit nicht bekannt“(21).
– Es stellt innerhalb der Grenzen, die in der Verordnung Nr. 650/2012 selbst festgelegt sind und vom Gerichtshof ausgelegt wurden, ein wirksames Schriftstück für die Eintragung des Nachlassvermögens in das einschlägige Register dar(22).
32. Das Zeugnis hat an sich keine weiteren Folgen, insbesondere nicht die rechtliche Bindungswirkung einer gerichtlichen Entscheidung(23). Der 71. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 650/2012 stellt außerdem klar, dass das Zeugnis keinen vollstreckbaren Titel darstellt.
33. Die fehlende rechtliche Bindungswirkung zeigt sich auch in den Vorschriften für den Verkehr des Zeugnisses in anderen Mitgliedstaaten als dem Ausstellungsmitgliedstaat. In Kapitel VI der Verordnung Nr. 650/2012 ist nicht festgelegt, dass das Zeugnis „anerkannt“ werden kann oder muss(24). Nach Art. 69 Abs. 1 „entfaltet [das Zeugnis] seine Wirkungen“, ohne dass es eines Verfahrens bedarf(25). Es gibt buchstäblich keinen Grund, der gegen den Verkehr eingewendet werden könnte(26).
2. Tätigkeit der das Zeugnis ausstellenden Behörde im Rahmen von Art. 67 der Verordnung Nr. 650/2012
34. Nach Art. 67 Abs. 1 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 650/2012 stellt die Ausstellungsbehörde das Zeugnis unverzüglich aus, „wenn der zu bescheinigende Sachverhalt … feststeht“. Die Ausstellung erfolgt nach der in Art. 66 der Verordnung vorgesehenen Prüfung (des Antrags).
35. Nach diesem Artikel überprüft die Ausstellungsbehörde die vom Antragsteller übermittelten Angaben, Erklärungen, Schriftstücke und sonstigen Nachweise(27).
36. Zu diesem Zweck legt Art. 66 Folgendes fest: i) Der Artikel verweist auf Befugnisse, die das eigene Recht der Behörde einräumt(28), ii) er verleiht der Behörde weitere Befugnisse(29), und iii) er legt der Behörde unmittelbar die Pflicht auf, Schritte zu ergreifen, um (nur bestimmte) Berechtigte über die Beantragung des Zeugnisses zu unterrichten(30).
37. Im Rahmen dieser Pflicht „hört [die Behörde] … jeden Beteiligten, Testamentsvollstrecker oder Nachlassverwalter und gibt durch öffentliche Bekanntmachung anderen möglichen Berechtigten Gelegenheit, ihre Rechte geltend zu machen“, falls sie dies für die Feststellung des zu bescheinigenden Sachverhalts für erforderlich hält(31).
38. Wenn die Ausstellungsbehörde nach Prüfung all dieser Elemente zu dem Ergebnis kommt, dass der zu bescheinigende Sachverhalt feststeht, so stellt sie das Zeugnis gemäß Art. 67 Abs. 1 der Verordnung Nr. 650/2012 „unverzüglich“ aus.
39. Hat die Ausstellungsbehörde hingegen Zweifel an diesen Sachverhalten, darf sie das Zeugnis nicht ausstellen. Sein Inhalt ist nicht nachgewiesen worden und kann daher nicht die in Art. 69 der Verordnung vorgesehenen Wirkungen entfalten. Gemäß Art. 67 Abs. 1 Unterabs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 650/2012 stellt die Ausstellungsbehörde das Zeugnis insbesondere nicht aus, wenn Einwände gegen den zu bescheinigenden Sachverhalt anhängig sind(32).
40. Die Rolle der Ausstellungsbehörde ist nicht rein passiver Art: Sie besteht nicht in der Entgegennahme von Sachverhaltserklärungen oder Willensbekundungen zur mechanischen Übertragung in ein dafür vorgesehenes Formblatt. Die Behörde ist verpflichtet, anhand der vom Antragsteller vorgelegten Nachweise und gegebenenfalls sonstiger Informationen, die die Behörde selbst sammelt oder die ihr von anderen Personen mit berechtigtem Interesse an der Erbsache mitgeteilt werden(33), den Wahrheitsgehalt der Angaben des Antragstellers zu überprüfen.
41. Andererseits fällt es nicht in die Zuständigkeit der Behörde, bei der das Zeugnis beantragt wird, die Rechte und Ansprüche der Personen mit Forderungen oder berechtigtem Interesse an der Erbsache festzustellen oder zu bestimmen bzw. im Rahmen von etwaigen Streitigkeiten zwischen ihnen über materiell-rechtliche Fragen zu entscheiden.
42. Dies liegt daran, dass die Bestimmungen in Kapitel VI („Europäisches Nachlasszeugnis“) der Verordnung Nr. 650/2012 den nationalen Behörden, die das Zeugnis ausstellen, keine solche Zuständigkeit übertragen(34). Es kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass im Rahmen von Art. 67 der Verordnung die Möglichkeit vorgesehen ist, dass die nationalen Rechtsvorschriften in Ergänzung zu der Verordnung diesen Behörden die Zuständigkeit für die Entscheidung über Streitigkeiten übertragen. Eine solche Übertragung, die nicht den Verfahrensregelungen entspricht, würde der Absicht zuwiderlaufen, eine autonome und einheitliche Regelung für die Ausstellung des Zeugnisses zu schaffen(35).
43. Wäre die Ausstellungsbehörde insoweit (für die Entscheidung über Streitigkeiten) zuständig, würde ihre Tätigkeit zu einer „Entscheidung“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. g und Kapitel IV der Verordnung Nr. 650/2012 führen. Jedoch hat das Zeugnis nach dem Willen des Unionsgesetzgebers nicht die verbindlichen Rechtsfolgen, die für eine Gerichtsentscheidung charakteristisch sind.
3. Vergleich mit Bescheinigungen, die in anderen Rechtsvorschriften für die justizielle Zusammenarbeit vorgesehen sind
44. Das Europäische Nachlasszeugnis ist nicht mit den Bescheinigungen vergleichbar, die in anderen Vorschriften für die justizielle Zusammenarbeit in Zivil- oder Handelssachen vorgesehen sind und in deren Zusammenhang andere Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof gestellt und, nachdem die Zweifel an ihrer Zulässigkeit ausgeräumt worden waren, vom Gerichtshof entschieden wurden.
45. In Bezug auf den Europäischen Vollstreckungstitel(36) hat der Gerichtshof festgestellt, dass „sich das Verfahren zur Bestätigung einer gerichtlichen Entscheidung als Europäischer Vollstreckungstitel … nicht als ein vom vorangegangenen gerichtlichen Verfahren gesondertes Verfahren dar[stellt], sondern als dessen letzte Phase, die zur Gewährleistung seiner vollen Wirksamkeit erforderlich ist, indem dem Gläubiger die Beitreibung seiner Forderung ermöglicht wird“(37).
46. Das nationale Gericht wird, wenn es eine gerichtliche Entscheidung als Europäischen Vollstreckungstitel bestätigt, als Gericht tätig und ist „befugt …, dem Gerichtshof eine Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen“(38).
47. Das Gleiche gilt für die Bescheinigung gemäß Art. 53 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012(39), die den freien Verkehr gerichtlicher Entscheidungen zwischen den Mitgliedstaaten gewährleistet. Die Aufgabe des ausstellenden Gerichts „[schließt] an das vorherige Gerichtsverfahren an, indem es insofern dessen volle Wirksamkeit sicherstellt, als eine Entscheidung ohne Bescheinigung nicht frei im europäischen Rechtsraum zirkulieren kann“(40).
48. Das Verfahren zur Ausstellung einer Bescheinigung nach Art. 53 der Verordnung Nr. 1215/2012 weist rechtsprechenden Charakter auf, und ein im Rahmen eines solchen Verfahrens angerufenes innerstaatliches Gericht ist befugt, dem Gerichtshof eine Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen(41).
49. Die Ausstellung des Europäischen Nachlasszeugnisses erfolgt hingegen, wie ich bereits dargestellt habe, nicht in Ausübung der Rechtsprechungstätigkeit und führt nicht zu einer Entscheidung dieser (d. h. gerichtlichen) Art mit rechtlicher Bindungswirkung.
50. Nicht anders verhält es sich, wenn das Zeugnis in seinen einzelnen Abschnitten den Inhalt einer (früheren) materiell-rechtlichen Gerichtsentscheidung über die Erbsache wiedergibt. Auch in einem solchen Fall ist das Zeugnis nicht als Bestandteil des gerichtlichen Verfahrens, in dem die Entscheidung in der Hauptsache ergangen ist, anzusehen.
51. Schließlich handelt es sich beim Europäischen Nachlasszeugnis nicht um eine Urkunde, mit der die Entscheidung der Gerichte eines Mitgliedstaats, einem Passierschein ähnlich, für den Verkehr in anderen Mitgliedstaaten zum Zweck der Anerkennung und gegebenenfalls der Vollstreckung übermittelt wird. Zu diesem Zweck hat der Unionsgesetzgeber bereits die Bescheinigung nach Art. 46 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 650/2012 mit einem entsprechenden Formular (Formblatt I in Anhang 1 der Durchführungsverordnung Nr. 1329/2014) vorgesehen(42).
52. Zusammenfassend entfaltet das Zeugnis seine Wirkung in anderen Mitgliedstaaten als dem Ausstellungsmitgliedstaat, ohne dass ein Verfahren erforderlich ist und ohne die Möglichkeit eines Rechtsbehelfs oder einer Überprüfung. Würde es die in einem Rechtsstreit ergangene Entscheidung miteinbeziehen, so fände auf diese Entscheidung über das Zeugnis eine Anerkennungsregelung Anwendung, die sich nicht nur von der in Kapitel IV vorgesehenen unterscheidet, sondern die auch noch günstiger ist und deren parallele Existenz nirgends festgeschrieben und auch nicht gerechtfertigt ist(43).
4. Auswirkungen der Merkmale des Europäischen Nachlasszeugnisses auf die Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens
53. Die Behörde, die gemäß Art. 67 der Verordnung Nr. 650/2012 das Zeugnis ausstellt, vermerkt darin bestimmte Sachverhalte der Erbsache, nachdem sie die in Art. 66 der Verordnung vorgeschriebene Prüfung vorgenommen hat.
54. Die Bestätigung durch die Behörde, die das Zeugnis ausstellt, betrifft die Richtigkeit der vom Antragsteller getätigten Angaben und ihre Entsprechung mit den für die Erbsache geltenden Rechtsvorschriften. Die Behörde ist jedoch, wie ich bereits dargestellt habe, in diesem Zusammenhang nicht befugt, über Streitigkeiten, die sich in der Rechtssache selbst ergeben, zu entscheiden(44).
55. Wenn die Behörde, die das Zeugnis ausstellt, nicht in einem Verfahren, das auf eine Entscheidung mit rechtlicher Bindungswirkung abzielt, über Rechte oder Ansprüche entscheiden kann, übt sie in diesem Bereich keine gerichtlichen Funktionen aus(45).
56. Dies gilt unbeschadet der Tatsache, dass es sich bei der Stelle, die das Zeugnis ausstellt, nach Art. 64 der Verordnung Nr. 650/2012 um ein „Gericht“ im Sinne von Art. 3 Abs. 2 oder um eine andere Behörde handeln kann, die nach innerstaatlichem Recht für Erbsachen zuständig ist(46).
57. Der Umstand, dass es sich bei der Behörde, die das Europäische Nachlasszeugnis ausstellt, um ein Gericht handeln kann, verleiht ihr bei der Ausstellung des Zeugnisses keine gerichtliche Funktion. Ein Gericht eines Mitgliedstaats kann neben seinen rein gerichtlichen Funktionen auch andere Aufgaben wahrnehmen, bei denen es sich nicht um eine Rechtsprechungstätigkeit handelt. Im Rahmen dieser nicht zur Rechtsprechungstätigkeit zu zählenden Aufgaben ist es nicht befugt, den Gerichtshof um Vorabentscheidung zu ersuchen(47).
58. Der Verweis auf diese „andere“ Behörde deutet meiner Ansicht nach darauf hin, dass die Ausstellung des Europäischen Nachlasszeugnisses (gemäß Art. 67 der Verordnung Nr. 650/2012) keine Ausübung einer Rechtsprechungstätigkeit darstellt. Wäre dies nicht der Fall, so wäre auch die gesonderte Nennung der anderen Behörde nicht erforderlich, da nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung formell nicht zur Justiz gehörende Behörden bereits als Gerichte anzusehen sind, wenn sie gerichtliche Funktionen ausüben(48).
59. Der Umstand, dass Art. 64 („Zuständigkeit für die Erteilung des Zeugnisses“) der Verordnung Nr. 650/2012 auf die Art. 4, 7, 10 und 11 der Verordnung verweist, darf dabei nicht zu Verwirrung führen. Aus dem Verweis auf die Zuständigkeit lassen sich keine Rückschlüsse darauf ziehen, ob es sich bei der Tätigkeit der Ausstellungsbehörde um eine Rechtsprechungstätigkeit handelt oder nicht(49): Mit dem Verweis wird lediglich klargestellt, bei welcher Behörde das Zeugnis zu beantragen ist(50).
60. Schließlich sehe ich mich mit dieser Auffassung durch das Urteil vom 16. November 2023(51) bestärkt, in dem der Gerichtshof das Argument zurückgewiesen hat, dass spanische Notare die hoheitlichen Befugnisse eines Gerichts ausübten, weil sie Europäische Nachlasszeugnisse ausstellten(52).
61. Nach alledem vertrete ich den Standpunkt, dass das Vorabentscheidungsersuchen für unzulässig zu erklären ist. Für den Fall, dass der Gerichtshof anderer Ansicht ist, werde ich jedoch eine Antwort auf die ihm vorgelegten Fragen vorschlagen.
B. Erste Vorlagefrage
62. Das vorlegende Gericht ersucht um Auslegung von Art. 67 Abs. 1 Unterabs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 650/2012, um im Wesentlichen zu klären, ob mit dieser Bestimmung Einwendungen gemeint sind, die in einem anderen Verfahren als dem der Ausstellung des Nachlasszeugnisses geltend gemacht worden sind, oder ob auch Einwendungen gemeint sind, die im Ausstellungsverfahren selbst von Personen mit berechtigtem Interesse an der Erbsache erhoben worden sind. Im letzteren Fall möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Ausstellungsbehörde für die Prüfung dieser Einwendungen zuständig ist.
63. Die Vorlagefrage wird in einem Fall gestellt, in dem, wie bereits dargestellt, der Sohn und die Enkelkinder des Erblassers Einwände gegen einen für die Erbschaft wesentlichen Sachverhalt (die Gültigkeit des Testaments selbst) erheben. Meines Erachtens führen diese Einwendungen dazu, dass Art. 67 Abs. 1 Unterabs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 650/2012 Anwendung findet und das Zeugnis nicht ausgestellt werden kann.
64. Diese Unmöglichkeit wird durch den Umstand bestätigt, dass die Ausstellungsbehörde in dem gemäß der Durchführungsverordnung Nr. 1329/2014 für das Europäische Nachlasszeugnis zu verwendenden Formblatt anzugeben hat, dass keiner der bescheinigten Sachverhalte angefochten wurde.
65. Ich räume ein, dass die erste Vorlagefrage allein auf der Grundlage des Wortlauts der Verordnung nicht eindeutig beantwortet werden kann, da diesem nicht zu entnehmen ist, vor welcher Stelle die zu bescheinigenden Sachverhalte angefochten werden können(53), und die Sprachfassungen unterschiedliche Auslegungen zulassen:
– Einigen Sprachfassungen zufolge sind die Einwände (der Rechtsbehelf) zum Zeitpunkt des Antrags des Zeugnisses bereits anhängig, was darauf hindeutet, dass es sich um ein anderes Verfahren handeln muss(54);
– andere weisen darauf hin, dass sich der Einwand aus dem Antrag auf Ausstellung des Zeugnisses ergibt und bei derselben Stelle erhoben wird(55).
66. Eine systematische Auslegung bringt etwas mehr Licht ins Dunkel. Aus Art. 67 Abs. 1 Unterabs. 2 Buchst. a in Verbindung mit Art. 65 Abs. 3 Buchst. l der Verordnung Nr. 650/2012 ergibt sich, dass der erstgenannte Artikel zunächst die in Art. 65 aufgeführten Rechtsstreitigkeiten, d. h. bei einer anderen Stelle anhängige(56) Streitigkeiten, erfasst.
67. In diese Richtung weist auch Art. 67 Abs. 1 Unterabs. 2 Buchst. b, der sich auf Entscheidungen bezieht, die außerhalb des auf die Ausstellung des Zeugnisses abzielenden Verfahrens ergehen. Es kann davon ausgegangen werden, dass zu diesen Entscheidungen auch solche zählen, die sich auf die Sachverhalte des Nachlasszeugnisses selbst auswirken.
68. Aufgrund von Art. 67 Abs. 1 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 650/2012 vertrete ich den Standpunkt, dass Unterabs. 2 Buchst. a auch die bei der Ausstellungsbehörde erhobenen Einwände einschließt, da die Behörde andernfalls ein Zeugnis ausstellen könnte, das – unter Verstoß gegen diese Bestimmung(57) – Sachverhalte enthält, „die nicht feststehen“.
69. Ein Vergleich des Wortlauts von Art. 65 Abs. 3 Buchst. l der Verordnung Nr. 650/2012 (der sich darauf bezieht, dass „kein Rechtsstreit in Bezug auf den zu bescheinigenden Sachverhalt anhängig ist“) mit dem Wortlaut von Art. 67 Abs. 1 Unterabs. 2 Buchst. a, der allgemein eine weiter gefasste Formulierung verwendet, scheint mir ein zusätzliches Argument für diese Auslegung zu sein(58).
70. Auch der Zweck der Verordnung Nr. 650/2012 im Allgemeinen und der Zweck des Europäischen Nachlasszeugnisses im Besonderen sprechen für eine Auslegung von Art. 67 Abs. 1 Unterabs. 2 Buchst. a, wonach auch Einwendungen, die im Lauf des zur Ausstellung des Zeugnisses führenden Verfahrens erhoben werden, gemeint sind.
71. Das Zeugnis wird geschaffen, um „[e]ine zügige, unkomplizierte und effiziente Abwicklung einer Erbsache mit grenzüberschreitendem Bezug“ zu ermöglichen(59). Es trägt somit dazu bei, „[d]ie Hindernisse für den freien Verkehr von Personen, denen die Durchsetzung ihrer Rechte im Zusammenhang mit einem Erbfall mit grenzüberschreitendem Bezug derzeit noch Schwierigkeiten bereitet“, auszuräumen(60).
72. Um diese Ziele zu erreichen, stattet der Unionsgesetzgeber das Zeugnis mit den zuvor beschriebenen Rechtswirkungen aus, die sich in anderen Mitgliedstaaten als dem Ausstellungsmitgliedstaat entfalten und keinem Verfahren und keiner Kontrolle unterliegen.
73. Meines Erachtens steht die Eigenschaft dieser Rechtswirkungen, die nicht nur der Erleichterung der im Zusammenhang mit einer Erbsache mit grenzüberschreitendem Bezug erforderlichen Handlungen für die unmittelbar Betroffenen dienen, sondern auch dem Schutz Dritter und der Sicherheit des Rechtsverkehrs in der gesamten Union, einer Auslegung von Art. 67 Abs. 1 Unterabs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 650/2012 entgegen, die sie auf Rechtsstreitigkeiten beschränkt, die außerhalb des für die Ausstellung des Zeugnisses eingeleiteten Verfahrens anhängig sind.
74. In Anbetracht dieser Prämisse stellt sich nicht mehr das Problem, ob die zur Anwendung von Art. 67 der Verordnung Nr. 650/2012 berufene Behörde die Einwände anderer etwaiger Berechtigter prüfen kann(61), sondern vielmehr, was zu tun ist, wenn diese Einwände solcher Art sind, dass sie tatsächlich wesentliche Sachverhalte der Erbsache in Frage stellen (wie in der vorliegenden Rechtssache, in der andere etwaige Erben die Gültigkeit des handschriftlichen Testaments anfechten, auf das sich der Antrag auf Ausstellung des Zeugnisses stützt).
75. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass die nationale Behörde in einem solchen Fall das Zeugnis nicht ausstellen darf(62). Die gleiche Lösung ergibt sich meines Erachtens aus dem Inhalt des Formblatts V in Anhang 5 der Durchführungsverordnung Nr. 1329/2014, in dem die Ausstellungsbehörde bestätigen muss, dass keine der im Zeugnis enthaltenen Angaben bestritten wurde.
76. Art. 66 der Verordnung Nr. 650/2012 sieht vor, dass die Ausstellungsbehörde im Rahmen der Überprüfungen vor der Ausstellung des Zeugnisses bestimmte Personen über die Beantragung eines Zeugnisses unterrichtet und diese, falls sie dies für die Feststellung des zu bescheinigenden Sachverhalts erforderlich hält, anhört.
77. Wenn die Anhörung dieser Beteiligten dazu führt, dass sie (wie in der vorliegenden Rechtssache) Einwände gegen die Gültigkeit eines für das Zeugnis grundlegenden Sachverhalts erheben, darf die Ausstellungsbehörde das Zeugnis nicht ausstellen. Folgerichtig müssen, wie ich bei der Prüfung der dritten Vorlagefrage darstellen werde, diese Einwände auf einer bestimmten Grundlage beruhen, damit sie die in Art. 67 Abs. 1 Unterabs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 650/2012 festgelegte verhindernde Wirkung entfalten(63).
C. Zweite Vorlagefrage
78. Das vorlegende Gericht möchte wissen, ob die Ausstellungsbehörde ein Europäisches Nachlasszeugnis ausstellen darf, „wenn Einwendungen im Verfahren über die Ausstellung des [E]uropäischen Nachlasszeugnisses erhoben worden sind, diese aber schon in dem Erbscheinsverfahren nach deutschem Recht geprüft worden sind“.
79. Meines Erachtens ergibt sich die Antwort aus Art. 67 Abs. 1 Unterabs. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 650/2012, wonach das Zeugnis nicht ausgestellt werden darf, „wenn das Zeugnis mit einer Entscheidung zum selben [zu bescheinigenden] Sachverhalt nicht vereinbar wäre“.
80. Nach dieser Vorschrift hat die zuständige Behörde den Antrag auf Ausstellung des Zeugnisses abzulehnen, wenn das Zeugnis Angaben enthalten würde, die mit einer früheren Entscheidung nicht vereinbar wären. Liegt eine solche Unvereinbarkeit hingegen nicht vor, steht im Umkehrschluss eine frühere Entscheidung der Ausstellung des Zeugnisses nicht entgegen(64).
81. Dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift und ihrer systematischen Einordnung zufolge handelt es sich bei der in Art. 67 Abs. 1 Unterabs. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 650/2012 genannten „Entscheidung“ um eine Handlung, deren Inhalt dieser Behörde zwangsläufig auferlegt wird(65). Mit anderen Worten kann die Ausstellungsbehörde nicht im Widerspruch zu den Sachverhalten handeln, die den Inhalt des Zeugnisses darstellen und über die bereits in einer früheren Entscheidung zu denselben Sachverhalten entschieden wurde.
82. Die Entscheidung, auf die in dieser Bestimmung Bezug genommen wird, hat daher Vorrang vor der Einschätzung durch die Ausstellungsbehörde hinsichtlich der Sachverhalte, die in das Zeugnis aufzunehmen sind.
83. In den beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen betonen die deutsche Regierung und die Kommission, dass die Entscheidung nach Art. 67 Abs. 1 Unterabs. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 650/2012 nach nationalem Recht rechtskräftig sein müsse(66).
84. Die Voraussetzung der Rechtskräftigkeit wird in dieser Bestimmung nicht ausdrücklich genannt. Ich bin jedoch der Auffassung, dass sie abgeleitet werden kann:
– aus Buchst. a des Artikels, wonach die Ausstellung des Zeugnisses nicht erfolgt, wenn Einwände gegen den zu bescheinigenden Sachverhalt anhängig sind, und
– aus der Voraussetzung aus Art. 65 Abs. 3 Buchst. l, dass bei der Beantragung des Zeugnisses eine Erklärung, dass kein Rechtsstreit in Bezug auf den zu bescheinigenden Sachverhalt anhängig ist, erfolgen muss.
85. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, festzustellen, ob in der vorliegenden Rechtssache das Verfahren zur Ausstellung des nationalen Erbscheins zu einer „Entscheidung“ im Sinne von Art. 67 Abs. 1 Unterabs. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 650/2012 führen kann(67).
D. Dritte Vorlagefrage
86. Für den Fall, dass die erste Vorlagefrage mit Ja beantwortet wird, ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof um Klärung, ob jegliche Einwendung, selbst wenn sie unsubstantiiert vorgetragen ist, eine Ablehnung der Ausstellung des Zeugnisses nach Art. 67 Abs. 1 Unterabs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 650/2012 rechtfertigt.
87. Die letztgenannte Bestimmung geht nicht auf die Art dieses Einwands ein. Daraus lässt sich ableiten, dass die Ausstellungsbehörde grundsätzlich alle Einwände von Personen mit berechtigtem Interesse an der Erbsache bzw. von am Nachlass Berechtigten gegen im Zeugnis bescheinigte Sachverhalte zu prüfen hat.
88. Wird der Einwand jedoch nicht durch schwerwiegende Gründe gestützt und ist er daher nach den anwendbaren Rechtsvorschriften nicht überzeugend, wird er die Ausstellungsbehörde kaum von der Annahme abhalten, dass der zu bescheinigende Sachverhalt im Sinne von Art. 67 Abs. 1 der Verordnung Nr. 650/2012 feststeht.
89. Wird die Ausstellung des Zeugnisses abgelehnt, weil gegen einen wesentlichen Sachverhalt des Zeugnisses ohne jegliche Begründung Einwände geltend gemacht werden, kann es dazu kommen, dass das Verfahren ohne wirklichen Grund verhindert wird und Erben, Vermächtnisnehmern, Testamentsvollstreckern oder Nachlassverwaltern zu Unrecht ein wirksames Instrument für die Abwicklung von Erbfällen mit grenzüberschreitendem Bezug vorenthalten wird.
90. Allerdings ist es möglich, dass die Behörde aufgrund der Einwände zu der Ansicht gelangt, dass weitere Nachforschungen gemäß Art. 66 Abs. 1 der Verordnung erforderlich sind, um die Angaben und Erklärungen des Antragstellers zu bestätigen. Ob dies zutrifft oder nicht, kann nur im Licht der Umstände des jeweiligen Falles beantwortet werden.
E. Vierte Vorlagefrage
91. Das vorlegende Gericht stellt seine vierte Vorlagefrage für den Fall, dass die erste Vorlagefrage mit Nein beantwortet wird. Falls der Gerichtshof, wie ich es vorschlage, die erste Frage bejaht, ist eine Entscheidung über die vierte Vorlagefrage nicht mehr erforderlich. Ich werde mich dennoch mit der vierten Vorlagefrage befassen.
92. Das vorlegende Gericht möchte wissen, in welcher Form es die Gründe angeben muss, die es zur Zurückweisung der Einwendungen und zur Ausstellung des Europäischen Nachlasszeugnisses bewogen haben.
93. Ich möchte daran erinnern, dass die Ausstellungsbehörde verpflichtet ist, das in Anhang 5 der Durchführungsverordnung Nr. 1329/2014 vorgesehene Formblatt V zu verwenden(68). Durch die Verwendung dieses Formblatts kann ein in einem Mitgliedstaat ausgestelltes Europäisches Nachlasszeugnis in jedem anderen Mitgliedstaat sofort als solches identifiziert werden.
94. Art. 68 der Verordnung Nr. 650/2012 legt die Angaben fest, die, übertragen in die entsprechenden Abschnitte des Formblatts, im Zeugnis enthalten sein müssen. Der Inhalt des Zeugnisses kann jedoch, je nachdem, zu welchem Zweck es ausgestellt wird, von Fall zu Fall unterschiedlich sein(69).
95. Das Formblatt V sieht keine Angabe der Gründe vor, aufgrund derer die Ausstellungsbehörde den von ihr bescheinigten Sachverhalt als erwiesen ansieht. Der Unionsgesetzgeber hat es nicht für erforderlich erachtet, dass das Zeugnis eine Begründung enthält, um seinen Zweck erfüllen zu können(70).
96. Die Erben, Vermächtnisnehmer, Nachlassverwalter oder Testamentsvollstrecker, die das Zeugnis verwenden, dürfen dem Formblatt keine weitere Urkunde hinzufügen (und können dies tatsächlich auch nicht(71))(72).
97. Diese Regelung steht im Einklang mit der Tätigkeit, die dem Zeugnis vorausgeht, und mit den Wirkungen, die das Zeugnis im Rahmen der Abwicklung einer Erbsache mit grenzüberschreitendem Bezug entfaltet. Nach den Art. 66 und 67 der Verordnung Nr. 650/2012 entscheidet die Ausstellungsbehörde nicht in der Hauptsache über den Erbfall und erlässt auch keine begründete Entscheidung, die zwecks Anerkennung in einem anderen Mitgliedstaat in das Europäische Nachlasszeugnis aufzunehmen ist(73).
V. Ergebnis
98. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, das Vorabentscheidungsersuchen des Amtsgerichts Lörrach (Deutschland) für unzulässig zu erklären.
Hilfsweise schlage ich vor, dem Gericht wie folgt zu antworten:
Art. 67 Abs. 1 Unterabs. 2 Buchst. a der Verordnung (EU) Nr. 650/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. Juli 2012 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Annahme und Vollstreckung öffentlicher Urkunden in Erbsachen sowie zur Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses
ist dahin auszulegen, dass
eine Behörde, bei der die Ausstellung eines Europäischen Nachlasszeugnisses beantragt wird, die Einwände, die von Personen mit berechtigtem Interesse an der Erbsache im Rahmen des Ausstellungsverfahrens erhoben werden, prüfen muss, um die zu bescheinigenden Sachverhalte festzustellen.
Das Europäische Nachlasszeugnis darf nicht ausgestellt werden, wenn es Sachverhalte enthält, die mit einer früheren rechtskräftigen Entscheidung nicht vereinbar sind.
Das Europäische Nachlasszeugnis darf nicht ausgestellt werden, wenn in dem Verfahren, das auf die Ausstellung des Zeugnisses abzielt, Einwände gegen einen wesentlichen Sachverhalt der Erbsache, wie etwa die Gültigkeit eines Testaments, erhoben werden, sofern diese Einwände nach den anwendbaren Rechtsvorschriften ein Mindestmaß an Begründetheit aufweisen.
Die Ausstellungsbehörde ist nicht verpflichtet, im Europäischen Nachlasszeugnis die Gründe für seine Ausstellung anzugeben.