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Verbundene Rechtssachen T-273/06 und T-297/06

ISD Polska sp. z o.o. u. a.

gegen

Kommission der Europäischen Gemeinschaften

„Staatliche Beihilfen – Regelung von Umstrukturierungsbeihilfen, die die Republik Polen einem Stahlerzeuger gewährt hat – Entscheidung, mit der die Beihilfen für teilweise unvereinbar mit dem Gemeinsamen Markt erklärt werden und ihre Rückforderung angeordnet wird – Protokoll Nr. 8 über die Umstrukturierung der polnischen Stahlindustrie – Nichtigkeitsklage – Klagebefugnis – Klagefrist – Zulässigkeit – Berechtigtes Vertrauen – Art. 14 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 659/1999 – Zinssatz bei Rückzahlung rechtswidriger Beihilfen – Verpflichtung zu enger Abstimmung mit dem Mitgliedstaat – Zinseszinssatz – Art. 9 Abs. 4 und Art. 11 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 794/2004“

Leitsätze des Urteils

1.      Nichtigkeitsklage – Natürliche oder juristische Personen – Handlungen, die sie unmittelbar und individuell betreffen – Entscheidung der Kommission, mit der die Unvereinbarkeit einer Beihilfe mit dem Gemeinsamen Markt festgestellt wird – Klage eines Unternehmens, das sämtliche Anteile am Empfänger der Beihilfe hält

(Art. 230 Abs. 4 EG)

2.      Nichtigkeitsklage – Fristen – Beginn – Veröffentlichung oder Mitteilung

(Art. 88 Abs. 2 EG und 230 Abs. 5 EG)

3.      Nichtigkeitsklage – Anfechtbare Handlungen – Handlungen mit verbindlichen Rechtswirkungen – Schreiben der Kommission, mit dem die bei der Rückforderung einer mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbaren Beihilfe anzuwendenden Zinssätze festgesetzt werden

(Art. 230 Abs. 4 EG; Verordnung Nr. 794/2004 der Kommission, Art. 9 Abs. 1 und 4)

4.      Staatliche Beihilfen – Bestimmungen des Vertrags – Zeitlicher Geltungsbereich

(Art. 87 EG und 88 EG; Beitrittsakte von 2003, Protokoll Nr. 8 und Anhang IV)

5.      Staatliche Beihilfen – Rückforderung einer rechtswidrigen Beihilfe – Rückforderungsmodalitäten – Von jedem der gesamtschuldnerisch haftenden Unternehmen zurückzuzahlender Teil des Gesamtbetrags

6.      Staatliche Beihilfen – Entscheidung der Kommission, ein förmliches Prüfverfahren in Bezug auf eine staatliche Maßnahme einzuleiten – Vorläufiger Charakter der von der Kommission vorgenommenen Beurteilungen

(Art. 88 Abs. 2 EG; Verordnung Nr. 659/1999 des Rates, Art. 6 Abs. 1)

7.      Staatliche Beihilfen – Rückforderung einer rechtswidrigen Beihilfe – Mögliches berechtigtes Vertrauen des Empfängers – Schutz – Grenzen

(Art. 88 EG)

8.      Staatliche Beihilfen – Rückforderung einer rechtswidrigen Beihilfe – Festsetzung des Zinssatzes

(Art. 88 Abs. 2 EG; Verordnung Nr. 794/2004 der Kommission, Art. 9 Abs. 4 und 11 Abs. 2)

1.      Andere Personen als der Adressat einer Entscheidung können nur dann geltend machen, individuell betroffen zu sein, wenn diese Entscheidung sie wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder besonderer, sie aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender Umstände berührt und sie dadurch in ähnlicher Weise individualisiert wie den Adressaten der Entscheidung.

Dies ist in Bezug auf eine Entscheidung der Kommission, mit der die Unvereinbarkeit einer staatlichen Beihilfe mit dem Gemeinsamen Markt festgestellt wird, bei einem Unternehmen der Fall, das zu 100 % Eigentümer des Unternehmens ist, an das die streitige Entscheidung gerichtet war. Dieses Unternehmen ist in Bezug auf diese Entscheidung aus dem Kreis aller übrigen Personen, insbesondere aus dem Kreis aller übrigen Wirtschaftsteilnehmer auf dem betreffenden Markt, herausgehoben.

(vgl. Randnrn. 40, 43)

2.      Aus dem Wortlaut des Art. 230 Abs. 5 EG ergibt sich, dass der Zeitpunkt der Kenntniserlangung von einem Rechtsakt als Beginn der Klagefrist gegenüber dem Zeitpunkt der Bekanntgabe oder der Mitteilung des Rechtsakts subsidiär ist. Die Veröffentlichung einer Entscheidung der Kommission, mit der die Unvereinbarkeit einer staatlichen Beihilfe mit dem Gemeinsamen Markt festgestellt wird, ist keine Voraussetzung für ihr Wirksamwerden. Jedoch werden nach ständiger Praxis die Entscheidungen der Kommission über den Abschluss eines Verfahrens zur Untersuchung von Beihilfen nach Art. 88 Abs. 2 EG im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht. Ein Kläger darf daher darauf vertrauen, dass die Entscheidung veröffentlicht werde.

(vgl. Randnrn. 55-57)

3.      Im Bereich der staatlichen Beihilfen ist ein Schreiben der Kommission, mit dem der bei der Rückforderung einer mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbaren Beihilfe anzuwendende Zinssatz festgelegt wird, als eine Handlung mit verbindlichen Rechtswirkungen und damit als anfechtbare Handlung anzusehen.

Während Art. 14 Abs. 2 der Verordnung Nr. 659/1999 über die Anwendung von Art. 88 EG vorsieht, dass die zurückzufordernde Beihilfe Zinsen umfasst, „die nach einem von der Kommission festgelegten angemessenen Satz berechnet werden“, bestimmt Art. 9 Abs. 4 der Verordnung Nr. 794/2004 zur Durchführung der Verordnung Nr. 659/1999 näher, dass bei Fehlen u. a. der für die Berechnung des Zinssatzes nach Abs. 1 dieser Vorschrift erforderlichen Daten die Kommission in enger Abstimmung mit dem oder den betroffenen Mitgliedstaaten auf der Grundlage einer anderen Methode und der ihr vorliegenden Angaben für einen oder mehrere Mitgliedstaaten einen Zinssatz für die Rückforderung staatlicher Beihilfen „bestimmen“ kann. Die Kommission bestimmt folglich, wenn auch in enger Abstimmung mit dem betroffenen Mitgliedstaat, in verbindlicher Weise den bei der Rückforderung staatlicher Beihilfen anwendbaren Zinssatz.

(vgl. Randnrn. 65-66)

4.      Das der Akte über die Bedingungen des Beitritts der Tschechischen Republik, der Republik Estland, der Republik Zypern, der Republik Lettland, der Republik Litauen, der Republik Ungarn, der Republik Malta, der Republik Polen, der Republik Slowenien und der Slowakischen Republik und die Anpassungen der die Europäische Union begründenden Verträge beigefügte Protokoll Nr. 8 über die Umstrukturierung der polnischen Stahlindustrie stellt im Verhältnis zu Anhang IV dieser Akte und den Art. 87 EG und 88 EG eine lex specialis dar. Es erweitert die von der Kommission gemäß dem EG-Vertrag ausgeübte Kontrolle staatlicher Beihilfen auf Beihilfen, die während eines bestimmten, dem Beitritt der Republik Polen zur Europäischen Union vorausgehenden Zeitraums zugunsten der Umstrukturierung der polnischen Stahlindustrie gewährt wurden.

(vgl. Randnr. 97)

5.      Die Rückzahlungsmodalitäten einschließlich der Frage, welcher Teil des Gesamtbetrags von jedem der gesamtschuldnerisch haftenden Unternehmen zurückzuzahlen ist, sind von den nationalen Behörden im Rahmen der Anwendung der die Rückforderung einer rechtswidrigen Beihilfe anordnenden Entscheidung der Kommission festzulegen.

(vgl. Randnr. 117)

6.      Die in Art. 88 Abs. 2 EG geregelte Phase der Prüfung staatlicher Beihilfen soll es der Kommission ermöglichen, sich umfassende Kenntnis von allen Gegebenheiten des Falles zu verschaffen. Gemäß Art. 6 Abs. 1 der Verordnung Nr. 659/1999 über die Anwendung von Art. 88 EG enthält die Eröffnungsentscheidung eine Zusammenfassung der wesentlichen Sach- und Rechtsfragen, eine „vorläufige Würdigung“ der geplanten Maßnahme durch die Kommission und Ausführungen über ihre Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit mit dem Gemeinsamen Markt. Ferner werden der betreffende Mitgliedstaat und die anderen Beteiligten in dieser Entscheidung zu einer Stellungnahme aufgefordert. Die Analyse der Kommission hat somit notwendigerweise vorläufigen Charakter. Folglich kann die Kommission nicht verpflichtet sein, in ihrer Mitteilung über die Eröffnung des förmlichen Verfahrens eine vollständige Untersuchung der fraglichen Beihilfe zu präsentieren. Erforderlich ist allerdings, dass die Kommission den Rahmen ihrer Prüfung hinreichend genau festlegt, um dem Recht der Beteiligten zur Stellungnahme nicht seinen Sinn zu nehmen.

(vgl. Randnrn. 124-126)

7.      Unternehmen, die weder durch eine Handlung der Gemeinschaft dazu veranlasst worden sind, eine Entscheidung zu treffen, die später zu negativen Folgen für sie geführt hat, noch Adressaten eines begünstigenden Verwaltungsakts eines Gemeinschaftsorgans waren, der von diesem rückwirkend zurückgenommen wurde, können nicht ihr Vertrauen darauf geltend machen, dass die ihnen gewährte Beihilfe als zurückgezahlt angesehen würde.

(vgl. Randnr. 134)

8.      Art. 9 Abs. 4 der Verordnung Nr. 794/2004 zur Durchführung der Verordnung Nr. 659/1999 über die Anwendung von Art. 88 EG sieht vor, dass die Festsetzung des bei der Rückforderung einer Beihilfe anzuwendenden Zinssatzes in „enger Abstimmung“ mit dem betroffenen Mitgliedstaat erfolgt. Bei der Festsetzung dieses Zinssatzes verfügt die Kommission über ein gewisses Ermessen. Art. 11 Abs. 2 der Verordnung Nr. 794/2004 bestimmt, dass der Zinssatz bis zur Rückzahlung der Beihilfe nach der Zinseszinsformel berechnet wird. Für die im Vorjahr aufgelaufenen Zinsen sind in jedem folgenden Jahr Zinsen fällig.

(vgl. Randnrn. 162, 164-165)