Language of document : ECLI:EU:T:2024:329

Rechtssachen T200/22 und T314/22

Republik Polen

gegen

Europäische Kommission

 Urteil des Gerichts (Zweite erweiterte Kammer) vom 29. Mai 2024

„Umwelt – Braunkohleabbau in einem Tagebau – Braunkohletagebau Turów (Polen) – Institutionelles Recht – Nichtdurchführung eines Beschlusses des Gerichtshofs, mit dem eine Anordnung erlassen wird – Zwangsgeld – Einziehung von Forderungen durch Verrechnung – Art. 101 Abs. 1 und Art. 102 der Verordnung (EU, Euratom) 2018/1046 – Streichung der Hauptsache – Keine Rückwirkung auf die erlassenen einstweiligen Anordnungen – Begründungspflicht“

Vorläufiger Rechtsschutz – Einstweilige Anordnungen – Verhängung eines Zwangsgelds in dem Fall, dass die betroffene Partei eine erlassene Anordnung nicht befolgt – Gütliche Einigung der Hauptparteien und Streichung der Hauptsache – Auswirkung der Streichung auf den als Zwangsgeld geschuldeten Betrag

(Art. 2 EUV; Art. 279 AEUV; Verfahrensordnung des Gerichtshofs, Art. 160 Abs. 1 und 2 und Art. 162 Abs. 3)

(vgl. Rn. 31-42, 47-49)

Zusammenfassung

In erweiterter Besetzung weist das Gericht zwei Nichtigkeitsklagen ab, die die Republik Polen gegen mehrere Beschlüsse der Europäischen Kommission erhoben hat, mit denen diese die als tägliches Zwangsgeld, das der Gerichtshof verhängt hatte, geschuldeten Beträge einzog. Im vorliegenden Fall hatte der Gerichtshof in einer Rechtssache zwischen der Tschechischen Republik und Polen im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes einstweilige Anordnungen erlassen, um die volle Wirksamkeit seiner künftigen Endentscheidung sicherzustellen. Da Polen diesen einstweiligen Anordnungen nicht nachgekommen war, wurde es zur Zahlung eines täglichen Zwangsgelds bis zur Vollziehung der genannten einstweiligen Anordnungen verurteilt. Im Anschluss an eine gütliche Einigung zwischen den Hauptparteien wurde die Hauptsache gestrichen. In seinem Urteil klärt das Gericht, welches die Folgen dieser Streichung für die Verpflichtung Polens sind, den als Zwangsgeld geschuldeten Betrag zu zahlen.

Am 26. Februar 2021 erhob die Tschechische Republik eine Vertragsverletzungsklage gegen Polen wegen der Erweiterung und Verlängerung des Braunkohleabbaus im Tagebau Turów (Polen) in der Nähe der tschechischen und der deutschen Grenze. Gleichzeitig stellte sie einen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz, der darauf abzielte, den Braunkohleabbau unverzüglich einzustellen. Diesem Antrag gab der Gerichtshof am 21. Mai 2021 statt(1).

Da die Tschechische Republik der Ansicht war, dass Polen diesem Beschluss nicht nachgekommen sei, stellte sie am 7. Juni 2021 einen neuen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz, mit dem sie beantragte, gegen Polen ein tägliches Zwangsgeld zu verhängen. Am 20. September 2021(2) wurde Polen verurteilt, an die Kommission ein Zwangsgeld in Höhe von 500 000 Euro pro Tag ab diesem Zeitpunkt bis zur Befolgung des Beschlusses, mit dem die einstweiligen Anordnungen erlassen wurden, zu zahlen.

Die Kommission forderte Polen auf, die als Zwangsgeld geschuldeten Beträge zu zahlen, und wies es darauf hin, dass sie sie im Fall der Nichtzahlung im Wege der Verrechnung gemäß der Haushaltsordnung(3) einziehen werde.

Da Polen diese Zahlungen nicht leistete, erließ die Kommission die fünf angefochtenen Beschlüsse(4), mit denen sie die Verbindlichkeiten Polens mit seinen verschiedenen gegenüber der Union bestehenden Forderungen in Höhe von fast 68 500 000 Euro für den Zeitraum vom 20. September 2021 bis zum 3. Februar 2022 verrechnete.

Die Tschechische Republik und Polen erzielten am 3. Februar 2022 eine gütliche Einigung und beantragten die Streichung der Rechtssache.

Nach der Streichung der Hauptsache(5) beantragte Polen die Aufhebung des Beschlusses vom 20. September 2021, mit dem ihm gegenüber ein Zwangsgeld verhängt worden war. Außerdem beantragte Polen bei der Kommission, das Verfahren zur Vollstreckung der Zwangsgelder zu beenden und die zu diesem Zeitpunkt bereits erlassenen angefochtenen Beschlüsse zurückzunehmen. Die Kommission wies darauf hin, dass sie die Einziehung der bis zur Erzielung der gütlichen Einigung geschuldeten Beträge durch Verrechnung fortsetzen werde, solange der Beschluss vom 20. September 2021 nicht „aufgehoben“ sei. Mit Beschluss vom 19. Mai 2022(6) wurde der Antrag auf Aufhebung des oben genannten Beschlusses zurückgewiesen.

Mit zwei getrennten Klagen beantragt Polen die Nichtigerklärung der angefochtenen Beschlüsse der Kommission unter Berücksichtigung der gütlichen Einigung, die zur Streichung der Hauptsache vor dem Gerichtshof geführt hat.

Würdigung durch das Gericht

Mit seinem ersten Klagegrund macht Polen im Wesentlichen geltend, dass die gütliche Einigung und die Streichung der Rechtssache C‑121/21 zur Folge gehabt hätten, dass die in dieser Rechtssache erlassenen einstweiligen Anordnungen rückwirkend außer Kraft getreten seien, so dass die verrechneten Verbindlichkeiten nicht bestünden und ihre Einziehung gegen die Art. 101 und 102 der Haushaltsordnung verstoße.

Insoweit weist das Gericht darauf hin, dass in Anbetracht des akzessorischen Charakters des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes gegenüber dem Verfahren zur Hauptsache der Beschluss vom 21. Mai 2021, mit dem die Einstellung des Braunkohleabbaus im Bergwerk Turów angeordnet worden war, und der Beschluss vom 20. September 2021, mit dem hierzu ein Zwangsgeld verhängt worden war, seit dem Zeitpunkt der Streichung der Hauptsache am 4. Februar 2022 außer Kraft waren.

Zu den Folgen der Streichung der Hauptsache für das Bestehen der Verbindlichkeiten Polens stellt das Gericht erstens fest, dass der Streichungsbeschluss weder die mit dem Beschluss vom 21. Mai 2021 erlassenen einstweiligen Anordnungen noch das tägliche Zwangsgeld erwähnt. Zweitens ist der Antrag Polens auf Aufhebung des Beschlusses vom 20. September 2021, mit dem dieses Zwangsgeld verhängt worden war, zurückgewiesen worden. Drittens wird in dem Beschluss, mit dem dieser Antrag abgelehnt wird, ausdrücklich klargestellt, dass das tägliche Zwangsgeld ab dem 4. Februar 2022 als hinfällig anzusehen ist. Somit lief das tägliche Zwangsgeld tatsächlich vom Tag der Zustellung des Beschlusses vom 20. September 2021 bis zum Tag der Streichung der Hauptsache im Register am 4. Februar 2022.

Eine andere Schlussfolgerung würde dazu führen, sich vom Zweck des Zwangsgelds zu entfernen, der darin besteht, die wirksame Anwendung des Unionsrechts sicherzustellen, die dem Wert des in Art. 2 EUV verankerten Rechtsstaatsprinzips inhärent ist.

Dieses Ergebnis kann nicht durch das Vorbringen Polens in Frage gestellt werden, wonach die Fortsetzung der Vollziehung der einstweiligen Anordnungen trotz der Streichung der Hauptsache über das einzige mit diesen Maßnahmen verfolgte Ziel, nämlich in erster Linie das Ziel, die Wirksamkeit des Urteils sicherzustellen, hinausgehe. Die von den Unionsgerichten verhängten Zwangsgelder sollen nämlich nicht nur die Wirksamkeit des Urteils sicherstellen, sondern zielen auch darauf ab, dass den einstweiligen Anordnungen nachgekommen und im vorliegenden Fall Polen davon abgehalten wird, die Anpassung seines Verhaltens an diese Anordnungen hinauszuzögern. Folgte man dem Vorbringen Polens, würde der Mechanismus des Zwangsgelds jeglicher Substanz beraubt, da es darauf hinausliefe, dass eine Partei vorsätzlich gegen die Verpflichtung, den im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes erlassenen einstweiligen Anordnungen bis zum Ende des Rechtsstreits in der Hauptsache nachzukommen, verstößt und damit die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt.

Ebenso wenig kann dem Vorbringen Polens, dass die Vollstreckung der Zwangsgelder eine gütliche Einigung weniger attraktiv mache, gefolgt werden, wenn man den Zweck der Zwangsgelder und den Umstand berücksichtigt, dass die Streichung der Hauptsache für Polen insofern vorteilhaft war, als die täglichen Zwangsgelder am 4. Februar 2022 außer Kraft traten und nicht zum Zeitpunkt der Verkündung eines Urteils des Gerichtshofs.

Schließlich sieht Art. 101 der Haushaltsordnung entgegen dem Vorbringen Polens keine Pflicht der Kommission vor, eine festgestellte Forderung zu annullieren. Im Übrigen waren die Voraussetzungen für eine Einziehung im Wege der Verrechnung erfüllt, da die Kommission das Vorliegen der Verbindlichkeiten Polens durchaus überprüft und deren Höhe bestimmt hat.

Daher weist das Gericht den ersten Klagegrund zurück. Da der zweite Klagegrund, mit dem ein Verstoß gegen die Begründungspflicht gerügt wird, ebenfalls als unbegründet zurückzuweisen ist, weist das Gericht die Klagen insgesamt ab.


1      Beschluss vom 21. Mai 2021, Tschechische Republik/Polen (C‑121/21 R, EU:C:2021:420).


2      Beschluss vom 20. September 2021, Tschechische Republik/Polen (C‑121/21 R, EU:C:2021:752).


3      Genauer gesagt Art. 101 Abs. 1 und Art. 102 der Verordnung (EU, Euratom) 2018/1046 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Juli 2018 über die Haushaltsordnung für den Gesamthaushaltsplan der Union, zur Änderung der Verordnungen (EU) Nr. 1296/2013, (EU) Nr. 1301/2013, (EU) Nr. 1303/2013, (EU) Nr. 1304/2013, (EU) Nr. 1309/2013, (EU) Nr. 1316/2013, (EU) Nr. 223/2014, (EU) Nr. 283/2014 und des Beschlusses Nr. 541/2014/EU sowie zur Aufhebung der Verordnung (EU, Euratom) Nr. 966/2012 (ABl. 2018, L 193, S. 1, im Folgenden: Haushaltsordnung).


4      Beschlüsse der Kommission vom 7. und 8. Februar 2022, vom 16. und 31. März 2022 und vom 16. Mai 2022.


5      Beschluss vom 4. Februar 2022, Tschechische Republik/Polen (Tagebau Turów) (C‑121/21, EU:C:2022:82).


6      Beschluss vom 19. Mai 2022, Tschechische Republik/Polen (Tagebau Turów) (C‑121/21 R, EU:C:2022:408).